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Eigenwillige Aude
Die eigenwillige Aude
Viel mehr als nur Carcassonne
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Carcassonne, die mittelalterliche Hauptstadt der Aude, ist zurecht berühmt. Doch planen Sie ruhig einige Tage extra ein, um auch die Umgebung zu entdecken. Journalistin Renate van der Bas wohnt hier bereits seit 23 Jahren. Sie verrät uns ihre Urlaubstipps: „Zwischendurch sollten Sie einfach mal nichts tun. In der Aude ist es keine Schande, zu faulenzen, den Blick in die Ferne schweifen zu lassen und die Ruhe zu genießen.“
TEXT RENATE VAN DER BAS FOTOS HANS AVONTUUR, RENATE VAN DER BAS, BENOIST ADT AUDE,
SHUTTERSTOCK, SÉBASTIEN CARLES, CITÉ@VINCENT, VINCENT PHOTOGRAPHIE
AUDE
Insgeheim haben wir dieses recht unbekannte Departement schon mal mit Ostfriesland verglichen. Vor allem das lang gestreckte Tal südlich von Carcassonne, wo sich der Fluss Aude seinen Weg durch das Vorland der Pyrenäen in Richtung Mittelmeer bahnt, hat etwas seltsam Verlassenes. Dabei ist es nur ein halbes Jahrhundert her, dass im Haute Vallée de l’Aude noch glückliche Gemeinschaften von Handwerkern gelebt haben. Damals gab es hier eine prosperierende Schuhindustrie und in der Region wurden auch viele Hüte hergestellt. Für die Armee, für andere Berufsgruppen in Uniform und für gewöhnliche Menschen. Doch wer trägt heute schon noch einen Hut? Die Arbeitsplätze sind verschwunden, vielen Familien weggezogen und die Dörfer zusehends verlassen. Doch grâce à Dieu ändert sich das grade wieder. Die Aude wird hipper und dynamischer: Immer mehr junge, eigenwillige Unternehmer wittern hier ihre Chance, eine Existenz aufzubauen. Sie leben in einer Region mit den vielleicht schönsten unberührten Hügellandschaften, Tälern und Landstraßen ganz Frankreichs. Da wundert es nicht, dass Besucher zuweilen erkennen, dass die Toskana ziemlich schön sein mag, doch die Aude erst so richtig umwerfend ist. Auch, weil sie nicht so dicht bevölkert ist. Je weniger Menschen, desto schöner die Fotos. Oder etwa nicht?
Unternehmung 1
Zuerst ab nach Carcassonne
Nur an wenigen Orten auf diesem Planeten findet sich eine doppelt ummauerte Zitadelle wie die von Carcassone. Die über 50 Türme und die drei Kilometer lange Stadtmauer bauen sich schon von weitem sichtbar auf. Im Sommer herrscht innerhalb der Mauern oft Gedränge, doch auch dann herrscht eine angenehme Atmosphäre in den Geschäften und Restaurants mit ihren Terrassen. Auch die Kultur kommt nicht zu kurz: In der Basilika St. Nazaire finden Orgelkonzerte statt und die ganze Stadt steht im Zeichen des Freilufttheaters. Wer um den 14. Juli vor Ort ist, darf sich zudem nicht das Feuerwerk am Nationalfeiertag entgehen lassen. Von den Stadtmauern jagen dann unzähligen Pfeile in den Nachthimmel einer abgedunkelten Umgebung. Ein Flammenmeer, das an eine abermalige Belagerung denken lässt. An den Ufern der Aude versammeln sich dann Zehntausende Menschen, die dem Schauspiel atemlos beiwohnen. Kenner bringen Stühle und gut gefüllte Picknickkörbe mit. C’est un grand événement! In der „normalen“ Innenstadt von Carcassonne ist der Place Carnot der besten Flecken für Restaurants und Bars. Dabei ist es gut zu wissen, dass die befestigte Zitadelle als Cité › Oben: Cassoulet, das klassische Gericht in Carcassonne. Unten: Carcassonne
Rechts: Minerve liegt malerisch in den Weinbergen. Unten: „Gegenverkehr“ auf dem Wanderweg durch die Corbières.
bezeichnet wird, während das moderne Zentrum als Centre Ville oder La Bastide ausgewiesen wird. Auf der Webseite des Tourismusbüros finden Sie eine Beschreibung der schönsten Route vom neuen in den alten Teil.
Unternehmung 2
Corbières und Minervois: Die Natur entdecken
Vorab der wichtigste Tipp für die Umgebung von Carcassonne: Wählen Sie wann immer möglich die Nebenstraßen. Auf diese Weise sind die Touren am schönsten, oft führen sie vorbei an Weinbergen, die zu jeder Jahreszeit prächtig sind. Doch auch die Touren durch die wilde Natur mit Felsformationen, Wäldern, Flüssen und Garrigue sind atemberaubend. Letztere sind trockene Böden, auf denen vor allem Sträucher wachsen. Und in den Corbières finden Sie all das vor. In ihrer ganzen Einfachheit gehören sie zu den spannendsten Gegenden Frankreichs. Sie liegen südöstlich von Carcassonne und auf der Fahrt sieht man gelegentlich einen Pyrenäengipfel. Vor Ort geht es nicht so hoch hinaus: Der Pic de Bugarach ist mit rund 1.200 Metern der höchste Gipfel der Corbières. Kommt Ihnen der Name bekannt vor? Nun, 2012 stand der Berg im Blickpunkt internationalen Interesses, weil dem Mayakalender zufolge an diesem Tag das Ende der Welt eintreten sollte. Allerlei Esoteriker versammelten sich daraufhin vor Ort, weil man nur auf dem Bugarach würde überleben können. Es ist anders gekommen, doch das ändert nichts daran, dass es ein Ort voller Lebenslust ist, an dem man sich wie neu geboren fühlt. Der Gipfel – gute Wanderschuhe anziehen!
Das reizvolle Städtchen Lagrasse liegt inmitten wilder Natur.
– bietet eine prächtige Aussicht auf die Umgebung. Oder gehören Sie etwa zu den Glückspilzen, die hier doch eine fliegende Untertasse erspähen? Die mysteriösen Geschichten wollen einfach nicht abreißen. Um es deutlich zu sagen: Kindern oder Jugendlichen sollten Sie nicht verschweigen, dass sie sich in den Corbières auf viel Grün und ein behäbiges Tempo einstellen sollten. Allerdings ist überall 4G verfügbar. Kontrollieren Sie den Benzinstand im Auto und nehmen Sie ausreichend zu trinken und zu essen mit. Tankstellen und Restaurants sind in dieser Gegend nämlich spärlich gesät, vor allem, wenn Sie das Hinterland erkunden. Nördlich der Corbières liegt derweil ein deutlich lieblicheres Stück Natur mit einigen lebendigen Orten: das Minervois mit seinen wenig bekannten Dolmen. Einer davon liegt leicht auffindbar bei Pépieux. Er trägt den schönen Namen Lo Morrel dos Fados. Ein anderer liegt besser versteckt auf dem Gelände des Château de Mazy bei LaureMinervois.
Unternehmung 3
Ein Drink an einem der charmantesten Fleckchen
Wenn Sie sich nicht allzu weit in die Corbières vorwagen wollen und am „sicheren“ Nordrand bleiben, sollten Sie den kleinen Ort Lagrasse aufsuchen. Hier warten diverse sehenswerte Monumente wie die mittelalterliche Bogenbrücke und eine berühmte Abtei. Früher waren hier Benediktiner zuhause – und vor knapp 20 Jahren hat sich hier erneut ein Orden niedergelassen. Diesmal sind es die Regularkanoniker der Augustiner Chorherren. Wenn Ihnen hier also wie mir ein Kleinwagen voller Mönche begegnet, dann sind das keine Halluzinationen. In Lagrasse ist das Alltag. Hier wimmelt es von Restaurants, wobei vor allem das Le 1900 eine Erwähnung wert ist. Neben diesem feinen Lokal liegt das bemerkenswerte Geschäft von Aurélien Carrelas, der sich an ein Abenteuer gewagt hat, indem er die ehrwürdige Marke Kina Karo aufgekauft hat. Schon seit gut 100 Jahren kennen viele Leute aus der Region Kina Karo als eine Kräutermischung mit hohem Chininanteil, mit der man daheim einen Aperitif ansetzen kann, zum Beispiel in Kombination mit Rosé und anderen alkoholischen Getränken. Geschmacklich geht das in Richtung Wermut. „Mein Opa und mein Vater haben das jeden Tag getrunken“, erzählt Aurélien. Als sich ihm die Chance bot, die Marke zu erwerben, hat er denn auch keine Sekunde gezögert. Er hat die Zusammenstellung ein wenig an den Geschmack von heute angeglichen und verkauft nun vor allem Flaschen mit dem fertigen Produkt. Herrlich mit ein paar Eiswürfeln. Pardi heißt ein weiteres Getränk, das hundertprozentig audois ist und bei dem Aurélien seine Finger im Spiel hat. Dieser Aperitif aber ist brandneu. „Vergangenes Jahr habe ich bei einem Empfang Françoise Antech aus der Winzerfamilie aus Limoux getroffen. Gemeinsam › Aurélien Carrelas bescherte dem Gebräu Kina Karo eine zweite Jugend.
Die Aude liegt nahe der spanischen Grenze, was sich in der Tapaskultur bemerkbar macht.
Oben: der Innenhof der reizvollen Unterkunft Le Couvent, eine Jugendherberge der neuen Art
haben wir bedacht, dass wir mit ihren Schaumweinen und meinen zitrusreichen Kräutern unseren eigenen Spritz herstellen könnten. Denn warum sollten wir diesen Markt den Italienern mit ihrem Aperol überlassen.“ Gesagt, getan. Während einem der Lockdowns haben Aurélien und Françoise viele Nachmittage an der Mixtur getüftelt. So entstand Pardi: ein prickelnder Drink mit Blanquette Extra Dry, dem Schaumwein von Limoux. Seitdem ist dieser ein Hit in den Lokalen der Aude. Einige davon liegen am Place de la République in Limoux etwa 20 Minuten südlich von Carcassonne. Ein Drink am Nachmittag auf den Terrassen ist wunderbar – im Sommer gibt es oft Leckereien vom Grill und Livemusik. Auch der Sonntagsmarkt von Espéranza noch ein wenig weiter im Süden, ist ein farbenfrohes Fest, wo sich nicht nur die Einheimischen blicken lassen, sondern auch Hippies und Alternative. Bio, Öko und Handwerk stehen hier hoch im Kurs. Mutmaßlich sind rund drei Viertel aller Lebensmittel selbst produziert, gepflückt, gebacken, geräuchert oder gekocht. Tipp: Bestellen Sie ein Dutzend schöne Austern und eine Karaffe Weißwein, um während des Genusses am Marktstand die Besucher vorbeiziehen zu lassen.
Unternehmung 4
An ausgefallenen Orten nächtigen und speisen
In Carcassonne sind viele Hotels um die alte Cité gruppiert, doch seit vergangenem Jahr lockt eine Alternative im normalen Zentrum: Le Couvent. Es ist eine Jugendherberge, aber mit Stil und für alle Altersklassen. Familien teilen ein Zimmer und für Paare gibt es Doppelzimmer mit Privatsphäre. Und das alles in einem ehrwürdigen Kloster mit eigener Tapasbar! Ein Gitter öffnet einen Blick tief in ein Wasserloch und lässt den Betrachter auf düstere Gedanken kommen. Wieviele Klosterbewohner wird es über die Jahrhunderte wohl hier hinein getrieben haben? Auch das Monument La Manufacture Royale in Montolieu (nordwestlich von Carcassonne) lädt zur Kontemplation ein. Früher war hier eine Weberei ansässig, deren Stoffe in alle Welt exportiert wurden, jetzt ist es eine Unterkunft, deren dicke Mauern die Gäste wie von selbst zur Ruhe bringen. Ein weiteres Domizil liegt gut 30 Kilometer südlich von Carcassonne an der Aude im mittelalterlichen Städtchen AletlesBains. Diese kleine Perle besitzt ein altes jüdischen Viertel und einen Platz voller Fachwerkhäuser. In einem davon lebte und arbeitete im 16. Jahrhundert
der berühmte Apotheker, Autor und Wahrsager Nostradamus. Der heutige Eigentümer des Gebäudes ist der mit einem stattlichen Schnauzbart und flottem Mundwerk ausgestattete Richard Audabram. Der BarettTräger erzählt gerne, wie es die Familie Nostradamus hierher verschlagen hat und was Michel de Nostradame so besonders gemacht hat. Im Anschluss an eine Führung händigt er Besuchern die Schlüssel zu einer Wohnung aus, wo bis zu vier Personen übernachten können. Mit etwas Glück verschlägt es Sie ins Himmelbett! Noch etwas weiter südlich liegt Espéranza, wo in der Domaine de Caderonne ein Appartement umgebaut wurde. Hier schläft man unter jahrhundertealten Balken. Tagsüber lockt ein großzügiger Park zum Lesen – oder spielen Sie doch lieber eine Partie Boules? Er ist nur für Erwachsene, was zuweilen ganz angenehm ist. Meine Lieblingslokale? Eines ist in Trèbes ansässig, ein östlich von Carcassonne gelegener Ort, der sowohl von der Aude wie auch vom Canale du Midi durchkreuzt wird. Hier befindet sich in einer alten Wassermühle bei einer Schleuse das Restaurant Le Moulin, welches das griechischbelgische Paar Pascal und Sophie betreibt. Von der Terrasse aus kann man den Freizeitbooten hier dabei zusehen, wie sie an Höhe gewinnen oder verlieren – und über unerfahrene Touristen schmunzeln, die in der Schleuse ins Schwitzen geraten, weil sich ein Tau nicht löst oder der Motor nicht startet. Sehr apart ist auch Le Jardin en Ville, eine Kombination aus Restaurant und Geschäft mitten in einem Wohnviertel von Carcassonne (Rue des Framboisiers). Früher war dieses hinter einer Mauer verborgene Lokal ein Gärtnereibetrieb. Es besitzt noch immer einen eigenen Gemüsegarten. Das Interieur ist eine bunte Mischung aus Designermöbeln und dekorativen Objekten. Alles ist zu kaufen. Wer also besonders bequem auf seinem Stuhl gesessen hat, kann ihn einfach mitnehmen, einen Zwischenstopp an der Kasse vorausgesetzt.
Unternehmung 5
Endlich nichts tun (an einem See)
Viele Frankreichurlauber nehmen sich vor, so viele besondere Orte wie möglich aufzusuchen und › Unten: AletlesBains, wo einst Nostradamus wohnte und arbeitete.
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Tipps & Adressen
Reise
Von Frankfurt bis ins Herz der Aude sind es etwa 1.150 Kilometer. Met dem TGV führt die Strecke über Montpellier und danach mit dem Intercity zum Bahnhof Narbonne-Carcasonne.
Webseiten
• Ligam Voyages facebook.com/ligamvoyages • Appartement Espéraza ma-dome.nl • Le Couvent au-couvent.fr • La Manufacture Royale la-manufacture-royale.fr • Le Moulin in Trèbes (reservieren) lemoulindetrebes.com • Le Jardin en Ville in Carcassonne (reservieren) lejardinenville.fr • Wijndomäne Rives-Blanques rives-blanques.com • Domaine Calmel & Joseph (Wein und Gîtes) domaine-calmel-joseph.com
jedem Tag Neues zu entdecken. Doch insbesondere in der Aude gehört es zum guten Ton, auch mal gar nichts zu machen und die Seele baumeln zu lassen. Vielleicht an einem der schönen Badeseen, die die Fahrt zur stark frequentierten Küste überflüssig machen. Besuchen Sie doch mal den Lac de St. Bertrand in der Nähe von Quillan. Der ist klein und eignet sich zudem für Spaziergänge. Dasselbe gilt für den See von Puivert, der sich zu Füßen eines Hügels ausbreitet, an dem die Ruine eines Schlösschens steht. Schon größer ist der Lac de la Cavayère, ein See mit einem Badestrand ganz in der Nähe der Stadt – auch Carcassonne Plage genannt. Wer lieber läuft als liegt schafft es innerhalb einer Stunde einmal um den See. Noch größer ist der Lac de Montbel, ein Stausee an der Grenze zum Departement Ariège. Wer hier einmal ganz herum möchte, muss vier Stunden einplanen. Doch warum sollte man? Schließlich warten entlang der Ufer überall kleine Verstecke, die man für sich beanspruchen kann, um den ganzen Tag über in der Sonne zu sitzen, ab und zu ins Wasser zu gehen und in die Ferne zu schauen