Kuration und Dramaturgie – Schnittstellen zwischen räumlichen, theoretischen und visuellen Inhalten
— Heutzutage ist eine schlaue Auswahl alles: Eine kluge Inszenierung von ebenso klug ausgewählten Einzelmaßnahmen erschafft ein großes, perfektes Ganzes – dank kunstfertiger Kuration und taktischer dramaturgischer Maßnahmen.
Kuratorische Praxis und dramaturgische Theorie: Die Kunst, Bedeutung zu kreieren —
Cordelia Oppliger, Kuration
Ausstellungen sind eine Form der Kommunikation: Sie erzählen eine Geschichte. Entscheidend in diesem Prozess sind vor allem Inhalt und Kontext – wobei deren genaue Beziehung zueinander nicht deutlich abgrenzbar ist: Kontexte sind nicht einfach gegeben, sie werden vielmehr gebildet und sind zudem veränderbar. 1 Das Wissen aus der Kuration hilft uns einerseits mit theoretischen und philosophischen Texten, das Inszenierungskonzept zu festigen und einen geeigneten Rahmen bzw. Überbau zu schaffen. Andererseits liefert es das Werkzeug, um jenen Kontext zu erzeugen, der die gewünschte Geschichte erzählt. Wichtige Elemente des Kontexts sind unter anderem die Ausstellungsinstitution, die kreierte Bedeutung sowie die Kuration, die für ein gekonntes Zusammenspiel dieser Elemente sorgt. Die Dramaturgie liefert uns wiederum eine äußerst hilfreiche Struktur, die bis in die Tiefe wirkt.
Aus der Kuration
— Kuratieren bedeutet die Erschaffung innovativer Strukturen für die Präsentation bedeutender Artefakte durch interdisziplinäre Zusammenarbeit: Kunst, digitale Medien, Design und Architektur verbinden sich auf verschiedene Weise – immer mit dem Ziel, den Besuchern neue Zugangsmöglichkeiten und -formen der Interpretation zu bieten.
Die Aura der Institution einbeziehen: Ausstellungsorte wurden selten ausschließlich als solche gebaut – ihre Architektur entspricht einer Kombination aus Funktionalität und Tradition. Aufgrund der verschiedenen Vergangenheiten wohnt dem Ausstellungsort damit eine sozial codierte Visibilität inne, die selten vollständig sichtbar ist 2, aber die Wahrnehmung der ausgestellten Exponate durchaus verändert. So ist der „White Cube“ etwa ein Versuch, einen neutralen Ausstellungsort zu schaffen, an dem Kunstwerke unbeeinflusst rezipiert werden können. Trotz seiner weißen Leere ist er aber dennoch ein konstruierter Begegnungsort – seine Form und Ausstrahlung sind lediglich unsichtbar, aber nicht gänzlich verschwunden. 3 Als Ausstellungsgestalter müssen wir uns dementsprechend bewusst sein, dass die Aura des Ausstellungsorts immer präsent ist und einen Teil des Kontexts bildet, demnach auch einen wesentlichen Einfluss auf unsere Wahrnehmung hat: Ob wir ein Kunstwerk auf einem öffentlichen Platz, in einem Warenhaus oder in einem renommierten Kunstmuseum betrachten, hat einen Einfluss auf unser Empfinden. Meist kommen Besucher mit 59
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einer bestimmten Erwartungshaltung in die Ausstellung. Diese Erwartungen können wir entweder erfüllen, brechen oder überraschend erweitern. Wir sollten die Aura aber nicht ignorieren, sondern mitdenken! Bedeutung kreieren: Wenn Ausstellungen „sprechen“, müssen wir verstehen, was sie sagen. Wir müssen als Ausstellungsmacher wissen, dass wir Bedeutung kreieren: Wort und Bild ergeben ein Zeichen, eine individuelle Wahrnehmung, ein assoziatives Ganzes. Was bedeutet dies für die Ausstellungstexte? Im besten Fall sollte für jede Ausstellung ein Wording angelegt werden, das neben der institutionsspezifischen Rechtschreibung auch folgende Punkte regelt: – Größe und Platzierung: Beides sagt etwas über die Wichtigkeit und den möglichen Inhalt aus. Ein Text auf einer großen Tafel am Eingang wirkt am ehesten als Einleitung, ein kleines Schild unterhalb eines Bildes wiederum als Objektbeschreibung. Texte auf dem Boden können beispielsweise führend oder verwirrend erscheinen. – Inhalt: Texte können informieren, Kontext liefern, Wissen vermitteln, Bezüge schaffen, Assoziationen wecken oder auch eine eigene inhaltliche Ebene bilden. – Länge: Lange Texte erfordern engagierte Besucher, sehr kurze Texte (oder nur Bildlegenden) bieten dafür weniger Informationen. – Verständlichkeit: Verständliche Sprache erleichtert den Zugang, elaborierte Texte können eine elitäre Aura hervorrufen. – Zeitform: Das Imperfekt schafft eine Distanz, ein Abstandnehmen, eine Verfremdung. Umgekehrt erzeugt das Präsens Nähe, eine Zeitgleichheit und direkte Ansprache. Das historische oder narrative Präsens (Vergangenes mit der Präsensform ausdrücken) erweckt hingegen Nähe zur Vergangenheit. – Tonalität: Die Sie-Form kann beispielsweise distanziert oder distinguiert wirken, die DuForm eher direkt, salopp oder auch kindlich. Es gibt somit unzählige Variationen und Wahrnehmungen. Wichtig ist, dass wir uns der unterschiedlichen Wirkung bewusst sind, dass wir Erwartungen gezielt erfüllen oder brechen – je nach Intention: Hat eine Ausstellung beispielsweise zum Ziel, Besucher zu verwirren, kann es ein erster Schritt sein, eine Einleitung in kleinen, aber lesbaren Texten verteilt auf den Boden oder an die Decke zu kleben. Kuration transparent machen: Die Kuration selektioniert, kreiert Bedeutungen und hat eine subjektive Position. 4 Sie beeinflusst damit die Wahrnehmung der Besucher. 60
— Der Kontext ist für die Wahrnehmung und das Erfassen der Bedeutung eines Exponats entscheidend. Dasselbe Objekt in einem veränderten Kontext modifiziert auch seine Aussage – wie hier sehr deutlich wird: Der gleiche Kaffee (Inhalt) wird in verschiedenen Kontexten (in einer Tasse, in einem Schälchen, in Verbindung mit einer Flasche Sojasauce oder Hustensirup, in einer Spritze oder an einem ganz anderen Ort) vollkommen anders wahrgenommen.
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Es ist deshalb wünschenswert, dass transparent gemacht wird, wer kuratiert, mit welchem Hintergrund und welcher Absicht. Diese Transparenz ermöglicht den Besuchern, die Kuratorenbrille anzuziehen, bewusst abzulegen oder eine eigene Brille aufzusetzen.
„Wenn Ausstellungen ‚sprechen‘, müssen wir verstehen, was sie sagen: Wir müssen als Ausstellungsmacher wissen, dass wir Bedeutung kreieren.“ Aus der Dramaturgie Ausstellungen erzählen uns eine Geschichte. „Es war einmal …“ sagt uns in der Literatur in drei Worten, dass jetzt ein Märchen beginnt – ein simpler, aber wirkungsvoller Einstieg ins Setting. Aus der literarischen oder theatralischen Literatur kennen wir zudem strenge Erzählstrukturen, etwa Aristoteles’ klassische Dramentheorie. Struktur gibt uns Halt, schafft Klarheit und offeriert eine mögliche Lesart. Natürlich können wir diese Struktur auch bewusst brechen, das Gegenteil erreichen oder Zwischentöne produzieren. Dazu müssen wir sie jedoch verstehen. Aristoteles’ klassische Dramentheorie basiert dabei auf einer Drei-Akt-Struktur: Exposition, Konflikt und Auflösung: „Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.“ 5 Der Schriftsteller Gustav Freytag erweiterte diese Theorie inhaltlich auf ein Gefüge aus fünf Akten: Exposition, Steigerung, Höhepunkt, Retardierendes Moment, Katastrophe oder Auflösung. Bezogen auf eine Ausstellung könnte dies Folgendes bedeuten: Erster Akt – Exposition: In der Exposition werden die Rezipienten (Zuschauer, Leser, Besucher) ins Setting eingeführt. Sie erfahren etwas über die zeitlichen und örtlichen Verhältnisse, lernen die Vorgeschichte sowie die für die Handlung wesentlichen Personen kennen und ihre Aufmerksamkeit wird auf den Keim des Konflikts und der Spannung gelenkt. Übertragen auf eine Ausstellung, kristallisieren sich dabei folgende Eckpunkte heraus: – Erzählperspektive ⁄ Kuration: Wer erzählt die Geschichte, wer spricht: Ist es der Kurator, die Institution oder der Künstler? Gibt es einen Ich-Erzähler oder einen auktorialen Erzähler? Um einen allwissenden Erzähler handelt es sich, wenn etwa verschiedene Beiträge aus verschiedenen Perspektiven verschiedener Personen zusammengestellt werden. Bei einem personalen Erzählstil führt hingegen eine Figur, ein Objekt oder ein Leitmotiv durch die Ausstellung.
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AUFMERKSAMKEIT STEUERN: ÜBERRASCHUNG, INTERAKTION, NUTZEN
Welcome
Infos Intro
Interaktion
Summary
Überraschung Q&A
Highlights
90 Minuten Spannung
Anfang
Hauptteil
Schluss
— Erkenntnisse aus der Wahrnehmungsforschung besagen, dass die Aufnahmebereitschaft eines Menschen zwischen 45 und 90 Minuten liegt. Dies zeigt sich nicht nur in Vorlesungen, bei Filmen oder Bühnenstücken, auch Ausstellungsrundgänge sind in etwa auf diese Aufmerksamkeitsspanne angepasst. Je nachdem, wie und wie oft dabei physisch intensive, kognitiv überraschende sowie emotionale Reize integriert werden, lässt sich die Qualität der Aufmerksamkeit steuern.
– Thema ⁄ Künstler: Der Künstler oder das Thema werden in geeigneter Form vorgestellt. Dies kann mit einem Text, einem Interview oder auch einer ersten exemplarischen Arbeit geschehen. Die Zusammenarbeit zwischen Kurator, Künstler und eventuell auch der Institution werden dabei transparent gemacht. – Setting ⁄ Kontext: Zum Setting gehören zum Beispiel ein Einleitungstext und ⁄ oder eine Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen. Handouts werden bereitgestellt, die Institution oder der Ausstellungsort präsentiert. Hier gilt es auch, die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich zu ziehen, eine Spanung zu erzeugen und Neugier zu wecken.
Aufmerksamkeit
Zweiter Akt – Steigerung: Im Zweiten Akt erfolgt das erregende Moment. Der Konflikt wird sichtbar, die Handlungsstränge werden miteinander verknüpft und verschlungen. Interessen stoßen aufeinander, Intrigen werden gesponnen. Die Entwicklung des Geschehens beschleunigt sich in eine bestimmte Richtung und die Spannung bezüglich des weiteren Verlaufs der Handlung sowie des Endes steigt. In einer Ausstellung wird hier etwas Faszinierendes gezeigt – etwas, was die Besucher in den Bann zieht. Demnach ist der Raum hier oft dicht und dunkel, sodass Interessierte gut ins Thema eintauchen können. 65
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AKT 3 HÖHEPUNKT (PERIPETRIE) Die Handlung erreicht ihren Höhepunkt (Klimax).
AKT 2 STEIGERUNG
AKT 4 RETARDIERENDES MOMENT
Steigende Handlung – mit erregendem Moment
Fallende Handlung mit hinhaltenden Momenten.
(Katastase). Die Situation verschärft sich.
Die Handlung verlangsamt sich, um in einer Phase der höchsten Spannung auf die bevorstehende Katastrophe hinzuarbeiten.
AKT 1 EXPOSITION
AKT 5 KATASTROPHE
Die handelnden Personen werden eingeführt, der dramatische Konflikt kündigt sich an.
Es kommt zur Katastrophe.
Dritter Akt – Höhepunkt: Im Dritten Akt erreicht der Konflikt seinen Höhepunkt, der Held steht in der entscheidenden Auseinandersetzung – es geht um Sieg oder Niederlage, Absturz oder Erhöhung. Es erfolgt die Peripetie, der entscheidende Wendepunkt. In der Ausstellung wird an dieser Stelle ein „Feuerwerk“ geboten. So ist die Schau inhaltlich hier meist sehr dicht oder imposante Werke werden besonders großzügig präsentiert. Dabei wird ein OhoEffekt angepeilt: Besucher sollen die Außenwelt ganz vergessen und sich vollkommen in der Ausstellung verlieren. Vierter Akt – Retardierendes Moment: Im Vierten Akt verzögert ein retardierendes Element die Entwicklung – die Spannung wird dadurch noch einmal gesteigert: In der Tragödie scheint der Held doch noch gerettet zu werden, während im Schauspiel sein Sieg abermals infrage gestellt wird. In der Ausstellung ereignet sich hier ein Bruch. Das kann beispielsweise eine Vertiefung ins Thema sein: So können erstmals eine Serie oder frühe Werke ausgestellt oder sogar ein Einblick ins Atelier gewährt werden. Es kann aber auch ein Rhythmuswechsel stattfinden: Ein neues Medium wird verwendet, viel vertikal ausgestellter Text wird von einem horizontal zu betrachtenden Kunstwerk abgelöst oder im weißen Ausstellungsraum wird ein Video in der Blackbox gezeigt. Auch der Perspektivwechsel ist ein adäquates Stilmittel: In 66
— Nicht nur das klassische Drama, sondern auch viele Ausstellungen bestehen aus fünf Akten, die im Gesamtgefüge jeweils eine bestimmte Funktion einnehmen. Dabei fasste der Schriftsteller Gustav Freytag (1816–1895) die Theorie des geschlossenen Dramas nach Aristoteles in einem pyramidalen Aufbau zusammen.
naturhistorischen Ausstellungen könnte das beispielsweise ein Kunstwerk sein, das die Wissensvermittlung unterbricht, unterstützt oder ergänzt. Oder es wird eine ruhige Sitzecke mit thematisch passendem Lesestoff angeboten. Kurz gesagt: Es funktioniert alles, was den Besuchsfluss verzögert, hemmt, ein Durchatmen und Selberdenken ermöglicht oder einen Raum der Reflexion bietet. Fünfter Akt – Katastrophe oder Auflösung: Der Fünfte Akt bringt die Lösung des Konflikts: entweder durch die Katastrophe und den Untergang des Helden in der Tragödie oder durch seinen Sieg im Schauspiel. Für die Ausstellung heißt dies, am Schluss darf kein Auslaufen sein! Der „Letzte Akt“ soll vielmehr ein Highlight enthalten – etwas, was den Besuchern bleibt und sie mitnehmen können. Dabei ist hier ein partizipatives Element genauso richtig wie ein Oho- oder Aha-Effekt – ein Abrunden mit einem Schlüsselwerk, das uns als letztes Puzzlestück zum Verstehen noch gefehlt hat. So kann hier das bekannteste Objekt eines Künstlers platziert werden, das eindrücklichste Exponat oder das Key Visual vom Ausstellungsplakat. Im Sinne einer Dürrenmatt’schen schlimmstmöglichen Wendung kann im Fünften Akt auch etwas völlig Überraschendes passieren: ein Kunstwerk auf dem Boden, bei dem die Besucher nicht wissen, ob sie drauftreten dürfen, genauso wie ein dunkler Raum mit einer nichtvisuellen Erfahrung wie etwa Klang oder Duft.
Praxistipps: Das sollten Sie in dieser Disziplin unbedingt tun! — 1. Spielen Sie mit dem Kontext und dem Inhalt! 2. Nutzen Sie die unterschiedlichen Wahrnehmungen in Ihrem Team! 3. Denken Sie an die Perspektive Ihrer Besucher! 4. Achten Sie auf Bedeutungen in Ihrem Alltag! 5. Schauen Sie sich Theaterstücke und Filme durch die Kuratorenbrille an!
Literaturtipps: Das sollten Sie in dieser Disziplin unbedingt lesen! — 1. Jana Scholze, Medium Ausstellung, Bielefeld 2019. 2. John Berger, Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt, Frankfurt am Main 2016. 3. Elena Filipovic, The Global White Cube, in: OnCurating, Issue 22, 2014. 4. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Berlin 2012. 5. Mario Andreotti, Traditionelles und modernes Drama, Bern 1996.
Eine Reinform dieser strengen Chronologie der Struktur der fünf Akte ist heute selten zu finden – weder in der Literatur noch im Film: Ein Buch kann mit dem Konflikt anfangen, ein Film mit der Auflösung. Wir haben die Grundstruktur so sehr verinnerlicht, dass wir ihre Charakteristik auch in anderer Reihenfolge mühelos erkennen und sie automatisch richtig zusammensetzen. Entsprechend ist es auch in Ausstellungen keinesfalls notwendig, die fünf Akte in chronologischer Reihenfolge zu platzieren. Ein vorgegebener Ausstellungsrundgang wirkt in vielen Fällen sogar hinderlich, pädagogisch oder blockiert eigene Denkprozesse. Einzelne Akte können auch mehrmals vorkommen und mehrere Höhepunkte sind genauso denkbar wie mehrere retardierende Elemente – solange das Zusammenspiel so orchestriert wird, dass die Struktur sowie das Ganze wahrnehmbar sind. Wie im Orchester, dessen Flötistin ich sehen kann und dessen Musik ich trotzdem als Ganzes wahrnehme.
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