Elektrosmog – ein Phantomrisiko
Elektrosmog – ein Phantomrisiko
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Inhalt
Vorwort
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Einleitung: Seriös ist nur das Vielleicht
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Die EMF-Gesundheitsrisiken: Tödlich bis harmlos
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Die EMF-Haftungsrisiken: Der Verlust des Unmöglichen
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Die EMF-Risiken des Versicherers: Es wird sich etwas ändern
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Zusammenfassung: Den Schaden begrenzen und kommunizieren
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Vorwort
Elektrosmog steht im Verdacht, Krebs und andere Krankheiten zu verursachen oder zu begünstigen. Die vorherrschende Meinung geht davon aus, dass Elektroindustrie und Elektrizitätswirtschaft jedoch nur dann haftbar gemacht werden könnten, wenn der bislang fehlende naturwissenschaftliche Kausalbeweis für eine gesundheitsschädigende Wirkung schwacher elektromagnetischer Felder (EMF) erbracht würde. Die vorliegende Publikation kommt zum gegenteiligen Schluss. Sie zeigt, dass bereits auf Grundlage des heutigen Wissensstandes Urteile zugunsten der Kläger gefällt werden könnten. Die nachfolgenden Kapitel legen ausführlich dar, weshalb die Frage nach den Gesundheitsrisiken schwacher elektromagnetischer Phänomene nicht sicher zu beantworten ist. Epidemiologische Studien können zwar belegen, dass Menschen unter bestimmten Expositionsbedingungen häufiger erkranken. Aus solchen Statistiken lässt sich aber grundsätzlich nie auf den Einzelfall schliessen. Solange die Ursachen von Krebs und anderen Krankheiten nicht zweifelsfrei geklärt sind, lassen sich Zusammenhänge bestenfalls vermuten. Entscheidende Frage ist deshalb nicht, zu welchen Ergebnissen die EMF-Forschung in absehbarer Zeit kommen wird, sondern, wie die Gesellschaft solche Vermutungen künftig bewertet: Einerseits erscheint es ungerecht, einem Opfer nur deshalb keinen Schadenersatz zuzusprechen, weil die Ursachen seiner Erkrankung nicht zweifelsfrei zu klären sind. Anderseits ist es ebenso ungerecht, jemanden nur schon deshalb haftbar zu machen, weil er den Schaden verursacht haben könnte.
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Aus dieser Pattsituation ergibt sich für die Versicherungswirtschaft ein äusserst gefährliches Änderungsrisiko, das aus zwei Komponenten besteht: Dem klassischen Entwicklungsrisiko, also der Möglichkeit, dass sich elektromagnetische Felder aufgrund neuer Forschungsergebnisse als gefährlicher erweisen als bisher angenommen. Und dem gesellschaftspolitischen Änderungsrisiko, also der Tatsache, dass gleiche wissenschaftliche Erkenntnisse aufgrund veränderter gesellschaftlicher Werte anders bewertet werden als bisher. Der allmähliche Übergang des Haftungsrechts von der ursprünglichen Verschuldenshaftung über die Gefährdungshaftung zur teilweise bereits praktizierten reinen Vermutungs- oder Verdachtshaftung skizziert die Richtung dieses Wandels. Das Rechtsinstrument Haftpflicht wird zunehmend als Mittel der Daseinsbewältigung ge- oder sogar missbraucht. Sei es, um politische Ziele im Kampf gegen eine als zunehmend bedrohlich empfundene Technisierung unserer Umwelt zu erreichen oder zum profanen Zweck der Bereicherung. Wir stufen das Änderungsrisiko also nicht deshalb als ausserordentlich brisant ein, weil sich schwache elektromagnetische Felder wider Erwarten doch als gefährlich erweisen könnten – so, wie sich vor vielen Jahren Asbestfasern nach und nach als gesundheitsschädlich herausstellten. Wir erachten das Änderungsrisiko deshalb als so gefährlich, weil ein grosses politisches und finanzielles Interesse breiter Kreise daran zu erkennen ist, dass Elektrosmog von der Gesellschaft als gefährlich angesehen wird.
Setzen sich diese Interessen durch, könnten hängige und künftige EMFHaftpflichtklagen zugunsten der Kläger entschieden werden und dadurch Forderungen existenzbedrohenden Ausmasses auf die Versicherungswirtschaft zukommen. Immense Abwehrkosten sind bereits jetzt zu erwarten. In diesem Sinne ist diese Publikation eine Warnung. Die EMF-Problematik ist für die Assekuranz gefährlicher und bedrohlicher als gemeinhin vermutet. Und zwar nicht wegen der nicht beweis- und quantifizierbaren Gesundheitsrisiken, sondern wegen des unkalkulierbar grossen gesellschaftspolitischen Änderungsrisikos. Die Publikation will jedoch mehr als nur warnen. Sie zeigt auch die wissenschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Hintergründe dieses Wandels auf und stellt die EMF-Problematik als typisches Beispiel für sogenannte Phantomrisiken dar, das heisst für denkbare Gefahren, deren Grösse nicht zu bemessen ist und die vielleicht nicht einmal existieren, die aber dennoch wirklich sind. Und sei es nur, indem sie Angst bewirken und Klagen provozieren. Künftig wird sich die Versicherungswirtschaft immer häufiger mit solchen Phantomrisiken konfrontiert sehen. Abgesehen von der dringend notwendigen Schadenbegrenzung im Bereich EMF stellt sich die übergeordnete Aufgabe, neue Bewältigungsstrategien für technologische Entwicklungs- und gesellschaftspolitische Änderungrisiken zu entwickeln. Die Versicherungswirtschaft kann dazu beitragen; allerdings nur in enger Zusammenarbeit mit allen Beteiligten.
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Die vorliegende Publikation präsentiert keine Lösungen. Sie zeigt aber auf, wo sie zu suchen sind: In den Werten, Gesetzen, Gepflogenheiten und Konventionen, die das Zusammenleben von Menschen in hochdifferenzierten Gesellschaften regeln. Solche Spielregeln dürfen nicht einseitig geändert werden. Vielmehr müssen sie – immer wieder aufs Neue – gemeinsam ausgehandelt und vereinbart werden. Wir sind zu dieser Kommunikation bereit und stellen uns gerne der zukunftsorientierten Diskussion über pragmatische und tragfähige Lösungen.
Dr. Bruno Porro Mitglied der Geschäftsleitung
Die Wissenschaft fängt eigentlich erst da an interessant zu werden, wo sie aufhÜrt. Justus von Liebig
Einleitung: Seriös ist nur das Vielleicht
Die öffentliche Diskussion über den sogenannten Elektrosmog konzentriert sich auf zwei Fragen: Schaden elektromagnetische Felder und Strahlungen – kurz EMF – der Gesundheit? Sind Hersteller beziehungsweise Betreiber von Anlagen und Geräten, die solche Felder und Strahlungen aussenden, für die dadurch entstehenden Schäden haftpflichtig? Kompliziertheit und Komplexität der EMF-Problematik
Nach allgemeiner Erwartung wird die Frage nach dem Gesundheitsrisiko elektromagnetischer Felder und Strahlungen über kurz oder lang mit einem eindeutigen Ja oder Nein beantwortet werden, was die haftungsrechtliche Situation dann quasi von selbst klären würde. Diese Erwartung ist falsch, weil sie auf der irrigen Annahme beruht, die Zusammenhänge zwischen elektromagnetischen Expositionen des menschlichen Organismus und Krankheiten wie Krebs, Immunschwäche, Alzheimer oder Parkinson seien lediglich kompliziert. Tatsächlich haben wir es jedoch mit komplexen Zusammenhängen zu tun, die mit den heute verfügbaren Forschungsmethoden nicht einmal zu erkennen, geschweige denn zu verstehen sind. Die gesuchten Antworten auf die Frage nach den Zusammenhängen liegen jenseits der heutigen «Wissbarkeitsgrenze». Eine einfache Analogie aus der Geschichte der Wissenschaft: Erst nach der Erfindung des Mikroskops konnte der Mensch erkennen, dass es Bakterien, Viren und andere Kleinstlebewesen gibt, die Krankheiten hervorrufen. Heute sucht die Wissenschaft nach Methoden und Instrumenten, die – vergleichbar einem Mikroskop – komplexe Systeme wie zum Beispiel unseren Organismus besser durchschauen und eines Tages
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vielleicht sogar verstehen lassen. Bis dahin sind über die Auswirkungen elektromagnetischer Phänomene auf den menschlichen Organismus nur Vermutungen möglich. Die aber sind zu vage, um die eingangs gestellte Frage nach der Schädlichkeit von EMF zuverlässig mit Ja oder Nein beantworten zu können. Die einzig seriöse Antwort lautet: vielleicht. Um dieses «vielleicht» soweit als möglich zu präzisieren, sind alle verfügbaren Informationen zu berücksichtigen. Deshalb müssten wir uns zunächst eingehend mit der Quanten- und der Relativitätstheorie auseinandersetzen, um eine ungefähre Vorstellung von dem zu gewinnen, was Physiker unter Feldern und Strahlungen, Energie und Kraft, Zeit und Raum verstehen. Weiter müssten wir alle Hypothesen über die Entstehung von Krebs und anderen Krankheiten diskutieren, um zu verstehen, was Mediziner und Physiologen über die Ursachen dieser Krankheiten wissen – und was nicht. All dies müsste vor dem Hintergrund der mehr als 2500 Jahre alten Geschichte des Kausalitätsbegriffes betrachtet werden, um nachvollziehen zu können, weshalb die Naturwissenschaft heute unter Ursache und Gesetzmässigkeit anderes versteht als noch zu Beginn unseres Jahrhunderts. Und schliesslich wäre auch noch zu untersuchen, wie sich dieses veränderte Ursachenverständnis der Naturwissenschaften auf die Rechtsetzung und -sprechung auswirkt. Dazu wiederum gälte es, umstrittene soziologische und politische Grundsatzfragen zu diskutieren.
An der Schnittstelle zwischen Recht und Naturwissenschaft
EMF aus der Sicht der Assekuranz
Eine solch multidisziplinäre Betrachtung der EMF-Problematik ist aber allein schon deshalb wenig hilfreich, weil sich jede der involvierten Disziplinen einer eigenen Denkweise, Methodik und Sprache bedient, ohne deren Kenntnis die jeweiligen wissenschaftlichen Aussagen widersprüchlich erscheinen müssen. Anderseits können wir diese Widersprüche nicht ausser Betracht lassen, weil die EMF-Problematik genau hier, an der Schnittstelle zwischen Recht und Naturwissenschaft, ihren eigentlichen Ursprung hat. Denn die Rechtssysteme sehen sich gegenwärtig vor die Aufgabe gestellt, aufgrund nur vager naturwissenschaftlicher Erkenntnisse einen gerechten Ausgleich zwischen individuellem Schutzbedürfnis und gesamtgesellschaftlichen Interessen herstellen zu müssen. Wie sollen wir mit Technologien umgehen, die vielen Menschen offensichtlich nützen, einigen wenigen aber möglicherweise grossen Schaden zufügen? Da niemand über mehr Erfahrung im systematischen Umgang mit Risiken verfügt als die Versicherungswirtschaft, wird von ihr zu Recht erwartet, zur Lösung dieses Problems beizutragen. Viele Interessengruppen versuchen aber, die Haltung der Assekuranz zur EMFProblematik politisch zu instrumentalisieren; etwa indem sie in eine Deckung beziehungsweise Nichtdeckung von EMF-Risiken einen Beweis für die Unbedenklichkeit respektive Gefährlichkeit elektromagnetischer Phänomene hineininterpretieren. Solchen Ansinnen muss sich die Assekuranz verweigern. Der Versicherer kann die EMF-Problematik weder naturwissenschaftlich noch philosophisch, medizinisch oder juristisch und schon gar nicht parteipolitisch bewerten, sondern er kann zu all diesen Fragen nur aus der spezifischen Perspektive der Assekuranz Stellung beziehen.
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Daraus ergibt sich die dieser Publikation zugrundeliegende Methodik: Wir diskutieren die EMF-Problematik aus der Sicht des Risk Managements. Wir sehen unsere Aufgabe nicht darin, die erkenntnistheoretischen, physikalischen, technischen, physiologischen, rechtlichen, soziologischen und politischen Fragen zu klären. Sondern wir wollen zeigen, wie sich EMF-Risiken auf Grundlage der heute verfügbaren Informationen darstellen und welche Möglichkeiten der Risikobehandlung bestehen. Statt das Problem lösen zu wollen, beschränken wir uns darauf, Möglichkeiten der Problembewältigung zu skizzieren. Dabei konzentrieren wir uns – den Aufgaben der Assekuranz gemäss – auf den sogenannten Risikotransfer.
EMF aus der Sicht des Risk Managements
Wichtigste Voraussetzung für eine systematische Risiko-Diskussion der EMFProblematik ist die konsequente Unterscheidung zwischen dem EMF-Gesundheitsrisiko und dem EMF-Haftungsrisiko. Denn nur so wird deutlich, dass die Frage nach der Haftung nicht durch Klärung der naturwissenschaftlich-medizinischen Aspekte entschieden wird. Vielmehr lässt die aktuelle Entwicklung moderner Gesellschaften befürchten, dass selbst dann ein Haftungsrisiko besteht, wenn eine Gesundheitsgefährdung durch schwache elektromagnetische Felder nicht bewiesen ist. Um diesen Zusammenhang anschaulich darzustellen, wurde die Publikation in vier Kapitel gegliedert.
EMF-Gesundheitsrisiko und EMFHaftungsrisiko
Während «Das EMF-Gesundheitsrisiko» die Gesundheitsgefahren diskutiert, behandelt «Das EMF-Haftungsrisiko» die Gefahr von Schadenersatzforderungen insbesondere an die Elektrotechnische und Elektronische Industrie. «Das EMFRisiko des Versicherers» zeigt, dass das Gesundheitsrisiko versicherungstechnisch betrachtet keine ungewöhnliche Aufgabe darstellt, dagegen das Haftpflicht-Risiko unter bestimmten Bedingungen für den Versicherer existenzbedrohende Ausmasse annehmen kann. Eine Deckung wird nur dann gewährt werden können, wenn von der Öffentlichkeit elementare Kriterien der Versicherbarkeit erfüllt sind. Dieser versicherungspolitische Aspekt ist Thema der Zusammenfassung. Ein Denkprotokoll
Mit dem Ziel der guten Lesbarkeit und Verständlichkeit haben wir auf eine wissenschaftliche Darstellung unserer langjährigen Studien zur EMF-Problematik verzichtet. Wir konzentrieren uns auf die wesentlichen Punkte und zeigen, wo Lösungen zu suchen sind: Nicht vor Gericht oder in den Forschungslabors, sondern in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung über den Umgang mit Risiken. Deshalb darf diese Publikation nicht als «fertiges Ergebnis» betrachtet werden. Sie ist vielmehr Protokoll eines Denkprozesses innerhalb der Schweizer Rück, dessen primäres Ziel war, das Problem möglichst genau zu fassen. Dazu haben eine Vielzahl von Wissenschaftlern und Experten aus Europa, den Vereinigten Staaten und Japan in vielen persönlichen Gesprächen beigetragen. Ihnen allen sei insbesondere für Ihre Bereitschaft gedankt, die Schattenlinien der jeweils eigenen Disziplin zu überspringen und uns zu helfen, die fachübergreifenden Grundmuster der EMF-Problematik herauszuarbeiten.
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Aus der Tatsache, dass die Sonne bisher jeden Tag aufgegangen ist, kann niemals logisch folgen, dass sie am n채chsten Tag wieder aufgehen m체sse. Werner Heisenberg
Die EMF-Gesundheitsrisiken: Tödlich bis harmlos
Um das EMF-Gesundheitsrisiko diskutieren zu können, sind fünf Fragen zu klären: Was sind elektromagnetische Felder und Strahlungen und welche Gefahr stellen sie für den Organismus dar? Wie gross ist das Risiko einer Gesundheitsschädigung durch elektromagnetische Expositionen? Wie ist dieses Risiko zu bewerten? Wie können wir dieses Risiko behandeln? Was sind elektromagnetische Felder und Strahlungen?
Der Physiker versteht unter einem Feld einen mit Kraft erfüllten Raum. Das Gravitationsfeld der Erde ist beispielsweise von Schwerkräften erfüllt, die uns in Richtung Erdmittelpunkt ziehen. Elektrische Felder bestehen aus elektrischen Kräften, die von Ladungsträgern, etwa Protonen und Elektronen, ausgehen. Gleichnamige Ladungsträger stossen sich ab, ungleichnamige ziehen sich an. Durch Anziehung bilden Elementarteilchen Atome, diese wiederum Moleküle, Zellen, Organe, Lebewesen. So bestehen wir aus Materie, die von elektrischen Feldern zusammengehalten wird. Heben sich die elektrischen Kräfte von miteinander verbundenen Teilchen auf, erscheinen sie nach aussen elektrisch neutral. Berühren sich unterschiedliche Materialien, findet an ihren Grenzflächen jedoch ein allmählicher Ladungsträgeraustausch statt. Liegt zum Beispiel ein Wollpullover auf unseren Haaren, wandern negative Ladungsträger von der Wolle auf unsere Haare. Zwischen den nun «negativen» Haaren und dem «positiven» Pullover baut sich eine elektrische Spannung auf. Haare und Pullover ziehen sich gegenseitig an. Ziehen wir den Pullover schnell über den Kopf, bleibt den negativen Ladungsträgern nicht genügend Zeit, um von den Haaren auf die Wolle zurückzuspringen. An den Haaren entsteht ein Überschuss negativer Ladungsträger, die sich gegenseitig abstossen: Die Haare stehen uns zu Berge, und zwar solange, bis die überschüssigen
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Ladungsträger als schwacher elektrischer Strom von den Haaren über den Körper zur Erde abgeflossen sind. Bewegte Ladungsträger – gleichbedeutend mit elektrischen Strömen – erzeugen ein Magnetfeld. Fliesst Strom durch ein Kabel, geht von diesem ein Magnetfeld aus. Wickeln wir das Kabel zu einer Spule auf, entsteht in deren Innenraum ein rotierendes Magnetfeld. Installieren wir dort einen frei beweglichen Magneten, wird dieser von den Magnetkräften der bewegten Ladungsträger mitgezogen und dreht sich. Das ist das Prinzip des Elektromotors. Umgekehrt: Drehen wir den Magneten, bewegt dessen Magnetfeld die Ladungsträger im Kabel, und es wird Strom erzeugt. Das ist das Prinzip des Generators.
Magnetfelder
Dieser Zusammenhang wird als Elektromagnetismus bezeichnet. Bewegte Ladungsträger erzeugen Magnetfelder; bewegte Magnetfelder erzeugen elektrische Ströme. Auch das Erdmagnetfeld wird von starken elektrischen Strömen im Inneren unseres Planeten hervorgerufen.
Elektromagnetismus
Wieso aber ist ein gewöhnlicher, offensichtlich nicht «elektrischer» Haushaltsmagnet magnetisch? Elektronen rotieren um ihre eigene Achse, vergleichbar einer Eiskunstläuferin, die sich bei einer Pirouette zwar nicht von, aber auf der Stelle bewegt. Auch wenn ein Elektron scheinbar ruht, ist es doch ständig in Bewegung und deshalb immer von einem Magnetfeld umgeben. Je nach Konstellation der Elementarteilchen können sich die Magnetkräfte gegenseitig aufheben, und die Atome beziehungsweise Moleküle erscheinen nach aussen unmagnetisch. Oder die Kräfte verstärken sich, wodurch der jeweilige Gegenstand magnetisch erscheint.
Entstehung des Magnetismus
Elektrische Wechselfelder, magnetische Wechselfelder
Nun sind bekanntlich zwei Stromarten zu unterscheiden. Gleichstrom, bei dem Ladungsträger vom einen zum anderen Ende des Kabels wandern, und Wechselströme, bei denen sich die Ladungsträger, vergleichbar einem Pendel, hin und her bewegen. Entsprechend schwingen auch die Felder dieser Ladungsträger, wodurch sie zu elektrischen beziehungsweise magnetischen Wechselfeldern werden. Während uns die Haare in einem Gleichfeld zu Berge stehen, werden sie von einem Wechselfeld in Schwingungen versetzt. Sensible Menschen nehmen dies als leichtes Vibrieren der Körperhaare wahr, wenn sie beispielsweise direkt unter einer Starkstromleitung stehen.
Elektromagnetische Strahlung
Stellen wir uns einen einzelnen solchen Ladungsträger und seine Felder im Wechselstrom vor: Kommt der Ladungsträger zum Stehen, wird die Bewegung seiner Felder verlangsamt. Also wäre zu erwarten, dass die bewegten Felder im genau gleichen Moment wie ihr Ladungsträger zum Stillstand kommen. Nach der Relativitätstheorie können sich Informationen jedoch maximal mit Lichtgeschwindigkeit fortpflanzen, also nur mit endlicher Geschwindigkeit. Die äusseren Bereiche der Felder erhalten die Information über die Verlangsamung ihres Ladungsträgers demnach nicht sofort, sondern mit zeitlicher Verzögerung. Obwohl der Ladungsträger bereits ruht, sind sie immer noch in Bewegung. Pendelt der Ladungsträger sehr schnell hin und her, verlieren die Felder den Anschluss an ihren Ladungsträger. Sie lösen sich von ihrem Ursprung ab und breiten sich als elektromagnetische Strahlung im Raum aus. Vergleichbar einem Ton, der sich von einer Klaviersaite löst und durch den Raum schwebt. Bekannte Beispiele für elektromagnetische Strahlungen sind Licht, Wärme und Radiosignale.
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Woraus Kräfte und Strahlungen bestehen, weiss die Physik noch nicht. Einerseits verhält sich Licht wie eine Schwingung, anderseits zeigt es Eigenschaften von Teilchen. Deshalb sprechen die Physiker vom Welle-Teilchen-Dualismus. Dieses Phänomen ist nicht erklärbar, ohne unsere tradierte Vorstellung von Raum und Zeit aufzugeben, was hier zu weit führen würde. Deshalb beschränken wir uns auf eine vereinfachende Zusammenfassung der physikalischen Aspekte: Felder bestehen aus Gravitationskräften, elektrischen Kräften oder magnetischen Kräften. Die Wirkung dieser Kräfte besteht darin, die Ursprünge jeweils gleichartiger Felder zu beschleunigen, indem sie sich anziehen oder abstossen. Bei Gleichfeldern ist die Kraft konstant, bei Wechselfeldern kehrt sich ihre Richtung ständig um, wodurch die angezogenen beziehungsweise abgestossenen Teilchen in Schwingung versetzt werden. Strahlung können wir uns als Wechselfelder vorstellen, die sich von ihrem Ursprung lösen und frei im Raum ausbreiten.
Die Grenzen physikalischen Wissens
Da sich unser Körper aus Teilchen zusammensetzt, die alle von mehr oder weniger starken elektrischen und magnetischen Feldern umgeben sind, kann im Prinzip jeder Bestandteil unseres Organismus durch von aussen eindringende Felder und Strahlungen bewegt beziehungsweise in Schwingung versetzt werden. Eine aus dem Auge herauspräparierte Zelle zeigt in wässriger Lösung in einem Reagenzglas beispielsweise ausgeprägte magnetische Eigenschaften. Gleich einer Kompassnadel richtet sie sich nach dem Feld eines in die Nähe gebrachten Magneten aus.
Wie gefährlich sind elektromagnetische Felder und Strahlungen?
Bei einem lebenden Menschen können diese Augenzellen ihre Lage natürlich nicht beliebig verändern, weil sie Teil eines festen Zellverbandes sind. Um Teilchen tatsächlich zu bewegen, müssen sie entweder beweglich sein, wie im Beispiel mit den Haaren, oder es müssen genügend starke Kräfte wirken, um sie von ihrer Umgebung losreissen zu können. Nur eine Frage der Dosis?
In Anlehnung an den Lehrsatz von Paracelsus, wonach allein die Dosis bestimme, ob ein Ding Gift sei, könnte angenommen werden, dass die Gesundheitsgefährdung allein von der Feld- oder Strahlungsstärke bestimmt werde. Etwa so, wie die Temperatur eines Steins nur dadurch bestimmt wird, wieviel Energie ihm von aussen zugeführt wird. Unser Organismus stellt jedoch ein komplexes System dar, das selbst Energie erzeugt und verbraucht und auf Energiezufuhr ganz unterschiedlich reagiert. Dazu ein Beispiel aus der Welt des Kinos: Die Lampe des Filmprojektors gibt Lichtenergie ab, die von der Leinwand reflektiert, von unserem Auge aufgenommen, in der Netzhaut in elektrische Energie und in Form von Nervensignalen ans Sehzentrum unseres Gehirns weitergeleitet wird. So sehen wir Antony Perkins in Hitchcocks «Psycho» das Messer schwingen – und unser Herz schlägt schneller.
EMF als Signale
Die Reaktion des Organismus wird also nicht nur von der Energiemenge, sondern auch von der übertragenen Information beziehungsweise deren Interpretation bestimmt. Die Physiologen ziehen es deshalb vor, statt von Ursachen und Wirkungen von Signalen und Antworten zu sprechen. Im Beispiel des Spielfilms besteht das Signal in der Information «gleich geschieht ein Mord». Die biologische Antwort kann – je nach Gemüt und
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Kinoerfahrung des Zuschauers – von einem gelangweilten Gähnen bis zum Herzinfarkt reichen. Stellen wir uns nun vor, einer der Kinobesucher würde angesichts der oben angedeuteten Mordszene vor Schreck aufspringen und aus dem Kino fliehen. Für diese biologische Antwort muss offensichtlich viel mehr Energie aufgewendet werden als das auslösende Signal beinhaltet. Dieses Beispiel illustriert einen für das richtige Verständnis der EMF-Problematik besonders wichtigen Zusammenhang: Der Organismus kann Signale energetisch verstärken. Eigentliche Ursache der biologischen Antwort ist dieser Verstärkungsprozess, nicht das Signal selbst. Dieses wirkt «nur» als Auslöser. Mit den energetischen Wirkungen und den Signalwirkungen sind folglich zwei verschiedene Gefahren elektromagnetischer Phänomene zu unterscheiden. Energetische Wirkungen schaden dem Organismus, indem einzelnen Molekülen, Zellen oder Organen soviel Energie zugeführt wird, dass diese ganz oder teilweise zerstört werden. Sonnenstrahlung beispielsweise kann unsere Hautzellen so stark erhitzen, dass es zu einem Sonnenbrand kommt. Die kurzwelligen Sonnenstrahlen – etwa ab dem Ultraviolett-Bereich – enthalten noch mehr Energie und können deshalb gar chemische Bindungen in den Genen der Hautzelle aufbrechen. Eine mögliche Folge ist die Entstehung von Krebszellen. Mikro- und Radiowellen enthalten demgegenüber erheblich weniger Energie, dringen allerdings tiefer in den Körper ein und können deshalb tiefliegendes Gewebe erhitzen. Das ist der gleiche Effekt wie wenn Mikrowellen in einem Ofen die in einem Stück Fleisch enthaltenen Wassermoleküle in hohe Schwingungen versetzen, wodurch das zu garende Gut von innen her erwärmt wird.
Energetische Wirkungen
Die Gefährlichkeit solcher Strahlungsquellen wird häufig überschätzt, weil man nicht berücksichtigt, dass die Energiedichte der Strahlung mit zunehmender Entfernung von ihrem Ursprung überproportional abnimmt. Das kann an einem gewöhnlichen Elektroherd nachvollzogen werden. Unmittelbar über der heissen Kochstelle ist die elektromagnetische Wärmestrahlung so stark, dass wir uns sofort die Finger verbrennen. Doch bereits mit einem Abstand von etwa einem halben Meter ist die Strahlung harmlos schwach. Die Annahme, schwache Radiosignale könnten dem Menschen schaden, entspricht in etwa der Befürchtung, man könne sich vom Wohnzimmer aus an einem in der Küche stehenden Herd die Finger verbrennen. Ein anderes Missverständnis ergibt sich aus der weit verbreiteten Meinung, Strahlung sei immer gefährlich, auch wenn sie noch so schwach ist. Abgesehen von der weit verbreiten Assoziation mit radioaktiver Strahlung beruht diese Befürchtung auf der Annahme eines kontinuierlichen Ursachen-Wirkungs-Zusammenhangs: Wenn starke Strahlung einen grossen Gesundheitsschaden bewirkt, so wird ein Bruchteil dieser Strahlung einen entsprechenden Bruchteil dieses Schadens anrichten. Tatsächlich laufen energetische Vorgänge jedoch immer gequantelt, also stufenartig ab. Führen wir einem System kontinuierlich Energie zu, treten bestimmte Wirkungen nicht in gleichem Masse dazu auf, sondern sprunghaft und immer erst dann, wenn das System das für die jeweilige Wirkung erforderliche Energieniveau erreicht hat. Das heisst: Durch Energiezufuhr – etwa durch Sonneneinstrahlung – wird eine Hautzelle zwar immer erwärmt. Geschädigt wird sie dadurch jedoch erst dann, wenn ihre Innentemperatur 47 Grad Celsius übersteigt. Thermische Schäden setzen also stets eine relativ starke Energiezufuhr voraus.
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Signalwirkungen hingegen können selbst durch schwächste Felder hervorgerufen werden. Denn der Organismus kann, wie am Beispiel des verschreckten Kinobesuchers illustriert, schwache Signale in starke biologische Antworten umsetzen – so wie ein Radiogerät die schwachen Signale eines Rundfunksenders verstärkt. Nach dem oben skizzierten Generator-Prinzip kann ein von aussen einwirkendes magnetisches Wechselfeld in unserem Körper elektrische Ströme induzieren, die unter Umständen zu einem Herzkammerflimmern führen, optische Eindrücke vortäuschen oder biochemische Prozesse beeinflussen. Das entspricht dem Prinzip vom Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Allerdings wird diese Analogie der Komplexität unseres Organismus nicht gerecht. Wir müssen uns eher ein Fass vorstellen, das selbst Wasser produziert und ständig welches verbraucht, zudem von vielen Quellen gespeist wird und gleichzeitig aus vielen Öffnungen Wasser abgibt. Und: Es hat einen Steuerungsmechanismus, der durch das Öffnen von Überlaufventilen oder Freisetzen eingebauter Wasserreserven auch extrem starke Schwankungen des Wasserspiegels blitzschnell auszugleichen vermag. Die Energiemengen schwacher elektromagnetischer Phänome liegen in einer Grössenordnung, die im obigen Bild einzelnen Wassertröpfchen oder sogar nur einzelnen Wassermolekülen entspricht. Sie sind also so schwach, dass ein einzelnes solches Feld einen intakten Organismus praktisch nicht stören kann.
Signalwirkungen
Elektrosmog
Melatonin-Hypothese
Dennoch ist eine Schädigung des Organismus denkbar. Erstens könnten viele Tröpfchen auf einmal in das Fass gelangen. Dies entspricht der Hypothese vom Elektrosmog. Einige Forscher mutmassen, dass die Vielzahl elektromagnetischer Phänomene einer hochtechnisierten Umwelt eine Art Smog bildet, der den Organismus langfristig in ähnlicher Weise stresst wie zum Beispiel ein zwar niedriger, aber ständig anhaltender Geräuschpegel. Unklar ist die Bedeutung dieses Elektrostresses für den Organismus als Ganzes, insbesondere im quantitativen Vergleich zu anderen Stressfaktoren wie chemischen Belastungen oder psychischen Faktoren. Zum zweiten ist denkbar, dass der Regelmechanismus selbst beeinträchtigt wird. Ein Beispiel für solche Überlegungen ist die Melatonin-Hypothese. Melatonin ist ein wichtiges Hormon mit vermutlich krebsunterdrückender Wirkung. Es wird von der tief im Gehirn liegenden Zirbeldrüse hergestellt. Seine Produktion wird unter anderem über die Netzhaut des Auges gesteuert: je mehr Licht, desto weniger Melatonin. Experimente zeigen, dass auf die Zirbeldrüse einwirkende Magnetfelder ebenfalls zu einer Verringerung der Melatoninproduktion führen. Die Felder beschädigen die Drüse zwar nicht, signalisieren ihr aber, jetzt nicht zu produzieren. Deshalb ist nicht auszuschliessen, dass technisch erzeugte Magnetfelder über die Beeinflussung der Zirbeldrüse eine Verringerung der Melatoninproduktion bewirken und auf diese Weise indirekt die Tumorabwehr des Organismus schwächen. Abgesehen davon, dass die krebsunterdrückende Wirkung von Melatonin noch bezweifelt wird, ist die Beeinträchtigung der Zirbeldrüse eine rein qualitative Beobachtung, und es gibt keinerlei konkrete Anhaltspunkte, ob und in welchem Masse das Tumorabwehrsystem tatsächlich beeinträchtigt wird.
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Ähnlich verhält es sich mit allen anderen Hypothesen über mögliche Zusammenhänge zwischen Reizerscheinungen und krankhaften Prozessen. Sie sind zwar denkbar, aber weder zu beweisen noch zu widerlegen, geschweige denn zu quantifizieren. Statt diese Hypothesen einzeln zu diskutieren, ist es wichtiger zu zeigen, weshalb die Erforschung dieser Zusammenhänge so schwierig ist. Starke Felder und Strahlungen hinterlassen eindeutige Spuren; Überhitzungen und Verbrennungen resultieren beispielsweise in typischen Gewebeveränderungen. Im Prinzip haben wir es also mit Verletzungen zu tun, die sich in der Regel ebenso eindeutig auf bestimmte elektromagnetische Expositionen zurückführen lassen wie zum Beispiel ein Knochenbruch auf einen Sturz beim Skifahren. Ein Fall: Bei Arbeiten an einer RadarSendeantenne wurde diese versehentlich in Betrieb gesetzt und einer der Techniker starker Mikrowellenstrahlung ausgesetzt. Kurze Zeit später starb der Mann. Bei der Autopsie wurden verbrennungsartige Gewebeveränderungen festgestellt, die eindeutig auf die thermische Belastung durch die Mikrowellenbestrahlung zurückzuführen waren. Solche Unfälle und Experimente an isolierten Molekülen, Zellen und Organen klären den generellen Zusammenhang zwischen bestimmten elektromagnetischen Expositionen und thermischen Schäden zweifelsfrei. Weil eine Hautzelle, wenn sie auf mehr als 47 Grad erhitzt wird, nicht nur zerstört werden kann, sondern zwingend zerstört wird, darf der Schluss gezogen werden: Wurde eine Hautzelle thermisch zerstört, so muss ihr entsprechend viel Energie zugeführt worden sein.
Probleme der EMF Forschung
Schwache Felder und Strahlungen müssen hingegen nicht zwingend, können aber biologische Antworten auslösen. Setzen wir den Körper schwachen Feldern aus, führt dies nicht sicher, sondern nur vielleicht zu bestimmten Reaktionen. Zudem können die jeweiligen biologischen Antworten auch durch andere Signale ausgelöst werden. Eine verringerte Melatonin-Produktion, um dieses Beispiel wieder aufzugreifen, muss nicht zwingend auf Magnetfeldeinwirkungen, sondern kann auch auf viele andere, möglicherweise sogar unbekannte Vorgänge zurückzuführen sein. Wir sehen nun, dass die Forschung zwei grundverschiedene Zusammenhänge zu klären versucht. Einerseits klassische Ursachen-Wirkungsbeziehungen, die sich oft sogar experimentell belegen lassen: Wird eine Zelle überhitzt, wird sie immer zerstört. Um solche Zusammenhänge zu erkennen, bedarf es nicht einmal eines genauen Wissens der interzellulären Vorgänge. Für praktische Zwecke genügt die Feststellung, dass es so ist. Zum anderen hat es die Forschung mit komplexen Ursachen-Wirkungs-Geflechten zu tun, in denen beobachtbare biologische Antworten in unbekannter Weise durch schwache Signale ausgelöst oder beeinflusst werden können. Entgegen der allgemeinen Annahme, die Forschung versuche zu beweisen, dass schwache EMF-Phänomene Krebs erzeugen, versucht sie vielmehr herauszufinden, ob und – falls ja – in welcher Weise und unter welchen Bedingungen solche Krankheiten durch elektromagnetische Phänomene beeinflusst werden, wobei nicht einmal eine gesundheitsfördernde Wirkung auszuschliessen ist. Zweifelsfreie Antworten wird die Forschung erst geben können, wenn die Krankheitsursachen vollständig geklärt sind. Wenn wir eines Tages wissen sollten, welche Rolle schwache elektromagnetische Felder bei
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Krebserkrankungen spielen, dann werden wir auch wissen, wodurch Krebs entsteht. Bis dahin bleibt der Wissenschaft nichts anderes übrig, als immer wieder neue Hypothesen aufzustellen, zu überprüfen und zu verwerfen, bis sich schliesslich aus vielen Einzelerkenntnissen ein aussagekräftiges Gesamtbild über Krebs und andere Krankheiten herausschält. Alternativ zu diesem mühsamen Weg der Ursachenforschung wird immer häufiger versucht, gesundheitsschädliche Einflüsse elektromagnetischer Phänomene mittels epidemiologischer Untersuchungen nachzuweisen. So zeigen mehrere Studien, dass in der Nähe von Hochspannungsleitungen aufwachsende Kinder überdurchschnittlich häufig an Leukämie erkranken. Darin einen Beweis oder auch nur einen deutlichen Hinweis auf eine Krebs erzeugende oder begünstigende Wirkung elektromagnetischer Felder zu sehen, ist jedoch eine allen Regeln der Statistik widersprechende und geradezu unseriöse Schlussfolgerung. Denn diese Studien beobachten nur die Korrelation zwischen dem Vorhandensein bestimmter EMFQuellen – der Stromleitungen – und der relativen Erkrankungshäufigkeit von Kindern, die in der Nähe dieser Quellen wohnen. Weder aber wurde gemessen, welchen Feld- und Strahlungsstärken die Kinder effektiv ausgesetzt waren, noch konnte untersucht werden, ob tatsächlich Reizerscheinungen auftraten. Zudem sagen statistische Untersuchungen grundsätzlich nichts über die Art der Beziehungen zwischen zwei Phänomenen aus.
Epidemiologische Studien
Ein anderes Beispiel: Nach einer skandinavischen Studie erkranken Gleiskontrolleure nach mehr als zehnjähriger Berufstätigkeit etwa doppelt so häufig an einem Gehirntumor wie es dem Durchschnitt der Bevölkerung entspricht. Darin könnte ebenfalls ein schlagender Beweis für die Gefährlichkeit der von den elektrischen Fahrdrähten ausgehenden Felder gesehen werden. Der Autor der Studie, Tore Tynes, gibt allerdings zu bedenken, dass die Gleisgänger beim täglichen Ablaufen der Eisenbahnstrecken nicht nur elektromagnetischen Feldern, sondern auch vielen anderen Einflüssen ausgesetzt sind, darunter auch bekannten Gesundheitsgefahren wie etwa Metallstaub oder den Dämpfen von Holzschutzmitteln, mit denen die Eisenbahnschwellen behandelt werden. Um zur Klärung der für die EMF-Problematik relevanten Fragen beitragen zu können, müssten statistische Studien ein entscheidendes Kriterium erfüllen: Die miteinander verglichenen Personengruppen dürften sich einzig in ihrer elektromagnetischen Exposition unterscheiden. Alle anderen Lebensumstände, die Lebensweise und selbst die genetischen Prädispositionen müssten hingegen identisch sein. Nur dann wäre es begründet anzunehmen, dass die vom Durchschnitt abweichenden Erkrankungsraten in direktem Zusammenhang mit der elektromagnetischen Exposition stehen. Dieses Kriterium ist in der Praxis nicht zu erfüllen, weshalb epidemiologische Studien ein für die EMF-Forschung letztlich ungeeignetes Forschungsinstrument darstellen: Fernsehen, Radio, Telefon, Telefax, Handy, künstliches Licht, Leuchtreklamen und andere technische Anwendungen des Elektromagnetismus sind immer auch mit bestimmten Lebensweisen verbunden, die sich ohne Zweifel auf die Gesundheit auswirken können. Angenommen, eine epidemiologische Studie würde nachweisen, dass
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Fernsehzuschauer häufiger erkranken als Personen, die nie elektronische Massenmedien nutzen, so wäre damit noch lange nicht geklärt, was den Organismus mehr strapaziert: die Felder und Strahlungen des Fernsehapparates, die Botschaften dieses Mediums oder die Trägheit der Fernsehzuschauer. Zu Beginn dieses Kapitels hatten wir gefragt, welche Gesundheitsgefahren von elektromagnetischen Phänomenen ausgehen. Die Palette möglicher Effekte reicht von eindeutig nachweisbaren, lebensbedrohlichen Verletzungen bis zu Reizerscheinungen, die den Organismus, wenn überhaupt, allenfalls indirekt beeinflussen. Nach allgemeiner Auffassung sind diese Wirkungen direkt abhängig von der Stärke der jeweiligen Felder und Strahlungen. Dies gilt jedoch nur für die thermischen Schäden. Für sie können Grenzwerte ermittelt werden, oberhalb derer eine Schädigung auftreten muss und unterhalb derer sie nicht auftreten kann und deshalb auszuschliessen ist. Für die Reizerscheinungen lassen sich solche Grenzwerte nicht ermitteln. Zwar stellt jedes Signal immer auch eine Energiezufuhr dar. Da die Signale jedoch vom Organismus verstärkt werden, kann theoretisch selbst das schwächste Signal biologische Antworten hervorrufen und auf diese Weise organische Prozesse beeinflussen. Daraus ergibt sich die hypothetische Möglichkeit indirekter Zusammenhänge zwischen schwachen elektromagnetischen Expositionen und letztlich allen komplexen Vorgängen im Organismus, also auch Krankheiten wie Krebs, Alzheimer, Parkinson und so weiter. Die Befürchtung, beispielsweise von Stromleitungen oder Elektrogeräten ausgehende Felder könnten eine Gesundheitsgefahr darstellen, beruht allein auf dieser hypothetischen Möglichkeit. Nachgewiesen ist dieser Zusammenhang nicht, und nach aktueller Lage der Dinge ist ein solcher Nachweis in absehbarer Zeit
Zusammenfassung
Die untenstehende Grafik gibt einen Überblick der grossen Bandbreite elektrischer und magnetischer Felder beziehungsweise elektromagnetischer Strahlungen, ihrer technischen Anwendungsbereiche und der heute erkennbaren biologischen Wirkungen.
mögliche biologische Wirkungen
Frequenz
Wellenlänge
(Hz) 1024
(m)
physikalische Phänomene
technische Anwendungen
Frequenzkategorien
10–16
Beeinträchtigung chemischer Bindungen
1fm 10
22
10
20
1018
Hochenergetische Strahlen
10–14
10–12
Kernphysik
1pm γ-Strahlen (radioaktive)
10–10
1Å Röntgenstrahlen
1nm 1016
1014
1THz
1012
Erwärmung
Medizinische Röntgengeräte
10–8 UV-Strahlen 10–6
1 µm
10–4
10–2
sichtbare Strahlung (Licht)
Infrarote Strahlen
1cm
Höhensonne
Optische Strahlung
Heizung 780nm
1mm 1010
380nm
Mikrowellen
Radar
Zentimeter-W. Dezimeter-W.
1GHz 108
100
1m
Ultrakurz-W.
Fernsehen
Kurz-W. 1MHz
106
102
Mittel-W.
Reizung
Stromschlag
Frequenz:
10
4
104
Lang-W.
Handys
1kHz 102
Hz = Schwingung / Sekunde kHz = Kiloherz MHz = Megaherz
18
100
Netzfrequenz
Telefonie Stromversorgung Eisenbahn Elektrogeräte
Niederfrequente Felder
Gleichstrom
Batterien
Statische Elektrizität
106 LängstWellen 108
GHz = Gigaherz THz = Teraherz
Hochfrequente Strahlung
Rundfunk
1km
1Hz
Ionisierende Strahlung
Wellenlänge: km = Kilometer m = Meter cm = Zentimeter
mm = Millimeter µm = Mikrometer nm = Nanometer
Å = Ångström pm = Pikometer fm = Femtometer
auch nicht zu erwarten. Denn dazu müsste die Forschung zunächst Methoden und Instrumente entwickeln, mit denen sich komplexe Systeme wie unser Organismus wirklich verstehen lassen. Wie gross sind die EMF-Gesundheitsrisiken?
Damit ergibt sich folgende Ausgangslage für die Bemessung der Gesundheitsrisiken: Die thermischen Schäden stehen in direktem Zusammenhang mit Stärke und Dauer beziehungsweise Häufigkeit der Exposition. Je stärker die elektromagnetischen Felder und Strahlungen sind, und je häufiger ein Mensch ihnen ausgesetzt ist, desto wahrscheinlicher tritt ein thermischer Schaden ein, und desto grösser ist demnach sein Gesundheitsrisiko. Bei den Reizerscheinungen sind zwei Fälle zu unterscheiden. Zum einen solche mit biologischer Relevanz – dazu gehört beispielsweise die Beeinflussung der elektrischen Steuerung des Herzschlags durch starke Magnetwechselfelder. Hier gilt wie oben: Die Wahrscheinlichkeit solcher Effekte lässt sich aufgrund der bekannten Beziehungen zwischen Signalfrequenz und -stärke so genau bestimmen, dass das Risiko bemessbar ist und sogar Grenzwerte ermittelt werden können, unterhalb derer eine Gesundheitsgefährdung praktisch ausgeschlossen werden kann. Zum anderen haben wir es mit Reizerscheinungen unbekannter biologischer Relevanz zu tun. Da wir nicht wissen, wie sich diese auf den Organismus auswirken, ist auch nicht klärbar, ob elektromagnetische Expositionen, die solche Reizerscheinungen hervorrufen können, eine Gesundheitsgefahr darstellen. Erst recht ist es unmöglich, die Grösse dieser Gefahr zu bemessen oder zu ermitteln, ob schwache Felder die Wahrscheinlichkeit zu erkranken erhöhen. Dazu müssten wir ja wissen, ob und in welchem Masse schwache elektromagnetische Phänomene diese Krankheitsprozesse beeinflussen.
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Fazit: Starke elektromagnetische Expositionen stellen ein bemessbares Gesundheitsrisiko dar. Das Gesundheitsrisiko schwacher elektromagnetischer Expositionen, die nicht zu eindeutig erkennbaren Reizerscheinungen führen, ist hingegen nicht zu bemessen. Es ist unkalkulierbar gering. Starke elektromagnetische Felder stellen eine bekannte Gefahr dar, gegen die wir uns wirksam zu schützen vermögen. Aufgabe der Risikobewertung ist es festzulegen, wieweit das Gesundheitsrisiko reduziert werden muss, um akzeptiert werden zu können. Es muss – nach welchen individuellen oder gesellschaftlichen Wertmassstäben auch immer – entschieden werden, wieviel Unsicherheit wir zu akzeptieren bereit sind. Denn daraus ergibt sich der erforderliche Sicherungsaufwand.
Wie sind die Risiken zu bewerten?
Bei schwachen Feldern haben wir es nicht mit Unsicherheit und damit mit einer mehr oder weniger grossen Schadenwahrscheinlichkeit zu tun, sondern mit Ungewissheit. Da wir nicht wissen, wie gross das Risiko ist, können wir es weder bewerten noch entscheiden, ob es akzeptabel ist. Vielmehr steht zur Diskussion, wieviel Ungewissheit wir zu akzeptieren bereit sind. Abschliessend einige Bemerkungen zur Risikobehandlung, wobei wir zunächst wieder das Gesundheitsrisiko starker Strahlungen diskutieren. Durch völlige Beseitigung der Strahlungsquellen kann das Risiko eliminiert, durch entsprechende Schutz- und Vorsichtsmassnahmen erheblich verringert werden. Letzteres ist gängige Praxis und wird in den meisten Ländern durch technische Standards, Vorschriften und gesetzlich festgelegte Grenzwerte erreicht.
Wie sind EMFRisiken zu behandeln?
Das ungewisse Gesundheitsrisiko schwacher Felder kann nicht gezielt verringert werden, da es keinen Grenzwert gibt, unter dem jede – hypothetische – Gefährdung sicher auszuschliessen wäre. Oft wird argumentiert, das Gesundheitsrisiko sei logischerweise umso geringer, je weniger Felder und Strahlungen erzeugt werden. Gerade so, wie eine Verringerung von Luftschadstoffen das Risiko von Lungenerkrankungen reduziert. Also erscheine es doch nur sinnvoll, auch den Elektrosmog zu verringern. Das Problem ist nur: Die Schädlichkeit von Abgasen und Stäuben ist zweifelsfrei erwiesen, die bionegative Wirkung schwacher Felder hingegen eine reine Hypothese. Deshalb erscheint es wenig erfolgversprechend, elektrische Anlagen beispielsweise so einzukapseln, dass sie keine Felder emittieren können. Das wäre zwar technisch machbar, allerdings extrem teuer. Aus Sicht des Risk Managements ist es zweckmässiger, die – stets begrenzten – finanziellen Ressourcen beispielsweise zur Reduzierung von Luftschadstoffen aufzuwenden, da sich die Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung damit ganz sicher, durch Magnetfeldabschirmungen jedoch nur vielleicht reduzieren liesse. Als praktikabler Kompromiss bietet sich an, Geräte und Anlagen so zu gestalten und einzusetzen, dass EMF-Expositionen allgemein verringert werden. Wahrscheinlich bringt dies zwar keinen Sicherheitszugewinn, kann aber auch nicht schaden. Um absolute Sicherheit zu erzielen, müsste jedes Risiko eliminiert werden. Das hiesse, auf jede Technik zu verzichten, durch die der Organismus auch nur im entferntesten künstlich erzeugten elektromagnetischen Phänomenen ausgesetzt wird. In letzter Konsequenz hiesse dies, alle irgendwie elektrifizierten Geräte und Anlagen wie elektrisches Licht, Radio und Telefon, Flugzeuge, U-Bahnen oder Computer und Armbanduhren abzuschaffen. Selbst das Radfahren müsste aufgegeben werden. Denn wir
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bewegen uns dabei durch das Erdmagnetfeld, wodurch – wegen der höheren Geschwindigkeit – stärkere elektrische Ströme im Körperinnern induziert werden können, als wenn wir zu Fuss gehen. Fazit: EMF-Gesundheitsrisiken sind praktisch nicht vollständig zu eliminieren. Sie können, soweit bekannt und bemessbar, allenfalls verringert werden. In jedem Fall aber bleibt ein Restrisiko: Jeder Mensch ist den bekannten Gefahren starker Strahlung und den ungewissen Gefahren schwacher Felder ausgesetzt. Transferierbar sind nur die materiellen Folgen einer Gesundheitsschädigung, etwa medizinische Behandlungskosten, Verdienstausfall und Rehabilitationsmassnahmen. Hier bedarf es keiner Unterscheidung mehr zwischen den beiden in diesem Kapitel gezeigten Gefahren. Nüchtern und rein finanztechnisch betrachtet ist es gleichgültig, warum ein Mensch an Krebs erkrankt. Entscheidend ist, dass die mögliche medizinische Behandlung nicht an den Kosten scheitert. Dies ist Aufgabe des Krankenversicherers. Für ihn ist die in diesem Kapitel diskutierte Problematik ohne Bedeutung, weil er die Behandlungskosten praktisch unabhängig von der Krankheitsursache deckt. Im Gegensatz zum Haftpflichtversicherer: Dessen Risiko ergibt sich daraus, ob und unter welchen Bedingungen die hier skizzierten hypothetischen Zusammenhänge zwischen schwachen elektromagnetischen Feldern und verschiedenen Krankheiten als ursächlich angesehen werden.
Selbsttragen und Transfer von EMF-Gesundheitsrisiken
Insofern sich die S채tze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit. Albert Einstein
Die EMF-Haftungsrisiken: Der Verlust des Unmöglichen
Für eine Betrachtung der Haftungsrisiken ist ein bewusster Wechsel der Perspektive unabdingbar. Bislang haben wir Gefahren diskutiert, die von elektromagnetischen Phänomenen ausgehen. Als möglicherweise gefährdet betrachteten wir dabei die Gesundheit derjenigen, die solchen Strahlungen und Feldern ausgesetzt werden. Unter dem Aspekt des Haftungsrisikos geht die Gefahr von Klägern aus. Sie besteht in einer Schadenersatzforderung, die das Vermögen des Beklagten bedroht. Die Haftungsrisiken ergeben sich folglich nicht aus den Gesundheitsrisiken. Sie werden vielmehr davon bestimmt, aus welchen Gründen und wie oft Klage geführt wird – und wie die Gerichte entscheiden werden. Zur Verdeutlichung eine drastische Analogie aus dem Strafrecht: Ob ein Angeklagter wegen Mordes verurteilt wird, hängt nicht davon ab, ob er den Mord begangen hat, sondern allein davon, wie das Gericht die bekannten Fakten beurteilt. Gerechtes und richtiges Urteilen
Faktoren der Wahrheitsfindung
Ungeachtet juristischer Details und erheblicher Unterschiede zwischen einzelnen nationalen Rechtssystemen hat jedes Gericht zwei Aufgaben: Die Wahrheitsfindung und die Beurteilung dessen, was als Wahrheit erachtet wird. Unter Gerechtigkeit wird verstanden, gleiche Wahrheiten gleich zu beurteilen. Richtiges Urteilen setzt voraus, die Wahrheit zu erkennen. Einen Angeklagten wegen Mordes zu verurteilen ist dann gerecht, wenn ihm die Täterschaft zweifelsfrei bewiesen wurde. Richtig ist das nur, wenn der Verurteilte die Tat begangen hat. Wenn wir vereinfachend voraussetzen, dass Gerichte immer gerecht entscheiden, wird das Urteil allein vom Ergebnis der Wahrheitsfindung bestimmt. Die Wahrheitsfindung ihrerseits kennt drei
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Faktoren: die Beweislage, die geforderte Beweisqualität, also die zulässige Interpretationsbreite des Wissens, und die Kategorien, nach denen das Bewiesene bewertet wird, zum Beispiel also, was unter Ursächlichkeit verstanden wird. In der Analogie zum Strafprozess: Das Urteil hängt davon ab, ob dem Täter die Tat bewiesen werden kann, wann der Beweis als erbracht gilt und was unter Mord verstanden wird. Im Vergleich zu «Mord» ist «Ursache» jedoch ein sehr vager juristischer Begriff. Er orientiert sich zwar am naturwissenschaftlichen Ursachenverständnis und erscheint deshalb als präzise definiert. Tatsächlich aber hat sich das Kausaldenken der Naturwissenschaften in diesem Jahrhundert grundlegend gewandelt. Ein einfaches Beispiel: Ein Autofahrer kommt an einem Spätwintertag auf einer kleinen Nebenstrasse in einem Waldstück überraschend auf Glatteis, prallt mit seinem Wagen gegen einen Baum, wird gegen das Lenkrad geschleudert und stirbt. Was ist die Todesursache? Die Statistik registriert als Todesursache «Verkehrsunfall». Auf dem Totenschein wird Herzversagen angegeben. Die Hinterbliebenen argumentieren, Todesursache sei das Versagen des Airbags. Hätte der nämlich funktioniert, wäre der Mann nicht mit dem Brustkorb gegen das Lenkrad geschlagen, sein Herzbeutel hätte keinen Bluterguss erlitten, und das Herz hätte nicht versagt. Dem hält ein Rechtsanwalt entgegen, eigentliche Ursache seien die beiden früher erlittenen Herzinfarkte. Ohne diese, bestätigen medizinische Experten, hätte der Mann den Unfall wohl überlebt.
Auf der Suche nach der Todesursache
Der Ursachenbegriff der klassischen Naturwissenschaft
Der Laplacesche Determinismus
Die erkenntnistheoretischen Folgen der Relativitäts- und Quantentheorie
Vor etwas mehr als 100 Jahren wäre nichts von all dem als Ursache – im naturwissenschaftlichen Sinne – zur Diskussion gestanden. Nicht aber, weil es damals noch keine Autos und Airbags gab, sondern weil die klassische Naturwissenschaft als Ursache definierte, was der Wirkung aufgrund einer Regel ausnahmslos immer vorangeht. Diese Regel selbst wurde als Kausalität bezeichnet, als eine Gesetzmässigkeit, die bestimmt, dass diese Ursache zu einer bestimmten Wirkung führen muss. Da nun aber weder Herzinfarkte noch versagende Airbags oder Verkehrsunfälle zum Tod führen müssen, stellen sie im Sinne der klassischen Naturwissenschaft keine Ursachen dar.
Beispiel zu nennen, zwei identische radioaktive Jod-131-Atome unter denselben Bedingungen gleichzeitig zerfallen. Tatsächlich aber zerfallen sie zu beliebigen Zeitpunkten, sie verhalten sich zufällig.
Am schärfsten wurde diese Denkweise gegen Ende des 18. Jahrhunderts vom französischen Gelehrten Laplace formuliert: Würden wir alle Naturgesetze kennen und gelänge es uns, die Lage und die Bewegung aller Atome des Universums zu einem bestimmten Zeitpunkt genau zu bestimmen, dann wären wir in der Lage, die Zukunft vollständig vorherzusagen. Dieser Laplacesche Determinismus wurde zum Leitbild, zu einem Paradigma der klassischen Naturwissenschaft. Da es möglich schien, Naturgesetze zu erkennen und daraus Formeln abzuleiten, mittels derer sich die Zukunft voraussagen und gestalten lässt, sah es die Naturwissenschaft als ihre vordringlichste Aufgabe an, solche Gesetze zu finden.
Durch solche Beobachtungen wurde das Kausalitätsdenken generell in Frage gestellt. Denn bis dahin konnte unter einer Gesetzmässigkeit nur verstanden werden, dass etwas entweder immer oder nie der Fall ist. Eine solche Gesetzmässigkeit ist aber nur für die Gesamtheit aller radioaktiven Jod-Atome zu erkennen: Nach acht Tagen ist immer die Hälfte aller JodAtome zerfallen. Der Zerfallszeitpunkt des einzelnen Atoms ist nur zu vermuten. Mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfzig Prozent tritt er nach acht Tagen ein. Das Atom kann aber auch sofort oder erst nach Wochen oder Monaten zerfallen.
Zu Beginn unseres Jahrhunderts zeigten die Quanten- und die Relativitätstheorie jedoch, dass die Idee von Laplace auf falschen Annahmen beruht. Laplace ging davon aus, Naturgesetze würden die Atome zu einem bestimmten Verhalten zwingen. Demnach müssten, um nur ein
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Beobachten wir allerdings eine grosse Zahl von Jod-Atomen, ist trotz des spontanen Verhaltens einzelner Atome ein regelmässiges Verhalten der Masse zu erkennen: Der Anteil zerfallener Atome je Zeiteinheit bleibt stets konstant. Als Mass dafür dient die Halbwertszeit. Sie gibt an, nach welcher Zeit jeweils die Hälfte der Atome zerfallen ist. Für Jod131 beträgt die Halbwertszeit rund acht Tage.
Damit hatte es die Naturwissenschaft plötzlich mit zwei Arten erkennbarer Gesetzmässigkeiten zu tun: Mit den kausalen, die besagen, aus welchem Grunde etwas geschehen muss, und mit den statistischen, die besagen, wie häufig etwas bisher geschehen ist, und wie wahrscheinlich es deshalb – unter genau gleichen Bedingungen – in Zukunft wieder geschehen wird.
Kausale und statistische Gesetzmässigkeit
Im Verlauf unseres Jahrhunderts zeichnete sich dann immer deutlicher ab, dass praktisch alle kausalen Gesetzmässigkeiten in Wirklichkeit rein statistische Beobachtungen darstellen. Newtons Gravitationsgesetz zum Beispiel besagt, dass die Anziehungskraft zwischen zwei Massen, etwa Sonne und Erde, um so grösser sei, je grösser die Massen sind, und je kleiner der Abstand zwischen ihnen ist. Das zu erkennen war eine geniale Leistung, zumal Newton die dafür erforderlichen mathematischen Instrumente entwickelte und damit die Grundlagen der klassischen Mechanik und der modernen Technik schuf. Heute wissen wir, dass Newtons Gravitationsgesetz «nur» das durchschnittliche Verhalten bestimmter Massen beschreibt. Einzelne Massen, wie zum Beispiel der Planet Merkur, verhalten sich anders als sie es gemäss dem Gravitationsgesetz eigentlich «müssten». Gesetz und Gesetzmässigkeit, Regel und Regelmässigkeit
Kein Naturgesetz erklärt, warum etwas geschieht, geschweige denn, warum es geschehen muss. Naturgesetze beschreiben nicht die Gesetze, sondern die Gesetzmässigkeit des Geschehens. Sie beschreiben die Regelmässigkeit des Auftretens von Ereignissen und nicht die Regel, nach der die Ereignisse eintreten. So kennt die Astronomie beispielsweise kein Gesetz, nach welchem die Sonne morgen wieder aufgehen muss. Wohl aber hat sie Regelmässigkeiten beobachtet, dank derer angenommen werden darf, dass sie morgen sehr wahrscheinlich wieder aufgehen wird.
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Auf den ersten Blick besteht zwischen sicher und sehr wahrscheinlich nur ein kleiner, quantitativer Unterschied. Tatsächlich ist er jedoch fundamental und qualitativ. Denn es ist der Unterschied zwischen muss und kann, zwischen ja/nein und vielleicht, zwischen zweifelhaft und zweifelsfrei, zwischen sicher und unsicher, zwischen möglich und unmöglich. Es ist der Unterschied zwischen wissen und vermuten. Und weil alles Wissen der Naturwissenschaft auf statistischen Beobachtungen beruht, ist das Wissen der Naturwissenschaft reines Vermutungswissen.
Alles Wissen ist Vermutungswissen
Diese selbstkritische Einsicht der Naturforschung ist keineswegs ein Rückschritt. Bis Anfang unseres Jahrhunderts konnte die Naturwissenschaft nur Fragen untersuchen, die sich mit Ja oder Nein beantworten liessen. Es war undenkbar, dass die Sonne nur vielleicht aufgeht. Damit beschränkte sich die Forschung auf geradlinige, symmetrische, stets wiederkehrende Formen und Vorgänge. Krummes, Schiefes, Spontanes und Seltenes lag ausserhalb des wissenschaftlichen Betrachtungsfeldes, es passte nicht in die herkömmlichen Denkkategorien und blieb den «unexakten Wissenschaften» wie zum Beispiel der Biologie und der Medizin überlassen. Diese vermochten solche Phänomene zwar verbal zu beschreiben, nicht aber mittels mathematischer Modelle und Formeln vorauszusagen. Nachdem aber erkannt worden war, dass selbst die Physik keine kausalen, sondern lediglich statistische Gesetzmässigkeiten formuliert, wurden Leitgedanken wie der Laplacesche Determinismus aufgegeben. Die moderne Naturwissenschaft versucht nicht mehr zu erklären, warum etwas geschehen muss, sondern sie untersucht, unter welchen Bedingungen etwas geschehen kann. Statt in Ja/Nein-Kategorien denkt sie in Wahrscheinlichkeiten.
Paradigmenwechsel
Dadurch wurde sie fähig, auch die Welt des Möglichen systematisch zu erforschen. Vermutungswissen ist Wissen darüber, was geschehen kann, ohne geschehen zu müssen. Mit diesem Paradigmenwechsel, der zu Beginn unseres Jahrhunderts durch die Erkenntnisse der Atomphysik angestossen wurde und sich gegenwärtig in neuen wissenschaftlichen Disziplinen wie zum Beispiel der Komplexitätsforschung zu konkretisieren beginnt, hat sich auch der Ursachenbegriff grundlegend gewandelt. Während die klassische Naturwissenschaft als Ursache nur das ansehen konnte, was eine Wirkung aufgrund einer kausalen Gesetzmässigkeit zwingend hervorbringen muss, wird eine Ursache heute auch in dem gesehen, was eine Wirkung hervorbringen kann. Alles ist Ursache oder nichts ist Ursache
Wie das Beispiel vom Verkehrsunfall und die Frage nach der Todesursache zeigen, ist diese Modifizierung des Ursachenbegriffes praktisch. Anderseits ergibt sich aus dieser Aufweichung des Ursächlichkeitsbegriffes ein gravierendes Problem. Wie zuvor gezeigt, besteht zwischen muss und kann ein erheblicher qualitativer Unterschied. Das Muss entspricht in der Wahrscheinlichkeitsrechnung dem Zahlenwert 1. Wenn etwas unter bestimmten Bedingungen geschehen muss, so wird es in 100 Prozent aller Fälle, in denen diese Bedingungen erfüllt sind, tatsächlich geschehen. Dies ist ein sicheres Ereignis. Umgekehrt bezeichnet der Zahlenwert 0 unmögliche Ereignisse, die unter bestimmten Bedingungen auf keinen Fall eintreten können. Die ganze Palette des Möglichen reicht von jedem Wert grösser 0 bis zu jedem Wert kleiner 1. Bezeichnen wir nun etwas als Ursache, das die Wirkung mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,99 hervorbringt, so müssen wir auch das als Ursache bezeichnen, was die Wirkung mit einer Wahrscheinlichkeit von nur 0,01 hervorbringt. Warum? Eine hohe Wahrscheinlichkeit als
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ursächlich zu bezeichnen, erscheint nur deshalb zulässig, weil der quantitative Unterschied zwischen 1 und 0,99 vernachlässigbar gering erscheint. Halten wir dieses Argument für richtig, müssen wir nach den Regeln der Logik auch folgendes akzeptieren: Sind 0,99 ursächlich, dann sind auch 0,01 weniger, also 0,98, ursächlich. Dann aber auch 0,97 und so weiter, bis schliesslich selbst das als Ursache anzusehen ist, was die Wirkung mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,01 hervorbringt. Fazit: Etwas, dass in 99,99 Prozent aller Fälle zur Wirkung führt, ist ebenso als Ursache zu bezeichnen wie das, was nur in 0,01 Prozent aller Fälle die Wirkung hervorbringt. Weil das unsinnig erscheint, wird oft versucht, Ursächlichkeit in Abhängigkeit vom Grad der Wahrscheinlichkeit zu definieren. Zum Beispiel, indem ein Airbagversagen dann als Todesursache angesehen wird, wenn es häufiger zum Tod führt als nicht. Das aber ist ein grundlegendes Missverständnis des Wahrscheinlichkeits-Begriffes. Denn in jedem Einzelfall könnte der Ausfall des Airbags sowohl gar keine wie auch die entscheidende Rolle gespielt haben. Die Statistik erlaubt zwar die Vermutung, dass ein Airbag die Überlebenschancen erhöht; sie sagt jedoch nichts aus über die Todesursache im Einzelfall. Das erscheint widersprüchlich, weil wir zuvor aus der statistischen Halbwertszeit des Zerfalls radioaktiver Jod-Atome auf das wahrscheinliche Verhalten des einzelnen Atoms geschlossen haben. Hier aber hatten wir identische Atome unter gleichen Bedingungen beobachtet. Bei den Unfällen sind die Bedingungen aber nie genau gleich; sie sind nur ähnlich.
Ursachen sind nicht zurechenbar
Deshalb schliesst die Statistik sowohl die Fälle ein, in denen das Opfer trotz funktionierendem Airbag starb, als auch die Fälle, in denen das Opfer durch den Luftsack ganz sicher gerettet worden wäre. Um eine quantitative Aussage über den direkten Zusammenhang zwischen Airbagzuverlässigkeit und Todesfallhäufigkeit machen zu können, müsste – wie schon im vorangehenden Kapitel am Beispiel epidemiologischer EMF-Studien erläutert – eine entscheidende Voraussetzung erfüllt sein: Die miteinander verglichenen Unfälle dürften sich allein hinsichtlich des Airbags unterscheiden – alle anderen Bedingungen müssten absolut gleich sein. Dann, und nur dann, könnten wir begründet vermuten, mit Airbags betrage die Überlebenswahrscheinlichkeit 80%. Da die Unfälle jedoch nicht gleich sind, wissen wir auch nicht, warum die einen Opfer starben und die anderen nicht. Folglich kennen wir die Ursache nicht und können deshalb auch keiner Ursache die Wirkung zurechnen. Das Problem der minimalen Veränderung der Anfangs- und Randbedingungen
Fassen wir zusammen: Nach dem Kausalgesetz der klassischen Naturwissenschaft bringen gleiche Ursachen stets gleiche Wirkungen hervor. Daraus wurde lange Zeit geschlossen, dass ähnlichen Ursachen stets ähnliche Wirkungen folgen. Deshalb galt es als wissenschaftlich zulässig, auch in dem eine Ursache zu sehen, was die Wirkung in der Praxis zwar nicht ausnahmslos, aber so gut wie immer hervorbringt. Minimale Änderungen der Ausgangs- und Randbedingungen schienen ohne Bedeutung. Die moderne Naturwissenschaft hat jedoch erkannt, dass selbst unter gleichen Bedingungen unterschiedliche Wirkungen auftreten können. Ungeklärt ist die Frage, ob dies auf Zufälle oder auf nicht erkennbare und nicht messbare Einflüsse zurückzuführen ist. Wie auch immer, fest steht: Komplexe Vorgänge können bereits durch geringfügigste Änderungen
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der Ausgangs- und Randbedingungen zu anderen, diametral entgegengesetzten Ergebnissen führen. Ob die Wirkung auftritt oder nicht, kann von minimalsten Faktoren abhängen. Solange wir diese nicht kennen, bezeichnen wir sie als Zufälle. Sobald aber gezeigt werden kann, dass einer dieser Faktoren die Wahrscheinlichkeit der Wirkung erkennbar erhöht, nennen wir ihn Ursache. Entscheidendes Kriterium für Ursächlichkeit ist demnach allein die erkennbare Erhöhung der Eintrittswahrscheinlichkeit. Die Behauptung, der Mann sei gestorben, weil der Verkehr wegen einer Baustelle von der aperen Hauptstrasse auf die vereiste Nebenstrasse umgeleitet worden war, klingt absurd, bis jemand den statistischen Nachweis führt, dass die Unfallwahrscheinlichkeit auf Nebenstrassen höher ist als auf Hauptstrassen. Hätte der Betreiber der Baustelle den Verkehr im konkreten Fall auch auf eine eisfreie Hauptstrasse umleiten können, sehen wir uns im Geiste bereits mit Haftpflichtfragen konfrontiert. Denn dann hätte der Baustellenbetreiber die Wahrscheinlichkeit, dass der Mann stirbt, nachweislich erhöht. Zurück zur generellen Aufgabe der Wahrheitsfindung vor Gericht. Die meisten Rechtssysteme definieren im Sinne einer Haftungsvoraussetzung die conditio sine qua non als ein erforderliches Ursachenelement; also dasjenige Ereignis oder diejenige Bedingung, ohne die die Wirkung nicht hätte eintreten können. Das aber ist die Frage nach der Kausalität. Denn nur dann, wenn wir uns diejenige Ursache wegdenken, die zur Wirkung führen musste, können wir sicher sein, dass die Wirkung nicht eingetreten wäre. Denken wir uns hingegen eine mögliche Ursache weg, bleibt die Wirkung immer noch möglich.
Entscheidungen über das Ungewisse
Wenn der Naturwissenschaftler keine Gewissheit zu geben vermag, kann auch das Gericht die absolute Wahrheit nicht herausfinden. Beide müssen sich auf Vermutungen beschränken. Im Gegensatz zum Wissenschaftler muss das Gericht jedoch Entscheidungen treffen. Die Parteien erwarten kein Vielleicht, sondern ein klares Ja oder Nein. Sie wollen wissen, was sie tun müssen, und nicht, was sie tun können. Woran soll sich das Rechtssystem orientieren? Vom klassischen Ursachenbegriff ausgehend ist es praktisch unmöglich zu beweisen, dass elektromagnetische Felder Krankheitsursache sein können. Denn dazu müsste gezeigt werden, unter welchen Bedingungen sie zu Erkrankungen führen müssen. Oder orientiert sich das Rechtssystem am Ursachenverständnis der modernen Naturwissenschaften? Dann würde der Beweis genügen, dass schwache Felder die Erkrankungswahrscheinlichkeit erhöhen können. Und genau dies ist nicht auszuschliessen: Es ist möglich, dass es möglich ist, dass eine elektromagnetische Exposition die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Erkrankungen erhöht. Dann wären elektromagnetische Felder – nach heutigem Verständnis – ebenso eine Krankheitsursache wie ein Grippevirus. Denn auch dieses muss nicht, kann aber zur Influenza führen.
Neues Wissen, neue Ungewissheiten
Denkbarer Einwand: Dieses Problem ist nicht neu. Gerichte waren noch nie in der Lage, Wirkungen ganz sicher auf einzelne Ursachen zurückzuführen – also bleibt alles beim Alten. Die Prämisse ist richtig, die Schlussfolgerung falsch. Geändert hat sich zwar nicht das praktische Kriterium für Ursächlichkeit, jedoch seine theoretische Begründung und damit auch der wissenschaftliche Forschungsbereich. Solange die Naturwissenschaft nach kausalen Gesetzmässigkei-
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ten suchte, vermutete sie nur zwischen solchen Ereignissen Ursachen-Wirkungsbeziehungen, die so gut wie immer gemeinsam auftraten. Die Beziehungen zwischen gelegentlich gemeinsam auftretenden Phänomenen wurden hingegen nicht untersucht und konnten folglich auch nicht Gegenstand der juristischen Diskussion sein. Als Folge des naturwissenschaftlichen Paradigmenwechsels sucht die Wissenschaft heute aber nicht mehr nur nach zwingenden, sondern auch nach möglichen Ursachen. Sie entdeckt in immer mehr scheinbar zufälligen Zusammenhängen statistische Gesetzmässigkeiten, die ebenfalls als ursächlich bezeichnet werden. Daraus ergibt sich eine neue Ungewissheit: Bisher bestanden Zweifel nur darüber, ob etwas auch dann als Ursache anzusehen ist, wenn es die Wirkung zwar nicht immer, aber doch wenigstens so gut wie immer hervorbringt. Jetzt herrscht zudem Ungewissheit darüber, ob auch das als Ursache anzusehen ist, was die Wirkung zwar nicht ganz sicher nie, aber praktisch so gut wie nie hervorbringt. Zur bekannten Abgrenzungsschwierigkeit zwischen «sicher» und «möglich» kommt jene zwischen «möglich» und «unmöglich» hinzu. Mit einem elementaren Unterschied: Früher war der Ursachenbegriff für das eine Extrem dieser Skala reserviert. Er grenzte das Sichere von der riesigen und unerforschten Bandbreite des Möglichen ab. Heute aber beginnt der Begriff Ursache am untersten Ende der Skala: Ursache ist all das, für das sich nicht beweisen lässt, dass es nicht Ursache sein kann. Wir haben sowohl die Gewissheit über das Sichere als auch die über das Unmögliche verloren.
Wann ist das Mögliche eine Ursache?
Die eigentliche Frage lautet demnach: Wann ist das Schaffen einer Möglichkeit gleichbedeutend mit dem Setzen einer Ursache im haftungsrechtlichen Sinne? Oder: Wieviel Gewissheit braucht es, um jemanden für einen Schaden verantwortlich zu machen, den er ermöglicht hat?
Regelungsbedarf
Dies ist keine Frage nach der Wahrheit, sondern nach den Spielregeln. Ob ein Tennisball bereits dann im Aus ist, wenn er die Spielfeldlinie berührt, oder erst dann, wenn er neben der Linie aufschlägt, kann nur eine Spielregel festlegen. Was aber, wenn sich der Aufschlagspunkt dank neuer technischer Möglichkeiten auf den Tausendstel Millimeter genau feststellen lässt und ein Ball haargenau auf den äusseren Rand der Linie trifft? Dann bedarf es eben neuer Vereinbarungen, um auch diesen Fall entscheiden zu können.
Ursache ist, was als Ursache definiert wird
Aus dem veränderten naturwissenschaftlichen Ursachenbegriff ergibt sich somit ein neuer Regelungsbedarf. Es braucht Spielregeln, die geeignet sind, die heute erkennbar gewordenen Zweifelsfälle zu entscheiden. Wohl lassen die Gesetze den Gerichten einen gewissen Spielraum, die haftungsrechtlich relevante Ursächlichkeit zu qualifizieren. So wenig wie Spielregeln jedoch von den Schiedsrichtern formuliert werden, so wenig ist es Sache der Gerichte, Gesetze zu erlassen. Dies ist allein Aufgabe des Gesetzgebers. Ursache im naturwissenschaftlichen Sinne ist, was die Naturwissenschaft als Ursache definiert. Ursache im haftungsrechtlichen Sinne ist, was die Gesellschaft als Ursache definiert.
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Damit erweist sich die eingangs aufgeworfene Frage nach den zu erwartenden Gerichtsentscheiden in künftigen EMFHaftpflichtprozessen als unbeantwortbar. Wenn die Gesellschaft in schwachen elektromagnetischen Feldern eine Krankheitsursache sehen will, werden sie als Krankheitsursache gelten – und es lässt sich nicht ausschliessen, dass Gerichte entsprechend entscheiden werden. Diese Entwicklung ist nicht nur möglich, sondern in einigen Rechtsgebieten ist die Vermutungshaftung bereits Praxis. Wie weit sich dieser Trend fortsetzt, ist unabsehbar. Das Haftungsrisiko ist derzeit nicht mehr kalkulierbar. Im Gegensatz zu den EMF-Gesundheitsrisiken ist es jedoch angesichts des denkbaren Schadenausmasses nicht unkalkulierbar gering, sondern unkalkulierbar gross.
Unkalkulierbar grosse Haftpflichtrisiken
Die Behandlung des Haftungsrisikos erweist sich als äussert schwierig. Bei der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung ist nicht auszuschliessen, dass der Hersteller eines medizinischen elektrischen Gerätes sowohl dafür haftbar gemacht werden könnte, dass er mit dem Gerät eine mögliche Gesundheitsgefahr schafft, als auch dafür, dass er durch Nichtproduktion des Gerätes eine mögliche Heilung von Krankheiten vereitelt.
Risikobehandlung
Und solange unklar ist, was später einmal als haftungsbegründende Ursache angesehen wird, lässt sich das Haftungsrisiko auch nicht gezielt verringern. Bleibt nur, das Haftungsrisiko selbst zu tragen. Das erweist sich als problematisch, weil die möglichen Vermögensschäden nicht abzuschätzen sind und deshalb auch keine ausreichende Vorsorge getroffen werden kann. Um so grösser ist verständlicherweise das Bedürfnis, das Risiko zu transferieren und um Versicherungsschutz nachzufragen. Aber auch dem sind, wie das nächste Kapitel zeigt, enge Grenzen gesetzt.
Alles Wissen ist Vermutungswissen, hypothetisch, vorl채ufig, korrigierbar. Gerhard Vollmer
Die EMF-Risiken des Versicherers: Es wird sich etwas ändern
Aus Sicht der Assekuranz stellen zu erwartende Schäden keine Gefahr dar. Im Gegenteil: Versicherung macht nur dort Sinn, wo mit Schäden gerechnet wird. Das Eigenrisiko des Versicherers ergibt sich aus der möglichen Diskrepanz zwischen erwartetem und tatsächlichem Schadenverlauf. Also muss man fragen: Worin besteht das Änderungsrisiko? Welche unerwarteten Forderungen aus alten Versicherungsverhältnissen könnten auf die Versicherungswirtschaft zukommen? Und wie könnte trotz des Änderungsrisikos Versicherungsschutz gewährt werden? Änderungsrisiken des Krankenversicherers
Analog zur Unterscheidung zwischen EMF- Gesundheitsrisiken und EMFHaftungsrisiken beschäftigen wir uns zunächst mit den Risiken des Krankenversicherers. Für ihn besteht das Änderungsrisiko in der Möglichkeit abrupt zunehmender Krankheitskosten im Zusammenhang mit EMF. Ein Beispiel dafür könnte der Ozonschwund in der hohen Atmosphäre werden. Wegen der sogenannten Ozonlöcher dringt mehr ultraviolette Sonnenstrahlung direkt bis zur Erdoberfläche, was sich in einer massiven Häufung von Hautkrebserkrankungen und einem entsprechenden Anstieg der Krankheitskosten niederschlagen könnte. Bezüglich technischer EMF-Emissionen drohen dem Krankenversicherer keine erkennbaren Änderungsrisiken. Entweder sind schwache elektromagnetische Felder ungefährlich, dann werden sie auch in Zukunft harmlos sein. Oder sie tragen bereits heute in unbekanntem Mass zu Erkrankungen bei. Dann kann sich dieser Anteil in Zukunft kaum plötzlich erhöhen. Für den Krankenversicherer ist die EMF-Problematik demnach irrelevant. Die Gesundheitsrisiken schwacher Felder sind zwar ungewiss, aber es ist nicht zu befürchten, dass sie sich kurzfristig ändern.
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Während die Krankheitskosten unabhängig von unserem Wissen über die Krankheitsursachen entstehen, setzt Haftpflichtigkeit grundsätzlich voraus, dass eine Erkrankung im konkreten Fall ursächlich auf elektromagnetische Expositionen zurückgeführt werden kann. Schadenauslösendes Ereignis ist nicht die Erkrankung selbst, sondern allein die Annahme, dass sie durch eine bestimmte Ursache hervorgerufen worden sein könnte.
Ohne Ursache keine Verursacher, ohne Verursacher keine Ursache
Für schwache EMF-Phänomene und Krankheiten wie zum Beispiel Krebs, Alzheimer und Parkinson steht der Beweis eines solchen Kausalzusammenhangs nicht nur aus, sondern wurde bis vor wenigen Jahren nicht einmal vermutet. Bisher wurden Gesundheitsschäden im Zusammenhang mit elektrischen Geräten nur als Folge von Unfällen und Konstruktions- oder Herstellungsfehlern beobachtet. Unter dem Begriff des Änderungsrisikos ist hier also zu verstehen, dass die alltägliche, bestimmungsgemässe, dem Stand der Technik entsprechende und lange Zeit als harmlos erachtete Nutzung elektrischer Geräte und Anlagen plötzlich als gesundheitsschädigend eingestuft würde.
Dies könnte aus zwei Gründen geschehen. Erstens aufgrund neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die beweisen, dass die EMF-Gesundheitsrisiken objektiv erheblich höher sind als bisher angenommen. Diese Möglichkeit entspricht dem klassischen Entwicklungsrisiko. Zweitens könnten wissenschaftliche Erkenntnisse aufgrund veränderter gesellschaftlicher Wertsetzung subjektiv anders bewertet werden. Wir bezeichnen dies als gesellschaftspolitisches Änderungsrisiko.
Entwicklungsrisiko: Gesellschaftspolitisches Änderungsrisiko
Das EMF-Entwicklungsrisiko ist gering. Selbst bei pessimistischer Bewertung des heutigen Forschungsstandes ist nicht anzunehmen, dass sich elektromagnetische Expositionen im Vergleich beispielsweise zu giftigen Chemikalien in Nahrung und Umwelt oder künstlicher Radioaktivität je als gravierendes Gesundheitsrisiko erweisen könnten. Und schon gar nicht im Vergleich mit Risikofaktoren wie Stress, Rauchen, Alkohol und Übergewichtigkeit. Feindbild Grossindustrie
Das gesellschaftspolitische Risiko hingegen ist als ausserordentlich hoch einzustufen, weil das Rechtsinstrument der Haftpflicht zunehmend als Mittel der Daseinsbewältigung ge- oder sogar missbraucht wird. Noch zu Beginn unseres Jahrhunderts galt alles Geschehen als durch Naturgesetze bestimmt und vorhersagbar. Die Natur schien beherrsch- und jede Krankheit besiegbar, das Paradies auf Erden zum Greifen nahe und der Traum vom ewigen Leben Wirklichkeit. Statt der erhofften Sicherheit brachte die Naturwissenschaft jedoch den Einsturz ihrer eigenen Gedankengebäude. Die Gewissheiten wurden durch Vermutungen, die Zuversicht durch Zweifel ersetzt, was von manchen Medien zu apokalyptischen Zukunftsszenarien mit unabwendbarem Weltuntergang verzerrt wird. Wenn nicht durch Kriege, Klimakatastrophen und Umweltzerstörungen, so wird die Menschheit durch neue Krankheiten und Seuchen dahingerafft werden. Die Anfang unseres Jahrhunderts herrschende Wissenschaftsgläubigkeit hat einem allgemeinen Skeptizismus Platz gemacht, der sich einerseits in zunehmender Technikfeindlichkeit und anderseits in wachsendem Misstrauen gegen zentrale Strukturen niederschlägt. Allem sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt zum Trotz wird die Grossindustrie von immer mehr Menschen als allenfalls notwendiges Übel akzeptiert. Atomindustrie, Chemische Industrie, Mineralölkonzerne und nun auch die
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Elektrobranche sind von einer immer breiter werdenden politischen Bewegung zur Ursache aller Gegenwartsprobleme und damit zum politischen Feindbild erklärt worden. Im Sog dieser Entwicklung macht sich allgemeine Unsicherheit breit. Einerseits vermag die Wissenschaft nicht zu erklären, warum Menschen an Krebs erkranken. Anderseits lehrt sie nach wie vor, dass solche Krankheiten nicht zufällig, sondern als Folge der jeweiligen Lebensumstände und -gewohnheiten auftreten. Wie verhält man sich richtig? Es gibt kein Nahrungsmittel, keine Lebensweise und schon gar keine Technik, die nicht mehr oder weniger im Verdacht steht, krankzumachen oder die Umwelt zu belasten und somit zumindest indirekt unsere Lebensqualität zu verschlechtern. Wir können nichts tun, ohne Gefahr zu laufen, uns selbst oder anderen zu schaden. Wer aber entscheidet, was richtig und was falsch, was schädlich und was nützlich, was zu erlauben und was zu verbieten ist? Die Naturwissenschaft erklärt sich für nicht zuständig, und die politischen Entscheidungsträger erweisen sich als überfordert, einen gesellschaftlichen Konsens darüber zu erzielen, welche Risiken die Menschen gemeinsam eingehen wollen und welchen Anteil an diesen Risiken jeder einzelne selbst zu tragen hat.
Was ist überhaupt noch unschädlich?
Diese Unentschiedenheit provoziert den Gang vors Gericht; wenn auch aus – je nach Rechtssystem und kulturellem Umfeld – unterschiedlichen Beweggründen. Zum Beispiel aus politischen Motiven: Indem ein Prozess öffentliches Aufsehen erregt, werden bereits vorhandene Zweifel an der Umwelt- oder Gesundheitsverträglichkeit bestimmter Produkte und Technologien systematisch geschürt. Oder zur Bereicherung, was um so attraktiver erscheint, je höhere Entschädigungen erzielt werden können.
Motive für Haftpflichtklagen
Phantomrisiken
Verlockungen zum Klagen
Nun wird auch verständlich, weshalb gerade schwache elektromagnetische Felder und nicht andere, vergleichbare Phänomene, auf so grosses Interesse stossen. Die EMF-Forschung weiss bereits zu viel, um die denkbaren Gesundheitsrisiken ignorieren zu können. Das vorhandene Wissen reicht allerdings nicht aus, um sie zu bemessen. Es sind denkbare, jedoch nicht beweisbare Risiken, weshalb sie als Phantomrisiken bezeichnet werden. Obwohl wir gar nicht wissen, ob es sie tatsächlich gibt, sind sie doch real, weil sie in den Köpfen existieren und damit eine Wirkung haben – und sei es nur die, Unsicherheit und Besorgnis zu erregen. Vor nichts hat der Mensch mehr Angst als vor einer ungewissen Gefahr – auch wenn es sie vielleicht gar nicht gibt. Wäre gewiss, dass schwache elektromagnetische Felder gefährlich sind, wäre das öffentliche Interesse weitaus geringer. Es gibt genügend bekannte Gesundheitsgefahren, denen sich Menschen sogar freiwillig aussetzen. Wegen ihrer Phantomhaftigkeit ist die EMF-Problematik jedoch geradezu ideal für Haftpflichtklagen geeignet, die auf Bereicherung oder politische Effekte abzielen. Zumal die Materie so komplex und kompliziert ist, dass Laien sehr leicht zu falschen Schlussfolgerungen verleitet werden können. Es gibt ein grosses politisches und finanzielles Interesse daran, dass die Gesellschaft den Elektrosmog als gesundheitsgefährlich ansieht.
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Daraus resultiert ein grosser gesellschaftspolitischer Druck auf Gesetzgeber und Rechtsprechung. Wird ihm nachgegeben, könnten alle Hersteller und Betreiber elektrotechnischer und elektronischer Anlagen mehr oder weniger erfolgreich beklagt werden. Und auf die Versicherungswirtschaft kämen schlimmstenfalls Forderungen von einigen zehn Milliarden USD zu. Die Haftpflicht-Assekuranz ist in ihrer Existenz bedroht. Dies ist kein Phantomrisiko. Die aktuelle Rechtsprechung beispielsweise in den USA hat längst bewiesen, dass solche Bedrohungsszenarien Wirklichkeit werden können. Zwar muss es nicht so schlimm kommen; im günstigsten Fall aber werden zumindest immense Abwehrkosten entstehen.
Existenzbedrohende Altlasten
Mit Blick in die Vergangenheit stellt sich die Frage, ob bestehende Verträge einen solchen Wandel gesellschaftlicher Werte überhaupt decken. Denn die Kalkulation adäquater – zur Deckung der Schäden ausreichender – Prämien setzt zwingend voraus, dass die Haftungsverhältnisse zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft eindeutig geregelt sind. Nur dann hat jeder einzelne eine reale Chance, sich so zu verhalten, dass er andere nicht schädigt. Der Versicherungsschutz gilt für den Fall, dass der Versicherte trotz allen Bemühens einen Schaden angerichtet hat, für den er aufgrund dieser Regeln haftbar ist. Gegebenenfalls kann die Deckung auch das Entwicklungsrisiko einschliessen, also die Möglichkeit, dass sich ein bislang scheinbar harmloses Tun aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, aber auf Basis der bisherigen Regeln, als schädlich erweist. Werden jedoch die Regeln selbst geändert, könnten sich plötzlich Haftungsverhältnisse ergeben, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses weder abzusehen, geschweige denn zu kalkulieren waren. Sollte sich der allgemein zu beobachtende Trend zur Vermutungshaftung weiter fortsetzen,
Ohne Nichtgeschädigte bricht das Versicherungssystem zusammen
könnten schlagartig alle Mitglieder der jeweiligen Gefahrengemeinschaft gleichzeitig Schaden erleiden. Mangels Nichtgeschädigter wären diese Schäden nicht mehr transferierbar und das Versicherungssystem – die Solidargemeinschaft – würde zusammenbrechen.
Keine kalkulatorische Grundlage für EMF-Haftpflichtdeckung
Mit Blick auf die Zukunft sind zwei Fragen zu klären: Unter welchen Bedingungen kann Versicherungsschutz gewährt werden? Und zu welchem Preis? Unabdingbare Voraussetzung für die Deckung von Haftpflichtrisiken sind eindeutige Haftungsverhältnisse. Dazu bedarf es einer politischen Entscheidung darüber, was künftig im haftungsrechtlichen Sinne unter Ursache zu verstehen ist, und wie naturwissenschaftliche Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Mitursächlichkeit einzelner Krankheitsfaktoren juristisch zu bewerten sind. Voraussetzung dafür ist wiederum ein gesellschaftlicher Konsens über den Umgang mit kollektiven Risiken sowie ein gerechter Lastenausgleich zwischen den Nutzniessern einer Technik und denjenigen, die vermutlich oder tatsächlich in irgendeiner Weise durch diese geschädigt wurden. Solange darüber nur gestritten, nicht aber entschieden wird, fehlt jede kalkulatorische Grundlage für einen Versicherungsschutz. Die Assekuranz müsste die Risiken selbst tragen, weil sie sie nicht transferieren kann. Folglich ist das gesellschaftspolitische Änderungsrisiko nicht tragbar. Es muss – und kann – weitgehend eliminiert werden, indem die Rechtssysteme wieder eindeutige Haftungsverhältnisse schaffen.
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Erst dann kann die Frage des Preises ernsthaft diskutiert werden. Er errechnet sich aus den unter eindeutig geregelten Haftungsverhältnissen zu erwartenden Schäden. Es bliebe das Entwicklungsrisiko, dem entweder durch entsprechende Prämiensätze Rechnung zu tragen wäre, oder indem der Versicherer sein eigenes Risiko mittels begrenzter Vertragszeiten, Deckungslimiten und anderer bekannter und bewährter Instrumente auf ein verantwortbares Mass reduziert. Um die dann noch verbleibende Diskrepanz zwischen leistbarem und nachgefragtem Versicherungsschutz zu beseitigen, wird es die kreative Entwicklung neuer Versicherungsformen brauchen. Aber auch dazu müssen erst die erforderlichen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Der Fortschritt der Technik heute erfordert eine Reorganisation der zwischenmenschlichen Beziehungen, weil der einzelne durch die Technik nicht selbst채ndiger, sondern im Gegenteil vom Mitmenschen abh채ngiger geworden ist. Hans Sachsse
Zusammenfassung: Den Schaden begrenzen und kommunizieren
Die EMF-Problematik setzt sich aus drei Teilproblemen zusammen. Erstens einem naturwissenschaftlich-technisch-medizinischen: Wie wirken schwache elektromagnetische Felder auf den menschlichen Organismus? Zweitens einem gesellschaftlich-rechtlichen: Wie soll die Gesellschaft in Zukunft mit Technologien umgehen, deren Nutzung nicht absolut sicher ist, und die deshalb vielleicht eine Gefahr darstellt? Und drittens einem versicherungswirtschaftlichen: Wie kann die Assekuranz zur Bewältigung solcher Phantomrisiken beitragen? Was fehlt, sind Entscheidungen trotz Ungewissheit
Der naturwissenschaftlich-technischmedizinische Komplex ist von methodisch bedingter Ungewissheit geprägt. Wir wissen nicht nur nicht, ob und in welchem Masse elektromagnetische Phänomene zu Krankheiten beitragen, sondern wir können dies auch gar nicht wissen. Mit den heute verfügbaren wissenschaftlichen Methoden sind bestenfalls statistische Zusammenhänge zwischen einer elektromagnetischen Exposition und biologischen Wirkungen im allgemeinen erkennbar. Über den speziellen Einzelfall sind auf absehbare Zeit nur vage Vermutungen möglich. Charakteristisches Merkmal des gesellschaftlich-rechtlichen Komplexes ist die fehlende Entscheidung darüber, wie die vagen Informationen, Vermutungen und Wahrscheinlichkeitsaussagen der Wissenschaft bewertet werden sollen. Nach allgemeiner Auffassung würde sich das Problem dieser gesellschaftspolitischen Unentschiedenheit dann lösen, wenn die wissenschaftlichen Fragen zweifelsfrei geklärt sind. Deshalb wird von der Forschung erwartet, das EMF-Problem zu lösen. Das ist allerdings aus folgenden Gründen eine unerfüllbare Erwartung: Die Methoden und Fragestellungen der Naturwissenschaft bestimmen, wie der Mensch die Welt sieht. Da sich diese Paradigmen – die Spielregeln wissenschaftlichen Arbeitens – grundlegend
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gewandelt haben, stellt sich die Welt heute anders dar als noch zu Beginn unseres Jahrhunderts. Es sind Beziehungen erkennbar geworden, die sich nicht in die herkömmlichen Bewertungskategorien einordnen lassen. Der juristische Kausalbegriff zum Beispiel leitet sich aus dem Ursachenverständnis der klassischen Naturwissenschaft ab und steht damit teilweise im Widerspruch zum Wahrscheinlichkeitsdenken der Gegenwart. Deshalb ist die EMF-Problematik nicht allein durch weiteres Forschen zu lösen. Vielmehr braucht es neue, praxisorientierte Bewertungskategorien für die heute erzielbaren Forschungsergebnisse. Das Recht muss sich an das moderne Bild unserer Umwelt und die heutigen Beziehungen zwischen den Menschen anpassen. Die innere Logik naturwissenschaftlicher und juristischer Gesetze muss – wieder – aufeinander abgestimmt werden. Folglich kann das EMF-Problem nicht an einzelne Gruppen oder Institutionen delegiert werden; das wäre gerade so, als wolle man die Gestaltung eines Vertrages allein einem der Beteiligten überlassen. Die Bewältigung von Phantomrisiken ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die letztlich sogar eine Weiterentwicklung der demokratischen Entscheidungsfindung und eine teilweise Neuordnung der Gesellschaft verlangt. Weder ist akzeptabel, einzelnen Menschen Risiken aufzuzwingen, noch läge es im Interesse der Allgemeinheit, auf technologische Chancen nur deshalb zu verzichten, weil Einzelne geschädigt werden könnten. Also bedarf es eines gesellschaftlichen Konsenses darüber, wieviel Risiko dem Einzelnen zugemutet werden darf. Im Klartext: Wieviele Menschen dürfen innerhalb eines bestimmten Zeitraums durch eine technische Nutzanwendung maximal geschädigt werden? Falls diese Frage mit «keine» beantwortet wird, muss auf jede Technik verzichtet werden.
Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Entsolidarisierung und Anspruchsdenken
Braucht es eine Rechtsreform?
Daraus muss man zwei Konsequenzen ziehen. Erstens sollte jeder Bürger bereit sein, einen Teil der kollektiven Risikolast selbst zu tragen. Zweitens muss sich die Gesellschaft den Opfern gegenüber solidarisch erweisen, indem sie ihnen wenigstens bei der finanziellen Schadenbewältigung hilft. Aber: Die Menschen in modernen Industriegesellschaften sind weder bereit, an den kollektiven Risiken zu partizipieren – sie erdulden ihren Risikoanteil allenfalls –, noch sehen sie sich in der Pflicht, den Geschädigten zu helfen. Logische Folge ist die Forderung nach Schadenersatz: vom Staat, vom – vermuteten – Verursacher oder vom Versicherer. Die Lösung des EMF-Problems könnte also in einer verbindlichen Regelung darüber bestehen, wer für Schäden verantwortlich ist, deren Ursachen sich nicht eindeutig feststellen oder sogar nur vermuten lassen. Das heute angewandte Haftungsrecht scheint dafür ungeeignet. Denn es zielt stets darauf ab, einen Schaden einem konkreten Verursacher zuzurechnen, nicht aber darauf, die Schadenlast entsprechend dem jeweiligen Anteil auf die einzelnen Mitverursacher zu verteilen. Bei nicht zurechenbaren Schäden muss dies zu ungerechten Resultaten führen. Entweder wird ein Betroffener nicht entschädigt, obwohl er den Schaden nicht selbst zu verantworten hat. Oder ein Beklagter wird haftpflichtig gemacht, obwohl er den Schaden möglicherweise nicht oder wenigstens nicht allein verursacht hat. Hier besteht die Gefahr, dass sich statt ausgleichender Gerechtigkeit allein das Recht des Stärkeren durchsetzt. Dies kann nicht im Interesse der Gesellschaft sein, denn Ungerechtigkeit destabilisiert soziale Systeme.
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Gewiss: Die Assekuranz ist für diesen gesellschaftlichen Prozess nicht verantwortlich, aber sie ist unmittelbar davon betroffen. Die aktuelle Entwicklung kann einzelne Versicherer in ihrer Existenz bedrohen. Zudem wird die Dekkung von Haftpflichtrisiken nur unter bestimmten gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen zu leisten sein. Sowohl im eigenen als auch im Interesse der Gesellschaft muss die Versicherungswirtschaft deshalb solche gesellschaftspolitischen Entwicklungen erkennen, verstehen und gezielt mitgestalten.
Die Assekuranz ist unmittelbar vom gesellschaftlichen Wertewandel betroffen
Daraus ergeben sich für den Versicherer konkrete Aufgaben: Die Bewältigung von Risiken, die aus der Vergangenheit resultieren, und die kreative Mitgestaltung der zukünftigen Bewältigung von Haftpflichtrisiken. Erste und dringendste Massnahme ist die Begrenzung des eigenen Schadens. Das heisst, der Versicherer muss die bestehenden Verträge überprüfen.
Schadenbegrenzung
Zweitens hilft es nicht, die Augen vor möglichen Folgen der aktuellen Entwicklung zu verschliessen. Je nach Entwicklung der Rechtsprechung könnten auf die Versicherungswirtschaft extrem hohe Forderungen aus bestehenden Verträgen zukommen. Für jeden Versicherer kann es deshalb nur hilfreich sein, sich ein klares und ungeschöntes Bild über die möglicherweise auf ihn zukommenden Forderungen zu machen. Mit Hilfe solcher Bedrohungsszenarien wird der Überraschungseffekt verringert, kann Zeit gewonnen und können präventive Strategien für die Bewältigung – und gegebenenfalls auch Abwehr – möglicher Forderungen entwickelt werden. Die Fachdienste der Schweizer Rück stehen dabei gerne beratend zur Seite.
Bedrohungsszenarien erstellen
Eigenrisiken reduzieren
Drittens sind die künftigen Eigenrisiken durch bekannte und bewährte Instrumente auf ein verantwortbares Mass zu reduzieren. Auch hier bietet sich die Schweizer Rück als Diskussionspartner an.
Neue Deckungsformen entwikkeln
Viertens gilt es auch, längerfristig sicherzustellen, dass das für die Deckung künftiger Haftpflichtrisiken erforderliche Risikokapital zur Verfügung steht. Dazu kann es nötig sein, von der klassischen Versicherung zu modernen Formen der Risikofinanzierung überzugehen, was eine enge, innovative Zusammenarbeit zwischen Industrie, Erstversicherer, Rückversicherer und Finanzmärkten erfordert.
Kommunizieren
Vor diesem Hintergrund lässt sich die EMF-Problematik auch als Kommunikationsproblem verstehen – und auf ein banales, aber folgenschweres Missverständnis zurückführen: Meist werden Versicherungsverträge nur als bilaterale Beziehung zwischen einem Versicherungsunternehmen und einem Versicherten angesehen. De jure ist das richtig. De facto aber stehen alle Versicherten miteinander in vielfacher Verbindung; sie bilden ein höchst komplexes Beziehungsgeflecht. Aufgabe des Versicherers ist nicht nur die Organisation solcher Risikogemeinschaften, sondern auch die Mitgestaltung der versicherungsrelevanten Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern. Eine wichtige Kommunikationsaufgabe ist zum Beispiel, der Industrie deutlich zu machen, dass sie als Haftpflichtgefahrengemeinschaft selbst in der Verantwortung steht, akzeptable gesellschaftliche Bedingungen für die immer mehr oder weniger riskante Entwicklung und kommerzielle Nutzung von Technologien zu schaffen. Der Versicherer kann Deckung für den Fall geben, dass einzelne Unternehmen – aus welchen Gründen auch immer – Schadenersatz leisten müssen.
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Unmöglich aber kann er einzelne Branchen oder gar ganze Wirtschaftssektoren gegen die finanziellen Folgen ungünstiger gesellschaftlicher und rechtlicher Rahmenbedingungen versichern. Die Assekuranz hat sehr wohl verstanden, dass die Industrie untragbar hohen Haftungsrisiken ausgesetzt ist. Es wäre nun hilfreich, wenn die Industrie ihrerseits verstehen würde, dass auch die Assekuranz nicht jedes Risiko tragen kann. Der Bedarf nach Versicherungssschutz gegen EMF-Hafpflichtrisiken ist erkannt. Er wird von der Assekuranz sehr ernst genommen, und es besteht kein Zweifel, dass sie dieses Bedürfnis ihrer Kunden befriedigen will. Unter den gegebenen Bedingungen sind ihr aber enge versicherungstechnische Grenzen gesetzt, weil sich die Rechtssysteme in einem allmählichen Umbruch mit ungewissem Ausgang befinden. Die Versicherungswirtschaft hat die Verantwortung, diesen Wandel mitzugestalten. Aber sie darf sich nicht als Financier dieses gesellschaftlichen Prozesses missbrauchen lassen.
Wahrscheinlichkeit ist ein Gef체hl des Geistes; keine Eigenschaft, die einer Menge von Umst채nden innewohnt. Augustus De Morgan
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