Magazin 3.3
Lehrmittel der Interkantonalen Lehrmittelzentrale
Inhaltliche Projektleitung Elsbeth Büchel Ursina Gloor Autorin Brigitte Schär Expertenteam Erica Meyer Basil Schader Gestaltung Katharina Gassmann d signsolution Illustrationen Babette Maeder Dieses Lehrmittel wurde in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Zürich entwickelt. © 2011 Lehrmittelverlag Zürich, Schulverlag plus AG 1. Auflage 2011 ISBN 978-3-03713-580-8 (Lehrmittelverlag Zürich) ISBN 978-3-292-00536-6 (Schulverlag plus AG) www.lehrmittelverlag-zuerich.ch www.schulverlag.ch Das Lehrmittel und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Vervielfältigung jeder Art oder Verbreitung – auch auszugsweise – nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags. «Sprachland» im Internet: www.sprachland.ch
Adieu – GoodbyE – Auf Wiedersehen
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Luca Laura David Noemi Clara Yasin Ceyda Simon Moritz Alina Raffael Tobi Emre Zahra Siri Besnik Fatih Kim Sascha Valea Leandro Joel Vanessa
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Klassenportr채t
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Luca
Ich renne für mein Leben gern allen davon. Ich war immer schnell, bereits bei der Geburt. Meine Mutter war kaum im Spital angekommen, da war ich schon da. Ich bin der Schnellste meines Jahrgangs in der Gemeinde. In den Kantonalmeisterschaften wurde ich leider geschlagen, zwei waren schneller als ich. Das hat mich gewurmt. Irgendwann wird mich niemand mehr besiegen. Ich trainiere viel im Leichtathletikclub. Ich spiele auch gern Fussball und gehe mit meinem Vater und meiner Schwester regelmässig zu Spielen. Welches meine Lieblingsmannschaft ist, ist ja wohl klar. Ich bleibe aber bei der Leichtathletik. Fussballer werden wollen schon viele. Allein in unserer Klasse käme eine halbe Nationalmannschaft zustande. In der Leichtathletik gibt es auch noch andere Disziplinen, Rennen wird aber immer mein Favorit sein. Ich bin schnell in allem und ich bin ungeduldig. Herr Wechsler und Frau Hild waren nicht immer zufrieden mit mir. «Luca, du hast doch Zeit, nimm sie dir, dann passieren dir nicht all diese Flüchtigkeitsfehler. Du musst nicht immer als Erster fertig sein!» Beide sagten das. Und Noemi sagte mal: «Hast du eigentlich Hummeln im Hintern?», weil ich nie stillsitzen kann. Wenn schon, dann sind die Hummeln in den Füssen.
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Ich habe einen Club gegründet: den «Club der Schnellen und Ungeduldigen». Frau Hild hatte mich auf die Idee gebracht. Ich bin Clubpräsident. Moritz ist Vizepräsident, dem kann auch nichts schnell genug gehen. Und noch drei andere gehören dazu: Besnik, Joel und Emre. Mädchen nehmen wir keine in unseren Club auf. Wir hielten einmal einen Vortrag in der Klasse über Nutzen, Sinn und Zweck von Schnelligkeit in der Welt. Wir fünf vom Club gemeinsam, mit PowerPoint und Musik. Das hat Spass gemacht. Moritz und Emre kennen sich sehr gut mit Computern aus. Und auf unserer letzten Klassenreise haben wir sogar einen kurzen Film gedreht. Danach haben wir ihn geschnitten und vertont. Wir haben alles selbst gemacht, oder fast alles. Der Film ist so lustig geworden, dass ihn am Abschlussfest alle noch mal sehen wollten. Was immer wir vom Club auch tun, wir sind schnell! Ich werde Weltmeister im Hundertmeterlauf und Emre und Moritz werden Computercracks.
Ich werde meine Klasse vermissen und grosses Heimweh haben. Ich habe Angst, nach den Ferien von vorne anfangen zu müssen. Hoffentlich finde ich in der neuen Klasse meinen Platz und eine neue beste Freundin. In dieser Klasse war ich lange allein. Doch dann ist Valea meine Freundin geworden. Ausgerechnet Valea! Am Anfang der 4. Klasse war sie gar nicht nett. Bettina und sie waren sogar richtig fies. Besonders gemein waren sie zu Zahra. Herr Wechsler hat es aber zum Glück gemerkt und sofort etwas dagegen unternommen. Nachdem Bettina unsere Klasse verlassen hatte, wurde Valea normal. Sogar richtig nett wurde sie, auch zu mir. Wir wurden beste Freundinnen. Wir sind oft zusammen. Hin und wieder übernachte ich bei ihr oder sie schläft bei mir. Valea ist immer guter Laune. Ich hätte gern etwas von ihrer Fröhlichkeit und Leichtigkeit. Ich fühle mich manchmal sehr schwer. Tonnenschwer. Dann drückt das Gewicht mich in den Boden. Dabei müsste es mir gut gehen. Ich habe eine liebe Familie und viele Verwandte. Ich bin das, was man «hübsch» nennt. Meine Eltern haben gute Berufe. Es fehlt mir nichts. Valea dagegen hatte es schwer. Sie ist erst mit sieben Jahren in unser Land gekommen und musste eine neue Sprache lernen. Ihr Vater lebt nicht mehr, und sie wohnt meistens bei einer Pflegefamilie, weil ihre Mutter arbeitet und keine Zeit für sie hat. Valea ist sehr gross, sie ist die Grösste in der Klasse und gar nicht schlank. Und doch ist sie hübsch. Viel hübscher als ich, fröhlicher und ausgeglichener. Wenn sie lächelt, geschieht etwas mit den anderen. Valeas Lächeln tut gut, es ist fast wie Medizin. Und wenn Valea laut herauslacht, muss man einfach mitlachen.
Laura
Ich bin sehr traurig, dass wir nicht mehr zusammen in eine Klasse gehen können. Ich werde jeden Tag mit dem Zug fahren müssen und auch viele meiner jetzigen Mitschüler und Mitschülerinnen kaum mehr wiedersehen. Nur Raffael wird in meine neue Klasse gehen. Und sehr wahrscheinlich ziehen wir nächstes Jahr wegen der Arbeit meines Vaters um. Dann wird alles noch einmal anders. Das Kuchenbacken mit Valea für das Abschlussfest unserer Klasse war total witzig. Ich hab so viel gelacht wie noch nie. Am Fest selbst haben wir ausgelassen getanzt. Ich finde, Valea bewegt sich so schön und tanzt super. Sie sollte unbedingt Tänzerin werden. Das habe ich ihr auch in meinem Brief für sie geschrieben. Das und noch viel mehr.
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Ich habe mich ja so was von geärgert, wie hölzern die Jungs am Abschlussfest alle rumstanden. Meistens tanzten nur wir Mädchen. Wir getrauen uns wenigstens. Die meisten Jungs sind immer noch hoffnungslose Kindsköpfe. Manche sind noch ganz klein. Emre ist zwei Köpfe kleiner als Valea. Ein richtiges Baby! Zum Glück muss ich viele von denen nicht mehr sehen. Mit vielen war ich schon im Kindergarten zusammen. Acht Jahre sind genug. Mich interessieren nur ältere Jungs. Die haben Erfahrung und wissen, wie man mit Mädchen umgeht. Schade, war das Oberstufenschulhaus so weit weg. Ich wäre in der Pause sicher nur mit älteren Schülern zusammen gewesen. So aber waren wir in diesem Jahr leider die ältesten im Schulhaus.
David Ich werde mal Zeichner. Ich zeichne die ganze Zeit. Ich habe schon ein paar Comichefte gemacht. Die haben mein Vater und ich dann gedruckt. Man kann sie sogar kaufen, übers Internet und an unserem Schulkiosk. Auch mit dem «Club der Schnellen und Ungeduldigen» zusammen habe ich einen Comic gemacht. Die Geschichte war ziemlich wild. Ich lese nicht besonders gern, ausser Comics. Frau Hild, die einen Tag pro Woche unsere Lehrerin ist, malt auch. Ihr gefällt gut, was ich mache. Meine neuen Werke zeigte ich immer als Erstes ihr. Manchmal stellte sie sie dann in der Galerie im Schulhaus aus, in Wechselrahmen, so wie in einer echten Ausstellung. Das machte mich stolz. Hoffentlich verstehen auch meine neuen Lehrer etwas von Kunst, sonst kann ich einpacken. Die Oberstufe wird hart werden, wenn ich mich weiterhin nur fürs Zeichnen interessiere, meinte Herr Wechsler. Ich will später in eine Kunstschule. Mit Tobi habe ich auch immer gezeichnet. Der war schon im Kindergarten mein Freund. Meine Eltern bewahren alles auf, auch das, was ich mit Tobi früher so kritzelte. Ich habe ihm unsere gemeinsamen Werke ins Spital gebracht. Er freute sich sehr darüber. Nach Tobis Tod habe ich alles wieder zurückbekommen. Ich werde unsere Zeichnungen immer aufbewahren. An unserem Abschlussfest war ich verantwortlich für die Dekoration. Siri half mir und malte viele Pferde. Pferde malen kann niemand so gut wie sie. Wir haben alle Wände mit Plastik abgedeckt und darauf gezeichnet und gesprayt, ich meine Comics, Siri ihre Pferde, und Vanessa hat Gedichte hingepinselt. Das sah am Ende irre aus. Clara nahm am Fest, mitten in all dem Gehopse, plötzlich die rote Spraydose in die Hand und schrieb ganz gross über alles drüber: Bye-bye, Tobi! Leandro, unser DJ, spielte das Lieblingslied unserer Klasse. Danach waren wir alle eine Minute ganz still, für Tobi und für uns. Bye-bye, Kindheit!
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Noemi
Ich habe noch nie so richtig geküsst. Ich weiss nicht, ob ich es schön finden werde. Ich hoffe es. Fatih und Kim sind das einzige Liebespaar in der Klasse. Die halten immerzu Händchen. Und auch in der Pause kleben sie ständig aneinander. Kim ist ein Jahr älter als Fatih. Wahrscheinlich hat sie ihn rumgekriegt. Sie war nur gerade ein Jahr bei uns, weil sie die 6. Klasse wiederholen musste. Ich mag sie nicht besonders, wir sind keine Freundinnen. Fatih ist o.k. Herr Wechsler und Frau Hild hatten nie etwas dagegen, dass die beiden miteinander schmusen. Ich schon! Besonders unmöglich finde ich es, dass die beiden Verliebten in der Pause vor den Kleinen rumknutschen. Ist doch blöd. Am Fest war es besonders peinlich. Wir anderen waren für die beiden völlig überflüssig. So was habe ich ihnen in meinen Briefen an sie geschrieben. Kim war auch nicht nett zu mir in ihrem Brief für mich. Herr Wechsler war nicht zufrieden mit uns. Das sei nicht der Sinn dieser Briefe. Wir sollten darin nur Gutes schreiben. Ich weiss, ich bin nicht grosszügig. Ich schaffe es einfach nicht. Das nervt mich selber. Ich hoffe, ich lerne es noch.
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Ich war es, der die Idee mit dem Flohmarkt hatte. Hoffentlich erinnern sich später alle daran. Der Schulleiter sagte nämlich: «Bravo, Yasin, der Flohmarkt wird Tradition an dieser Schule. Den veranstalten wir jetzt jedes Jahr mit den 6. Klassen.» Meine Idee war die: Wir verkaufen allen Kinderkram, den wir in Zukunft nicht mehr brauchen, für einen guten Zweck. Die Idee fanden alle von unserer und von der Parallelklasse so gut, dass wir sie in die Tat umsetzten. Die Projektleitung hatten Sascha und ich. Zwei Wochen lang bereiteten wir alles vor. In der drittletzten Schulwoche fand der Flohmarkt statt. In jeder Zehn-Uhr-Pause verkauften wir unsere Sachen. Der Flohmarkt war für alle ein Supererlebnis. Das war viel besser, als nur darauf zu warten, dass das Schuljahr zu Ende geht.
Clara Ich heisse Clara. Wer Clara heisst, sieht klar. Namen sagen immer etwas über eine Person. Bei der Geburt geben die Eltern dem Kind einen Namen, dabei kennen sie es noch gar nicht. Es gibt aber keine Zufälle, habe ich gehört. Der Name findet das Kind. Das Kind findet seine Eltern, nicht umgekehrt. Alles klar? Müsste eigentlich, besonders, wenn man schon so alt ist wie ich. Ich bin zwölf. Du meine Güte! Zwölf Jahre! Vor drei Wochen war mein Geburtstag. Ich bin schon ganz schön alt. Nun geht etwas zu Ende, und etwas Neues kommt. Das fühlt sich seltsam an. Im Moment ist nicht alles so klar, wie ich es gerne hätte. Ich muss oft an Tobi denken, obwohl er schon drei Monate nicht mehr da ist. Das ist so ungerecht. Ihm hätten die letzten Schulwochen und das Abschlussfest auch gut gefallen. Tobi fehlt uns allen. Er war sehr beliebt. Mir fehlt er ganz besonders. Es ist so gemein! So grässlich gemein. Ich habe bis zum Schluss gehofft, dass er weiterleben kann. Aber beim letzten Mal, als ich ihn im Spital besuchte, da war er schon ganz schwach und nicht mehr der Tobi, den ich kannte. Da sagte er, dass er keine Angst hat und dass er sich jetzt sogar aufs Sterben freut. Auf das, was nachher kommt. Er war wirklich nicht traurig, als er das sagte. Er hat sogar richtig gestrahlt dabei.
Yasin
Verkauft werden durfte aller überflüssige Kinderkram, der sich zu Hause oder im Schulzimmer angesammelt hatte. All die Sachen, die wir nicht mehr brauchten oder nicht nach Hause nehmen wollten. Da kam schön viel zusammen. Wir sortierten gründlich aus. Einiges wurde in die Mülltonne geworfen. «Platz für die Zukunft» nannten wir unsere Aktion. Der Platz fühlt sich jetzt super an. Jetzt kann die Zukunft kommen. Am Abschlussfest durfte ich feierlich verkünden, wie viel wir durch den Flohmarkt eingenommen hatten. Aber erst nachdem wir unser Klassenlieblingslied gespielt hatten und nach der Schweigeminute für Tobi. Es waren 704.70 Franken. Das ist viel, und wir sind mächtig stolz. Das Geld kriegt ein Lepradorf in Indien für seine Schule. Auch die Kinder dort sollen etwas lernen dürfen und eine Zukunft haben.
Als wir die persönlichen Briefe füreinander schrieben, habe ich auch einen für Tobi geschrieben. Beim Abschlussfest letzten Samstag haben wir seine Lieblingsmusik gespielt. Ich hab wieder geheult. Und getanzt. Ganz für mich und in Gedanken an ihn. Bye-bye, Tobi! Jetzt sind erst mal Ferien, und dann geht es in der Oberstufe weiter. Ich hätte das Gymnasium besuchen können. Die Aufnahmeprüfung hätte ich sehr wahrscheinlich bestanden. Das meinte auch Herr Wechsler im Gespräch mit meinen Eltern und mir. Ich will aber nicht jeden Tag Zug fahren und nur noch Hausaufgaben machen müssen. Und ich will unbedingt mit meinen besten Freundinnen Alina und Vanessa weiter zur Schule gehen. Wir alle drei sind auch zusammen in der Pfadi. Wir werden gemeinsam ins Sommerlager fahren. Es dauert zwei Wochen, und ich weiss, es wird super. Ich will später unbedingt einen Beruf ausüben, in dem ich die Umwelt schützen kann. Das machen wir Pfadis jetzt schon. Vielleicht brauche ich dazu die Matur und muss ein Studium machen. Aufs Gymnasium wechseln kann ich immer noch. Es gibt viele Möglichkeiten und Wege, seine Träume zu realisieren, sagen die klugen Erwachsenen, und das sage auch ich.
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Ceyda
Alles ist Scheisse und es könnte doch so gut sein. Scheisse, Scheisse. Dabei bin ich verliebt. Ich glaube, an unserem Abschlussabend hat er es endlich gemerkt. Mann! Warum habe ich ihm wohl die Hausaufgaben nach Hause gebracht, als er krank war? Doch nicht einfach so. Da fand ich ihn schon besonders. Seltsam, da nervt dich einer und plötzlich wird alles ganz anders. Da fängt es von einem Tag auf den anderen an, in einem zu sümseln, zu kitzeln und zu grummeln. Am Abschlussfest legte Leandro, so heisst er, Musik auf. Er will DJ werden und ist jetzt schon super darin. Ich drückte mich dann immer in der Nähe des DJ-Pults rum. Leandro schaute mich ein paar Mal sehr besonders an. Und jetzt, wo die Primarschulzeit zu Ende ist und vor dem Übertritt in die Oberstufe, erfahre ich, dass ich nach den Ferien nicht mehr hier zur Schule gehen kann. Weil mein Vater Scheisse gebaut hat. Wir müssen die Schweiz verlassen und in ein Land zurückkehren, das ich gar nicht kenne und wo ich sicher nicht hin will. Ich gehe nicht weg von hier. Zuerst tauche ich unter. Ich hau ab! Aber ich will gar nicht abhauen. Ich will mit Leandro in eine Klasse gehen. Das würden wir nämlich. So hat es das Schicksal bestimmt. In die gleiche Klasse. Und wir würden nebeneinander sitzen. Und jetzt das!
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Simon
Bin ich blöd? Will ich blöd sein? Will ich blöd bleiben? Ich bin nicht stolz darauf, dass ich das Schlusslicht der Klasse bin! Aber einen muss es ja treffen. Der Blödeste zu sein, ist immerhin etwas! «Die Ersten werden die Letzten sein und umgekehrt», hat Herr Wechsler mal gesagt. Das habe ich mir gemerkt. So werde ich also irgendwann in der Zukunft Präsident von irgendetwas werden. Frau Hild hat mal halb im Spass, halb im Ernst zu mir gesagt: «Bei dir ist Hopfen und Malz verloren.» Das habe ich mir auch gemerkt. Als die anderen mir die Briefe vorlasen, die sie für mich geschrieben hatten, da musste ich heulen. Echt! Es war so viel Schönes, was sie über mich sagten. Ich hätte das nie erwartet. Es hat mich fast umgehauen. Klar, wir mussten uns ja Mühe geben und in diesen Briefen nur Gutes übereinander schreiben. Nicht das, was einem am anderen nicht gefällt. Damit jeder etwas Wertvolles mitnehmen kann. Niemand hat also geschrieben, dass ich blöd und ein schlechter Schüler bin. Dass wegen mir immer alle warten müssen, weil ich oft eine lange Leitung habe, bocke und den Unterricht störe. Wirklich keiner hat das geschrieben. Dafür so viel Nettes, dass es kaum zu ertragen war. Das kann gar nicht stimmen, so bin ich doch gar nicht gewesen. Ich habe die Briefe nachher, zu Hause, immer wieder gelesen. Irgendwann werde ich noch glauben, was da steht, nämlich dass ich gute Seiten habe und nicht blöd bin. Wenn das in der Oberstufe so weitergeht mit der Nettigkeit, dann werde ich mir vielleicht richtig viel Mühe geben. Vielleicht löst sich dann der Knoten und ich gehe irgendwann sogar gern zur Schule und werde ein guter Schüler. Vielleicht gibt es tatsächlich Wunder!
Yeah! Schon halb erwachsen! Bin ich froh, ist diese blöde Kindheit vorbei. Es wurde auch Zeit. Jetzt darf ich am Abend eine Stunde länger aufbleiben, so wie meine zwei älteren Geschwister. Ich werde ab sofort nicht mehr wie das Baby der Familie behandelt. Ich bekomme einen eigenen Laptop, und ich höre auf mit Tennis. Dafür will ich Schlagzeug spielen lernen. Unbedingt. Tobi hat mir seins geschenkt, als er selbst nicht mehr darauf spielen konnte. Er konnte ziemlich gut spielen. Ich hab immer so getan, als ob ich es auch könnte. Wenn ich bei ihm zu Hause war, habe ich einfach auf das Schlagzeug eingedroschen. Tobi hat das nicht ausgehalten, und so hat er mir ein paar Dinge beigebracht. Wie man die Stöcke richtig hält und Beats spielt und so. Wenn ich mal eine eigene Band habe, soll sie «Bye-bye, Tobi» heissen.
Moritz
Ich spiele auch Klavier. Seit drei Jahren gehe ich in die Klavierstunde. Damit höre ich nicht auf, auch wenn die Überei ziemlich nervt. Klavier spielen zu können ist wichtig, wenn man am Computer Musik komponieren will. Das mache ich schon jetzt. Das liegt mir, aber es braucht viel Zeit. Ich weiss gar nicht, wann ich noch die Hausaufgaben machen soll. In der Oberstufe werden es viel mehr sein als bisher. Meine Schwester war bei der gleichen Lehrerin, die ich nun kriege. Frau Baumann soll ziemlich streng sein. Meine Schwester hat mich schon mal vorgewarnt. Wie auch immer! Ich will Berufsmusiker werden, und am allerliebsten will ich Filmmusik schreiben. In etwa sechs Jahren kann ich Musiker sein. Nur noch etwa zweitausend Mal schlafen und in die Schule gehen. Und Hausaufgaben machen. Die Ferien natürlich ausgenommen. Ich kanns kaum erwarten.
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Am Schulflohmarkt habe ich meine Kinderbücher verkauft, die Fix-und-Foxi- und Micky-Maus-Hefte, die Quartette und die meisten anderen Spiele. Mein älterer Bruder hat mir von seinen Comicbänden mitgegeben. David hat sich gleich darauf gestürzt. Er sammelt sie, weil er Zeichner werden will. Er musste natürlich auch bezahlen. Auch sonst verkauften wir ein bisschen im Kreis herum, innerhalb unserer und der Parallelklasse. Für die Kinder der unteren Klassen gab es trotzdem noch genug zu kaufen.
Alina
Ich habe zwei beste Freundinnen, Clara und Vanessa. Wir sind die drei Musketiere. Die Musketiere sind die Helden aus einem alten französischen Roman, der verfilmt wurde. Kämpfer mit Hut, Mantel und Degen und Mut und Herz für die anderen. Auch wir drei Freundinnen setzen uns für eine gute Sache ein. Wir sind Pfadfinderinnen. Ich habe Glück gehabt mit meinem Pfadinamen. Ich heisse Shakira, wie die Sängerin, weil ich ihr ein bisschen gleiche. Ich bin aber nicht so sexy, das will ich auch gar nicht sein. Und ich will nicht Sängerin werden. Ceyda und Noemi wollen Musicalsängerinnen werden, das wäre nichts für mich.
Ich weiss noch gar nicht, was ich werden will. Vielleicht Ärztin. Bei den Ärzten ohne Grenzen, in einem Entwicklungsland. Oder ich gehe zur UNO. Oder ich werde Botschafterin. Das finde ich toll, immer in der Welt herumreisen und diplomatisch sein. Ich bin gern diplomatisch. Das liegt mir. Jetzt leite ich als Pfadiführerin erst mal die Kleinen. Darauf freue ich mich. Ich übernehme gern Verantwortung.
Unsere Mädchen wollten ihren Mädchenkram loswerden, nur lauter pinkig-kitschige Sachen. Auch Tick, Trick und Track, pardon, die drei Musketiere, Alina, Clara und Vanessa! Die kleineren Mädchen waren voll begeistert und balgten sich darum. Hauptsache, wir sind unseren Krempel los. Aus unseren Kinderzimmern werden jetzt Jugendzimmer!
Raffael
Und auch dies hat allen sehr gut gefallen im letzten Jahr: Wir besuchten das Kinderzimmer von jeder und jedem aus unserer Klasse. Das war meine Idee. Ich hatte sie auf einen Zettel geschrieben und in den Klassenbriefkasten geworfen. Alle fanden die Idee gut. Und so besuchten wir jede Woche, an einem Nachmittag, zwei Zimmer. Es war spannend zu sehen, wie verschieden wir leben. Da gab es alles: vom kleinen vollgestopften Zimmer in der überfüllten engen Wohnung bis zum Luxuszimmer in der Villa. Bei David durften wir sogar im Swimmingpool baden. Bei Besnik zu Hause assen wir so viele Kekse, bis wir fast platzten. Sein Vater arbeitet in einer Keksfabrik. Ich wohne in einer Genossenschaftssiedlung für Familien mit Kindern. Mein jüngerer Bruder und ich haben jeder ein eigenes Zimmer. Mein Zimmer ist immer aufgeräumt. Ich kann Unordnung nicht ausstehen. Das war schon immer so. Meine Mutter wundert sich manchmal, von wem ich das habe. Ich habe nun mal ein Talent für Ordnung. Darum habe ich mich nach dem Abschlussfest zusammen mit Zahra, Noemi, Simon, Sascha und Luca für die Aufräumgruppe gemeldet, die Frau Hild leitete. Aber Polizist werde ich trotzdem nicht! So weit geht meine Ordnungsliebe nicht.
Ich war Klassensprecherin in diesem Jahr, zusammen mit Sascha. Immer ein Junge und ein Mädchen waren Klassensprecher. Die betreuen auch den Klassenbriefkasten. Alle aus der Klasse, die eine Kritik, einen Verbesserungsvorschlag oder sonst etwas zu melden hatten, konnten einen Zettel einwerfen. Sascha und ich sahen die Zettel durch und besprachen anschliessend mit Herrn Wechsler, was wir damit machen. In der nächsten Freude-und-Kummer-Runde wurde das Wichtigste dann mit der ganzen Klasse besprochen. Auch für den Flohmarkt in der drittletzten Schulwoche und fürs Abschiedsfest am Ende der zweitletzten sammelten wir in diesem Briefkasten Ideen. Frau Strahm, die Sozialarbeiterin, die für unsere Schule zuständig ist, hat auch einen Briefkasten vor ihrem Büro. Da können alle, die ihre Hilfe brauchen, einen Zettel einwerfen oder über besondere Vorkommnisse berichten. Wir drei Musketiere werden weiterhin zusammen in einer Klasse sein. Unsere Eltern haben ein Gesuch gestellt, und es hat geklappt. Anders hätte ich es mir auch gar nicht vorstellen können.
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Tobi
Tobi hätte vielleicht dies geschrieben: Ich wäre Astronaut geworden, ganz bestimmt. Zuerst aber Militärpilot wie mein Vater. Oder vielleicht auch Astronom. Seit ich klein bin, schaue ich in den Himmel. Unser Haus ist ziemlich weit ausserhalb auf einer Anhöhe. Da kann man den Sternenhimmel besser sehen als unten zwischen allen Häusern und Lichtern. Unsere Familie besitzt ein Spiegelteleskop. Das Sterngucken lieben wir alle. In der Sternwarte sieht man natürlich mehr. Aber auch durch unser Teleskop kann man schon viel erkennen, wenn man Übung hat. Die Planeten des Sonnensystems, die Krater des Mondes, den rötlichen Mars, den Ringplanet Saturn … Dass es Galaxien gibt, deren Lichtschein die Erde erst nach Jahrmillionen erreicht, weiss man zwar, aber man kann es sich nicht vorstellen. An einem Abend kam die ganze Klasse mit Herrn Wechsler und Frau Hild zu uns nach Hause, und wir schauten alle zusammen in die Sterne. Danach las uns Herr Wechsler die Geschichte «Flug ins All» vor. Da wussten wir noch nicht, dass ich nicht wieder gesund werde. Wenn man immer alles wüsste! Ich war wegen meiner Leukämie in den letzten zwei Jahren abwechselnd im Spital und zu Hause. Wenn immer möglich, ging ich in die Schule. Wenn nicht, brachte mir jemand von der Klasse die Hausaufgaben nach Hause oder ins Spital. Herr Wechsler und Frau Hild kamen auch ein paar Mal. Ich bekam viele Briefe und Fotos zugeschickt. Vanessa brachte mir Bücher aus der Bibliothek und schrieb für mich sogar Geschichten.
Es machte mich traurig, andere wegen mir traurig zu sehen. Vor allem meine Eltern. Sie versuchten es zu verstecken, aber ich sah es in ihren Augen. Ich wurde ein richtiger Experte im Augenlesen. Ich mochte dieses Leben sehr. Und alle Menschen, die mir begegneten, so unterschiedlich sie waren. Hau weiter so vergnügt und wild auf das Schlagzeug, Moritz! Auf meins, das jetzt deins ist. Und du David, nimm deine Spraydosen zur Hand und spray die ganze Welt kunterbunt!
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Ich heisse Zahra, nicht Sarah. Zahra kommt aus dem Arabischen und heisst Blüte oder Rose. Mein Name gefällt mir, denn ich mag Blumen. Ich habe immer eine Vase mit Blumen in meinem Zimmer. Ich male am liebsten Blumen, und ich trage gern Kleider mit Blumenmuster.
Emre
Vor allem bin ich Fussballer! Ich will Profifussballer werden. Irgendwann will ich in der Nationalmannschaft spielen! Ich habe zwei Möglichkeiten, weil ich in zwei Ländern zu Hause bin. Dass ich klein bin, macht nichts. Ich muss nur schnell und wendig sein. Fussball spielt man auch mit dem Kopf, und das nicht nur bei Kopfbällen. Es gibt auch kleine grosse Fussballstars. Aber ich werde ja noch wachsen. Wie gross ich werde, weiss ich nicht. Wahrscheinlich nicht sehr gross. In unserer Familie ist niemand gross. Wenn ich mir die blauen Flecke und Verstauchungen nicht beim Fussball hole, dann sicher beim Breakdance. Wenn ich mich nicht bewegen kann, gehts mir nicht gut. In der Schule muss man immer stillsitzen und zuhören. Ich denke zwar gern, denn dazu ist der Kopf ja da, aber die Beine machen manchmal, was sie wollen. Wenn Pause ist, bin ich der Erste auf dem Pausenplatz. Wir dürfen in der grossen Pause Fussball spielen. Leider sind wir nicht immer an der Reihe. Alles muss immer so gerecht zugehen in der Schule. Für alles hängen Listen mit Regeln und Ordnungen an den Wänden. Das ist manchmal anstrengend. Aber sonst kämen die Kleinen wohl nie zum Spielen. Wenn wir nicht an der Reihe sind auf dem Fussballplatz, dann üben wir Breakdance. Wir haben immer unseren eigenen Gettoblaster dabei. Den Knirpsen von den unteren Klassen haben wir auch schon einiges beigebracht. Die grösseren Mädchen stehen in der Pause manchmal um uns herum, wenn wir uns verrenken. Sie machen Sprüche, kichern, applaudieren und versuchen es selbst. Das ist cool.
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Aber wie gesagt, ich werde Fussballer. Vielleicht später auch Schiedsrichter oder Trainer. Auf alle Fälle werde ich einen Haufen Geld verdienen mit dem, was ich kann. Bestechen lassen würde ich mich aber nie. Das macht die Fussballkunst kaputt. Ich spiele mit meinen Freunden auch am Sonntag Fussball. Danach haben wir Hunger, und wir essen in unserem Restaurant. Wir haben ein eigenes. Mein Vater und meine Mutter kochen. Wir machen auch Catering. Fürs Abschlussfest haben wir das Essen gebracht. Ich muss viel mithelfen zu Hause, auch bei der Restaurantwebsite. Damit kenne ich mich oft besser aus als die Erwachsenen. Ich habe ja auch schon von ganz klein auf am Computer geübt. Irgendwann wollen meine Eltern in ihre Heimat zurückkehren. Sie reden immer davon. Ich bleibe lieber hier. Dass ich das Restaurant übernehme und Koch werde, ist auch eine Möglichkeit, aber nur, wenn das mit dem Fussballspielen nichts wird.
Trotzdem würde ich lieber Sarah heissen. Nicht weil das schöner wäre als Zahra, aber das Z steht nun mal am Schluss des Alphabets. Immer komme ich zuletzt dran, ausser es geht anders herum. Als die Briefe in der Klasse vorgelesen wurden, kam ich nicht als Letzte dran, denn es ging nach der Sitzordnung. Das mit den Briefen dauerte Wochen, bis jede und jeder allen anderen einen geschrieben hatte. Briefe schreiben können wir jetzt. Und die anderen etwas differenzierter betrachten, so hat es Herr Wechsler gesagt. Wir haben alles Schlechte weggelassen und uns nur auf das Gute konzentriert. Über jeden gab es etwas Gutes zu sagen. Wenn das alle Menschen machen würden, dann hätten wir das Paradies auf Erden. Und es gäbe sicher kein Mobbing mehr in den Schulen und auch sonst keine Gewalt. Dann würden alle gern in die Schule gehen. Niemand bräuchte Angst zu haben.
Zahra
Ich hatte als kleines Mädchen grässliche Angst vor dem Schulweg. Es gab da ein paar gemeine Jungs, die uns Kleinere bedrohten und manchmal verhauten. In der 4. Klasse wurde ich sogar richtig gemobbt. Ich weiss gar nicht, warum ausgerechnet mir das passierte. Zwei Mädchen, Bettina und Valea, hatten es auf mich abgesehen. Ich passte ihnen nicht. Zum Glück hat es Herr Wechsler sehr schnell gemerkt und mir geholfen. Von da an gab es in unserer Klasse kein Mobbing mehr. Die letzten Schulwochen waren wie ein Feuerwerk. Wir alle hatten es richtig gut zusammen. Auch das Abschlussfest war super. Valea hat getanzt und Vanessa hat ihre Geschichte vorgelesen. Die Musik, die Dekoration, der Rap und Breakdance vom «Club der Schnellen und Ungeduldigen», alles war einfach spitze. Wir haben auch den kurzen Film von der Klassenreise noch einmal angeschaut. Luca, Moritz, Besnik, Emre und Joel sind echt eine schräge Bande. Mit Moritz und Emre werde ich weiter in eine Klasse gehen. Raffael wird das Gymnasium besuchen. Irgendwie schade! Das Aufräumen mit ihm nach dem Abschlussfest war … hmmm!
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Siri
Ich möchte die Sprache der Pferde sprechen können. Das lernt man leider nicht in der Schule. Man kann nicht alles in der Schule lernen. Für vieles braucht es eine Spezialbegabung. Zum Beispiel die Begabung des Pferdeflüsterns. Es könnte sein, dass ich sie habe. Ich kann mich nämlich jetzt schon mit meinem Pferd unterhalten. Es stellt die Ohren, hört mir zu und antwortet. Ich merke immer sofort, wie es ihm geht. Umgekehrt spürt ein Pferd auch, wie es Menschen geht. Mein Pferd ist nicht wirklich mein Pferd, aber ich darf es besuchen, sooft ich will, und ich darf auf ihm reiten und mich um es kümmern. Es ist also auch ein bisschen mein Pferd. Wenn ich erwachsen bin, werden die Leute zu mir kommen und mich fragen, was ihren Pferden fehlt. Ich werde es ihnen sagen können, weil die Pferde es mir sagen. Es gibt auch Leute, die Hunde oder Katzen besonders gut verstehen und ihre Sprache sprechen. Es muss wunderbar sein, im Beruf körperlich kranken oder auch seelisch geschädigten Tieren helfen zu können. Am wohlsten fühle ich mich mit Tieren, vielleicht war ich selbst mal ein Tier. Am ehesten ein Pferd. In der 4. Klasse haben mich alle immer aufgezogen, weil ich nur von Pferden und vom Reiten sprach. Das hat sich geändert. Jetzt finden es alle cool, dass ich so viel über Pferde weiss. Ich bin für alle die Pferdespezialistin geworden.
Es lebe der «Club der Schnellen und Ungeduldigen»! Unsere unschlagbare «Gang» wird es immer geben, auch wenn wir nicht mehr alle in die gleiche Klasse gehen. Wir sind immer noch im gleichen Schulhaus zusammen. Wir sind die Pausenplatz-Mafia. Wir reden in unserer Geheimsprache. Wir breakdancen und rappen alle an die Wand. Wir sind böse und clever. Wir kontrollieren alles und bedrohen, erpressen und morden, wenn uns jemand nicht passt oder für das grosse Geld. Mit uns ist nicht zu spassen! So haben wir uns das zusammengedichtet, in unserem Comic für die Schülerzeitung. So eine richtige Schockergeschichte wurde das. Leider wurde sie nicht veröffentlicht, weil sie zu krass sei! Wir jedenfalls hatten beim Erfinden mächtig Spass. David hat auch mitgemacht, obwohl er die Geschichte von Anfang an doof und viel zu übertrieben fand. Jetzt warten wir auf ein Angebot aus Hollywood.
Besnik
Einen Film haben wir auch schon gedreht. Von unserer letzten Klassenreise. Joels Vater ist Dokumentarfilmer beim Fernsehen. Er hat uns beim Schneiden und Vertonen ein wenig geholfen. Emre und Moritz hätten das zwar auch hingekriegt. Die sind gut! Mit Hilfe von Joels Vater ist aber alles richtig professionell geworden. Echt coole Jungs sind wir. «Mackerbubis» nennt uns Noemi. Ihr und auch anderen Mädchen sind wir manchmal schwer auf die Nerven gegangen. Die Mädchen haben wir sehr gern geärgert. Vor allem Noemi. Um die Wahrheit zu sagen: Wir sind gar nicht bösartig genug, um echt cool zu wirken. Ein paar krumme Dinger gehen allerdings schon auf unser Konto. Der schlimmste und teuerste Streich unserer «Gang» war, als wir die Turnschuhe von einem Zweitklässler in die Toilette stopften. Das gab eine ziemliche Überschwemmungssauerei. Unsere Eltern mussten antraben. Streiche zu spielen, gehört doch dazu. Wir sind keine Engel. Wir sind wilde Jungs! Aber dann hat Frau Hild diese Sache mit den Patenkindern eingeführt. Immer ein Sechstklässler oder eine Sechstklässlerin sollte Pate von einem Erstklässlerkind sein. Da konnten wir nicht mehr gemein sein zu den Knirpsen. Eigentlich schade ;-)
David wollte, dass ich für das Abschlussfest auf Plastikfolie ganz viele Pferde zeichne. Das kann ich, und ich habe es gern getan. Es war immer Sirius, den ich malte. Mein Pferd heisst so. Wegen Sirius heisse ich bei fast allen Siri. Getauft bin ich allerdings anders, nämlich Fabienne. Herr Wechsler ist ein Kinderflüsterer, finde ich. Wir hatten grosses Glück, dass wir seine Schüler und Schülerinnen sein durften. Er kann in die Seele schauen, auch bei ganz bockigen Kindern. Und er kann Wunder bewirken. Ich hatte nie Mühe in der Schule, aber ich bin sicher, dass ich auch wegen Herrn Wechsler so gern zur Schule gegangen bin, sogar nach den Ferien. Ich werde ihn auch in Zukunft besuchen. Er hat mich jetzt schon eingeladen, seiner neuen Klasse etwas über meinen Sirius zu erzählen.
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Kim
Fatih
Kim braucht mich. Und ich brauche sie. Zum Glück musste sie eine Klasse wiederholen und kam zu uns. Am Anfang mochte ich sie nicht. Sie musste sich ausgerechnet neben mich setzen, weil an meinem Tisch ein Platz frei war. Das gefiel mir gar nicht, und wir stritten uns. Sie war sehr aggressiv und kickte mich ständig unter dem Tisch gegen das Bein. Einmal wehrte ich mich so richtig und boxte sie. Seit da lieben wir uns. Keine Ahnung, warum. Vielleicht weil Kim weinte und plötzlich so klein und hilflos aussah. Ich begann, sie zu beschützen und ihr zu helfen. Und sie half mir. Ich muss sie immer festhalten. Und sie hält mich fest. Es ist völlig egal, was um uns passiert. Ich bin mit Kim auf einer Insel. Da gibt es nur uns. Manche ertragen uns nicht. Noemi zum Beispiel. Die ist doch bloss eifersüchtig. Die hätte auch gern jemanden wie mich. Dann muss sie halt suchen! Ich gehöre Kim. Und sie mir. Meinen Eltern passt es nicht, dass ich mit Kim zusammen bin. «Du bist viel zu jung. Und das gehört sich nicht für uns», sagen sie. Und schon gar nicht so eine wie Kim. Sie schminke sich viel zu stark für ihr Alter. Dabei kennen sie Kim ja gar nicht. Sie darf nicht zu uns nach Hause kommen. Ich war aber schon bei ihr. Und einmal habe ich mit Kim zusammen sogar ihren winzigen Babybruder gehütet. Das war schön. Kim verändert mich. Das Umarmen und Küssen verändert mich. Ich bin ein ganz anderer Mensch mit Kim. Ich fühle mich sehr erwachsen. Kim und ich machten immer zusammen die Hausaufgaben. Aber ganz schnell, damit wir viel Zeit für uns hatten. Am Abschlussfest tanzte ich nur mit Kim. Andere Mädchen interessieren mich nicht.
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Ich bin das älteste von vier Kindern. Meine Geschwister haben einen anderen Vater. Meinen eigenen kenne ich kaum. Immer muss ich auf meine kleinen Geschwister aufpassen. Mein kleinster Bruder ist noch ein Baby. Er ist mehr als zwölf Jahre jünger als ich. Immer muss ich vernünftig sein. Immer muss ich alles auf die Reihe kriegen. Und dabei fühlte ich mich so allein. Alle verlangen ständig was von mir. Schule war für mich auch nur Stress. Ich kriegte alles nur mit Abschreiben und Lügen hin. Die Lehrerinnen, die ich vorher hatte, gaben sich zwar viel Mühe, aber alles lief immer schief und war schwierig. Ich verstand mich ja selbst nicht. Als ich dieses Schuljahr wiederholen musste, fand ich Fatih, und alles wurde anders. Er ist zwar jünger als ich, aber das macht nichts. Wenn er mich an der Hand oder im Arm hält, dann geht es mir gut. Frau Strahm, die Sozialarbeiterin, wollte mit uns beiden reden und mit unseren Eltern. Das hat sie dann auch getan. Sogar über Verhütung, weil wir so oft zusammen sind. Das fand ich ziemlich peinlich. Herr Wechsler hat auch mit uns geredet. Er verlangte von uns, dass wir uns im Schulzimmer trotz allem konzentrieren und mitmachen. Aber er war nett und verstand uns. Wir können trotzdem nicht weiter zusammen in die gleiche Klasse gehen. Ich werde eine spezielle Schule besuchen, wo man mir beim Lernen und auch sonst noch besser helfen kann. Am Abschlussfest fand ich alles traurig und heulte. Fatih hielt mich ganz fest. Wir werden uns so oft wie möglich sehen. Er ist für mich der wichtigste Mensch auf der Welt.
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Als Laura mir sagte, ich müsse unbedingt Tänzerin werden, lachte ich laut heraus. Dafür bin ich wohl etwas zu gross und zu schwer. Ich stellte mir vor, wie ich so ein weisses Ballettröckchen, ein Tutu, trage und Spitzenschuhe. Und wie ich durch die Luft fliege und von einem dünnen, kleinen Tänzer aufgefangen werde, so klein wie Emre. Da musste ich gleich noch einmal losprusten. Elefant Jumbo fliegt durch die Luft. Ballett und ich!! Ich liebe Musik und bewege mich gern. Aber nur so, wie ich will. Und es gibt ja zum Glück mehr als nur den klassischen Tanz. Es gibt auch die Tänze der Roma. Ich gehöre zu diesem Volk. Beim Abschlussfest habe ich einen solchen Tanz gezeigt und dazu das Tanzkleid meiner Grossmutter getragen, das ich von ihr geerbt habe. Leandro hat mit mir die passende Musik ausgesucht.
Sascha
Valea
Laura und ich sind sehr ungleiche Freundinnen. Laura wirkt wie eine Elfe und macht Ballett. Sie geht auch regelmässig zu einer Psychologin. Die Schulsozialarbeiterin hatte es den Eltern empfohlen, weil Laura oft so traurig ist. Manchmal geht die ganze Familie mit. Ich finde, Laura sollte nicht Ballett tanzen. Sie sollte boxen oder Karate machen. Und statt auf den Spitzen zu tanzen, mehr mit den Füssen stampfen! Und laut singen und Blödsinn machen. Als mir die anderen ihre Briefe vorlasen, freute ich mich über das, was ich hörte. Auch meine Eltern freuten sich über die Briefe. Ich habe sie dann auch noch ein paarmal in aller Ruhe gelesen. Was darin steht, fasse ich jetzt zusammen: Ich bin der, den alle gut mögen, der nicht auffällt, der gern mitarbeitet, zu Hause und in der Schule, der keine Probleme macht. Ich bin in allen Fächern durchschnittlich gut oder besser. Ich bin ausgeglichen und nett. Die Klasse hatte mich fürs letzte Jahr als Klassensprecher gewählt, weil ich nicht parteiisch bin. Ich bin sportlich, habe nichts gegen Mädchen, ich bin zu ihnen sogar besonders höflich und zuvorkommend. Ich mache meine Hausaufgaben sorgfältig und gewissenhaft. Ich quäle keine Geschwister, keine Tiere und auch sonst nichts und niemanden. Das käme mir nicht mal in den Sinn. Ich arbeite im Unterricht gern mit und übernehme freiwillig Zusatzaufgaben. Das ist alles, was es am Ende der Primarschulzeit über mich zu sagen gibt, finden die anderen und finde auch ich. Das ist doch etwas langweilig. Mal sehen, was die Oberstufe bringt. Jetzt stecke ich noch in meinem Kokon. Ich schlummere, aber irgendwann werde ich schlüpfen. Vielleicht als Supermann, als Held. Als Filmstar, Politiker oder Wirtschaftsboss. Und hoffentlich als Frauenschwarm. Besonders gut aussehend, stark und sehr intelligent. Die Zukunft wird es weisen. Ich bin selber gespannt, was aus mir wird.
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Wenn man uns so sieht, dann passen Laura und ich auch äusserlich überhaupt nicht zusammen. Wir sind wirklich sehr verschieden. Doch Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an. Ich bin gern bei Laura zu Hause. Ihre Mutter ist sehr nett. Aber sie kommt mir auch vor wie eine schüchterne Elfe. Ich habe zwei Mütter, eine richtige und eine Pflegemutter. Ich habe einen Pflegevater und meinen richtigen Vater, den ich nie kennen gelernt habe. Es gibt ein Land, das meine Heimat ist, und eins, das jetzt meine Heimat wurde. Ich habe eine Muttersprache, die ich kaum sprechen kann, weil ich meine Mutter wenig sehe. Lange hat mich dieses Durcheinander ganz verwirrt. Allmählich finde ich das Leben richtig schön, und ich werde immer mehr ich selbst. Am Anfang der 4. Klasse konnte ich mich selber nicht ausstehen. Ich war ziemlich eklig. Herr Wechsler hat mich dann neben Laura gesetzt. «Ihr beide werdet euch guttun», meinte er. Und er hatte Recht.
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Leandro
Ich bin ein DJ! Musik ist meine Welt. Ich habe alles von meinem Bruder Claudio gelernt. Der ist zwanzig, also acht Jahre älter als ich, und legt schon seit Jahren auf. Claudio lebt nur in der Nacht und schläft den ganzen Tag. Er wohnt noch zu Hause. Meine Mutter will ihn aber aus dem Haus haben, weil er das ganze Familienleben mit seiner Lebensweise durcheinanderbringt, wie sie sagt. Er sei ein schlechtes Vorbild für mich und meine jüngere Schwester Lucia. Claudio lässt mich meistens an seinen Computer. Er hat zwei. Er kifft und raucht und trinkt. In seinem Zimmer steht immer ein Karton Bierdosen. Er lässt mich auch heimlich Bier trinken und rauchen. Aber ich mag beides nicht. Ich will gar nicht damit anfangen. Davon wird man nur abhängig. Mein Bruder verbringt fast seine ganze Freizeit am Computer, auch wegen seiner Arbeit als DJ. Die meisten Connections laufen übers Internet. Claudio verdient ziemlich viel mit seiner Arbeit. Es macht ihm nichts aus, mir gelegentlich etwas Geld zu geben zur Aufbesserung meines Taschengelds. Auch von Papa bekomme ich immer wieder mal was zusätzlich. Mama stört das gewaltig. Er besteche uns, sagt sie. Meine Eltern leben getrennt und sind beide Musiker. Mama spielt E-Bass in verschiedenen Bands und unterrichtet in einer Musikschule. Sie verstehe Claudio schon, sagt sie. Sie findet gut, was er beruflich macht und wie ers macht. Aber eben nicht, wie er mit uns zusammenlebt. Und er lässt sich nichts vorschreiben. Von Mamas Freundin schon gar nicht. Die ist oft bei uns, seit Papa weg ist, und mischt sich immer ein. Bei uns zu Hause ist oft dicke Luft. Dann zieh ich mich zurück und arbeite an meiner Karriere als DJ. Ich will später mal zu allen wichtigen Events eingeladen werden und riesige Hallen zum Kochen bringen.
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Zwei meiner besten Freunde sind Ausländer: Emre und Besnik. Also, Ausländer sind sie ja nicht wirklich. Sie sind hier geboren. Aber wenn man bei ihnen zu Hause ist, kommt man sich doch wie im Ausland vor. Besniks Mutter spricht nur wenig Deutsch. Sie kommt kaum aus der Wohnung, und sie trägt ein Kopftuch. Besnik muss oft für seine Mutter übersetzen. Sein Vater spricht auch nur gebrochen Deutsch, obwohl er schon lange in der Keksfabrik arbeitet. Auch er ist meistens mit Leuten zusammen, die die gleiche Sprache wie er sprechen.
Joel
Ich trage zwei Kontinente in mir. Meine Mutter ist aus Südafrika und dunkelhäutig. Sie arbeitet als Dolmetscherin. Mein Vater ist Dokumentarfilmer. Er hat auch einen Film über Migranten gedreht, darüber, woher sie kommen und warum sie ihre Heimat verlassen haben oder ver- lassen mussten und wie sie bei uns leben. Hoffentlich kann mein Vater zusammen mit Herrn Wechsler etwas für Ceyda tun, damit sie unser Land nicht verlassen muss. Sie haben sich deswegen bereits getroffen. Auch wir vom «Club» kamen in dem Film über Migranten vor. Wir konnten uns als Breakdancer zeigen und haben unsere Sache ganz gut gemacht. Marvin aus der Oberstufe hatte mit uns extra eine Choreografie einstudiert und hart mit uns geübt. Marvin ist unser Vorbild und sicher der beste Breakdancer im Ort und in der ganzen Region. Ich will Filmer werden wie mein Vater. Ich möchte Filme in der ganzen Welt drehen. Ich hoffe, dass das trotzdem möglich ist, auch wenn ich Legastheniker bin. Beim Schreiben setze ich die Buchstaben in der falschen Reihenfolge hin. Auch beim Lesen purzeln sie einfach herum. Ich weiss nicht, woher das kommt. Ich wurde so geboren. Das Einzige, was mich an meinem Leben stört, ist das Geld, das ich nicht habe. Ich finde, ich bekomme zu wenig Taschengeld, mit dem ich machen kann, was ich will. Leandro hat viel Geld. Er kann sich kaufen, was er will. Er war auch der Erste, der ein Handy hatte. Ich muss immer wegen allem meine Eltern fragen. So cool Papa ist, da lässt er nicht mit sich reden. «Zu viel Geld verdirbt den Charakter», sagt er dann immer und grinst dabei.
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Vanessa
Ich bin auch eine der drei Musketiere. Alina und Clara sind meine besten Freundinnen. Die zwei spielten schon im Sandkasten zusammen. Ich zog erst in der 3. Klasse hierher. Beide haben mich in ihre Freundschaft aufgenommen. Manchmal fühle ich mich aber ein bisschen überflüssig. Ich habe vieles getan, um ihnen zu gefallen und zu ihnen zu gehören. Auch zu den Pfadfinderinnen bin ich nur ihretwegen gegangen. Ich trete aber wieder aus. Ich bin keine Pfadfinderin. Ich mache andere Dinge lieber, als jeden Samstag eine Uniform zu tragen und draussen herumzurennen. Ich kann auch gut allein sein.
Als die Autorin und Sängerin Brigitte Schär in diesem Jahr zu uns in die Schule kam, hat sie uns ihr Lied «Was ich mag und was ich nicht mag» vorgetragen. Wir machten uns nachher ebenfalls Gedanken darüber, was jeder und jede Einzelne von uns mag und nicht mag. Das war spannend. Ich mag es zum Beispiel, still auf dem Bett zu liegen und über vieles nachzudenken. Oder meine Gedanken aufzuschreiben und Geschichten daraus zu machen. Ich mag es, bei jedem Wetter mit meinem Hund spazieren zu gehen. Ich mag es, unsere alte Nachbarin zu besuchen und in ihren Büchern zu blättern. Weil sie kaum mehr etwas sieht, lese ich ihr manchmal vor. Ich mag es nicht, wenn man mir befiehlt, ohne etwas zu erklären. Ich will verstehen, warum etwas ist, wie es ist. Und warum man etwas tut oder tun muss. Ich will Schriftstellerin werden. Ich habe schon viele Gedichte und Geschichten geschrieben. Auch für Tobi. Ich suchte für ihn Bücher in der Bibliothek, die ihm die Angst nehmen, ihm Mut machen und ihn trösten sollten. Bücher können das. In der Oberstufe werde ich den Theaterkurs besuchen. Und ich will ein Stück schreiben, das wir dann spielen werden. Für das Abschlussfest am letzten Samstagabend schrieb ich mit dem Pinsel eigene Gedichte an die Wände, mitten zwischen all die herumtollenden Pferde von Siri und die wilden Comics von David. Zudem verfasste ich für den Abend eine neue Geschichte, die ich vorlas. Sie hat zwei Titel. Der eine heisst «Es wird alles anders werden» und der andere «Adieu – Goodbye – Auf Wiedersehen».
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Noch 5 Wochen, 4, 3, 2, 1 … Der Countdown läuft. Adieu Primarschule. Willkommen Oberstufe! Das rauschende Abschlussfest ist vorbei. Für die 22 Schülerinnen und Schüler von Herrn Wechsler und Frau Hild rückt das Ende der 6. Klasse immer näher. Laura hat jetzt schon Heimweh nach ihrer alten Klasse. Moritz kann es kaum erwarten, erwachsen zu werden und nur noch Musik zu machen. Alina, Clara und Vanessa, die drei unzertrennlichen Musketiere, werden auch auf der Oberstufe zusammen in eine Klasse gehen. Ceyda hat sich in Leandro verliebt, und ausgerechnet jetzt muss ihre Familie die Schweiz verlassen. Yasin hatte die Idee mit dem Flohmarkt.
Brigitte Schär ist Schriftstellerin, Sängerin und Performerin mit Hang zu Tiefsinn und Theater und lebt in Zürich. Sie veröffentlicht Bücher und CDs für Kinder und Erwachsene und tritt mit multimedialen Lese-Performances und Konzert-Lesungen in der ganzen Welt auf. Vieles mehr verrät ihre Website: www.brigitte-schaer.ch
Art.-Nr. 141 603.00 ISBN 978-3-03713-580-8
Art.-Nr. 80464 ISBN 978-3-292-00536-6
9 783292 005366
Foto: Peter Würmli
Die Kinder erzählen von schönen und von traurigen Erlebnissen, von der Zukunft, in der alles anders sein wird und die auch ein wenig Angst macht, von den Erinnerungen, die sie mitnehmen und von ihren Träumen und Hoffnungen.