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Von der Theorie zur Realität

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Ingeborg Tichy-Luger im Gespräch mit Martin Schläpfer anlässlich seines Starts als Direktor und Chefchoreograph des Wiener Staatsballetts

Herzlich willkommen in Wien, lieber Martin Schläpfer, und meine allerbesten Toi, toi, toi für Ihren Start mit dem Wiener Staatsballett!

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“Die Theorie hat endlich ein Ende”, haben Sie mir unmittelbar vor Ihrem Antritt als Direktor und Chefchoreograph des Wiener Staatsballetts gesagt. Nun, zum Zeitpunkt unseres Interviews Ende September 2020, haben soeben die erste Spielzeit-Premiere in der Volksoper Wien, “Hollands Meister”, mit fantastischen Arbeiten Ihrer langen Wegbegleiter und Freunde – das Choreographen-Duo Paul Lightfoot/Sol León, Hans van Manen und Jiˇrí Kilián – sowie die Wiederaufnahme von George Balanchines Meisterwerk “Jewels” in der Wiener Staatsoper erfolgreich stattgefunden.

Wie haben Sie selbst den Beginn Ihrer neuen beruflichen Realität in Wien erlebt? Äußerst angenehm, wenn ich das einmal so sagen darf. Es tut gut, nicht mehr theoretisieren zu müssen, nicht mehr davor zu stehen, sondern zu arbeiten und den Tänzerinnen und Tänzern, dem Team aber auch den Mitarbeitern in diesen beiden Häusern, der Wiener Staatsoper und der Volksoper Wien, real begegnen zu dürfen. Die Energie mit der Compagnie ist einfach großartig!

Ich habe in den zwei Jahren der Vorbereitungszeit natürlich ab und an hier in Wien Sitzungen gehabt, bin hin- und hergeflogen zwischen Düsseldorf und Wien – aber schlussendlich war das immer mit großen Pausen dazwischen. Insofern war es eigentlich nun schön und erlösend, beginnen zu können. Wir haben das große Glück, dass wir hier in Wien in der derzeitigen Pandemie-Krisensituation überhaupt einen Spielplan fahren dürfen.

Sie haben zahlreiche neue Tänzerinnen und Tänzer nach Wien engagiert – einige davon

kommen aus Ihrer ehemaligen Compagnie, dem Ballett am Rhein. Manche von diesen sowie etliche andere neue Ensemblemitglieder und Ihre Stellvertretende Ballettdirektorin, Louisa Rachedi, sind Absolventen der Canada’s National Ballet School Toronto. Ich bin seit vielen Jahren mit Mavis Staines, der Direktorin dieser Schule, befreundet und glaube auch an deren methodische Ausbildung – dieses Institut ist eine großartige Tanzschule im gesamtheitlichen Sinn des Wortes. Es bildet klassische Tänzer aus, die gleichzeitig aber auch als Menschen und Persönlichkeiten überzeugen. Das mag mit ein Grund sein, warum ich in Düsseldorf Duisburg einige Tänzerinnen aus dieser Schule engagiert hatte. Wenn sie körperlich ähnlich trainiert wurden und gewachsen sind, bedingt das ja nicht, dass sie sich als Persönlichkeiten angleichen, sondern rein in der Art und Weise, wie sie arbeiten. Sowohl damals für Düsseldorf Duisburg als auch jetzt für Wien waren die Persönlichkeiten der einzelnen Tänzerinnen für das Engagement ausschlaggebend.

Meine Stellvertretende Ballettdirektorin Louisa Rachedi ist ein anderer Entscheid. Louisa war bei mir in Düsseldorf lange im Ensemble – übrigens eine fantastische Künstlerin – hat aufgehört zu tanzen und sich dann selbst ihren Weg gesucht. Sie wurde Coach, Ballettmeisterin und war in dieser Funktion auch lange bei Gauthier Dance in Stuttgart tätig.

Als meine Stellvertretende habe ich sie gesehen, weil sie eine hochbegabte Frau mit einer starken Persönlichkeit ist! Louisa hat ein großes Wissen, liebt die Klassik, ist aber gleichzeitig auch im zeitgenössischen Tanz sehr verwurzelt. Was mir aber den Impuls gegeben hat sie zu fragen ist, weil sie eine der wenigen Tänzerinnen in meinem Ensemble war, die gesagt hat: “Martin, es ist

MARTIN SCHLÄPFER KREIERT „4“ © WIENER STAATSBALLETT/ASHLEY_TAYLOR

Zeit aufzuhören … ich gehe jetzt meinen Weg.” Und sie ist ihren Weg gegangen, hat Erfahrung gesammelt und nicht gewartet, bis ich vielleicht gesagt hätte: “Du, es wäre langsam Zeit …”

Das hat mir gezeigt, dass Louisa Rachedi über jene Eigenschaften verfügt, mit denen sie mich in der Leitung der Compagnie unterstützen kann. Gleichzeitig kann mir jemand wie sie, ebenso wie viele andere im Team auch, noch weitere, großartige Anregungen geben. Wir leben in einer Zeit, die sich sehr verändert hat – beispielsweise, was die Neuen Medien und Social Media angeht.

Natürlich bin ich der Chef und habe ein Stück weit meine Visionen und Vorstellungen, aber ich bin gerne ein Chef, der sich im Team austauscht, andere anhört und nicht einfach immer Recht haben will, der aber auch ein gewisses Alter hat, was absolut nicht negativ gemeint ist, und eine Überzeugung in sich trägt. Bislang haben Sie als Ballettdirektor und Chefchoreograph solistische Ensembles geleitet. Das Ballett an der Wiener Staatsoper hat traditionell eine hierarchische Struktur. Diese haben Sie nun erstmals um die Position der “Senior Artists” erweitert. Im Royal Ballet beispielsweise und in anderen Compagnien gibt es Charakterdarsteller. Das sind meistens ehemalige große Künstler in reiferen Jahren, die aber immer noch gewisse Rollen auf der Bühne grandios füllen. Das hat mich stets zutiefst beeindruckt. Es gibt in jedem Ensemble Ausnahmeerscheinungen – Künstler, die auch weit über 40 sein dürfen – wo es aber in diesen seltenen Fällen wirklich auch ein Verlust wäre, würden sie von der Bühne gehen.

Natürlich kann ich mir nicht leisten, zehn Senior Artists zu ernennen, aber ich wollte diese Position in die Hierarchie des Wiener Staatsballetts einbringen, da es nicht immer nur um jung und leistungsfähig mit großer Sprungkraft und Drehungen geht, sondern eben auch um Erfahrung, um Charisma und auch darum, wie man

sich benimmt – dass diese Senior Artists Vorbilder sein können für die Jungen. Ich sage es nochmals: es sind eher Ausnahmeerscheinungen, aber es gibt diese, die zeigen, dass das Älterwerden auch im Tänzer-Beruf eine hohe Qualität hat, beziehungsweise etwas, das uns und auch mich als Choreograph inspirieren kann. Es ist schön, dass die Jungen sehen: Vielleicht dreht sie oder springt sie nicht mehr so wie ich, aber ich schau mir an, wie sie arbeitet, wie intensiv sie sich mit einem Stoff oder einer Rolle auseinandersetzt, wie sie oder er übt oder überhaupt an etwas herangeht. Das war mir einfach wichtig – die Persönlichkeit und die Lebenserfahrung. Gleichzeitig sind diese Ausnahmeerscheinungen dann aber eben auch über Vierzig körperlich fähig und haben das Glück, wirklich noch gut zu tanzen. Ich spreche jetzt nicht von einer Statisterie, sondern diese Senior Artists können sich noch wunderbar bewegen – gerade in einer Kunstform, in der der Körper in der Regel dann irgendwann “Nein” sagt, ist das schon sehr besonders. Das ist beim Schauspieler, beim Sänger, beim Musiker anders – diese Künstler können länger ausübend bleiben. Und es ist natürlich schon die Tragödie des Tänzers, dass er innerlich immer reifer, erfahrener und auch im künstlerischen Ausdruck stärker wird und dann irgendwann der Körper einfach nicht mehr kann. Das ist nicht einfach zu verkraften!

Zur hierarchischen Struktur will ich noch sagen, dass ich sie sehr wohl als richtig empfinde für eine Compagnie dieser Größe. Ich plädiere dafür, dass es Künstlerpersönlichkeiten auch im Corps de ballet gibt – das sind die späteren Solisten.

Das Schöne ist, dass man in den klassischen oder neo-klassischen Balletten, nehmen wir zum Beispiel “Adagio Hammerklavier”, das jetzt kürzlich in unserer Triple Bill-Premiere an der Volksoper Wien gezeigt wurde, die Ersten Solisten brillieren lassen und vielleicht in der zweiten Besetzung mit den anderen Hierarchiegruppen vermischen kann.

Wenn ich kreiere, bin ich mir natürlich bewusst, wer ist ein Erster Solist, wer ist ein Solist, wer ist ein Halbsolist, wer ist ein Corps de ballet-Tänzer

MARTIN SCHLÄPFER © WIENER STAATSBALLETT/ASHLEY_TAYLOR

– aber natürlich kann ich für jemanden in der Gruppe ein Solo kreieren. Ich finde die Hierarchie als gesunde Einrichtung in einem Ensemble dieser Größe absolut in Ordnung, aber sie muss durchlässig sein und jedes Compagnie-Mitglied muss seine Wertigkeit spüren. Auch in der Gruppe gibt es grandiose Tänzerinnen und Tänzer. Das ist das Gute an Uraufführungen, dass da die Hierarchie flacher wird – sie nicht Thema ist, sondern das Stück ist Thema!

Auf den Tag genau 113 Jahre nach Gustav Mahlers letztem Dirigat in Wien am 24. November 1907 findet heuer Ihre Uraufführung “4” zu Musik seiner 4. Symphonie statt.

Warum haben Sie dieses Werk mit seinem facettenreichen, doppelbödig lesbaren kompositorischen Aufbau für Ihre erste Kreation in Wien gewählt, in der Sie alle 102 Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts choreographisch zusammenführen?

Was hat Sie dazu bewegt, Ihre Urauffüh- rinnen und Tänzern besteht, die in der Staatsoper rung “4” gemeinsam mit Hans van Manens ihre Heimat, beziehungsweise auch ihre Garde“Live”, das 1979 als erstes Videoballett der roben und Probenräume haben, aber dazu geTanzgeschichte kreiert wurde, für diesen hören auch jene 24 Mitglieder des Ensembles, Premierenabend in der Wiener Staatsoper zu die in der Volksoper ihren Platz haben. Ich wollte, programmieren? auch wenn es logistisch sehr komplex ist, für Es ist natürlich eine große Ehre, in diesen Häu- meine erste Uraufführung das gesamte Ensern, der Wiener Staatsoper und der Volksoper semble auf der Staatsopernbühne präsentieren. Wien, arbeiten zu dürfen – aber wir sprechen für Gemeinsam mit dem Orchester und einer Sängemeine Uraufführung jetzt von der Wiener Staats- rin – es könnte auch eine Knabenstimme sein, oper, ihrer Historie und Bedeutung in der Welt. Wir die diese Himmlischen Freuden singt im 4. Satz – haben hier nicht nur ein hochkarätiges, wir haben ist dies auch schon ein kleiner Loop in das hier ein Weltklasse-Orchester, und ich habe mir Solistenensemble dieses Hauses hinein. Auch natürlich für meine erste Uraufführung Gedanken wenn die Vierte Mahler nicht so groß besetzt ist, gemacht, was gebe ich auch diesem Orchester wie andere seiner Symphonien, hat sie etwas und nicht unbedingt nur mir – wie kann ich mei- sehr Reiches, Sinnliches – und ist gesamt bene Reverenz erweisen? Jetzt brauchen die Wiener trachtet doch ein “big undertaking”. Philharmoniker diese natürlich nicht – und sie Die Programmierung meiner Uraufführung brauchen auch die Vierte Mahler nicht, die sie gemeinsam mit Hans van Manens “Live” basiert schon x-mal im Konzert gespielt haben, aber ich einerseits darauf, dass ihm dieses Stück persönwollte signalisieren, dass ich als Tanzschaffender lich sehr wichtig ist! Es ist ein Werk, das er eigentes sehr wichtig finde, gute Musik zu wählen – lich nicht außerhalb seiner Compagnie weitergerade auch eine gibt – es gab nur Musik, die etwas mit einmal eine Auffühdiesem Haus zu tun rung in Moskau – hat, sprich mit Gustav aber sonst ist es Mahler, aber auch wirklich nur beim mit den Wiener Phil- Holländischen Natioharmonikern. Außer- nalballett zuhause. dem habe ich schon Andererseits ist früher einmal eine “Live” ein personenArbeit zu Mahlers reduziertes Stück und Musik gemacht – zur somit das pure GeSiebten, damals, 2013 genteil zur meiner in Düsseldorf. Inso- danach folgenden fern schließt sich da Uraufführung “4” mit zwar nicht ein Kreis, 102 Tänzerinnen und aber für mich geht Tänzern “on stage”. In die Auseinanderset- “Live” sind nur eine zung mit diesem Tänzerin und ein KaKomponisten weiter. meramann auf der

Was die Compag- Bühne – sie wird von nie angeht, war mein ihm gefilmt und ihr Gedanke, dass die- Tanz gleichzeitig auf ses Wiener Staats- eine Bühnen-Leinballett aus 78 TänzeFIGURINE ZU „4“ © CATHERINE VOEFFRAY wand projiziert. In

unserer Premiere wird der Kameramann Henk moniker, vom Pult aus begleiten. Auch mit dem van Dijk sein, Hans van Manens Lebenspartner, Wiener Staatsopernorchester, das zu einem der auch schon seinerzeit die Uraufführung ge- großen Teil aus Mitgliedern der Wiener Philfilmt hat. harmoniker besteht, hat Axel Kober in Wien

Wir haben die Musik von Liszt, ein Klavier, bereits Erfolge gefeiert. fast kein Bühnenbild. Alles ist sehr reduziert – Wie sehr genießen Sie es, dass Musiker dieallerdings nicht vom Aufwand her. Denn die So- ses weltberühmten Orchesters den grandiosen listin verlässt gegen Ende des Stücks die Bühne, Klangteppich für Ihre Compagnie bereiten? um ins Foyer der Wiener Staatsoper zu gelangen Treffen Sie Ihre Entscheidungen für die Gast– gemeinsam mit dem Kameramann, der sie auf dirigenten des Wiener Staatsballetts gemeinihrem Weg permanent aufnimmt, und das Publi- sam mit dem Staatsoperndirektor und dem kum im Saal nur noch das Gefilmte dieses We- Volksoperndirektor? ges auf der Leinwand sieht. Im Foyer trifft sie auf Wird Ihr Landsmann Maestro Philippe einen Danseur Noble, mit dem sie einen Pas de Jordan, seit Beginn dieser Saison der neue Mudeux tanzt. Danach verlässt sie diesen Tänzer sikdirektor der Wiener Staatsoper, in Zukunft und entschwindet ins nächtliche Wien hinaus. auch Ballett dirigieren?

“Live” ist ein großartiges Stück, das immer Ich hoffe sehr, dass Philippe Jordan Ballett dirinoch ganz modern ist, auch wenn dessen Urauf- gieren wird. Wir haben uns auch schon darüber führung bereits 1979 erfolgt ist. Die Reduktion unterhalten und der Wunsch ist da. Es ist natürauf eine Ballerina, einen Tänzer, ein Klavier lich auch eine Frage der Agenda eines Generalversus nach der Pause 102 Tänzerinnen und musikdirektors und der Planung. Er wünscht Tänzer, Gesamtorchester, Bühnenbild und sich das sehr, und ich hoffe, dass wir es in der Kostüme schien mir dritten Spielzeit realieinfach eine schöne sieren können. Gegenwelt! Es ist wunderbar,

Dass ich “Live” be- dass Axel Kober mit kommen und in Wien mir den Mahler macht, zeigen darf, ist etwas zudem er auch hier in Großartiges. Das ist Wien sehr beliebt ist für mich ein wunder- und bereits großen Erschönes Geschenk folg hatte – besonders und hoffentlich auch mit dem Ring! Schon für Wien. Meister- deswegen habe ich werke verjähren ein- auch nicht das Gefühl, fach nicht! ich importierte meine Vergangenheit. Neben Ihre erste Urauffüh- Brahms “Ein Deutrung wird der von Ih- sches Requiem”, “7”, nen aus langjähriger “Petite Messe solenZusammenarbeit ge- nelle”, sowie “Schwaschätzte Maestro Axel nensee” und “CellokonKober, Generalmusik- zert”, meiner letzten direktor der Deut- Uraufführung für das schen Oper am Rhein Ballett am Rhein, haund Chefdirigent der ben Axel Kober und Duisburger PhilharFIGURINE ZU „4“ © CATHERINE VOEFFRAY ich sehr viele Projekte

PROBEN ZU „4“: R. HORNER, R. LAZIK © WIENER STAATSBALLETT/A. TAYLOR

gemeinsam gemacht. Wir arbeiten sehr intuitiv miteinander – oft reden wir gar nicht viel, sondern flüstern einander nur etwas zu. Es stimmt einfach.

Dass die Wiener Philharmoniker im Orchestergraben spielen, ist für mich etwas Besonderes, da ich Musik nicht nur sehr achte, sondern Musik für mich etwas Nährendes ist. Mit einem solchen Klangkörper arbeiten zu dürfen, ist für mich ein Erlebnis!

Tanz ohne Musik ist für mich undenkbar. Ich bin aber auch nicht jemand, der sich ihr unterordnet. Es geht nicht darum zu sagen, Musik sei größer als der Tanz, sondern ich bin davon überzeugt, dass sich diese beiden Kunstgattungen gegenseitig bedingen.

Bei der Bestellung der Gastdirigenten suche ich den Dialog mit meinen Intendanten, und finde es richtig, dass ich mich mit dem jeweiligen Direktor der beiden Häuser abstimme.

In der Saison 2020/21 zeigen Sie unter anderem auch bereits bestehende eigene Kreationen, darunter Ihre Signature-Pieces “Ein Deutsches Requiem” zu Musik von Johannes Brahms sowie das Solo “Ramifications” und “Lontano” zu Kompositionen von György Ligeti.

Neue Handschriften und Farben in den Spielplan des Wiener Staatsballetts bringen Sie mit Ihrer Wahl international renommierter Gastchoreographen, wie Alexei Ratmansky oder den beiden American Modern-Dance-Künstlern Paul Taylor und Mark Morris.

Als klassisch ausgebildeter Tänzer dokumentieren Sie mit Ihrer Spielzeit-Programmierung auch Ihre Wertschätzung der klassischen Tanzausbildung als Wurzel und “Conditio-sine qua-non” für alle nachfolgenden qualitativ hochstehenden choreographischen und tänzerischen Strömungen und des in Wien beliebten klassischen Ballett-Repertoires mit Rudolf Nurejews “Schwanensee”, Frederick Ashtons “La Fille mal gardée”, Pierre Lacottes “Coppélia” und Elena Tschernischovas “Giselle”. Ich weiß nicht wirklich, was man von mir denkt oder gedacht hat, aber für mich war es nie eine Fragestellung, die Klassik, den akademischen Tanz hier in Wien nicht wertzuschätzen, zu pflegen oder zu programmieren. Das war nie in meinen Gedanken.

Das klassische Ballett-Repertoire gehört zu Wien, es gehört aber auch zu mir, ich bin ja so gewachsen und ich kreiere so. Natürlich bin ich jemand, der im Heute agiert – und trotzdem choreographiere ich für den Spitzenschuh, gebrauche den akademischen Kanon permanent.

Ich bin davon überzeugt, dass das Wiener Staatsballett in Zukunft mehr Uraufführungen braucht, um damit auch die internationale Presse nach Wien zu bringen. Das Wiener Staatsballett ist eine wichtige, weltberühmte Compagnie, eine der größten, die es noch gibt, und muss eine Adresse sein, auf die man schaut, an der etwas passiert und von der man im besten Fall auch Impulse aussendet in die Tanzwelt. Das ist mein Ziel.

Sie sagten einmal, dass Sie in ihren neuen Kreationen mit einem Komponisten gerne eine Wegstrecke gehen – ihn begleiten: Dies werden

Sie zum Ende der Spielzeit 2020/21 in Ihrer zweiten Staatsopern-Premiere mit der “Sinfonie Nr. 15” von Dmitri Schostakowitsch machen, der Sie auch zu “Cellokonzert”, Ihrer Abschiedskreation für das Ballett am Rhein, inspiriert hat. Die Fünfzehnte ist eine meisterliche Symphonie, und ich habe sie auch deswegen gewählt, weil sie perfekt in die Programmierung meiner zweiten Staatsopern-Premiere in der ersten Spielzeit neben Balanchine – Strawinski, Ratmansky – Mussorgski passt.

Ich war damals, als ich die Entscheidung für den zweiten Premierenabend treffen musste, noch in der Vorbereitungsphase, was Sie so schön auch als Theorie benannt haben. Das Theoretisieren ist zwar auch harte Arbeit, aber es ist schlussendlich eben nicht real. Mir war aber zum damaligen Zeitpunkt natürlich klar, dass es noch zu früh ist, um für mein Ballett eine inhaltliche Dramaturgie zu entwickeln, und so habe ich mich bemüht, vorweg zumindest eine musikalische Klammer zu bauen.

Da ist die Verbindung Balanchine – Strawinski ganz wichtig, denn Strawinski hat ja auch Musik für Balanchine komponiert. Weiters war es mein Wunsch, dass Wendy Whelan Ratmanskys “Pictures at an Exhibition” einstudieren sollte, weil sie die Uraufführung getanzt hat und im New York City Ballet eine der wichtigsten Ballerinen ihrer Generation war – da haben wir eine weitere Querverbindung zu Balanchine!

Dazu kommt, dass auch Keso Dekker, der viel mit Hans van Manen zusammenarbeitet, die Ausstattung für mein Schostakowitsch-Ballett macht. Er arbeitet aber auch häufig beim ABT mit Alexei Ratmansky zusammen.

Wie geht Martin Schläpfer vom allerersten Gedanken an ein neues Stück bis zu dessen Realisierung auf der Bühne vor? Man muss dazu sagen, dass sich die Projekte immer überlagern. Das heißt, wenn ich jetzt den Mahler mache, bin ich natürlich schon im Schostakowitsch, was Design- und Kostümabgabe angeht, der erst zum Ende der Spielzeit gezeigt wird. Ich beschäftige mich aber auch schon mit anderen Projekten für die Saison 2021/22 – muss sie in die Disposition integrieren und meine Gefühle mit der gewählten Musik “in touch” treten lassen, um zu entscheiden, ist es auch wirklich das, was ich will. Das ist tiefgründig und gleichzeitig nicht. Aber es ist schon ein Gebirge mit vielen Bergen, die man im Blick halten muss mit den Tälern und den Spitzen.

Es wäre absolut unmöglich, würde ich mich jetzt als Ballettdirektor nur auf den Mahler konzentrieren. Während ich den Mahler baue, muss ich zum Beispiel auch die Ballettakademie im Auge haben – ich gebe dort ebenfalls Training, alles läuft parallel.

Wie gehe ich vor? Konkret beginne ich mit dem Ballett erst mit den ersten Probenschritten. Dann fange ich an das Stück zu entwickeln. Aber natürlich ist es in den Monaten davor wie eine Form von Brüten – ich halte das Stück permanent im Bauch und Kopf präsent, überlege, schreibe Notizen, lese Bücher – ich sammle. Ich lege – metaphorisch gesprochen – verschiedene Komponenten und Kräuter in den Korb, trage sie nach Hause und sortiere sie. Ja, es ist so ein – Brüten ist kein schlechtes Wort – ein Erhalten einer Nestwärme um das Thema herum.

Sie sagen, dass Sie auch Notizen machen? Bei Bachs “Kunst der Fuge”, damals 2002 in Mainz, habe ich Bücher geschrieben an Notizen. Was ist Barock, was heißt Fuge, die Reihenfolge der Fugen, wie will ich sie mischen. Bei anderen Werken notiere ich gar nichts.

Ich schreibe bis jetzt bei Mahler nichts auf, das hat aber vielleicht auch damit zu tun, dass ich praktisch sämtliche Literatur, die es über Mahler gibt schon gelesen habe. Es ist aber auch etwas anderes, wenn man einen Weg mit einem Ensemble neu beginnt. Dieser Mahler ist natürlich wichtig für mich. Es geht darum, dass es ein gutes Ballett wird – gleichzeitig ist es aber auch meine Aufgabe, diese Compagnie zu umarmen, jeden einzelnen kennenzulernen und tänzerisch gut zu exponieren. Wenn mir das gelingt, bin ich schon sehr zufrieden, denn “4” ist mein erstes Stück für Wien.

Die Ballettmeister filmen in den Proben alle choreographierten Sequenzen und schreiben auch meine Gedanken, die ich den Tänzerinnen und Tänzern mitteile, auf – to have a reference point. Da wir nicht so viele Ballettsäle zur Verfügung haben, kann es eine Woche dauern, bis eine Probe wiederholt werden kann.

Derzeit ist “Jewels” auf dem Programm und die Einstudierung für “Symphonie in Three Movements” findet bereits parallel zu den MahlerProben statt – dazu kommen rehearsals für “Duo Concertant” und “The Concert”.

Wer von den Leserinnen und Lesern zu dieser und vielen anderen Fragen mehr von und über Martin Schläpfer erfahren will, dem lege ich sein im Henschel-Verlag erschienenes sehr persönliches und bewegendes Buch “Mein Tanz, mein Leben” ans Herz.

Wer und was in Ihrem Innersten hat Sie zu diesem besonderen Buchprojekt motiviert? Schlussendlich war es Bettina Trouwborst, die den Ausschlag gegeben hat zu dieser Idee. Es ist mein erstes Buch in dieser Form. Über meine Arbeit mit dem ballettmainz ist vor Jahren ein Fotoband erschienen.

Als dieses neue Buchprojektes dann sein sollte, war ich zunächst sehr kritisch eingestellt, denn ich wollte ein gutes Buch machen – eines, das einen Grund hat. Dazu fand ich aber, dass das Zeitsegment der Planung viel zu knapp bemessen sei. Ich war nicht so euphorisch, wie das Bettina Trouwborst beschreibt – so erinnere ich mich nicht! Es gab auch schon davor BuchAnfragen von Verlagen, die ich aber alle abgesagt habe.

Das Buch in einer Gesprächsform zu verfassen, hat mich dann aber überzeugt, weil es ist ja kein Fotomaterial mehr von mir vorhanden – ich habe alles weggeworfen. Das ist mal das eine. Jetzt habe ich auch als Tänzer keine Weltkarriere gemacht, wie beispielsweise Malakhov oder Baryshnikov, obwohl ich sicherlich das Potential dazu gehabt hätte. Meine Laufbahn ist sehr brüchig, ich bin ganz anders gewachsen. Das heißt, ich hätte die übliche Buchform nicht gut bedienen können – und sie hätte mich auch nicht wirklich interessiert.

Ich habe künstlerisch einen anderen Weg gemacht, und so musste auch das Buch dementsprechend sein. Was mir gegenüber Bettina Trouwborst klar war: wenn wir reden, halten wir nicht hinterm Berg. Ich finde es uninteressant, wenn ein Gesprächspartner dann so quasi die Hälfte unterdrückt. Was ich preisgebe ist persönlich, aber ich glaube nicht intim, und ich hoffe, dass sich vielleicht die Leserin und der Leser in dem, was ich sage, ein Stück weit selbst wiederfinden.

Als dann Nina Neusitzer zugesagt hatte die Gestaltung zu übernehmen, habe ich final “Ja” gesagt, weil das Buch damit im Design eine Modernität bekam, die mit mir etwas zu tun hat. Wie bei jeder Arbeit an einem Interview, gab es dann wahnsinnig viel Reduzieren, Rausschmeißen, Korrigieren. Schlussendlich habe ich unter anderem auch zugesagt, weil es einfach schön war, dass zu meinem Abschied vom Ballett am Rhein etwas erscheint.

… und zu Ihrem Antritt in Wien! Es war für mich ein unglaublich schönes Erlebnis, wie die Wiener Tanzpresse – und Wien überhaupt – sich für dieses Buch interessiert hat!

Zu Martin Schläpfers Aufgaben als Direktor des Wiener Staatsballetts zählt auch die Künstlerische Leitung der Ballettakademie der Wiener Staatsoper, die mit Beginn dieses Schuljahres Christiana Stefanou als Direktorin, und der ehemalige Compagnietänzer Gabor Oberegger als Stellvertretender Direktor und Koordinator übernommen haben.

Herr Schläpfer, Sie werden international als herausragender Ballettpädagoge geschätzt! Wie weit werden und können Sie sich – aus dem Blickwinkel Ihres enormen Arbeitspensums als Chef eines zwei Häuser bespielenden Ensembles und aus jenem des kreierenden Künstlers – nicht nur als Künstlerischer Leiter sondern auch als Ballet Classes gebender Pädagoge in die Ballettakademie einbringen

und vielleicht auch für die Studierenden choreographieren? Ich habe jetzt schon versucht, ab und an die Junior Company zu unterrichten – und vor ein paar Wochen habe ich mich entschieden, für sie in dieser Spielzeit ein Ballett zu kreieren zu einem der Sonnenquartette von Haydn – dem Vierten, Opus 20.

Wo soll das Stück gezeigt werden und wann werden Sie mit der Kreation beginnen? Das ist alles noch offen – das ist eine budgetäre Frage, eine Frage, wann es fertig wird, wie steht es mit Corona, wird es öffentlich oder mehr intern gezeigt, vielleicht gibt es eine Matinee in der Volksoper? Sehr wahrscheinlich werde ich im Frühjahr mit der Choreographie beginnen – sicherlich jedenfalls erst nach der Mahler-Premiere.

Natürlich bin ich in regelmäßigem Austausch mit Christiana Stefanou sowie dem Team der Ballettakademie und habe dafür regelmäßige Sitzungen etabliert. Ich bemühe mich, dort präsent zu sein, aber in einem Ausmaß, das mich auch als Künstler und als Compagnie-Chef existieren lässt – das muss ich durchaus tarieren. Vielleicht werde ich dort bald Master Classes geben – diese schienen mir wichtig und richtig als choreographierender Pädagoge und kreierender Künstler.

Sie sind für Ihre exzellente und verständnisvolle Mitarbeiterführung bekannt. Die Wichtigkeit der Supervision und dafür gesprächsbereit zu sein, ein “offenes Ohr” zu haben, sei Ihnen ein besonderes Anliegen, wie Sie mir bereits einige Male erzählt haben, um derart Probleme eines einzelnen Compagniemitglieds oder innerhalb einer Gruppe zu klären und somit zur Erhöhung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit beizutragen.

Hat Sie dazu Ihr Bruder Rudolf, der als Psychiater tätig ist, inspiriert und motiviert? Sicherlich hat mich auch mein Bruder dazu motiviert, von dem ich viel gelernt habe und es jetzt noch tue – aber auch Heinz Spoerli, der nie viel geredet hat, obwohl ich als Tänzer sehr wohl manchmal ein Gespräch gebraucht hätte, auch

PROBEN ZU „4“: Y. KATO, Z. TÖRÖK © WIENER STAATSBALLETT/A. TAYLOR

einen Dialog, der mich korrigiert oder fordert oder sagt: “So nicht bitte – und ich erkläre Dir, warum nicht!” Ich glaube, dass ich deshalb weiß, wie wichtig Supervision ist, weil sie mir fehlte.

Man kann schon sagen, Tanz sei eine nonverbale Kunst, und man kann auch sagen: Reden löst nicht alles – aber trotzdem ist es wichtig, um Dinge wieder zu ebnen, Konflikte abzubauen, um Projektionen, die man von einander hat, und die passieren in einem kompetitiven Umfeld, zu hinterfragen. Eine Tanzcompagnie ist ein sehr komplexes Gefüge, da geht es ohne Gespräche nicht.

Gespräche sind auch aus analytischer Sicht der Ansatzpunkt, um Probleme zu lösen. Absolut. Weil man dann auch erfahren kann, dass man vielleicht einander nicht nur missverstanden hat, sondern, dass man einfach überreagiert oder einen falschen Eindruck hatte. Früher, als ich noch ein unerfahrener Chef war, habe ich es ab und an persönlich genommen, wenn es jemandem nicht gut ging. Da dachte ich immer, es hätte etwas mit mir zu tun – sie oder er sei

nicht glücklich mit dem, was sie tanzen. Aber sie könnten ja auch ein privates Problem haben. Wenn ich spüre, da ist irgendetwas nicht gut, oder ich baue etwas in mir auf, das vielleicht nicht fair ist der Person gegenüber, dann ist ein Gespräch einfach das Richtige.

Bieten Sie Sprechstunden an? Ich bin jetzt schon dabei, in der Compagnie wöchentlich drei Gespräche zu führen. Ich selbst gehe auf die Tänzerinnen und Tänzer zu – und das werden alle sein. So kann ich das auch zeitlich handhaben, weil ich nicht warten will bis zum Ende der Spielzeit.

Neu aufgestellt präsentiert sich der Ballettclub, den ich selbst vor 21 Jahren als private Initiative ins Leben gerufen habe, und der, dank der Entscheidung von Staatsoperndirektor Dr. Rošˇci˝c und von Ihnen, lieber Herr Schläpfer, mit seinen Projekten und Zielen der Nachwuchsförderung und Kulturvermittlung seit Beginn dieser Spielzeit unter dem Dach des Wiener Staatsballetts fortgeführt wird, was für mich, als nunmehrige Botschafterin des Ballettclub Wiener Staatsballett eine große Ehre und Freude ist!

Eines der wesentlichen Ziele des Ballettclubs ist die Förderung jener Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie, die ihre ersten eigenkreativen choreographischen Schritte ausprobieren wollen. Dafür ist der Ballettclub in der Vergangenheit auch als Organisator und Veranstalter einer Jungchoreographenschiene aufgetreten – und es sind derart bereits 57 neue Stücke entstanden, die einigen der jungen Choreographen zu internationalen Auftritten verholfen haben.

Wann und in welcher Form darf sich der Ballettclub, nunmehr als Teil des Wiener Staatsballetts, auf die Fortführung seiner Jungchoreographen-Produktionen freuen? Zum Ende der zweiten Spielzeit. Es war von der Disposition schlichtweg unmöglich, dieses Projekt in der ersten Spielzeit unterzubringen, auch wenn es sicherlich ein Bedürfnis von manch einer Tänzerin oder einem Tänzer ist, aber es wird ab 2021/22 als Plattform regelmäßig stattfinden – wir gehen von zwei bis drei Matineen aus.

Die Förderung junger Choreographinnen und Choreographen, die noch im Tänzerberuf stehen, ist etwas, was ich als sehr wichtig erachte. Ich habe damit bereits in Bern begonnen und es dann in anderer Form in Mainz weitergeführt, indem ich eher eine Person unterstützt habe. Man muss das mit Bedacht machen und die Abende dramaturgisch und auch technisch begleiten, damit die jungen Choreographen lernen, wie man beispielsweise mit dem Licht umgeht, dass man sie zu ihrem Stück hinterfrägt – und es nicht einfach bedeutet, ein Stück zu machen und dann damit auf die Bühne zu gehen.

Man muss eine Kandidaten-Auswahl treffen und einen Raster vorgeben – eine Stückdauer, die Musik live oder nicht, Designer oder nicht Designer. Will man jemanden regelmäßig fördern, jährlich, oder will man immer anderen eine Chance geben? – das ist wirklich für mich als Chef nicht ohne. Nur wenn jemand regelmäßig üben kann, wird er oder sie auch besser. Auf der anderen Seite wollen andere sich auch ausprobieren. Ich habe es immer als sehr arbeitsaufwändig erlebt – schön, aber auch komplex. Man muss auch einen Realismus zeichnen, weil von Choreographie zu leben ist ein knallhartes Geschäft.

Der Ballettclub ist mir unglaublich wichtig! Es ist für jedes Ensemble eine Freude, aber auch substantiell von Bedeutung, den Support von Tanz liebenden, interessierten Menschen zu haben. Wir brauchen diesen Support. Gerade die Tanzkunst, die relativ schnell angreifbar und flüchtig ist, im Moment lebt und existiert, braucht eine Lobby – ideell und finanziell. Eine solche Institution hinter sich zu wissen, gibt dem Ganzen natürlich auch immer einen Look und Glamour. Auch politisch ist es ein wichtiges Signal, dass es viele Menschen gibt, die sich klar zu dieser Compagnie bekennen und deren Arbeit unterstützen.

Wie fühlen Sie sich inmitten der extrem belastenden und herausfordernden Pandemie-Krise:

privat als Martin Schläpfer, als Ballettchef der großen Compagnie plus Staff – und wie als Künstler, der soeben mit den Proben für seine erste Uraufführung für das Wiener Staatsballett zu Gustav Mahlers 4. Symphonie begonnen hat? Inzwischen kann ich den privaten Schläpfer vom beruflichen gar nicht mehr trennen. Als Chef mit der Verantwortung für meine Compagnie und mein Team ist es enorm belastend. Ich möchte bitte nicht larmoyant erscheinen oder jammernd, weil ich weiß, dass es ganz andere Schicksale gibt auf dieser Welt und auch in unserer Gesellschaft.

Nichtsdestotrotz ist es belastend, weil ich nicht weiß, wie die Zukunft sein wird: Gibt es eine Rezession, was passiert wirklich mit den subventionierten Künsten? Es hängt ja nicht nur von Österreich oder Europa ab, alles ist global verbunden.

Künstlerisch gesprochen ist es schwierig zu sagen, was Corona wirklich mit mir macht, aber ich bin überzeugt, dass es in diesen Mahler mit einfließt. Wir proben ja mit Masken, ich glaube schon, dass das auch irgendetwas mit meiner Kunst macht. Was genau, kann ich Ihnen nicht sagen, da bin ich noch zu sehr am Anfang des Stücks.

Persönlich – es gibt diesen persönlichen Martin Schläpfer nicht – und damit meine ich nicht, ich hätte kein Leben, aber im Moment ist mein Leben, ist Martin Schläpfer das Wiener Staatsballett – es ist ein Amalgam.

Der Tanz ist aus Ihrem Dasein nicht wegzudenken – er ist omnipräsent in Ihrem Leben. Ja. Und ich finde es schön, den Tanz so zu erleben – er beinhaltet wirklich alles! Ich habe das Gefühl, er ist ganz eng mit dem Leben der Menschen und ihrer Befindlichkeit, ihren Träumen, Sehnsüchten aber auch Fragestellungen verbunden. Tanz ist etwas Relevantes, etwas Menschennahes. Sich zu bewegen und sich durch Bewegung auszudrücken, heißt nicht, dass jeder tanzen gehen muss – aber jeder bewegt sich permanent. Man bewegt sich auch, wenn man spricht, unterstützt durch Bewegung den Inhalt und das Transportieren des Inhalts, des Wortes. Das Wort allein – gesagt mit einer neutralen Gesichtsverfassung – tut gar nichts.

Ich glaube nicht, dass ich ein Künstler bin, der sogenannte Corona-Kreationen machen könnte. Das würde mich, glaube ich, verlassen. Ich würde die Compagnie leiten, aber ich glaube jetzt nicht, dass ich ein Tanzschaffender wäre, der längerfristig Stücke auf Distanz machen könnte, oder was es da für Projekte gibt, das reizt mich relativ wenig. Natürlich verstehe ich das Bedürfnis dazu, weil es wirklich hart ist, nicht tanzen oder auf die Bühne gehen zu dürfen, sich auszudrücken. Aber was da an Masse ins Netz geworfen wird von jedem und jeder – damit kann ich persönlich relativ wenig anfangen. Als Künstler würde ich sagen: Dann pausiere ich, denn ich brauche das Reale. Mein Tanz braucht die Menschen im Ballettsaal – das ist es, woraus meine Stücke entstehen – und es ist nicht so stark die Idee allein. Eine Kreation entsteht bei mir aus der Zusammenarbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern – aus dem Zwischenmenschlichen. Aus dem, was uns antreibt auf diesem Planeten weiterzugehen. Das sind die Fragestellungen, die mich interessieren.

Lieber Martin Schläpfer, vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche Ihnen und dem Wiener Staatsballett vor allem gute Gesundheit, Freude, Glück und Erfolg, damit die Ballettkunst in Wien blühen kann und Ihre Träume und Ziele Realität werden!

Das Gespräch mit Martin Schläpfer fand am 30. September 2020 statt.

Veranstaltung des Ballettclub Wiener Staatsballett

KÜNSTLERGESPRÄCH mit MARTIN SCHLÄPFER

Wiener Staatsoper, Gustav Mahler-Saal Samstag, 7. November 2020, 14 Uhr Moderation: Ingeborg Tichy-Luger, Botschafterin des Ballettclubs Kontakt: ballettclub@wiener-staatsballett.at

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