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Von der Theorie zur Realität Ingeborg Tichy-Luger im Gespräch mit Martin Schläpfer anlässlich seines Starts als Direktor und Chefchoreograph des Wiener Staatsballetts
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erzlich willkommen in Wien, lieber Martin Schläpfer, und meine allerbesten Toi, toi, toi für Ihren Start mit dem Wiener Staatsballett! “Die Theorie hat endlich ein Ende”, haben Sie mir unmittelbar vor Ihrem Antritt als Direktor und Chefchoreograph des Wiener Staatsballetts gesagt. Nun, zum Zeitpunkt unseres Interviews Ende September 2020, haben soeben die erste Spielzeit-Premiere in der Volksoper Wien, “Hollands Meister”, mit fantastischen Arbeiten Ihrer langen Wegbegleiter und Freunde – das Choreographen-Duo Paul Lightfoot/Sol León, Hans van Manen und Jiří Kilián – sowie die Wiederaufnahme von George Balanchines Meisterwerk “Jewels” in der Wiener Staatsoper erfolgreich stattgefunden. Wie haben Sie selbst den Beginn Ihrer neuen beruflichen Realität in Wien erlebt? Äußerst angenehm, wenn ich das einmal so sagen darf. Es tut gut, nicht mehr theoretisieren zu müssen, nicht mehr davor zu stehen, sondern zu arbeiten und den Tänzerinnen und Tänzern, dem Team aber auch den Mitarbeitern in diesen beiden Häusern, der Wiener Staatsoper und der Volksoper Wien, real begegnen zu dürfen. Die Energie mit der Compagnie ist einfach großartig! Ich habe in den zwei Jahren der Vorbereitungszeit natürlich ab und an hier in Wien Sitzungen gehabt, bin hin- und hergeflogen zwischen Düssel dorf und Wien – aber schlussendlich war das immer mit großen Pausen dazwischen. Insofern war es eigentlich nun schön und erlösend, beginnen zu können. Wir haben das große Glück, dass wir hier in Wien in der derzeitigen Pandemie-Krisensituation überhaupt einen Spielplan fahren dürfen. Sie haben zahlreiche neue Tänzerinnen und Tänzer nach Wien engagiert – einige davon 08
kommen aus Ihrer ehemaligen Compagnie, dem Ballett am Rhein. Manche von diesen sowie etliche andere neue Ensemblemitglieder und Ihre Stellvertretende Ballettdirektorin, Louisa Rachedi, sind Absolventen der Canada’s National Ballet School Toronto. Ich bin seit vielen Jahren mit Mavis Staines, der Direktorin dieser Schule, befreundet und glaube auch an deren methodische Ausbildung – dieses Institut ist eine großartige Tanzschule im gesamtheitlichen Sinn des Wortes. Es bildet klassische Tänzer aus, die gleichzeitig aber auch als Menschen und Persönlichkeiten überzeugen. Das mag mit ein Grund sein, warum ich in Düsseldorf Duisburg einige Tänzerinnen aus dieser Schule engagiert hatte. Wenn sie körperlich ähnlich trainiert wurden und gewachsen sind, bedingt das ja nicht, dass sie sich als Persönlichkeiten angleichen, sondern rein in der Art und Weise, wie sie arbeiten. Sowohl damals für Düsseldorf Duisburg als auch jetzt für Wien waren die Persönlichkeiten der einzelnen Tänzerinnen für das Engagement ausschlaggebend. Meine Stellvertretende Ballettdirektorin Louisa Rachedi ist ein anderer Entscheid. Louisa war bei mir in Düsseldorf lange im Ensemble – übrigens eine fantastische Künstlerin – hat aufgehört zu tanzen und sich dann selbst ihren Weg gesucht. Sie wurde Coach, Ballettmeisterin und war in dieser Funktion auch lange bei Gauthier Dance in Stuttgart tätig. Als meine Stellvertretende habe ich sie ge sehen, weil sie eine hochbegabte Frau mit einer starken Persönlichkeit ist! Louisa hat ein großes Wissen, liebt die Klassik, ist aber gleichzeitig auch im zeitgenössischen Tanz sehr verwurzelt. Was mir aber den Impuls gegeben hat sie zu fragen ist, weil sie eine der wenigen Tänzerinnen in meinem Ensemble war, die gesagt hat: “Martin, es ist
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