S. R e m i n d a
das Schicksal
verรถffentlicht durch Bilder-Erlebnis.de
Arabien Rh Rhapsodie manchmal schlägt das Schicksal so unvermittelt zu, als wolle es damit denjenigen herausfordern. Doch bietet man Paroli, wer kann schon ahnen, was dann geschieht ....
S. Remida
Š S. Remida
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Kapitel I
Sinia ließ den Hörer auf die Gabel sinken. Heiß stieg die Angst in ihr hoch. Die Angst um ihren Mann, dessen Foto vor ihr auf dem Telefontisch unter ihren hochsteigenden Tränen verschwamm. Früh morgens hatte sie noch mit Chris telefoniert. Er hatte sich nach den vier Wochen Aufenthalt in diesem fremden Land so auf das Wiedersehen mit ihr und den drei Kindern gefreut. Bis spätestens 23.00 Uhr meinte er, daheim zu sein, und jetzt dieser Anruf... Eine Sekretärin der ICT - International Chemie Technologie Cie - hatte ihr soeben geschäftig mitgeteilt, dass nach ersten unbestätigten Informationen eine Technikergruppe der ICT, der auch ihr Mann angehöre, wahrscheinlich von Rebellen entführt worden sei. Sie brauche sich jedoch keine Sorgen zu machen, da man bereits alles Erdenkliche zur Befreiung der Männer unternähme. In der nächsten halben Stunde würde ein leitender Mitarbeiter bei ihr vorbeikommen, um nähere Auskunft zu geben. Nun erinnerte sich Sinia auch wieder an die kurze Meldung vorhin in den 14.00 Uhr-Nachrichten im Radio, in der von einem Überfall auf eine Gruppe ausländischer Mitarbeiter eines Unternehmens durch Anhänger der somalischen Befreiungsorganisation die Rede gewesen war. Noch nie war der Fünfunddreißigjährigen der Gedanke gekommen, dass sich mit einer Nachrichtenmeldung ihr Schicksal verbinden könnte. Blutige Bilder stiegen vor ihrem geistigen Auge hoch und ließen sie frösteln. Nein, es wird schon alles gut gehen, versuchte sie sich zu beruhigen, die ICT war immerhin ein weltweit renommiertes Unternehmen mit großem Einfluß. Sinia wischte sich die Augen und strich sich durch ihr strähniges, schulterlanges dunkelblondes Haar, das nur noch teilweise von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Die muß ich mir auch noch waschen, fiel ihr dabei wieder ein. Dann sah sie von dem offenen Esszimmer in das geräumige Wohnzimmer. Wie es hier aussah! Und gleich wollte jemand von der Firma herkommen und dabei war noch nichts aufgeräumt, noch nicht durchgesaugt und, oh je, der Kuchen mußte aus dem Backofen. Von ihrem praktischen Sinn getrieben, eilte sie in die Küche, holte den Kuchen heraus, rief ihre Tochter Anja, die ihre Spielsachen aus dem Wohnzimmer räumen sollte und während die Sechsjährige nur widerwillig und unter jeder Menge Ausreden der Aufforderung ihrer Mutter zögerlich nachkam, saugte diese durch und räumte dabei auch noch einiges, was sonst noch herumlag, eilig an seinen Platz. In Gedanken hakte sie die schon erledigten Arbeiten ab. Morgens hatte sie schon eingekauft, die Betten frisch bezogen, gleich die Wäsche gewaschen und schon mit dem Bügeln begonnen, als dieser Anruf kam. „Warum muss ich denn jetzt aufräumen, Papa kommt doch erst heute Nacht!", meckerte Anja, als ihre Mutter auf der Treppe an ihr vorbeirannte. „Weil gleich jemand kommt und es etwas ordentlich aussehen soll, klar? Hier, trag das noch hoch in dein Zimmer." „Nadine braucht nie zu helfen!", schimpfte Anja. „Die ist noch klein und du übernimmst dich schon nicht, wenn du auch ein paar Spielsachen von ihr hochträgst. Magst du nicht draußen mit Nadine spielen, solange nachher der Mann da ist?" „Ich gehe lieber zu Petra rüber, kann ich?", fragte Anja. Sinia gab schnell nach. „Ja, geh nur." Durch die Terrassentür kam mit sandigen Schuhen Nadine. „Oh nein, Kind zieh deine Schuhe aus, ich habe gerade durchgesaugt!", rief Sinia. „Ich will dir nur meinen Kuchen zeigen, den ich gemacht habe. Und jetzt brauch ich noch Wasser", erklärte ihre vierjährige Tochter eifrig, und hielt ihr einen sandigen Eimer entgegen. „Bleib da stehen, ich hol dir Wasser!" Dann vertröstete sie die Kleine, dass sie später den Kuchen bewundern würde, jetzt aber erst ihr Brüderchen aus seinem Bettchen holen und ihm etwas zu essen geben müsse. Von dem Obergeschoß drang schon lautes Schreien herunter und Sinia eilte hinauf, ihr aufgewachtes Kind aus den 'Fängen der Einsamkeit' zu befreien. © S. Remida
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Es war viertel vor drei, als sie eine Autotür klappen hörte und ging, ihren Sohn beruhigend wiegend, zum Fenster. Ein schwarzer Mercedes stand in der Einfahrt des Reihenhauses und ein älterer dicker Mann ging gemächlich zur Haustür, während er bemüht war, seinen Hosenbund in einer nicht mehr vorhandenen Taille zu plazieren und den Sitz des Schlipses sowie des Jacketts zu ordnen. Noch nie hatte Sinia diese Marotte, die viele Männer an sich haben, störender und lächerlicher empfunden als jetzt. Sie fühlte eine panische Angst zurückkommen und mit weichen Knien stieg sie die Treppe hinab. „Liebes, jetzt musst du noch etwas auf dein Essen und ein trockenes Höschen warten", flüsterte sie Andy ins Ohr. Dann öffnete sie die Haustür. Ihren grünen Augen war die Sorge abzulesen. Während der Mann sich mit der linken Hand sein Jackett zuknöpfte, streckte er ihr die rechte entgegen und musterte ihren alles andere als eleganten Aufzug. Was die verwaschenen Jeans zu eng waren, war das ausgeleierte Sweatshirt zu weit. „Guten Tag, Frau Martin. Mein Name ist Gerber. Ich bin Personaldirektor bei der ICT. Sie wissen schon Bescheid?" Dann folgte er ihr ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen, während Sinia entschuldigend etwas von noch nicht ganz fertig aufgeräumt stammelte. „Na junger Mann, wie alt sind wir denn?", wandte er sich an Andy, der sich vorsichtig aus den Armen seiner Mutter befreite. Sinia erklärte, dass er achtzehn Monate alt sei und beantwortete auch brav die Fragen zu ihren beiden anderen Kindern. Ihre Nerven flatterten. Endlich steuerte Herr Gerber auf den eigentlichen Grund seines Besuches hin. Er erzählte von dem für jene Region so wichtigem pharmazeutischen Projekt, an dem auch ihr Mann seinen unschätzbaren Beitrag leiste, von der politischen Instabilität dieser Staaten, aber auch den besonderen Sicherheitsgarantien, die stets mit den jeweiligen Regierungen ausgehandelt würden und nun zum Tragen kämen. Er ließ sich über die unberechenbaren anarchistischen Wirrköpfe aus und verwies flüchtig auf die Verhandlungsstrategie des Unternehmens in enger Absprache mit der deutschen, amerikanischen, und somalischen Regierung. Dann schloss er: „Je weniger Publicity diese Leute haben, desto eher geben sie nach. Wir haben diesbezüglich auch die Zusicherung der Medien, Zurückhaltung in dieser Sache zu üben. Ich gehe davon aus, dass auch Sie gegenüber anderen Stillschweigen in dieser Angelegenheit wahren. Jede Veröffentlichung in dieser Erpressungssache kann unsere Position schwächen und unsere Bemühungen gefährden. Sie haben mich verstanden?" Herr Gerber stand auf und verabschiedete sich mit den aufmunternden Worten: „Kopf hoch, es wird schon alles gut gehen, verlassen Sie sich auf uns!" Nachdem er gegangen war, fiel Sinia auf, dass er nichts über die Motive der Entführer, deren Forderungen und ob darauf eingegangen werde, gesagt hatte. Ja, nicht einmal, wie somalische Terroristen an die in Äthiopien eingesetzte Ausländergruppe geraten konnten. Im Grunde wußte sie genauso viel wie zuvor, nämlich nichts. Während sie ihrem Kind die Windeln wechselte und dann sein gewärmtes Essen gab, grübelte sie, was sie von diesem Gerber und seinen Ausführungen halten sollte. Nadine kam wieder herein gerannt, eine zweite Spur aus nassem Sand folgte ihr. „Mama, wo bleibst du denn, wie lang muß ich noch warten?" „Siehst du, jetzt macht sie alles wieder dreckig", schrie Anja, die hinter ihrer kleinen Schwester hergelaufen kam. „War das der Mann, Mama? Was hat er gewollt?" Sinia sah auf ihren zufrieden in seinem Essen herumschmierenden Jungen, auf ihre Töchter, von denen die jüngere voller Sand war, dann wanderte ihr Blick zu den sandigen Tapsen auf dem Parkett. Langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie schluckte. Sie wollte sie vor den Kindern unterdrücken, aber es klang wie ein Schluchzer. Sinia konnte sich nicht mehr beherrschen. Laut weinend verbarg sie ihr Gesicht in ihren Händen. Bestürzt liefen die Mädchen zu ihr. „Mama, was ist los?" „Warum weinst du? Ist es wegen dem Sand von Nadine?“ „Ich mach ihn auch wieder weg!" Ihre Mutter rang nach Luft. „Papa kommt heute nicht!" „Dieser Dicke ist dran schuld, nicht?", entfuhr es Anja wütend. © S. Remida
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Auch Andy schaute nun gespannt zu den dreien, um nach kurzem Überlegen in ein wehklagendes Schreien auszubrechen. Sinia hob ihn aus seinem Hochstuhl und nahm ihn in den Arm. „Nein, dieser Mann hat mir das nur gesagt." Tränen strömten über ihr Gesicht. Sie ging hinüber ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch, ihre beiden Mädchen setzten sich rechts und links neben sie. „Warum kommt Papa nicht?", fragte Nadine mit weinerlicher Stimme. „Man lässt ihn noch nicht heim!" „Und ich hab so einen schönen Kuchen gemacht", jammerte Nadine enttäuscht. „Wer lässt ihn nicht heim?", erkundigte sich Anja sachlich. Sinia dachte an die Warnung von diesem Gerber, stillzuschweigen und schüttelte nur den Kopf. „Dann holen wir Papa doch einfach!", glaubte Anja die rettende Idee zu haben. „Wenn es nur möglich wäre", schluchzte Sinia resigniert. Nadine streckte ihr ihr sandiges Händchen hin und öffnete es geheimnisvoll. Lauter kleine sorgfältig ausgesuchte weiße Steinchen lagen darin. „Die wollte ich auf den Kuchen machen. Hier, ich schenk sie dir", versuchte die Kleine ihre Mutter zu trösten. Unter Tränen lächelnd übernahm sie das wertvolle Geschenk. Eng umschlungen blieben sie sitzen und weinten weiter um den Ehemann und Vater, der nicht zu ihnen kommen durfte. *******
Fünf Tage waren inzwischen vergangen. Jeden Tag hatte Sinia in der Firma angerufen, um sich über den neuesten Stand der Verhandlungen zu informieren. Aber schon seit dem dritten Tag, wurde sie das Gefühl nicht los, dass ihre besorgten Anfragen den Leuten lästig zu werden schienen und man sie nur hinhielt. Es war an der Zeit, Klarheit zu bekommen. Sie hatte ihre Kinder zu ihrer Mutter gebracht und saß nun endlich Herrn Gerber in einem nüchtern eleganten Besprechungsraum im ICT Verwaltungsgebäude gegenüber. Er hatte ihre Hartnäckigkeit unterschätzt und sie nach stundenlangem Hinhalten und Ausflüchten seiner Sekretärin schließlich doch empfangen. Sinia spürte trotz seines jovialen Auftretens seine ablehnende Haltung ihr gegenüber. „Tja, meine liebe Frau Martin, anscheinend glauben Sie mit Ihren ständigen Anrufen die Lösung der recht komplexen und schwierigen Angelegenheit beschleunigen zu können. Ich muß Ihnen leider sagen, dass Sie uns damit gewiß nicht helfen, ganz im Gegenteil... Weshalb leben Sie nicht wie bisher weiter, kümmern sich um Ihre Kinder und bereiten schon mal alles für die Rückkehr Ihres Mannes vor, na? Und uns überlassen Sie das, wovon wir mit Sicherheit mehr verstehen. Sie dürfen mir glauben, dass wir wirklich alles unternehmen was möglich und nötig ist und Sie über jede neue Entwicklung informiert werden! Oder - vertrauen Sie uns etwa nicht?" „Doch, doch! - - Tut mir leid, dass ich Sie und die Damen dauernd belästige. - - Aber was kann ich sonst tun, ich mache mir doch Sorgen, verstehen Sie das nicht?", versuchte sich Sinia zu rechtfertigen. „Natürlich verstehe ich das!" „Und außerdem bin ich ja wohl nicht die einzige, die um ihren Mann Angst hat!", fügte sie noch rasch hinzu. Ihr Gegenüber wiegte den Kopf. „Im Grunde - doch. Sehen Sie, normalerweise suchen wir für unsere Auslandsaufträge unabhängige Leute, denen es nichts ausmacht, wenn nötig, auch länger dort zu bleiben. Da es sich hier nur um einen relativ kurzen Zeitraum handelte und Ihr Mann sich für einen ausgefallenen Kollegen selbst anbot und wir leider sonst niemanden verfügbar hatten, hat die Geschäftsleitung schließlich zugestimmt. Niemand konnte ahnen, dass so etwas passiert! Wenn Sie so wollen, sind Sie zum Glück unser einziges - Problem!" „Oh Gott!", hauchte Sinia. „Es ist dieses Warten! Ich habe allen erzählt, dass im letzten Moment noch etwas dazwischenkam und Chris auf unbestimmte Zeit noch dort bleiben müsse und dass er sich regelmäßig meldet..." Ihre Stimme erstickte in den Tränen. Sie schluckte, aber es half nichts, weinend sank sie in dem sesselartigen Stuhl zusammen. „Na, na, das haben Sie doch ganz richtig gemacht. Ich bin stolz auf Sie. Jetzt beruhigen Sie sich wieder, es wird schon werden!" „Niemand sagt mir, wie die Verhandlungen laufen, ob ich irgend etwas tun könnte, wie lange es noch dauert!", heulte sie aufgelöst. © S. Remida
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„Glauben Sie mir, es sieht gut aus. Unsere Regierung ist in ständigem Kontakt und wenn Sie unbedingt etwas tun wollen, dann beten Sie doch einfach!" Sinia sah Herrn Gerber ungläubig an. Nein, er konnte sich doch nicht über sie lustig machen? Verunsichert stand sie auf. „Wissen Sie, ich werde verrückt, wenn ich einfach nur warte! Erlauben Sie mir hier anzurufen, wenn ich nichts von Ihnen höre, bitte!", bettelte Sinia wie ein kleines Kind. Väterlich strich Herr Gerber über ihren Kopf. „Aber natürlich! Noch ein guter Rat, versuchen Sie einfach an das, was Sie den Leuten erzählt haben, zu glauben. Es wird Ihnen helfen, darüber hinweg zu kommen, ja?" Eingeschüchtert und voller Zweifel verließ Sinia das eindrucksvoll verglaste Verwaltungshochhaus der ICT. Benahm sie sich tatsächlich so verrückt, oder wollte man es ihr nur einreden? *******
Auch zwei Tage später hatte die ICT noch nichts von sich hören lassen, so dass Sinia sich wieder meldete mit dem schon bekannten Ergebnis. Nach durchwachter Nacht war sie schließlich zu dem Schluß gekommen, sich direkt an einen kompetenten Politiker zu wenden. So fuhr sie schon in aller Frühe nach Bonn, nachdem sie ihre Kinder mit der Ausrede, Besorgungen machen zu müssen, erneut bei ihrer Mutter untergebracht hatte. Zum zweiten Mal nach drei Stunden Odyssee durch unzählige Vorzimmer und Abteilungen, x-mal sich ausgewiesen und ihr Anliegen geschildert, fand sie sich erneut vor der ältlichen Sekretärin wieder, die ihr den Rücken zugewandt eifrig tippte. Schließlich drehte die sich um. „Waren Sie nicht schon einmal hier?" „Ja, nachdem ich durch das gesamte Haus geschickt wurde bis wieder hier her", erklärte Sinia flapsig. „Der Herr Minister ist, wie ich Ihnen schon sagte, nicht zu sprechen. Ich bitte Sie also, das Zimmer zu verlassen. Sie können Ihr Anliegen ja schriftlich einreichen." „Ich warte!" „Der Herr Minister ist aber nicht im Hause. Möchten Sie Ihr Schreiben hier verfassen, dann gebe ich..." „Ich sagte, ich warte! Schließlich habe ich seine Partei gewählt! Wird sich doch jemand finden, mit dem ich reden kann", unterbrach Sinia und hoffte, dass ihre nicht nachprüfbare Begründung seine Wirkung nicht verfehlte. Die Sekretärin drehte sich genervt um. Nach einer Weile telefonierte sie im Flüsterton. Sinia überlegte, ob gleich ein Wachposten sie hinauswerfen würde. Doch dann erschien ein junger Mann, der sich als ein Mitarbeiter mit Namen Volker Maier vorstellte und sie in sein Zimmer führte. Nachdem er grinsend ihre Hartnäckigkeit erwähnt hatte, erkundigte er sich nach ihrem Anliegen und ließ sich ihre Geschichte geduldig erzählen. Bedächtig antwortete er, sie möge ihm ein paar Tage Zeit lassen, damit er sich kundig machen könne. Er werde sich dann melden, versprach er und Sinia fühlte auf der langen Heimfahrt so etwas wie Hoffnung aufkeimen. Es war schon dunkel, als sie bei ihrer Mutter ankam und aufgekratzt deren unterschwelligen Vorwurf ob des langen Ausbleibens, mit ungenauen Ausflüchten entgegnete. *******
Schon drei Tage später saß Sinia zur Mittagszeit in einem gemütlichen Restaurant außerhalb Bonns erneut Volker Maier gegenüber. Er hatte sie am Abend zuvor angerufen und seine Auskünfte waren so verworren, dass Sinia kurzerhand auf diesem Treffen bestand. „Bestellen Sie, was Sie möchten, ich lade Sie ein!", erklärte Sinia, während ihr Gegenüber in der Speisekarte blätterte. „Das ist nicht nötig, Frau Martin. Ich wäre nicht hier, wenn Sie mir nicht irgendwie leid täten und na ja, ich Sie nicht sympathisch fände. Ich will Ihnen gerne helfen, soweit es mir durch meine Verbindungen möglich ist." Er blickte von der Karte hoch. „Die ganze Sache ist recht, mh, ungewöhnlich." © S. Remida
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Der Kellner nahm ihre Bestellungen entgegen und dann sah Sinia den jungen Mann gespannt an. „Erzählen Sie mir bitte alles noch einmal, am Telefon hatte ich bald den Durchblick verloren." Er grinste kurz. Mit ernster Miene wiederholte er nochmals, was er in Erfahrung gebracht hatte: Es gehe wohl um eine Industrieanlage in Somalia, nicht Äthiopien. Da es sich um ein Projekt unter amerikanischer Leitung handle, trete der Vertreter der deutschen Regierung nur für seine entführten Landsleute in Erscheinung, wobei das Unternehmen allein über - er wisse nicht welche - Bedingungen und ein Lösegeld verhandle. Er machte eine Pause, solange der Kellner das Essen servierte. Nach dem ersten Bissen erzählte er weiter, dass die Entführer jedoch beides immer wieder zu ändern scheinen, so dass die ICT nun drohe, nur noch über die somalische Regierung Kontakt halten zu wollen, was aber ein Affront für die Terroristen wäre, da sie ihre Regierung ja bekämpften. So sei das leider in der Politik, schloss er und schob sich einen neuen Bissen in den Mund. Sinia hatte ihren Salatteller nicht angerührt. Ihr war schlecht. „Und es soll wirklich niemanden geben, der helfen könnte?", fragte sie sorgenvoll. „Sagte ich doch schon", er trank einen Schluck. „Wir müssen schließlich auch unsere Interessen wahren!" Das wollte Sinia genauer wissen und Volker Maier begann herumzudrucksen, dass die Befreiungsorganisation aus irgendwelchen Gründen von Zeit zu Zeit von einem Vertrauten des irakischen Präsidenten unterstützt würde und jener daher wohl der einzige sei, der mit ihnen sprechen und wohl auch etwas erreichen könne. Man mag ihn da aber nicht hineinziehen, weil er damit nichts zu tun habe und seine Regierung keinen Verhandlungsvorteil bei künftigen Projektierungen von deutschen Anlagen in seinem Land erhalten solle, wenn die Sanktionen denn mal aufgehoben werden würden. Außerdem würden die Amerikaner den Deutschen das sehr verübeln, sie kenne ja deren Verhältnis zum Irak. Es stünden eben enorme wirtschaftliche, finanzielle und politische Erwägungen zur Disposition. „Zu dumm, dass es sich hier ausgerechnet um dieses Land handelt!“ „Heißt das, dass aus kommerziellen Gründen oder politischen Rücksichten, die morgen schon hinfällig sein können, Menschenleben einfach verschachert werden?", fragte Sinia sarkastisch. Ihr Gegenüber wand sich und versuchte abzuwiegeln. „Und wenn ich mich an diesen Typ wenden würde?", fragte sie in einem Anflug von Trotz. „Wie, ihn anrufen oder schreiben? Können sie arabisch? Nein, nein, er ist für Sie als Frau sowieso tabu!" amüsierte er sich. „Vielleicht finde ich einen Weg", beharrte sie nun störrisch, als könne sie schon allein durch dies unmögliche Ansinnen ein Beschleunigen der Verhandlungen erzwingen. Volker Maier starrte sie an, ob es ihr ernst war? „Sie haben ja keine Ahnung von diesen Menschen, man würde Sie geringstenfalls auslachen und wenn Sie Glück haben wieder nach Hause schicken. Überlassen Sie das Profis!" „Ja, nur welchen! Wie hieß dieser Vertraute doch gleich?" „Glauben Sie, das hilft Ihnen weiter?" „Ja!", sagte sie mehr zu sich. „Es würde ein Stück dieser unerträglichen Anonymität nehmen. Ich weiß weder wie meine Gegner aussehen oder heißen, noch wem ich vertrauen kann, außer Ihnen! Das macht mich wahnsinnig, können Sie das nicht verstehen?" „Ich hätte Ihnen das alles besser nicht sagen sollen, außerdem sind das absolut vertrauliche Informationen!" Der Behördenmitarbeiter sah Sinia nachdenklich an. „Doch, es ist gut zu wissen, was da vorgeht. Dieses Gespräch hat nie stattgefunden, okay. Machen Sie sich also keine Gedanken. Ich werde immer in Ihrer Schuld stehen." Sinia senkte ihren Blick, schluckte und sah ihn verzweifelt wieder an. „Nur noch seinen Namen, einfach nur für mich, bitte!" „Wenn Sie dann besser schlafen können. - Er heißt Rashid Safar!" gab ihr Gegenüber nach. Es wurde Zeit, zu gehen. Sinia bezahlte und bat Volker Maier inständig, ihr jede neue Entwicklung mitzuteilen, was er schließlich versprach, bevor sie sich trennten. *******
Zwei Wochen war Chris nun schon in den Händen der Terroristen und es gab keinerlei neue Informationen. © S. Remida
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Indes, Sinia wurde den Namen Rashid Safar nicht mehr los. Tag und Nacht spukte er durch ihre Gedanken und mit wachsender Verzweiflung nahm eine Idee allmählich konkrete Formen an. Sie wollte diesen ominösen Rashid Safar kennen lernen und persönlich um Hilfe bitten! Wie er wohl aussehen mochte? Es war Zeit, mit den Vorbereitungen zu beginnen. Bald hatte sie in einer Buchhandlung ein paar aktuelle Fotografien von dem fast fünfzigjährigen Iraker in verschiedenen Sachbüchern entdeckt. Wenn er auf den ersten Blick auf sie auch wenig vertrauenerweckend wirkte, so wollte sie sich doch sein Aussehen genau einprägen, sein rundliches Gesicht mit dem schwarzen Oberlippenbart und den kurzgeschnittenen schwarzen Haaren, seine dunkeln Augen mit dem mal listigen, mal eher spöttischen Blick und dem schmalen Mund. Sein Teint erinnerte Sinia eher an einen sonnengebräunten Europäer als an einen Orientalen. Zudem schien er recht groß und von stattlicher Gestalt. Nun brauchte sie nur noch einige der wichtigsten arabischen Wörter und ein paar Handgriffe zu beherrschen, um sich etwas verständigen aber auch wehren zu können. Ansonsten mußten ihre dürftigen Englischkenntnisse und eine riesige Portion Glück reichen! Da sie in der Nähe von Heidelberg wohnte, bot es sich direkt an, unter der Studentenschaft nach jemand Ausschau zu halten, der des Arabischen mächtig war. Nachdem Sinia einige Male mit ihren Kindern in der Nähe der Uni Erkundungsgänge unternommen hatte, entschied sie sich für eine kleine gemütliche Kneipe mit Straßencafé, an der die meisten Studenten vorbeigehen mussten und die deshalb auch stets von jungen Leuten gut besucht war. Ihre Kinder hatte sie erneut bei einer Freundin untergebracht. Den zweiten Mittag saß sie nun schon hier im Freien vor einer Tasse Kaffee, genoß die erste warme Maisonne und beobachtete die jungen Leute, die in Gruppen, einzeln oder zu zweit an ihr vorbeikamen. Sie erkannte Neger, Asiaten, Dunkelhäutige mit teils pechschwarzen Haaren, doch wer kam aus dem arabischen Raum? Mit ihrem Pferdeschwanz, kurzem Blazer, Jeans und Turnschuhen sah sie selbst noch fast wie eine Studentin aus. Ein junger blondmähniger Kerl stellte sich ihr breit in die Sonne. „Ist hier noch frei?" Sinia nickte und sah wieder zur Straße. Er wollte gleich wissen, ob sie auch hier studiere, ob sie auf jemanden bestimmten warte, er ihr dabei helfen, oder gar gleich als Ersatz einspringen könne. Unverbindlich antwortete sie und flunkerte etwas von einer Studie vor über den 'Status des Studenten als Schüler und Erwachsener in seinem sozialen Umfeld unter besonderer Berücksichtigung seiner diversen Abhängigkeiten im Verhältnis zu gleichaltrigen Arbeitnehmern', was den Blondschopf zu provozierenden Äußerungen veranlaßte. Cool unterbrach Sinia ihn, ihr fehlten nur noch die Ansichten der aus dem Nahen Osten stammenden Studentengruppe, ob er denn keinen reichen Saudi kenne. Seine Enttäuschung war unübersehbar. Ein paar Jungs und Mädchen kamen an ihren Tisch. Eine rief gleich: „Hey, Werwolf, hast du ein neues Opfer gefunden?" „Ihr glaubt es nicht, aber die Puppe steht auf Ölscheichs!", erklärte der Typ lautstark. Die Gruppe organisierte noch ein paar Stühle und setzte sich an den Tisch. Gleich überboten sie sich in starken Sprüchen über Sinias vermeintliche Vorliebe und versuchten die ihnen unbekannte junge Frau zu reizen. „Wenn ich euch früher kennengelernt hätte, hätte ich mich sicher für eine Abhandlung über Ursachen und Auswirkungen des infantilen Gruppenverhaltens in pseudo-elitären Möchte-gernAkademikerkreisen entschieden. Aber für meine Studien seid ihr bedauerlicherweise nicht zu gebrauchen!" Sinia stand verärgert auf, entwand sich ein paar Händen, die sie halten wollten und hörte gerade noch, wie eine auf den entdeckten Ehering mit einer hämischen Bemerkung reagierte. Jeglicher Motivation beraubt und an ihrem einzigen und wie sie mal glaubte guten Plan zutiefst zweifelnd, trottete sie durch die engen Gassen. „He, du suchen ausländische Student?", hörte Sinia hinter sich eine leise hart klingende Männerstimme. Sie drehte sich um und sah in ein junges bleiches Gesicht aus dem sie zwei graue Augen aufmerksam musterten. „Ich bin aus Iran - geflohen!" © S. Remida
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Sinia schüttelte lächelnd den Kopf und überlegte, ob er wohl Zeuge ihres Disputs mit den Studenten war. „Ich suche jemanden, der arabisch beherrscht." Der Fremde versuchte ihr einzureden, dass er der Richtige für egal was sei, merkte aber dann, dass sie nichts von ihm wissen wollte. Er griff ihren Arm. „Wenn du glauben, Araber besser, ich zeige, wo du finden? Du haben Auto?" Unsicher nickte Sinia. Sollte sie es riskieren, sich dem undurchsichtigen Fremden anzuvertrauen? Er grinste. „Angst? Ich dir nix tun. Wo steht Auto?" Mit einem mulmigen Gefühl im Magen führte sie den Iraner zu ihrem Wagen und ließ sich von ihm aus der Stadt hinaus und durch ein waldiges Gelände dirigieren. Er schien Spaß an ihrer Furcht zu haben und behauptete nur, man käme so schneller und von den Anwohnern unbemerkt an das nur von Ausländern bewohnte Haus. Sinia begann möglichst ungezwungen von ihren Kindern zu erzählen und dass ihr Mann oft ins Ausland reisen müsse. Mitfühlend erkundigte sie sich nach den Umständen seiner Flucht und dass es ihr schon fünfzig Mark wert sei, wenn sie zum Arabischlernen jemand Ehrliches durch ihn fände. Die Atmosphäre entspannte sich und bald hatte sie das Gefühl, dass der Iraner von dem, was immer er auch vorzuhaben schien, abgelassen hatte. Über eine unbefestigte Straße lotste er sie wieder Richtung Heidelberg und durch ein verfallenes Fabrikgelände bis zu einem Hinterhof eines abbruchreifen vierstöckigen Wohnhauses. Neugierig sahen einige der umherstehenden dunklen Gestalten auf den staubigen fremden weißen VW-Caravan. „Komm mit!", sagte der Iraner. Beim Hineingehen legte er seine Hand auf ihre Schulter und führte sie durch den engen und von laut diskutierenden Gruppen verstellten Flur. Von Raunen und anerkennenden Pfiffen begleitet, gelangten die beiden schließlich in ein schäbiges Zimmer, in dem sich drei lange, klapperdürre Schwarze aufhielten. Zwei tanzten zu lauten Trommelrhythmen, der dritte saß auf einem Bett und klopfte ekstatisch auf seine Oberschenkel. Sinia verstand kein Wort, das ihr Begleiter mit den, keinen Moment ihre Woodoo - Beschwörung unterbrechenden Typen wechselte, sie spürte aber, das der Iraner ganz schön mit ihr anzugeben schien und diese schwarzen Kerle sie aus den Augenwinkeln aufmerksam musterten. Umständlich sah sie auf ihre Armbanduhr. „Ich muß leider gehen, sonst wird es mir zu...." „Nix gehen! Jetzt ich dir zeige guten Lehrer und bekomme 50 Mark?" Zwei Stockwerke höher, fast am Ende eines schier endlosen Ganges blieb er mit ihr vor einer Tür stehen und klopfte an. Sinia hatte in ihrer Handtasche längst ein Deospray umkrallt und war fest entschlossen, wenn nötig, es einzusetzen, obgleich sie weder eine Ahnung von seiner Wirkungskraft noch von einem sicheren Fluchtweg aus den Gemäuern hatte. „Hier ist dein Schicksal!", tönte ihr Begleiter, sichtlich stolz auf seine treffende Wortwahl. Vorsichtig öffnete sich die Tür. „Salam Aleykum, Ali, ich bring junge Frau. Will lernen arabisch!" Hinter der Tür erschien ein junger Araber, ungefähr so wie Sinia sich einen vorstellte, mit entfernter Ähnlichkeit eines Omar Sharif. Sein schmaler gedrungener Körper war in eine dicke Wolldecke gewickelt. Hüstelnd sagte er „Guten Tag", und ließ die beiden in sein Zimmer. „Er ist gute Mann und beste Lehrer. Du werden sehen! Jetzt er ist erkaltet, äh krank, aber nix schlimm!", erklärte der Iraner eifrig. „Hör auf! Mit deinem Deutsch beleidigst du ja unseren Gast!", fiel ihm der Kranke in bestem Deutsch heiser ins Wort. Er bot Sinia einen Sessel an. Während sie sich in dem mit bunten Decken und Tüchern behängten Raum mit seiner spärlichen Möblierung, die hinter und unter Bücherstapeln und allerlei Krimskrams aus seiner Heimat zu versinken drohte, irritiert umsah, bescheinigte sie nebenbei ihrem Begleiter ganz passable Deutschkenntnisse und dass es ihr schon reichen würde, halb so gut arabisch sprechen zu können. Die beiden Männer wechselten noch ein paar Worte, dann verabschiedete sich der Iraner, nachdem er den versprochenen Lohn von Sinia kassiert hatte. Der Araber stellte sich als Kahlil Mohammed vor und erklärte, dass sie ihn aber wie alle mit seinem Spitzname Ali anreden möge. Ali nach dem berühmten Boxer. Sein spitzbübisches Lächeln wich einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Ich werde bestrebt sein, Ihren Ansprüchen genügen zu können. Sie müssen mir sagen, was Sie erwarten und wenn Sie mit mir nicht zufrieden sind!" © S. Remida
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„Ich bin nicht anspruchsvoll. Können Sie mir in möglichst kurzer Zeit den nötigsten Wortschatz beibringen?" „Sie wollen in ein arabisches Land?" Ali betrachtete sie aufmerksam und noch während Sinia eine Antwort überlegte, schüttelte er abwehrend den Kopf. „Sie brauchen mir nichts zu erklären, ja? Ich spüre, dass Sie ein ehrlicher Mensch sind und meine Hilfe verdienen. Können Sie Englisch?" „Nein, ein bißchen aus der Schule." „Wir sollten es zur Sicherheit auffrischen, weil es auch bei uns von manchen beherrscht wird im Gegensatz zu Ihrer Muttersprache!" Sinia wurde unsicher. „Ich bin kein Sprachgenie. Wenn es nicht funktioniert, dann hören..." „Na, na, lassen Sie uns doch erst mal anfangen. Wann dachten Sie?" Die beiden verabredeten sich auf den nächsten Nachmittag. Dann wurde es Zeit für Sinia. „Ich bringe Sie hinunter. Übrigens brauchen Sie meine Mitbewohner nicht zu fürchten, auch wenn mancher etwas verwegen aussieht." Sinia fühlte sich ertappt und beschämt. Mutig erklärte sie darum: „Ich finde allein hinaus. Bleiben Sie mit Ihrer Erkältung hier oben. Gute Besserung!" „Na gut! Ahm, wie darf ich Sie eigentlich nennen?" „Oh, Entschuldigung! Ich bin Sinia, Sinia Martin!" „Gut! Sinia - ich darf Sie doch so nennen -, Sie werden feststellen, dass Sie mir wirklich vertrauen können." „Ich glaube, das tu ich schon! Tschau!" Die Begegnung mit Ali hatte ihr gutgetan. Mit einem spöttischen Grinsen quittierte sie die erneuten Pfiffe und Bemerkungen der jungen Männer und, wie sie erst jetzt bemerkte, auch einiger Mädchen, an denen ihr Weg vorbei hinausführte. Flott fuhr sie vom Hof auf direkten Weg in die Stadt zu einer renommierten Kampfsportschule, die sie sich vor ein paar Tagen ausgeguckt hatte. Hoffentlich hatte sie hier genauso viel Glück! Sinia fragte eine junge Frau, die hinter eine Bürotheke stand, nach Intensiv-Einzelunterricht. Diese schüttelte erstaunt den Kopf. Nein, auch ausnahmsweise gäbe es so etwas nicht. Sinia gab nicht auf, so dass die Frau sie an den Leiter der Einrichtung verwies, den sie auch gleich herbeirief. Ein etwas zu braungebrannter, das blonde Haar eine Spur zu glänzend, mit seinem durchtrainierten Körper betont lässig daher schlendernder arrogant blickender Mittvierziger, kurz ein richtiges Brechmittel, kam auf Sinia zu. „Ich bin Dan Thomson! Sie haben einen Sonderwunsch?" Sinia dachte, der heißt, wie er aussieht. Lächelnd erklärte sie, dass sie innerhalb kürzester Zeit über ein paar wirkungsvolle Selbstverteidigungsgriffe verfügen müsse. Dan lachte, dass seine weißen Zähne blitzten, und musterte sie amüsiert. „Sie haben keine Ahnung vom Kampfsport, habe ich recht?" „Sonst wäre ich nicht hier!" „Also Fräuleinchen, um so was erfolgreich einsetzen zu können, sollte man etwas durchtrainiert sein, die Techniken im Schlaf beherrschen und über die nötige geistige Einstellung verfügen. Das dauert bei regelmäßigen Training und entsprechendem Talent schon einige Monate! Haben Sie überhaupt Talent?" Was für ein Kotzbrocken, dachte Sinia. Herausfordernd entgegnete sie, dass sie bisher ihre diesbezüglichen Fähigkeiten noch nicht getestet habe. „Lassen Sie es auch dabei", riet Thomson. "Wenn Sie sich bedroht fühlen, sollten Sie sich besser an die Polizei wenden. Ich mache Sie gerne mit ein paar Jungs bekannt, die hier gerade trainieren." „Da, wo ich das brauche, werden die nicht sein!" Thomson schien sehr amüsiert. "Sie werden doch nicht 007 Konkurrenz machen wollen?" © S. Remida
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„Warum geben Sie nicht einfach zu, dass Ihr Laden nur Mittelklasse ist und keiner über den Standart gehenden Herausforderung gewachsen ist. Aber es gibt ja noch andere Schulen. Ich werde schon einen geeigneten Lehrer finden, einen besseren!" Die Antwort saß! Wütend drehte sie sich um zum Gehen. „Wie Sie meinen! Und jetzt raus! Ich brauche mich doch nicht von so einer wie Ihnen beleidigen zu lassen!" Sinia drehte sich noch einmal um. „He, ich habe Grund mich beleidigt zu fühlen! Preisen sich als erste Adresse an“, sie zeigte auf ein Schild mit Eigenwerbung, „aber verlässt man sich darauf und kommt mit einer Bitte, die von Ihrem Schema F abweicht, kneifen Sie und lassen sich die dümmsten Ausreden einfallen, statt sich der Herausforderung zu stellen! Wirklich ein Superschuppen!" „Wissen Sie was, Sie haben keine Ahnung, wovon Sie reden!" „Und Sie nicht, wie lebenswichtig mir es ist! Aber das ist mein Problem! Vergessen Sie's!", sagte sie resigniert und wandte sich zur Tür. „Noch einen Moment! Sagen Sie mir, wofür Sie das eigentlich brauchen?" Sinia hielt inne und schüttelte langsam den Kopf. „Nehmen Sie einfach an, ich muß dahin, wo es besser ist, sich auf sich selbst zu verlassen als eine Notrufsäule zu erwarten!" „Kommen Sie noch mal zurück. Oben habe ich gerade eine Gruppe, Sie können eine Probestunde mitmachen. Dann unterhalten wir uns noch einmal. Lassen Sie sich von Doris einen Anzug geben!" Minuten später stand Sinia auf der Matte und machte das Aufwärmtraining mit, wobei rennen, hüpfen, Rolle rückwärts und vorwärts, seitwärts fallen und Rücken an Rücken stehend seinen an den Armen eingehakten Partner im Wechsel auf den Rücken laden, noch zu den einfachsten Übungen gehörte. Als Dan Thomson schließlich ein paar neue Würfe vorstellte, war Sinia schon am Ende ihrer Kräfte. Als Partner wurde ihr ein junger Mann in ihrer Größe und Gewichtsklasse zugeteilt. So sehr sie sich auch bemühte, ihr Körper war müde und ausgelaugt. Ihre letzten regelmäßigen Turnstunden waren schon zu lange her. Und immer wieder wurde sie und nur sie von Dan gemaßregelt! Sinia schämte sich zutiefst. Endlich war Schluß und Sinia zog sich schnell um. Im Aufenthaltsraum tummelten sich unglaublich viele Leute. Sinia entdeckte Dan. Es kostete sie viel Überwindung ihn herzurufen, ob er noch einen Moment Zeit für sie habe. „Sie können gleich noch mal mittrainieren!" kam er feixend näher. „Später, - falls es möglich ist?" „Sie haben noch nicht genug? Sie wollen weitermachen?" griente er. „Wer redet von wollen, ich muß es versuchen! Geht es täglich?" „Mh, solange wir geöffnet haben. Füllen Sie noch die Anmeldung aus. Darin steht wie hoch der Mitgliedsbeitrag ist und was Sie brauchen. Sie können alles über uns beziehen." „Ja, Sir", seufzte Sinia. „Dan, ich heiße Dan!", erklärte ihr Gegenüber, drehte sich um und schlenderte lässig zu ein paar hübschen, laut kichernden Mädchen hinüber. Depp, dachte Sinia, Depp! ******* Eine gute Woche Sprach- und Selbstverteidigungsunterricht lagen nun schon hinter ihr, trotzdem fühlte sich Sinia nicht klüger als am ersten Tag. Inzwischen hatte sie ihre Schwägerin Marion unter dem Siegel der Verschwiegenheit in die Entführungsgeschichte ihres Mannes und ihr Vorhaben eingeweiht. Für diese war nun die Betreuung von Sinias Kindern Ehrensache und ihr Beitrag zu Chris Rettung, wenngleich sie dem Plan sehr skeptisch gegenüberstand. Marion war wirklich absolut verschwiegen, wenn man von ihrem Erkundungsanruf von vor zwei Tagen bei der ICT einmal absah. Dort hatte sie sich nämlich als Journalistin ausgegeben, die sich an die erbetene Zurückhaltung zwar halten, dennoch sich über den augenblicklichen Stand der Dinge mal © S. Remida
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wieder informieren wollte. Schon, wie man auf ihre Frage reagiert hatte, bestätigten ihr Sinias Befürchtung, dass die Sache vertuscht werden solle, und wenn Marion auch nichts in Erfahrung bringen konnte, so ließ sich doch nichts Gutes ahnen. Noch bevor man sie an den obersten Boss weiter verbunden hatte, hatte Marion den Hörer eiligst aufgelegt. Als sie dann den Anruf Sinia beichtete, war diese zwar nicht gerade begeistert, aber von der Reaktion der ICT auch nicht überrascht gewesen. Sie wußte aus ihrer Bonner Quelle, dass die Verhandlungen stagnierten, was aber für die Verschleppten keine unmittelbare Lebensgefahr zu bedeuten schien. ****** Es war ein sonniger Samstagmorgen und Sinia saß mit ihren Kindern beim gemütlichen Frühstück, als das Telefon läutete. Es war Gerber, der sich mit zuckersüßer Stimme nach ihrem Befinden und das ihrer Kinder erkundigte und feststellte, dass sie sich schon lange nicht mehr gemeldet habe und wo sie denn dauernd sei, da sie seit Tagen nicht zu erreichen wäre. Sinia antwortete vorsichtig, dass sie versuche, sich an seinen Rat zu halten und mit ihren Kindern viel unternähme. Ob es denn etwas Neues gäbe? „Freut mich, dass Sie meinen Ratschlag befolgen. Ich wollte mich auch nur mal wieder melden, damit Sie sehen, dass wir stets für Sie da sind! Wir haben übrigens aus sicherer Quelle Informationen, dass es unseren Leuten gut geht und ihre Freilassung nur noch eine Frage der Zeit ist. - Äh, reden Sie noch mit anderen über Ihren Mann?" Sinia spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoß. Diese nichtssagende Auskunft war also nur ein Vorwand. Ahnte er etwas? Sie riß sich zusammen. „Endlich mal eine gute Nachricht, danke! Ich verstehe nur Ihre Frage nicht, Sie wissen doch, wie ich Chris Fortbleiben erkläre!" „Ach ja! Das will ich auch hoffen! Wissen Sie, bei uns hatte sich eine Reporterin, die es gar nicht gibt, nach dieser Sache erkundigt. So etwas kann - wie Sie wissen - alles gefährden!" Gerbers Stimme hatte einen messerscharfen Unterton bekommen. Sinia tat verwundert, während ihr Herz im Hals schlug. Mit der Warnung auch künftig nichts Unüberlegtes zu tun, verabschiedete sich der Anrufer. Die Kinder saßen noch immer vergnügt am Tisch, die Sonne durchflutete noch immer mit ihren warmen Strahlen die Wohnung und das fröhliche Vogelgezwitscher drang noch immer durch das schräggestellte Fenster, nur Sinia war nicht mehr die ruhige Mutter von vorhin. Sie war am Boden zerstört. Zitternd setzte sie sich an den Tisch und fühlte die Angst in ihr nagen. Wie verabredet, stand Sinia um fünfzehn Uhr vor Alis Tür. Er öffnete und sah sie entsetzt an. „Was ist passiert?" Sinia kämpfte mit den Tränen. „Ich, ich wollte dir nur sagen, dass ich nicht mehr komme. Und hier, das ist für deine Mühe!" Ali sah sie fassungslos an und wollte wissen, was geschehen war. „Es hat doch keinen Sinn! - Es war eine blöde Idee von mir... Ich habe ja viel zu viel Angst... Ich kann mich nicht mit denen anlegen, - und ich werde nie diese idiotische Sprache lernen! Wofür auch?" Sinia holte tief Luft und lehnte sich an den Türrahmen. „Tut mir leid, entschuldige! Du bist wirklich ein feiner Junge. --- Leb wohl." Ali griff nach ihrem Arm. „Erst wenn ich weiß, was das alles soll! Los, raus mit der Sprache!" Er sah sie scharf an. „Meine Kinder, sie warten unten im Auto. Laß mich los!" Sinia versuchte, sich seinem Griff zu entwinden. „Ich muß wieder runter! Du tust mir weh! Versteh doch, ich brauche dich nicht mehr!", schrie sie hysterisch. Ali ließ sie abrupt los. „Das, das glaube ich dir nicht“, sagte er atemlos. „Ich mach dir einen Vorschlag." Er rüttelte sie, als könne er damit ihre Panik abschütteln. „Bleib stehn! Hör zu! Wir fahren irgendwo hinaus, da können deine Kinder herumrennen und du überlegst dir, ob du mir wirklich nichts erzählen willst!" Er sah sie aufmunternd an. „Okay? Ich bin immer noch dein Freund und wenn du © S. Remida
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willst, werde ich dir helfen, so gut ich kann. Egal um was es geht. Versprochen! Und steck dein Geld wieder ein!" Sinia schüttelte ungläubig den Kopf. „Du mußt verrückt sein! Ich war so gemein..." Tränen der Hilflosigkeit rannen über ihre Wangen. „Schon gut, es wird alles gut! Komm, gehn wir!" Ali reichte ihr ein Taschentuch, dann legte er seinen Arm um ihre bebenden Schultern und führte sie hinaus. Sinia ließ ihn fahren, während sie sich um ihr seelisches Gleichgewicht bemühte. An einem am Waldrand gelegenen Spielplatz hielt er an. Und während die Kinder über das Gelände tobten, saß er mit Sinia auf einem gefällten Holzstamm und hielt ihre eiskalten Hände fest in seinen warmen. Nach und nach erfuhr er alles und konnte das Verhalten des Unternehmens kaum glauben. Schließlich stellte er fest, dass sie nicht alles hinwerfen dürfe. „Auch wenn du es nicht brauchen wirst, dieses Ju Jutsu und das Auseinandersetzen mit meiner Kultur und Sprache lenken dich ab und außerdem will ich nicht, dass du wegen so ein paar Banditen das arabische Volk für Barbaren hältst!" Aufmunternd lächelte er ihr zu. „Und was diese ‚idiotische‘ Sprache betrifft, so schwierig ist sie nun auch wieder nicht. Hm, hm, mir wird schon noch was einfallen, wie du sie leichter lernen kannst!" Sinia lächelte unsicher. „Du bist wirklich ein echter Freund. Glaub mir, ich wollte dich nie beleidigen, ich wollte dich nur nicht da hineinziehen. Und jetzt“, - sie holte tief Luft – „Oh, Gott..!" Ali zog sie vom Baumstamm hoch und hinter sich her. „Komm! Vergiss das jetzt! Laß uns noch etwas mit den Kindern spielen!“ Den dreien rief er zu: „He, wer will mit mir das Gerüst hochklettern!" Die Sonne war bereits am Untergehen, als sie zu Alis Wohnhaus zurückkehrten. Sinia stieg mit ihm aus, um auf dem Fahrersitz Platz zu nehmen. Als sie sich draußen trafen, hielt er sie fest. „Ich habe darüber nachgedacht. So dumm ist deine Idee gar nicht. Es muß nur alles gut durchdacht sein, ich meine, wie es am wirkungsvollsten ist! Na ja, aber jetzt fahr erst mal heim, wir reden ein andermal darüber. Danke für den Nachmittag, gute Nacht und - Kopf hoch!" Er zwinkerte ihr zu und winkte den Kindern, bevor er auf die Haustür zuschritt. "Der war aber nett!", bemerkte Nadine auf der Heimfahrt und Anja wollte wissen, wann sie den netten Ali mal wieder zum Spielen abholen würden. Andy war schon eingeschlafen und nach seinem Gesichtsausdruck in einen glücklichen Traum versunken. ******** Unter der Woche verbrachte Sinia den größten Teil des Vormittages in der Budoschule, wo sich immer ein Fortgeschrittener fand, dem es schmeichelte, ihr einen speziellen Trick oder Griff beibringen zu können. Der unerträgliche Muskelkater der ersten Woche war fast verschwunden und Sinia war überrascht, wie bald sich ihr Körper an die ungewohnte Belastung gewöhnt hatte und Geschmeidigkeit und Reaktion zunahmen. Die Nachmittage gehörten dem Erlernen des Arabischen. Inzwischen traf sie sich mit Ali bei einem älteren persischen Teppichhändler, der nach ihrer Überzeugung, magische Fähigkeiten besitzen mußte. In einem über und über mit Teppichen ausgelegten und behängten Nebenraum versetzte er Sinia bei gedämpften Licht und leichten Räucherdüften in eine angenehme und hellwache Bewußtseinsebene, die es ihr erlaubte, sich ganz auf Alis Unterweisungen zu konzentrieren. Nicht nur wichtige Wörter und einfachste Sätze, sondern auch die islamische Religion, Kultur und die Eigenheiten des arabischen und insbesondere des irakischen Volkes lernte sie nach und nach in groben Zügen kennen. Vieles versuchte er ihr in Englisch zu erklären und hielt sie an, auch in dieser Sprache sich mit ihm zu unterhalten. Selbst die Wochenenden verbrachte Sinia gemeinsam mit ihren Kindern zum größten Teil mit Ali. Sie holte ihn morgens ab, um bei gemeinsamen Unternehmungen sich in den beiden Fremdsprachen zu üben. Dazwischen arbeiteten sie immer wieder neue Schlachtpläne aus, diskutierten und verwarfen, © S. Remida
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was nicht realisierbar erschien. Währenddessen achtete Sinia genau darauf, sich, wenn auch in immer größer werdenden Abständen, bei der ICT zu melden. Verlangte sie am Anfang noch nach Gerber, so begnügte sie sich inzwischen mit den Auskünften der Telefonistin, was dort wohl mit gewisser Zufriedenheit zur Kenntnis genommen wurde. Volker Maier aber blieb weiter ihre einzige und zuverlässigste Quelle. Ali und vor allem der Teppichhändler ließen ihre Beziehungen spielen und schließlich hatten sie jemanden, der in Syrien als Kontaktperson für Sinia zur Verfügung stehen würde. Wenige Tage später erwartete ein fremder älterer Herr beim Teppichhändler Sinias Eintreffen. Im schweizer Dialekt bot er seine Hilfe an. Von einem in Ungnade gefallenen ehemaligen Mitarbeiter der irakischen Regierung wisse er um deren mit Staatsgeldern finanzierte immens hohen heimlichen Beteiligungen an ausländischen Unternehmen. Mit der Androhung einer Veröffentlichung dieser Liste oder mit Sabotageaktionen auf jene Unternehmen könne man diesen Safar mitsamt der Regierung unter Druck setzen, in dem Entführungsfall erfolgreich zu intervenieren. Sowohl die Größenordnung des eingesetzten Geldes, als auch die exklusive Liste der anscheinend ahnungslosen Firmen überzeugten Sinia, das Angebot des, sich als Herr Carli vorgestellten, Schweizers zum Bestandteil ihres Planes zu machen. Um Einzelheiten über Rashid Safar und seine nächste Umgebung zu erfahren, drängte Sinia auf ein Treffen mit dem geheimnisvollen Ex-Mitarbeiter, bis schließlich der Schweizer eine Zusammenkunft organisierte. Nur von Ali begleitet, brachte Herr Carli Sinia in seiner BMW – Nobelkarosse nach Genf. Dort mußten sie in eine amerikanische schwarze Limousine mit verdunkelten Scheiben umsteigen. Weder Sinia noch Ali durfte erfahren, wohin die Fahrt ging. Sie spürten nur, dass das Auto irgendwann eine steile Serpentine hinauf gesteuert wurde. Sinia hatte ein mulmiges Gefühl und war nur froh, dass Ali bei ihr war. Schließlich durften sie den Wagen verlassen und standen in einer Garage. Von da ging es durch einen prunkvollen Gang in einen riesigen Salon. Sinia fühlte sich wie in einem orientalischen Märchenschloß aus ‚Tausend und einer Nacht‘. Schwere, golddurchwirkte Brokatvorhänge spannten sich wie Wolken über die gesamte Raumdecke oder hingen teils gerafft bis zum Boden und unterteilten so die mit glänzenden Kostbarkeiten überladene unübersichtliche Halle. Aus dem Hintergrund löste sich eine in grau gekleidete unscheinbare Gestalt, die sich beim Näherkommen als ein alter, hagerer Mann mit einem zerfurchten Gesicht entpuppte. Mit seinen schwarzen, Furcht einflößenden Augen musterte er Sinia eindringlich, während er Herrn Carli in einem hart klingenden Französisch begrüßte. Dann wandte er sich an Ali und umarmte ihn in der für Orientale überschwenglichen Art mit dem obligaten Kuß. In einem melodischen Arabisch unterhielt er sich leise mit Ali. Dann richtete er sich an Sinia, die kein Wort der Unterhaltung verstanden hatte, und bat sie auf Englisch ihm zu folgen. In einer entfernten Ecke forderte er sie auf, auf dem mit weichen edlen Seidenkissen ausgelegten Boden Platz zu nehmen. Nun durfte sie ihre Fragen über Rashid, seine Lebensgewohnheiten und Umgebung stellen. Seine Antworten waren präzise und seine Ausführungen von beeindruckender Genauigkeit. Mit detaillierten Skizzen, insbesondere von Rashids Residenz und seinen sonstigen Aufenthaltsorten, vervollständigte er seine Angaben und war stets darauf bedacht, dass Sinia auch alles verstand. Nach gut zweieinhalb Stunden meinte er, ihr alles wesentliche gesagt zu haben und zündete sich genüßlich eine Pfeife an. Aus schmalen Augen musterte er sie. „Sie werden es aber nicht wagen!", stellte er schließlich fest. „Wenn es nötig sein wird! - Deshalb bin ich ja hier!" „Sie sind hier, weil ich die Person, die auf eine so verrückte Idee kommt, kennenlernen wollte. Ich gebe Ihnen einen guten Rat, halten Sie sich an die Firma, drohen Sie den Leuten mit dem Publizieren, insbesondere ihrer verächtlichen Verhandlungstaktik und scheuen Sie sich nicht, wenn nötig, es © S. Remida
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auch zu tun. So haben Sie eine echte Chance! Aber gehen Sie zu Safar, werden Sie nicht mehr dieselbe sein wie heute. Alles ist möglich! - Auch dass er Ihr Spiel mitspielt! Aber Sie, Sie werden in jedem Fall verlieren!" Er stand auf. Sinia sah ihren Gegenüber mit runzelnder Stirn an. „Wie verlieren? Was?" „Ich habe Sie gewarnt!", sagte er kalt, drehte sich um und ging zu Herrn Carli, sprach kurz mit ihm und verschwand dann mit einem knappen Nicken zu seinen Gästen hinter einem schweren Vorhang. Bald darauf waren sie wieder auf dem Weg nach Hause. Sinia hatte immer noch eine Gänsehaut, die die beängstigend orakelnde Stimme des Arabers bei ihr hinterlassen hatte. ******** Fast drei Monate war die Entführung schon her, als Sinia nachts um zwanzig vor drei von hartnäckigem Telefongeklingel geweckt wurde. Es war Volker Maier, der soeben neue Informationen erhalten hatte und sehr aufgeregt klang. „Seit heute nacht halb zwölf haben wir von der somalischen Regierung Mitteilung, dass die Entführer nicht weiter verhandeln wollen und nach Ablauf eines letzten Ultimatums die Erschießung der ersten Geisel unmittelbar bevorstehen soll!" Sinia bekam keine Luft. „Was? Nein! Was tut ihr jetzt?" „Bleiben Sie ruhig! Hören Sie zu! Unsere Leute haben über zweieinhalb Stunden mit den Amerikanern und dem ICT- Konzern beraten. Vielleicht bluffen die nur, scheinen aber zu wissen, dass einer unter den Gefangenen ein CIA-Agent ist, nur nicht wer! Er soll zuerst dran glauben. Aber die Amis brauchen ihn noch - lebend. Man will jetzt über einen Waffenhändler einen Tausch versuchen und so das Ultimatum doch unterlaufen. Sie verstehen?" Sinias Stimme klang rauh. „Ja! Das heißt Folter und Tod für die Geiseln! Oh, Gott, Chris!" Sie atmete gehetzt. „Wahnsinn, Waffen für die! Und wenn es nicht klappt?" „Ruhig, Frau Martin, ganz ruhig, wir gewinnen erst mal ein paar Tage. Das ist schon was. Ich dachte nur, sie sollten das schon mal wissen, ehe sie irgendwas von anderer Seite hören!“ „Ja, das ist richtig, danke, Herr Maier! Wenn ich nur irgendwie helfen könnte!“ „Glauben Sie mir, wir werden nichts unversucht lassen! Aber vielleicht klappt ja das, was die Amis vorhaben. Ich muss Schluss machen! Ich melde mich wieder! Noch ist nichts verloren!" Sinia war hellwach. Sie fühlte, dass sie jetzt handeln mußte! Ihr Blick wanderte zu Rashids Bild, das aus einem Buch herausgeschnitten auf den Nachttisch lag. Inzwischen war es ihr so vertraut wie ihr Spiegelbild. Und jetzt schien er aus der Fotografie sie sogar gespannt anzugrinsen, als wolle er sagen: Na, traust du dich her? Ja, verdammt, ich versuch' s! ****** Der Tag neigte sich dem Ende und Sinia bog zum letzten Mal in die Straße zum Bodoclub ein. Gleich morgens hatte sie Dan Thomson telefonisch erklärte, dass sie ab sofort nicht mehr komme und ihre Mitgliedschaft kündigen wolle. Ob sie denn aufgebe, oder gar schon meine, alles Wesentliche zu beherrschen, war seine höhnische Reaktion. Ihre Antwort, leider fehlte ihr bisher eine Gelegenheit letzteres festzustellen, aber das sei jetzt ihr Risiko, hatte ihm denn doch fast die Sprache verschlagen. Schließlich hatte er sie gebeten, wegen der Formalitäten heute abend noch einmal vorbeizukommen. Zwischen den abgestellten Autos suchte sie nach einer Parklücke. Sie fühlte sich abgespannt. Hinter ihr lag ein aufreibender Tag. Mit Ali und dem Teppichhändler hatte sie die letzten Feinheiten ihres Planes durchgesprochen, den Flug ab Frankfurt auf schon morgen früh gebucht und ihre Tasche gepackt. Schließlich fand sie in einiger Entfernung zum Budoclub eine Parklücke. Mit den Gedanken bei ihren Kindern und dem bevorstehenden Flug, ging sie die Straße entlang, nahm die Abkürzung über © S. Remida
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einen Firmenvorhof und bemerkte viel zu spät die paar Typen, die in einer dunklen Ecke herumlungerten. Schon kamen die vier auf sie zu. „He Kleine, ganz allein? Weißt du nicht, wie gefährlich das ist?", machte sich einer mit Irokesenschnitt beim Näherkommen lustig und ein anderer mit kahl rasiertem Schädel weiter: „Vielleicht sollten wir sie begleiten!" Schon hatten sie Sinia eingekreist. Sie wirkten furchteinflößend in ihrer schwarzen Lederkluft, derben Stiefeln und mit ihren behängten blitzenden Eisenketten, die bei jeder Bewegung gefährlich rasselten. Sinia kannte so was nur von Filmen. Schockiert stand sie nun der Wirklichkeit gegenüber. „Laßt mich in Ruhe!" „Eh, was sagt man denn dazu, die will unseren Schutz nicht!", stellte der dritte, ein langmähniges Urvieh, fest. "Sicher überlegt sie sich's, wenn sie weiß, was wir für diesen Service verlangen!" "Ja, ein echter Sonderpreis..." "Jeder darf mal...", mischte sich nun der vierte, ein Riese mit Raspelschnitt, ein. „Verpißt euch endlich!", fauchte Sinia dazwischen und schubste den Irokesen vor sich auf die Seite. Der langmähniger Schmuddeltyp neben ihr griff brutal ihren Oberarm und zischte: „Bildest dir ein, dir kann nichts passieren?" „Du weißt, wohl nicht, mit wem du es zu tun hast!", kam der 'Irokese' ganz nah an sie heran. „Ihr genauso wenig! Laß mich los!", schrie sie zornig. Angst und Wut hielten sich die Waage. Der vor ihr lachte boshaft. "Baby, du brauchst wohl eine Kostprobe!" „Das denk' ich auch!", antwortete Sinia und trat mit aller Kraft ihrem Gegenüber in den Unterleib, dass er ihr schon fast leid tat. Während der Irokese sich auf dem Asphalt wand, hatte sie mit einer schnellen Drehung den Langhaarigen über ihre Schulter geworfen und in die Seite getreten. Die beiden übrig gebliebenen stürzten sich auf sie. Sinia griff den Kahlkopf, warf sich rückwärts auf den Boden und ließ ihn mit einem gekonnten Tomenage über sich fliegen. Schon hatte sie sich über ihn gedreht und würgte ihn, dass er nach Luft schnappte. Von hinten riß der Riese sie hoch. Sinia sah, wie sich die ersten beiden wieder hochrappelten und auf sie zuwankten. Ein schneller Dreher und ihr Ellenbogen traf hart hinter ihr die Magengrube des vierten Angreifers. Der Langhaarige kam jetzt mit einem geöffneten Klappmesser näher. Wie sie es gelernt hatte, versuchte sie ihn abzuwehren. Bei einem kurzen Handgemenge landete schließlich ihre Faust auf seiner Nase, dass ihr die Hand schmerzte. Erneut zerrten zwei der Angreifer an ihren Armen und versuchten sie zu überwältigen. Sie trat um sich, kratzte und biß und schaffte es irgendwie, freizukommen. Mit schnellem Griff entriß sie einem seine Eisenkette und wirbelte sie vor sich herum. „Noch nicht genug? Haut endlich ab!", keuchte sie atemlos und wich Schritt für Schritt zurück Richtung Clubhaus. „Schon gut!", hob beschwichtigend der mit dem Irokesenschnitt seine Hände. „Wir erwischen dich ein anderes Mal, aber dann richtig! Zicke!!" Der Abstand war jetzt groß genug. Sinia drehte sich um und sprintete zum Clubeingang. Unterwegs ließ sie die Kette fallen. Die Halbstarken blieben mit Drohrufen zurück. Mit letzter Kraft riß sie die Eingangstür auf und suchte schwer atmend Halt an der Wand, während die Pforte von dem Schwung laut in das Schloß zurückfiel und die Aufmerksamkeit der umstehenden Clubmitglieder erregte. "Was ist denn mit dir passiert?", kamen gleich ein paar junge Leute zu ihr. "Ich hatte gerade meine erste Schlägerei!" Was? Wo? Wann? Mit wem? Sogleich stürmten von allen Seiten Fragen auf sie ein. Jemand rief sogar, man müsse die Polizei holen. Dan Thomson schob sich durch die aufgebrachte Menge. "Was soll der Aufstand! Sieh da, die Martin!" Er taxierte sie aufmerksam. "Gab's Probleme?" Als einige für sie antworten wollten, gebot er ihnen mit einer Handbewegung zu schweigen. "Ich habe Sie gefragt! Also?" © S. Remida
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Wie zuwider er ihr war! Sie warf ihre Haare zurück und blitzte ihn an. "Nur ein paar Ledergrufties. Ich hab sie etwas aufgemischt!" "Naja, war wohl nicht so wild, bißchen außer Atem vielleicht!", stellte Dan lapidar fest. "Also regt euch wieder ab, Leute!", wandte er sich an die Umstehenden um. Sinia riß ihn am Arm. "He, da draußen lungerten vier Typen rum! Die haben mich angegriffen! Einer hatte sogar ein Messer! Das war kein Spaß! Hör also endlich auf, dich über mich lustig zu machen!" Sie suchte in seinem Gesicht nach zumindest einem Anflug einer mitfühlenden Regung. "Du bist über den Firmenhof gekommen? Da treibt sich wie ihr alle wißt ab und an Gesindel rum und wie oft habe ich vor dieser Abkürzung schon gewarnt? Na, Martin?" Sinia wußte nicht mehr weiter. Er hatte ja recht! Resigniert versuchte sie zu erklären: "Hier war doch kein Parkplatz mehr frei..." Zitternd wischte sie sich mit ihrem Ärmel über das Gesicht und bemerkte erst jetzt, dass ihre Kleidung verschmutzt und ihr Blazer sogar einen Riß hatte. Sie war den Tränen nahe. "Jetzt beruhige dich erst mal. Komm mit in mein Büro!", forderte Dan sie kühl auf. Sinia folgte ihm in sein Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen. Gegenüber in der Sitzecke hatten es sich drei junge Männer mit je einer Bierflasche bequem gemacht. Einer war mit einem Jeansanzug, die beiden anderen mit T-Shirts, Turnschuhen und - schwarzglänzenden Lederhosen bekleidet. Sahen sie auch recht manierlich aus, zwei mit ihren glatt gekämmten feuchten Haaren und ein freundlich grinsender Glatzkopf, erkannte Sinia zu ihrem großen Schreck in dem einen doch den 'Irokesen' und auch die anderen zwei als ihre Angreifer wieder. „Das, das sind sie!", stammelte sie. "Hi, Danni!", begrüßten sie den Budoleiter wie einen alten Bekannten. "Hallo, Kleine! Alles okay?", winkten sie fröhlich Sinia zu und richteten sich wieder an Dan. "Hattest uns gar nicht gesagt, dass die Kleine was von Judo versteht, oder was das war! Franz ist übrigens heim, um seine blutige Nase zu pflegen. Gehört Umsichschlagen, Kratzen und Beißen eigentlich auch zu deinem Trainingsprogramm?" Dabei zeigten sie umständlich ihre diversen Blessuren. Sinia kam langsam näher. Dan grinste sie an und antwortete den dreien: "Wenn es seinen Zweck erfüllt, ist alles erlaubt!" "Soll das heißen, dass du...?", fragte Sinia ungläubig. "War das nicht das, was du wolltest? Deine Fähigkeiten mal unter realen Bedingungen testen? Jetzt hattest du die Gelegenheit ohne selbst gefährdet gewesen zu sein. Vielleicht solltest du dich mal bei den Jungs bedanken, dass sie sich kurzfristig bereit erklärt haben, das mitzumachen!" Und mit einem Seitenblick fügte er hinzu: "Ohne zu ahnen, was ihnen blühen würde! – Und? Wie sind ihre Überlebenschancen in den Bronks?" richtete er sich witzelnd an die vermeintlichen Schläger. "Will sie etwa da hin?", fragte einer entgeistert zurück. Der Riese hob seine Schultern. "Na ja, wenn sie nicht sagt, dass sie bißchen Judo kann, könnte sie schon ein paar Überraschungsminuten gewinnen - um bei der ersten Gelegenheit möglichst schnell versuchen abzuhauen!" "Danke, dann weiß ich ja Bescheid! Übrigens, tut mir leid, dass ihr dran glauben mußtet. Ich schick euch ein paar Mullbinden!", erklärte Sinia. "He, was sagt man dazu, erst müssen wir uns von ihr zusammenschlagen und jetzt noch auf den Arm nehmen lassen!" Sinia hatte keine Lust auf ein Gespräch mit den dreien. Sie wollte ihre Kündigung mit Dan abklären und dann endlich heim. Thomson winkte ab. "Vergiß es! Du willst mir nicht sagen, warum du jetzt aufhörst?" Sinia schüttelte den Kopf. Dan zuckte die Schultern. "Tja, hoffentlich hat es dir was gebracht!" "Man wird sehn! Also dann Tschau und danke - auch euch!", sagte Sinia und fingerte aus ihrer engen Hosentasche zwei grüne Scheine. "Hier! Wird reichen für 'nen Kasten Bier als Entschädigung für euch und euren Kumpel!" Sie rieb sich ihre rechte Hand. "Ich muß ihn doch ganz nett erwischt haben!" "Nicht nötig, hast ja dabei auch gelitten!", erklärte einer und sah sie von oben bis unten an. © S. Remida
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"Schon okay", winkte Sinia ab. "Solange mir nie mehr passiert!" "Kommst du mal wieder vorbei!", erkundigte sich Dan. "Vielleicht, - zum Schnellkurs für Fortgeschrittene!", lächelte Sinia. "Paß auf dich auf, ja?", sagte Dan freundlich. Sinia nickte und schloß mit einem "So long!" hinter sich die Tür. Das war die erste nette Bemerkung von Dan! Am Hinterausgang begegnete sie Dan's Frau. Nur selten ließ sich die Thailänderin hier blicken. Sinia war immer wieder von ihrer asiatischen Schönheit beeindruckt. "Dan sagte mir, Sie hören auf?", sprach sie Sinia zum ersten Mal an. "Äh, ja!", antwortete Sinia überrascht und dachte bei sich, wie kommt nur so ein aufgeblasener Kerl an diese zauberhafte Frau. Als hätte sie ihre Gedanken erraten, lächelte sie sanft: "Dan tut nur so, aber er ist alles andere als ein Macho! – Aber er wird auch nicht der Grund sein?“ „Nein, Sie haben recht, er hat damit nichts zu tun.“ Geheimnisvoll lächelnd sagte sie: „Sie werden sich nicht unterkriegen lassen! Ich wünsche ihnen alles Glück!" Die zierliche Frau verneigte sich nach ihrer Sitte vor Sinia und reichte ihr zum Abschied die Hand. Über die letzten Worte der Thailänderin grübelnd, verließ Sinia das Gebäude und fuhr zu Marion und deren Mann, wo ihre Kinder ab jetzt blieben, bis sie wieder zurückkommen würde. In dieser letzten Nacht lag sie von unzähligen Ängsten gequält wach neben ihren beiden Töchtern auf einer breiten Liege. Nadine hatte sich eng an sie gekuschelt und schlief zufrieden im Arm ihrer Mutter. Wann würde sie ihren Kindern wieder so nah sein können? Würde sie es überhaupt noch einmal? Sie zog ihre Tochter an sich und streckte ihre Hand nach Anja aus, um sie zu berühren. Doch es gab keine Magie, die die Zeit anhalten oder ihr das Bevorstehende ersparen konnte. Und die Nacht regnete einem trüben Morgen entgegen....
© S. Remida
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Kapitel II
Mit einer langgezogenen Kurve, die einen herrlichen Blick auf Damaskus freigab, begann das Flugzeug mit seinem Sinkflug auf den Airport der syrischen Hauptstadt. Die typischen Kuppelbauten und Minarette mit ihren schlanken Türmen, die gleißend weiß getünchten Häuser und modernen Hochbauten der City zogen Sinia in ihren Bann und augenblicklich waren alle Zweifel und bedrückenden Gedanken verschwunden, die sie auf dem langen Flug nicht loslassen wollten und besonders den deprimierenden Abschied ihr immer wieder vor Augen geführt hatten: All die noch aufgekommenen Bedenken und Befürchtungen der Schwägerin und das unverhohlene Unverständnis im letzten Blick des Schwagers, die sorgenvollen Fragen ihrer beiden Mädchen, ob sie wiederkäme und wann und warum sie nicht einfach mitkönnten. Selbst Andy schien gespürt zu haben, dass dies kein Abschied war, wie er ihn bisher kannte. Heulend hatte er sich an Sinia geklammert, seine kleinen Ärmchen fest um ihren Hals geschlungen und sich schreiend gewunden und gewehrt, als ihn seine Tante schließlich übernahm... Als Sinia wenig später aus dem klimatisierten Passagierraum auf die Gangway hinaustrat, fühlte sie sich von der Hitze, die ihr entgegenschlug, wie betäubt. Die riesige Empfangshalle war von dem geschäftigen Treiben unzähliger Menschen erfüllt. Zwischen den in ihren langen Gewändern gekleideten Einheimischen mischten sich europäisch gekleidete Leute und dazwischen überall Kinder jeden Alters, die meisten dunkelhäutig mit pechschwarzem Haar. Geduldig ließ Sinia die Zollformalitäten über sich ergehen, ehe sich das fremdartige Land für sie öffnete. Fasziniert betrachtete sie minutenlang das exotische Bild, das sich ihr nun bot, bevor sie schließlich mit ihrer Reisetasche die Information aufsuchte, dem vereinbarten Treffpunkt mit dem arabischen Kontaktmann. Sie sah sich suchend um. „Mrs. Martin?", hörte sie hinter sich eine dunkle Stimme und drehte sich um. Vor ihr stand ein schlanker braunhäutiger Herr mit schwarzem Kraußhaar, kaum einen halben Kopf größer als sie und wohl etwas älter, was aber schlecht zu schätzen war. Sein eleganter grauer Anzug unterstrich sein kühl distanziertes Auftreten, das mehr mit einem nüchtern berechnenden Geschäftsmann als dem erwarteten vertrauensvollen Partner gemein hatte. Die Urlaubsstimmung, die der erste Eindruck dieser fremden Welt in ihr geweckt hatte, wich wieder der Furcht vor dem Ungewissen. "Ich bin Abdul El Basan. Bitte kommen Sie!", sagte der Fremde steif in perfektem Deutsch. Wortlos steuerte El Basan seine schwere Limousine durch den dichten Mittagsverkehr in den meist viel zu schmalen Straßen. Er wirkte so unnahbar, dass Sinia nicht wagte, ihn anzusprechen. Zutiefst enttäuscht über die Wahl ihres Partners, von dem sie nicht mehr als den Namen gekannt hatte, erwartete sie keine große Hilfe von ihm und leise nagte die Unsicherheit in ihr weiter. Schließlich bog er in eine Tiefgarage ein, über der sich ein verglastes Hochhaus erhob, in dem sich die ebenbürtige elegante Architektur der Nachbargebäude widerspiegelte. Ein klimatisierter Lift führte in ein Appartement der oberen Stockwerke, das in edlem dunklen Holz sparsam eingerichtet war, was ihm eine funktionale Atmosphäre verlieh.
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„Dort können sie sich frisch machen", sagte El Basan und wies auf eine der schweren dunklen Holztüren. „Oh ja, danke! Dann kann ich mir auch gleich die Haare färben!" „Wie Sie wollen!" Sinia ging mit ihrer Tasche in das geräumige Badezimmer. Hier gab es kein Fenster, dafür aber jede Menge Lichter und eine Wandseite war zur Hälfte zimmerhoch verspiegelt. Wie sie es zuhause geübt hatte, färbte sie ihr blondes Haar behände in einen warmen Braunton um und schminkte sich neu, dann kühlte sie ihre verschwitzte Haut mit kaltem Wasser und tauschte T-Shirt und Jeans gegen eine weiße Bluse und einen braunen wadenlangen Rock. Als sie zwanzig Minuten später vor El Basan stand, konnte sie an seinem überraschten Gesicht ablesen, dass ihre Verwandlung gelungen war. „Ja, so kenne ich Sie als Katrin Steiger von den Passfotos, die ich erhalten habe!" Das war aber auch schon sein ganzer Kommentar. Dann ging er vor in den angrenzenden, nur mit einer kunstvollen Holzbalkenkonstruktion abgetrennten Raum, in dem Sinia nun einen üppig gedeckten Tisch ausmachen konnte. „Sie werden Hunger haben. Ich habe ein paar Kleinigkeiten vorbereiten lassen, bitte!", sagte er knapp und wies Sinia näher zu kommen. Sie folgte zögernd und setzte sich auf den von El Basan bereitgehaltenen Stuhl. Er setzte sich ihr gegenüber und schnippte mit den Fingern, worauf ein Neger in weißem Livree erschien und die silbernen Hauben von den Platten nahm. Während der Schwarze nun geschickt begann, die Teller mit stets anderen Kostproben eines kulinarischen Querschnittes der arabischen Küche zu belegen, stellte El Basan ihr die Namen und Zusammensetzung der einzelnen Gerichte vor. Dazu gab er Empfehlungen, welche Speisen eher zu meiden und welche ihren Ernährungsgewohnheiten ähnlich und daher zu bevorzugen seien. Schließlich hatte Sinia auch diverse Süßspeisen und Früchte gekostet und erleichtert abgewunken, als er feststellte: "Das war's! Sie dürfen aber gerne nachnehmen!" El Basan machte es sich auf einer schwarzen Ledercouch bequem und rauchte genüsslich eine Pfeife. Der Diener räumte flink den Tisch ab und verschwand unauffällig hinter einer Tür. Auch Sinia war aufgestanden und ging zu der zimmerhohen Fensterfront, die von einer bodenlangen edlen Gardine mit gleichmäßig geschwungenen Falten etwas kaschiert wurde. Durch die getönten Scheiben blickte sie hinunter auf die belebte Straße und versuchte ihre Gefühle zu ordnen. „Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen die Stadt", bot El Basan an. Zwar hätte Sinia lieber etwas über den Plan ihrer Weiterreise erfahren, aber das Angebot war auch verlockend, zumal sie sicher nie wieder hierher kommen würde. „Ja, gerne!" El Basan war ein guter Fremdenführer und stolz auf seine Stadt. Sicher lenkte er seinen Wagen durch überfüllte Gassen und breite Boulevards, vorbei an wohl allen bedeutenden Bauten der alten und neuen Zeit, um deren Geschichte er bestens Bescheid wusste und führte sie zügig durch das, was er für sehenswert erachtete. Nach einer Erfrischungspause durchstreiften sie einen Basar, wo er geschickt eine Kette erhandelte. Ihr Anhänger bestand aus einem goldenen Dreieck, in das schräg versetzt ein trapezförmig geschliffener, in allen regenbogenfarben schimmernder Opal eingesetzt war. Beiläufig reichte er das Schmuckstück Sinia weiter. „Ein Souvenir, es soll Ihnen Glück bringen", bemerkte er dazu. Sinia bedankte sich erstaunt und betrachte das modisch schlichte Schmuckstück genauer. Der Edelstein schien auf einer Seite und unten messerscharf zugeschliffen und in die Goldfassung wie in einen Schaft hineingeschoben worden zu sein. An der gegenüberliegenden Seite fixierten zwei winzige goldene Greifer den irisierenden Stein in seiner leichten Schräglage. Sinia legte sich die Kette um und wollte noch einmal danken, aber El Basan ließ sie mit einer abwehrenden Handbewegung verstummen. Beim Auto angekommen erklärte er kurz, dass sie nun zum Helikopter fahren müssten. Abseits von den Halteplätzen der großen Passagiermaschinen standen auf dem Flughafenareal einige Sportflugzeuge und Hubschrauber. Zu einem davon führte El Basan, in einer Hand Sinias Reisetasche, seinen ausländischen Gast. Der einheimische Pilot saß bereits auf seinem Platz und warf © S. Remida
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einen neugierigen Blick auf Sinia. Nachdem sie sich angeschnallt hatten, bedeutete El Basan dem Piloten mit einem kurzen Wink, zu starten. Sinia war noch nie in einem Hubschrauber geflogen, und entsprechend ängstlich und unwohl fühlte sie sich. Kaum einen Blick wagte sie hinab auf das wechselnde Aussehen der Landschaft zu werfen, obwohl sich ihr eine ungewöhnliche Aussicht bot auf das sich nordöstlich von Damaskus entlang ziehenden Gebirge und die schier unendliche öde Wüstenlandschaft, nur selten von grün auftauchenden Oasen unterbrochen, bis schließlich die fruchtbaren breiten Ufer des Euphrat erschienen, der wie eine silberglänzende Schlange gemächlich dahinfloss. Nach nicht ganz vierhundertvierzig Kilometern senkte sich der Helikopter mit dem Heck leicht nach unten gedrückt auf eine staubige Landefläche nahe von Abu Kamal, einem größeren Ort unweit der Grenze zum Irak. Sogleich zerrte El Basan Sinia hinaus zu einem abseits abgestellten klapprigen Jeep, während hinter ihnen der Motor des Hubschraubers knatternd verstummte. Kein Mensch war auf den Straßen, die sie durchfuhren, zu sehen, dafür war die Luft von der melodisch quäkenden Stimme eines Muezzins erfüllt. El Basan bog in einen von Lastwagen voll geparkten Hof ein und hielt hinter einem baufälligen Lagerhaus an. „Wir haben noch etwas Zeit!", sagte er, stieg aus und schlenderte zu einer nahen Palmengruppe. Auch Sinia kletterte aus dem unbequemen Gefährt, streckte sich und wankte zu ihm hinüber. Ihr war schlecht von dem langen Flug und wie ein schwerer Mantel lasteten nun auch die Anstrengungen des langen Tages mit all dem Erlebten auf ihrem Körper und ihren zerrissenen Gefühlen. Müde und zerschlagen lehnte sie sich gegen einen Stamm. Die untergehende Sonne tauchte das Land in ein goldenes Licht und eine große Ruhe lag über ihm. Sinia wähnte sich in einem Traum, es war alles so unwirklich, friedlich... „Ich liebe diese Augenblicke des Sonnenunterganges. Sie lassen einen alles Unschöne vergessen und zeigen uns unsere Grenzen", sinnierte El Basan. -- „Sie können immer noch zurück. Das wäre nur vernünftig!“, kam er nach einer Pause auf den eigentlichen Grund ihrer Reise zu sprechen. „Nein", antwortete Sinia zögernd. „Ich kann nicht."
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie bleiben noch ein paar Tage hier und kehren dann wieder heim und überlassen die Verhandlungen den Behörden. Man wird sicher alles für die Rettung der Männer tun!" „Da bin ich mir nicht so sicher!" Sinia sah ihn zweifelnd an, er wollte ihr also wirklich nicht helfen! Hatte sie ihr erster Eindruck von ihm doch nicht getäuscht? Wer hatte ihr diesen Typ nur als Vertrauensperson ausgesucht? Plötzlich fühlte sie sich von all den Leuten, denen sie vertraut hatte, betrogen und allein gelassen. El Basan beobachtete sie scharf. „Sie werden nicht viel ausrichten können, aber selbst in größte Gefahren kommen!" „Das ganze Leben ist ein Risiko! Ich werde diesen Safar schon irgendwie dazu kriegen, mich anzuhören. Schließlich steht das Leben meines Mannes auf dem Spiel!" antwortete sie störrisch. „Ich weiß, Sie wollen ihn erpressen, doch das ist sicher kein Grund ihm zu trauen. Sie kennen ihn nicht! Er sagt so und tut das Gegenteil", versuchte er zu überzeugen. Sinia sah ihn flehentlich an. „Bitte sagen sie mir endlich, wie ich in das Land hinein und wieder hinauskomme, sonst werde ich es alleine versuchen! Ich dachte, Sie hätten sich bereit erklärt, mir zu helfen!" „Ja, aber da kannte ich Sie noch nicht", antwortete El Basan vielsagend und zum ersten Mal lächelte er sie an, dann griff er ihren Oberarm und schüttelte sie leicht. Besorgt sprach er: „Ich mache mir doch nur Sorgen um Sie! Ich hoffte mit meiner abweisenden Art, sie zu entmutigen und dass die unwirtliche Gegend, all die Fremdheit sie überzeugen würde, aufzugeben! Sie müssen doch Angst haben?" Sinia starrte ihn ungläubig an, schüttelte den Kopf und nickte dann schwach. „Ich habe mir schon überlegt, sie zu begleiten. Wir werden Rashid Safar die Wahrheit sagen und im Namen Allahs um Hilfe bitten!" © S. Remida
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„Um Ungläubige aus für ihn feindlichen Ländern grade mal so aus den Händen seiner 'Brüder' zu retten?", fügte Sinia bittersüß an. „Nein, mein Plan verspricht da mehr Erfolg! Ich gehe allein, außerdem will ich keinen der mir geholfen hat in Gefahr bringen! He, ich schaff' s schon, ich bin nicht lebensmüde!" El Basan rang nach Luft. „Ich kann mich gar nicht erinnern, sind bei euch alle so verrückt? Ich war schon lange nicht mehr in Deutschland! Ich werde keine ruhige Minute mehr haben und mir die größten Vorwürfe machen!" „Wie komme ich nach Bagdad?" Nur zögernd rückte El Basan mit seinen Vorbereitungen heraus: Dem Lastwagen, der sie über die Grenze schmuggeln und dem Mietwagen in Bagdad, mit dem sie wieder zurückkommen sollte. Er gab ihr den Autoschlüssel sowie einen australischen Paß auf den Namen Katrin Steiger mit ihrem aktuellen Foto, einen gleichlautenden Presseausweis und für einen eventuellen Notfall einen schweizer Paß auf den Namen Marie Russell mit einer weiteren Variante ihres Aussehens als schwarzgelockte Brillenträgerin, alles ausgezeichnete Fälschungen. Die nötigen Utensilien, um sich den Fotos anpassen zu können, hatte Sinia von daheim mitgebracht, wo sie sie bereits ausgiebig ausprobiert hatte. Nun erklärte er ihr, wie er sich einen erfolgversprechenden Ablauf vorgestellt hatte. Sinia war von der Präzision seiner Ausführungen begeistert. „Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, ich habe sie wirklich völlig falsch eingeschätzt. Jetzt weiß ich, dass ich mir keinen zuverlässigeren Partner hatte wünschen können", erklärte Sinia tief beeindruckt. El Basan winkte ab. „Ich dürfte sie nicht gehen lassen, das wäre richtig!" Dann kramte er in der Tasche seines Jacketts und holte einen kleinen Zettel heraus. "Das ist eine Telefonnummer unter der ich jederzeit erreichbar bin, prägen Sie sich die ein! Wenn ich sechsunddreißig Stunden nichts von Ihnen höre, auch nicht über meine Kontaktquellen, dann wende ich mich direkt an Safar und werde ohne Rücksicht alle Karten auf den Tisch legen, um Sie da raus zu holen. Ist das klar?" „Das dürfen Sie nicht tun!" „Tut mir leid, das ist meine Bedingung! --- Ich will nur, dass Sie wieder zurückkommen!" „Und wenn ich keine Zeit zu langen Gesprächen habe?", gab Sinia zu bedenken. „Machen wir eben ein Codewort aus!" „So wie Gänseblümchen", witzelte Sinia. „Oder Kismet für Schicksal?", überlegte sie weiter. „Ich hab's! Alpha, wenn alles okay ist und Omega, wenn ich in Schwierigkeiten bin!" „Einverstanden! Und Sie denken da dran?" „Ich werd' s mir grade noch merken können!", grinste sie frech, doch dann wurde sie wieder ernst. „Ich versuche, mich regelmäßig zu melden, seien Sie bitte nicht zu schnell!" Ihr Gegenüber nickte zufrieden. Inzwischen waren die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont abgetaucht. El Basan brachte Sinia zu einem Lastwagen und half ihr, sich mit ihrer Reisetasche zwischen den Kisten und Säcken zu verstecken. „Der Fahrer weiß nichts von Ihnen. Wegen der Ladung wird er die Zöllner bestechen und freie Fahrt haben. Das ist hier aber üblich", grinste er. Er gab ihr noch ein paar Verhaltensregeln, dann näherten sich palavernde Stimmen. Schnell verabschiedete er sich, doch ehe er die Ladefläche verließ, drehte er sich noch einmal um: „Also, hier in zwei Tagen treffen wir uns wieder, Sinia! Darf ich Sie so nennen?" „Ja, und 'Du'", ergänzte sie flüsternd. „Abgemacht, ich heiße Abdul!" Er lächelte. Sinia nickte. „Ich weiß! Auf Wiedersehen, Abdul!" "Allah beschütze dich!" Dann verschwand er lautlos. ******** Sinia musste noch eine Weile warten, ehe sich der Lastwagen in Bewegung setzte. Vor ihr lagen etwa dreihundertneunzig Kilometer. Sie holte ihr kleines Kassettenradio heraus, setzte den Kopfhörer © S. Remida
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auf und stellte die Musikkassette an. Dann lehnte sie sich bequem zurück und ließ den Tag Revue passieren, bald schweiften ihre Gedanken ab und sie döste vor sich hin. Mit halben Ohr bekam sie den kurzen Grenzstopp mit, ehe das gleichförmige Schaukeln sie in einen leichten Schlaf versetzte. Selbst die Gewissheit, dass es nun wirklich kein zurück mehr gab, konnte sie nicht mehr stören. Sinia wachte sofort auf, als ihr Kopf durch das Abbremsen und Abbiegen des Lastwagens leicht vornüber kippte. Tastend kletterte sie über die Säcke und zwängte sich zwischen den Holzkisten nach hinten, um an der Seite der Rückplane hinaussehen zu können. Sie durchfuhren einen Vorort von Bagdad, genau wie es Abdul El Basan gesagt hatte. Nun wurde es Zeit ihr Zeug zusammenzuraffen, sich das schwarze Gewand, Abaya genannt, überzuziehen, um unauffällig den notwendigen Fußweg zum Hotel zurücklegen zu können. Dann passte sie die von Abdul beschriebene Kreuzung in der Stadt ab und sprang als der Laster kurz anhielt flink ab. Nun huschte sie durch schmale Gassen, durchquerte eine menschenleere nur schwach beleuchtete Anlage und eilte, an die dunklen Häuserwände gedrückt, einen mäßig belebten breiten Boulevard entlang. Kurz vor dem hellerleuchteten Hotel streifte sie in einer Gasse schnell das Gewand ab, verstaute es in ihrer Tasche, kramte die Fototasche heraus, hängte sie über ihre Schulter und ging mit der Reisetasche in der Hand selbstbewusst weiter. Geblendet von den verschwenderischen Lichtern in der verglasten Eingangshalle suchte sie die Rezeption, um sich dort dem korrekt gekleideten Herrn als Katrin Steiger vom Australien Enquirer vorzustellen, für die ein Zimmer reserviert sein müsse. „Richtig", bestätigte dieser in hartem Englisch nach einem musternden Blick auf Sinia und einem flüchtigen Blick in sein offenes Gästebuch. „Zimmer 110, für zwei Übernachtungen? Sie kommen ziemlich spät! Sie reisen alleine?" Er wirkte überheblich und war von berufsmäßiger Neugier. Sinia überhäufte ihn mit einem arabisch-englisch gemixten Wortschwall, in dem sie von ihrem Auftrag einer Reisereportage über die interessantesten Länder der Welt, den Schönheiten dieses seines Landes, all dem Sehenswerten und dem deshalb durcheinandergeratenen Zeitplan redete. Dabei lächelte sie so liebenswürdig wie sie nur konnte und registrierte, wie er die Schmeicheleien aufsog und sein anfänglicher Argwohn dahinschmolz. Sie füllte das Anmeldeformular aus und nach einem belanglosen Wortgeplänkel winkte er einem Zimmerboy, der sichtlich enttäuscht über das wenige Gepäck sie zu ihrer Unterkunft begleitete. Nach einem Trinkgeld, das ihm ein Grinsen entlockte, konnte sich Sinia endlich frisch machen und fiel dann in ein weiches Bett und schlief herrlich. ******* Am Frühstücksbüfett traf Sinia auf eine große Zahl ausländischer Gäste. Schon bald gesellte sich ein junger blonder Mann an ihren Tisch und stelle sich als Sven Gustavson vor. Er hatte nicht nur einige Jahre ausgerechnet in Australien verbracht, sondern kannte auch ein paar Leute vom Australien Enquirer. Soviel Glück sollte ich mal im Lotto haben, dachte Sinia bei sich und phantasierte etwas vom neuen Arbeitsplatz, ihrer ersten großen Aufgabe und konnte dank Abduls Gründlichkeit wenigstens ein paar Namen von der Geschäftsleitung einfließen lassen. Sie entschuldigte ihr nicht akzentfreies Englisch damit, dass sie die meiste Zeit in Österreich gelebt hatte und lenkte dann das Gespräch auf ihn. Inzwischen hatte auch ein älteres Ehepaar an ihrem Tisch Platz genommen, das bereitwillig von sich erzählte. Schließlich entschuldigte sich Sinia und stand auf, um hinauf in ihr Zimmer zu gehen. Auf dem Korridor wurde sie von dem jungen Schweden eingeholt. Sinia reagierte schnell: „Oh, können Sie mir sagen, ob es hier ein Hotelsafe gibt, wegen meiner Fotos! Hm, ich habe zwar eine abschließbare Kassette, aber sicher ist sicher! Oder was meinen Sie?" Der junge Mann fühlte sich geschmeichelt. „Ich habe einen Safe gemietet, wenn Sie möchten, schließe ich ihre Kassette mit ein! Es ist genug Platz darin!" Das war es, was Sinia wollte. „Ach, das wäre wahnsinnig lieb. Warten Sie, ich gebe sie Ihnen gleich mit!" © S. Remida
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Und schon Minuten später wusste sie ihren schweizer Pass und die verräterischen Kosmetika in sicherer Verwahrung. Man konnte ja nie wissen und Vorsicht hatte Abdul ihr ans Herz gelegt. Bei dem Schweden würde niemand suchen und los war sie ihn vorerst auch! Wenig später brachte ein Taxi sie mit viel Gehupe und in kurvenreicher Fahrweise bis vor den bewachten Eingang des Informationsministeriums. Mit übertriebener Gestik öffnete der Fahrer ihr die Autotür, steckte nebenbei das Fahrtgeld ein und fuhr reifenquietschend davon. So ein Showman, dachte Sinia und ging mit Kamera und Fototasche bewaffnet zu dem Wachmann. Sie zeigte ihm umständlich ihren Presseausweis und bat um einen Besuch beim Informationsminister. Nein, angemeldet sei sie nicht, aber sie wolle ja auch nur kurz ein paar Auskünfte zu seinem Land einholen und sein Fitnessprogramm könne er ja auch mal zehn Minuten später beginnen. So genaue Kenntnis von den nur wenigen Leuten bekannten Gepflogenheiten des Ministers schienen den Soldaten ziemlich irritiert zu haben, dass er an ein Standtelefon ging und gestenreich telefonierte. Danach winkte er Sinia herein. Von einem herbeigerufenen Soldaten wurde sie durch das Gebäude bis zum Zimmer des Ministers geführt. Und schon saß sie einem stattlichen Mann mittleren Alters in einem wallend weißen Gewand gegenüber. Insgeheim schickte sie ein Dankeschön an den in die Schweiz geflüchteten Iraker, der ihr damals so genaue Informationen und auch Marotten von einzelnen wichtigen Personen in Safars Umfeld verraten hatte. Während der Minister ihren Pass und den Presseausweis in seinen Händen hin- und herdrehte, fragte er mürrisch, nach ihrer Herkunft, ihrer Arbeit und ihrer hiesigen Unterkunft und dann unvermittelt woher sie über seinen Tagesablauf so genau Bescheid wisse. Liebenswürdig erklärte Sinia, dass gewissenhafte Recherchen einen erfolgreichen Reporter schließlich ausmachen würden und eine Portion Intuition, sie hätte einfach gut geraten. Dann fügte sie an, dass sie leider wegen ihrer unzureichenden Arabischkenntnisse es für angebracht halte, ihr Interview auf Englisch zu führen. Sie wisse auch, dass er diese Sprache nicht beherrsche, weshalb sie ihn bitten wolle, ein Treffen mit Minister Safar zu arrangieren, der ein ausgezeichnetes Englisch spreche, was leider wenig bekannt sei! Obgleich neugierig geworden, schüttelte der behäbige Beamte sein breites Haupt und erinnerte Sinia an einen Elefanten. Nein, dass sei unmöglich und sie müsse ihre Fragen schon ihm stellen. Aber Sinia beharrte auf ihrem Wunsch, sinnentstellende Übersetzungsfehler vermeiden zu wollen. „Dann reichen Sie ihre Fragen am besten bei uns schriftlich ein und sie erhalten von uns eine englische Übersetzung der Antworten!", glaubte der Dicke die rettende Idee zu haben. „Schade", entgegnete Sinia, „aber leider kann ich nicht so lange bleiben. Da bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich an das zu halten, was ich so erfahren habe, ungeprüft seiner Richtigkeit!" Sinia stand betrübt auf, bedankte sich enttäuscht und schon zum Gehen gewandt hielt sie nochmals inne. „Wollen Sie den Minister nicht wenigstens fragen, ob er mir nicht doch Auskunft geben möchte zu Themen wie Minderheitenproblematik, Industrieausbau, insbesondere im chemischen Bereich Interesse an westlichen Entwicklungen, geheime finanzielle Beteiligungen mit Staatseinnahmen an ausländischen Unternehmen und die Umwandlung der zurückfließenden Gelder ins eigene Privatvermögen, sowie eine Stellungnahme zur heimlichen Unterstützung von Freiheitskämpfern in anderen Staaten!" Sie war froh, diese eingeübte Aufzählung teils erfundener Behauptungen losgeworden zu sein, ohne sich zu verhaspeln. Gespannt beobachtete sie ihren Gegenüber, der sichtlich bemüht war, seine Fassung zu bewahren. „Lügen! Wer hat Ihnen.... Ich verbiete Ihnen, solche Lügen zu verbreiten!", platzte er heraus. „Sehen Sie und genau deshalb möchte ich mit Minister Safar diese Fragen durchsprechen und richtig stellen!", fiel sie ihm zustimmend ins Wort. „Woher habe Sie das eigentlich?", fragte er neugierig Vertrauen heischend. Sinia lächelte geheimnisvoll, sah auf die Uhr und beeilte sich zu sagen: „Oh, tut mir leid, jetzt nicht! Sie sprechen mit Rashid Safar? Ich bin im Hotel zu erreichen. Ach, übrigens, ich hätte gern heute noch einen Termin, aber er pflegt seine Gäste ja ohnehin am liebsten abends zu empfangen!" Sie deutete eine Verbeugung an und verließ das Zimmer, noch ehe der Minister reagieren konnte. © S. Remida
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Schnell verließ sie das Gebäude und eilte die Straße entlang, bis sie in der Menge verschwand. Sie fühlte, dass es im Hotel, bei den ausländischen Gästen, am sichersten war und sie schnellstens dorthin zurück sollte. Die Händler in der vollen Geschäftsstraße boten verlockende Waren auf überfüllten Ständen vor ihren Geschäften an und mancher schien nach möglichen Kunden Ausschau zu halten, die dann mit einer wahren Wortflut zum Verweilen gezwungen werden sollten. Auch Sinia wurde von dem einen und anderen angehalten und konnte sich nur durch entschlossenes Kopfschütteln deren Überredenskünsten entwinden. Laut hupende Autos und kleine Laster kurvten im Schritttempo um die Menschen, die sich daran nicht zu stören schienen. Vom Flair des Morgenlandes in seinen Bann gezogen, schlenderte Sinia alsbald durch manchen Laden und bewunderte die kunstvollen Handarbeiten, Geschirre, Schmuckstücke und Gegenstände des täglichen Bedarfs, und suchte nach Motiven, die sie fotografierten konnte. . Plötzlich hielt quietschend neben ihr ein Jeep. Zwei Uniformierte sprangen heraus, packten sie und zerrten sie zwischen sich auf den Rücksitz. Sekunden später raste das bis auf eine Frontscheibe und Dach sonst offene Gefährt im wilden Zickzack und mit drohendem Hupen durch die von der auseinanderstobenden Menge freigegebene Gasse, die sich dahinter sofort wieder schloss. Niemanden schien die Entführung zu stören. Mit einem wütenden Blick auf die Männer rechts und links neben sich gab Sinia schließlich ihre Gegenwehr auf. Zu schmerzhaft hielten die Entführer ihre Arme umklammert. Nun versuchte sie sich markante Punkte, an denen sie vorbeifuhren einzuprägen. Dann glaubte sie zu wissen, wohin die Fahrt ging: Zu einem abgeschirmten Militärstützpunkt außerhalb der Stadt. Und tatsächlich bog der Jeep von der Verkehrsstraße ab, die sie aus der Stadt hinaus geführt hatte und jagte auf eine entfernte bewachte Einfahrt eines hoch mit Maschendraht umzäunten Territoriums zu. Erst wenige Meter vor dem Fahrzeug wurde der Schlagbaum auf einer Seite eiligst hochgezogen. Mit unverminderter Geschwindigkeit steuerte der Fahrer den Wagen zu einem langgezogenen Bau und stoppte in einer riesigen Staubwolke direkt vor dem bewachten Eingang. Sogleich stiegen die beiden Männer mit Sinia zwischen sich aus und von weiteren Soldaten, die im Eingang gewartet hatten, eskortiert, ging es durch verwinkelte dunkle Gänge und Treppen zu einem kleinen Raum mit einem vergitterten Fenster. Grinsend schubsten die Entführer Sinia in den nur mit einem Tisch und Stuhl möblierten Raum. Ohne Protest hatte sie sich hierher bringen und ihre Ausweise abnehmen lassen, doch jetzt, als sei sie aus der Lethargie erwacht, schrie sie die Soldaten an: „Was soll das? Ich will mit meiner Botschaft sprechen! Bringen Sie mich zu Ihrem Kommandeur!" Als Antwort fiel die Tür krachend ins Schloss und wurde von außen verriegelt. Sinia war alleine. Nur nicht die Nerven verlieren, befahl sie sich und atmete tief durch. Die Stille des Zimmers wirkte sich beruhigend auf sie aus. Sie setzte sich in die breite Fensternische und sah durch das vergitterte Fenster. Die Sonne musste noch vor kurzer Zeit durch die Öffnung geschienen haben, denn die dicke Steinmauer war hier angenehm erwärmt. Ihr Blick wanderte über ein paar kasernenartige Gebäude, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatten. Die asphaltierten breiten Verbindungswege waren schmutzig verstaubt und selbst die einzige Palme, die sie entdecken konnte, schien hoffnungslos vor sich hin zu dörren. Selten wurde die verschlafen wirkende Ruhe da draußen von vorbeigehenden Soldaten oder von einem entfernt startenden oder landenden Jagdflugzeug unterbrochen. Sinia überlegte. Sie hatte doch Aufmerksamkeit geweckt! Sie musste höflich und vor allem kaltblütig bleiben. Ihr Vorteil bestand darin, dass sie sehr gut selbst über Kleinigkeiten Bescheid wusste, aber hier keiner ahnte, wer sie war und was sie wollte! Sicher glaubte man, sie mit dem langen Warten zu zermürben. Doch sie wollte die Zeit nutzen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Sie schloss ihre Augen und konzentrierte sich auf die Überlegenheit, die ihr ihre geheimnisumwitterte Position eröffnete. Kurz vor zwei Uhr nachmittags, näherten sich mehrere Schritte und die schwere Tür wurde entriegelt. Sechs Soldaten betraten mit schweren Schritten und regungslosen Mienen den Raum. Zwei von ihnen kamen auf Sinia zu und führten sie mit festem Griff hinaus. Mit der Bemerkung: „Ich kann schon alleine gehen!", entwand sie sich einem ihrer Begleiter, während der andere dafür um so stärker zu© S. Remida
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packte. Wieder ging der gespenstisch wirkende Zug durch dunkle Korridore und über abgewetzte Steinstufen zurück bis in die Nähe des Einganges. Vor einer Doppeltür blieben sie stehen und warteten, bis ihnen von drinnen geöffnet wurde. Sinia sah in ein unerwartet protzig ausgestattetes großes Bürozimmer. Ihr Begleiter gab ihr einen so heftigen Stoß, dass sie gegen den überdimensionalen Schreibtisch in der Mitte des Raumes prallte, obwohl sie den Schwung mit den Händen an der Tischkante abzufangen versuchte. Ihr erster Blick fiel auf ihre dort liegende Kamera und Fototasche, was sie erfreut zu Kenntnis nahm. Ihr zweiter Blick erfasste zwei listige Augen hinter einer runden kleinen Brille, deren Bügel von einem grobschlächtigen, überfressenen Gesicht mit igelkurzen Haaren weit auseinander gebogen wurden und die sie argwöhnisch anstarrten. Um die richtigen Worte bemüht, sprach Sinia stets langsam in Arabisch. In leisem Verschwörerton und einer Kopfbewegung nach hinten zu dem Soldaten, der sie nach vorn gestoßen hatte, sagte sie: „Er ist doch hoffentlich in Behandlung!" Nach einer kurzen Denkpause schien bei dem 'Gorilla' der Groschen gefallen zu sein, es war an seinen zusammenkneifenden Augen zu erkennen. Sinia richtete sich auf und hob beschwichtigend die Hände. „Ich dachte ja nur, aber es geht mich natürlich nichts an! Die Hauptsache ist, das Sie Ihren Irrtum bemerkt haben und mich gehen lassen!" „Sie sind hier zum Verhör! Sie werden mir eine ganze Reihe Fragen beantworten, wenn nötig, helfen wir auch nach!", erklärte er drohend langsam und deutlich in seiner Sprache, so dass Sinia ihn gut verstehen konnte. Sie lächelte ihn kopfschüttelnd an. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden? Also doch eine Verwechslung!" „Sie waren bei unserem Informationsminister und haben ihm mit der Veröffentlichung schlimmster Lügen gedroht! Sie erklären mir jetzt, woher sie diese Lügen haben und was Sie damit wollen!", polterte der Dicke unbeirrt weiter. „Ach!" Sinia tat verwundert und setzte sich auf einen einfachen Besucherstuhl, der vor dem Schreibtisch stand, dann erhellte sich ihr Gesicht. „Ach, das! Oh, da hat der Minister schlecht zugehört. Ich verstehe nicht, wie er meine Bitte, mit Minister Safar ein Interview zu führen, so missverstehen konnte! An meinem Arabisch kann es nicht liegen, ich habe mich sehr bemüht! Ob er vielleicht...? Aber es ist doch seine Muttersprache, oder?", überlegte Sinia provokant gut hörbar vor sich hin. „Es vergeht Ihnen noch, sich über uns lustig zu machen!" Sinia fixierte ihren Gesprächspartner. Ernst, mit lauerndem Unterton entgegnete sie: „Fragt sich, wer sich über wen lustig macht! Hören Sie, wenn sich jemand bedroht fühlen sollte, nur weil ich mit Rashid Safar kurz sprechen wollte, dann verzichte ich! Wissen Sie was? Ich verzichte sogar auf eine Beschreibung Ihres Landes. Es gibt genügend Staaten hier, die es freut, wenn sie in ihrem Sinn positiv dargestellt werden und damit auch die Einnahmen aus dem Tourismus sehr verbessert werden können!" „Ach ja? Dann müssten Sie ja wissen, dass hier niemand irgendwelche Fremden will, die unsere Kultur kaum achten! Zum letzten Mal, warum sind Sie hier? Die Wahrheit!" „...ist, dass Sie mich von einem Bericht über den Orient abhalten wollen! Aber bitte, dann lasse ich Ihr Land eben raus! - Ich erwarte, dass ich jetzt gehen kann! Meine Ausweise will ich noch zurück", erklärte sie unbeirrt, stand auf und griff nach ihrer Fotoausrüstung. „Moment, das bleibt hier und Sie auch!" Sinia stöhnte genervt. „Wenn sie wollen, können Sie das behalten aber mich nicht! Als dann, good by!" „Nicht so schnell! Es gibt da noch ein paar Dinge. Wie kamen Sie an diese bestimmten Fragen?" „Das hat sich erledigt! Ich sagte doch, ich streiche Ihr Land aus meiner Reportage!" Sinia wandte sich zur Tür, die von den sechs Soldaten verstellt war. „Sie kommen hier nicht heraus! Setzen Sie sich wieder!", erklärte der Dicke gleichmütig und winkte einen der Wachposten zu sich. Leise besprach er etwas mit ihm, worauf der das Zimmer verließ. Sinia hatte sich wieder hingesetzt. Nach einer Weile fragte sie: „Geht es noch lange? Ich bekomme Hunger!" © S. Remida
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„Geduld!", empfahl ihr Gegenüber. Der Soldat von vorhin kam wieder zurück und flüsterte erneut mit seinem Vorgesetzten, der sichtlich zufrieden aufstand und sich zum Gehen umständlich in seine reich dekorierte Uniformjacke zwängte. Grinsend sagte er zu Sinia: „Sie warten hier!" Irgendwie fand sie ihn hinterhältig. Während sie wartete, sah sie sich etwas genauer in dem Zimmer um. Die wuchtigen Aktenschränke, der Tisch, der Louis XIV - Stuhl dahinter und das übrige Mobiliar passten so wenig zusammen wie der Fettsack hierher. „Gibt es hier eine Kantine?", wandte sich Sinia an die Soldaten hinter sich. Richtigerweise erwartete sie aber keine Reaktion. „Müder Laden! Arme Jungs!" Sie holte sich ihren Fotoapparat und spielte gelangweilt daran herum. Du schaffst es, dachte sie dabei immer wieder. Nach einer dreiviertel Stunde trat ein weiterer Uniformierter ein. Die Soldaten stellten sich stramm und grüßten mit einer zackigen Handbewegung an ihre Käppis. Er forderte Sinia auf, ihm zu folgen. In Begleitung der Truppe führte der Fremde sie ein paar Türen weiter in einen großen Konferenzraum. Am oberen Ende der langen Tischreihe stand der Dicke bei ein paar Männern und winkte ihr zu, näher zu kommen. „Minister Safar hat sich ausnahmsweise bereiterklärt, Sie zu empfangen! Ich bitte Sie um Ehrlichkeit und Respekt ihm gegenüber!", erklärte er schon beinah feierlich. Er bedeutete einem Soldaten, die angrenzende Tür zu öffnen. Nach Spannung steigernden zwei Minuten schritt eine stattliche Erscheinung in einem sandfarbenen Maßanzug herein. Ehrfurcht erfüllte den Raum. Aufmerksam betrachtete Sinia den Mann. Er sah tatsächlich aus, wie Safar. Wenige Schritte vor ihr blieb er stehen. Sinia deutete einen Knicks an. Irgend etwas machte sie stutzig, dann war sie sich sicher! „Mir wurde gesagt, dass Sie mich zu sprechen wünschen?", richtete Safar in englisch streng das Wort an sie. Sinia nickte unterwürfig. „Es war mein Wunsch, einmal Minister Safar kennen zu lernen!" Sie lächelte milde. „Ich weiß natürlich, dass ein Minister sehr beschäftigt ist und deshalb auch einen Vertreter hat, den er schicken kann, wenn er selbst mal keine Zeit hat, nicht weil er sich fürchtet! - - Äh, es ist für mich eine große Ehre!" Sie machte lieb einen Knicks. Der Minister verstand nicht ganz, betrachtete es aber als ein Kompliment, wenn auch etwas unglücklich formuliert. „Nun, dann lassen Sie uns gleich beginnen! Setzen wir uns, Miss oder Mrs...?" „Steiger! Katrin Steiger!" beeilte Sinia sich vorzustellen, ohne seine Anspielung zu beantworten. Während sie mit ihm zum Tisch ging, fuhr sie zögernd fort: „Ich darf doch davon ausgehen, daß" - sie blickte kurz zu dem Dicken hinüber - "ich jetzt nicht länger von dem hier festgehalten werde? Ich will heute noch ausreisen!" Safar zeigte freundlich auf einen Stuhl für Sinia und setzte sich schon, während Sinia sich ihren umständlich zurecht schob. Nachdrücklich sagte er: „Nicht so schnell! Hier, bitte! Wollen Sie mir nicht erst einmal erklären, was..." „Oh! -- Oh, Entschuldigung!", fiel sie ihm mit einem bezaubernden Augenaufschlag ins Wort. „Sie sind so freundlich zu mir! Ich sollte dabei..., es ist wegen .... mein Fotoapparat da drüben, Sie verstehen?" Mit den Händen tat sie, als würde sie knipsen. „Ich lasse ihn holen, ja? Können wir dann?" „Aber natürlich! Moment, ich geh schnell selber!" Dabei strahlte sie überglücklich in die Runde und registrierte einhellige Zufriedenheit in den Gesichtern. Eifrig ging sie zur Tür. Den Soldaten dort sagte sie in gedämpftem Arabisch, sie könnten ruhig hier warten und wandte sich mit lieblicher Stimme in englisch an den ahnungslosen Minister: „Sehr mutig scheint er wirklich nicht zu sein!" Sie sah kurz auf den Dicken. „Trotzdem, grüßen Sie mir Ihr Original!" Und war auch schon durch die Tür verschwunden. Darauf bedacht, dass ihre Schuhe auf dem Steinboden nicht zu verräterisch klapperten, rannte sie auf den Ausgang zu. © S. Remida
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Safars Doppelgänger hatte sofort verstanden, dass sie ihn entlarvt hatte, die anderen mussten erst begreifen! Draußen saßen zwei Soldaten gelangweilt auf Hockern und rauchten. Sinia grüßte beschwingt und eilte zu dem Jeep hinüber, während sie überlegte, wie man wohl ein Auto kurzschließt. Bingo! Mit einem Blick hatte sie den im Anlasser steckenden Schlüssel erfasst, sprang auf den Sitz und startete den Motor. „Ich leih ihn mir nur kurz aus, okay!", schrie sie den beiden irritierten Männern zu und verschwand mit durchdrehenden Reifen hinter einer mächtigen Staubwolke, gerade noch rechtzeitig, ehe ein riesiger Tumult hinter ihr losbrach. Hupend fuhr sie auf den heruntergelassenen Schlagbaum zu. In letzter Sekunde wurde er hochgerissen, streifte aber polternd noch das Dach. Geschafft, dachte Sinia und raste wie eine Irre in Richtung Stadt. Sie lobte ihre im letzten Moment eingefallene rettende Taktik, wie sie mit dem Double gesprochen hatte. Wahrscheinlich hatte sonst niemand ein Wort Englisch verstanden außer 'Foto' und geglaubt, sie wolle für ein paar Aufnahmen nur die Kamera holen! Man hatte sie so gemein hereinlegen wollen! Jetzt sind wir quitt, triumphierte sie. Hoffentlich ließ man sie ungeschoren davonkommen, aber immerhin hatte sie versprochen, das Land zu verlassen! Dann forderte der Stadtverkehr ihre ganze Aufmerksamkeit. Den Rückspiegel ließ sie jedoch nicht aus den Augen. Seltsam, sie wurde gar nicht verfolgt! Ob sie sie abgehängt hatte? Sie bog in eine Seitenstraße zum Hotel ein und ließ den Jeep ordentlich abgeschlossen stehen. Schnell huschte sie durch eine Hintertür in das Haus. Sie begegnete einem Angestellten, den sie fragte, ob er ihr eine Kleinigkeit zum Essen auf das Zimmer bringen könne. An der Rezeption ließ sie sich ihren Schlüssel geben und bat den verwunderten Angestellten mit Hilfe eines Geldscheines, doch gleich in der Kaserne vor der Stadt anzurufen, um ihren Dank für das großzügige Ausleihen des Jeeps auszurichten und daß man hier Schlüssel und den passenden Wagen dazu eine Straße weiter wieder abholen könne! Die sollen wissen, daß sie ehrlich war! Und wo man sie finden konnte, war ja ohnehin bekannt! In ihrem Zimmer machte sie sich sogleich ans Packen. Ihre wenigen Sachen lagen zwar geordnet, aber manche anders als sie sie hingelegt hatte. Man hatte also in der Zwischenzeit das Zimmer und ihre Habe durchsucht. Der Autoschlüssel von El Basan, fuhr es ihr durch den Kopf. Er klemmte immer noch in der Ritze an der Unterseite des Schrankes. Sinia beruhigte sich mit der Überlegung, dass die mit ihm sowieso nichts hätten anfangen können, wo hier so viele Autos herumstanden und nicht einmal die Automarke bekannt war! Sie ging ins Badezimmer. Es klopfte zögernd. „Ja?" „Ihre Bestellung!" Sinia atmete erleichtert auf. „Kommen Sie herein. Die Tür ist auf!" Schüchtern trat ein Mädchen mit einem Tablett ein und hinter ihr zwei Männer in beigefarbener Uniform und ein weiterer in einem langen weißen Gewand, der sogenannten Thoub und der Gutra, einem weißen Tuch auf dem Kopf, von einem schwarzen Doppelring gehalten. Während er hinter dem Mädchen, das schnell wieder hinausgehuscht war, die Tür schloss und auf Sinia zuging, blieben die beiden anderen rechts und links in kurzer Entfernung von ihr stehen und bewachten sie mit Argusaugen. Sinia sah die Fremden erschrocken an, obgleich sie damit ja schon gerechnet hatte. „Sie sind Katrin Steiger? Zumindest geben Sie sich für sie aus! Ich habe hier für Sie...", umständlich reichte der Mann in dem Gewand ihr einen Umschlag. Sinia sah sich schon halbtot in einem dunklen Verließ. Zitternd nahm sie ihn entgegen. „Bitte." Der Mann erwartete, dass sie ihn öffnete. Sie zog ein gefaltetes Papier heraus. Mit seiner unterschiedlich groß gedruckten kunstvoll geschwungener arabischer Schrift sah es wie ein Dokument aus. Sie sah ihn bangend an. © S. Remida
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Der Mann blickte auf ihren Koffer. „Sie werden also noch hier bleiben müssen! Ich hoffe Sie nutzen die Gelegenheit ein paar Dinge zu klären. Und bitte, verhalten sie sich kooperativ, in Ihrem eigenen Interesse!", holte der Fremde aus, ehe er auf den Punkt kam. „Unser hochgeschätzter Minister Safar will Sie sehen. Ein Wagen wird sie gegen sechs Uhr heute Abend abholen!" „Ich habe kein Interesse mehr!", entfuhr es ihr. „Entschuldigung, aber ich halte es für besser, wenn ich Ihr Land verlasse, um nicht noch weitere Missverständnisse zu verursachen!", beeilte sie sich höflich zu erklären. „Sie werden es nicht wagen, die Einladung auszuschlagen!", empörte er sich. „Bitte, verstehen Sie, ich kann nicht glauben, was sie sagen. Wieso sollte mich Minister Safar nach all dem...!" „Sie zweifeln an meinen Worten?" Seine Augen blitzen verärgert. „Glauben Sie, wir hätten es nötig zu lügen, so wie Sie? Sie halten seine Einladung in der Hand. Sie glauben doch sonst alles zu wissen, soll das heißen, dass Sie unsere Schrift nicht lesen können?" Sinia zuckte die Achseln. „Ich bin eben auch nicht vollkommen!" „Sie nehmen die Einladung also an?" „Gut, ich glaube Ihnen. Er wird es schon selbst sein, da er ja nur einen Doppelgänger hat!" „Ich erwarte, dass sie sich dieser Ehre würdig zeigen!", überging er ihre Anspielung. „Ich werde mich bemühen. Sie haben von mir nichts zu befürchten, und das meine ich so ehrlich wie Sie!", bekräftigte sie freundlich. „Zu Ihrer Information, die beiden Männer werden vor der Tür Wache halten!" „Wäre nicht nötig. Ich kann auf mich schon alleine aufpassen!", konterte sie. Der Mann sah sie abschätzend an. „Danke für die Einladung. Ich weiß die großzügige Geste zu schätzen, glauben sie mir!", sagte sie ehrlich. Der Fremde machte eine knappe Verbeugung und verließ mit seinen beiden Begleitern das Zimmer. Sina setzte sich auf das Bett. Sie war völlig verwirrt. Sollte sie es am Ende doch noch schaffen? Was gab es alles zu bedenken? Sie musste sich gut auf das alles entscheidende Treffen vorbereiten. Und auch der Hunger meldete sich wieder zurück. ******** Man hatte Sinia pünktlich mit einem gepanzerten Mercedes abgeholt und in die festungsähnliche Residenz von Safar gebracht. Es war alles sehr schnell und unauffällig vonstatten gegangen. Nun stand sie alleine in einem mäßig großen Raum. Über einem cremefarbenen Rock mit passender Bluse und einem breiten dunkelbraunen Ledergürtel um die Taille, trug sie einen 'Shador', einen schwarzen Umhang, dessen Kapuze sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Mit einem Blick überflog sie das Zimmer. Gegenüber verdeckte ein mächtiges Regal die gesamte Wand. Es war mit ordentlich einsortierten Büchern und dazwischen, hinter eingelassenen Glasfenstern und indirekt beleuchtet, mit kostbaren Schnitzereien und funkelnde Edelsteinen vollgestellt. Links neben ihr standen um einen kleinen runden Tisch mit einem zarten Gesteck in der Mitte vier gedrechselte, grüngepolsterte Stühle. Daneben entdeckte sie eine unauffällig in die Wand eingelassene Tür. Sie glaubte sogar die Linse einer Überwachungskamera oben in einer Ecke ausgemacht zu haben. Durch ein Fenster rechts vor ihr ergoss die Abendsonne ihre goldenen Strahlen in das kostbar eingerichtete Zimmer. Rechts neben ihr stand majestätisch ein übergroßer Porzellanfalke auf einem Sockel. Langsam schritt sie über die edlen Teppiche zum Fenster. Sie sah auf einen ausladenden üppig blühenden Garten, den eine unüberwindliche Steinmauer von einer öffentlichen Parkanlage trennte.
Sinia schob die Kapuze zurück und öffnete den shador. Er glitt von ihren Schultern und sie legte ihn achtlos neben sich auf die breite Marmorfensterbank. Wie lange würde Safar wohl auf sich warten lassen, wenn er überhaupt kam? Plötzlich hatte sie das Gefühl nicht mehr alleine im Zimmer zu sein. Sie drehte sich langsam um. Da stand er, gegenüber vor der Geheimtür. Breitbeinig, anderthalb Kopf größer als sie, in einem weißen Anzug, das © S. Remida
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ordendekorierte Jackett über dem schiefergrauen Hemd lässig geöffnet, eine Hand locker an die Hüfte gestemmt, beobachtete er sie aufmerksam. Er sah wirklich so gut aus, wie auf ihrem Bild zuhause. Sinia triumphierte in Gedanken aber befahl sich, ruhig zu bleiben.
„Masal khair", begrüßte er sie freundlich. Sinia nickte zurückhaltend ihm zu. „Sie wollten mich sprechen? Vorausgesetzt, ich bin der Richtige!", fragte Safar in Englisch mit einem spitzbübischen Lächeln, das sie an Clark Gable erinnerte.
„In der Tat, hatte ich es nur auf Sie abgesehen!" „Na, dann haben Sie hoffentlich so viel Zeit, dass wir uns setzen und in Ruhe unterhalten können!" Dabei winkte er mit der Hand näher zu kommen und wies auf die Sitzgruppe neben sich. Sinia griff nach ihrem Umhang und ging hinüber, um sich ihm gegenüber an den runden Tisch zu setzen. „Sie sind also Katrin...", - Safar griff suchend in die Innentasche seines Jacketts und zog ihren Reisepass und Presseausweis heraus –, „...Steiger?" Sinia wich seinem prüfenden Blick aus und sah auf die beiden Dokumente in seiner Hand. „Wie Sie sehen!", antwortete sie leichthin. „Eine Überprüfung hat übrigens ergeben, dass die hier echt sind!", sagte er, ohne Sinia aus den Augen zu lassen. Erleichtert lächelte Sinia ihn an. „Aber natürlich, was hatten Sie erwartet?" „Nur", fuhr Safar gedehnt fort. „Der ‚Australien Enquirer‘ scheint nichts von einer Reportage über die arabischen Länder zu wissen. Verstehen Sie das?" „Nein! Aber ich werde mich darum kümmern!", antwortete sie betont gelassen. „Abgesehen davon, hätte man so einen Auftrag Ihnen nicht einmal anvertraut!" „Ich verstehe nicht ...", sagte Sinia irritiert.
„Na, Sie leiden unter schweren Depressionen", erklärte er im Plauderton, während er sie mit seinen schwarzen Augen durchbohrend ansah. „Ja, man bringt Ihr Verschwinden von vor zwei Monaten sogar mit Selbstmord in Verbindung. Immerhin haben Sie das oft genug angekündigt!" Davon hatte Sinia nichts gewusst, nicht einmal dass es eine Katrin Steiger wohl tatsächlich gab. Ob er nur bluffte? Sie wich seinem Blick aus und überlegte fieberhaft. Safar ließ ihr geduldig Zeit, ohne sie auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Zögernd sagte sie: „Muss man nicht lebensmüde sein, um hierher zu kommen?" Ein breites Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht. „Möglich! Trotzdem sind sie weder diese Steiger noch Australierin! Wer also sind sie wirklich?" Sinia schüttelte nachdenklich ihren Kopf. „Tut mir leid. Ich kann Ihnen keine Alternative anbieten. Wir sollten bei Katrin Steiger bleiben!" „Na schön, wir kriegen das schon noch heraus. Jedenfalls haben Sie sich verdammt gut vorbereitet. Darf ich wenigstens dafür den Grund erfahren?" „Deshalb bin ich hier. Ich brauche Ihre Hilfe!", sagte Sinia ohne Umschweife und sah den Minister gespannt an. Er wirkte beruhigend gelassen und zog nur seine Schultern fragend hoch. „Wobei?" „Bitte überreden Sie die somalischen Rebellen, ihre sechs unschuldigen Geiseln freizulassen. Sie sind der einzige, auf den sie hören!" Safar war verblüfft. Das wollte sie also von ihm. Er wusste, dass es unnötig war, sich ahnungslos zu stellen. „Weshalb sollte ich mich da einmischen? Bisher hat sich noch niemand offiziell an unsere Regierung gewandt!" „Das will man auch wohl kaum! Tun sie es von sich aus, sagen wir aus Menschlichkeit, im Namen Allahs! Es würde auch das Image Ihrer Regierung heben!" „Lassen Sie unsere Religion da raus! Ebenso unsere Regierung, die hat damit nichts zu tun!" „Ich hätte noch Erpressung anzubieten", konterte Sinia ohne Umschweife und blickte ihren Gegenüber abwartend an. Safar lächelte überlegen. „So? Welcher Art?" „Zum Beispiel Veröffentlichung einer Liste von ausländischen Unternehmen, an denen sich ein paar Regierungsmitglieder mit Staatsgeldern beteiligen - zum privaten Nutzen. Sie verstehen? Es könnte © S. Remida
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auch in den Firmen, in die besonders investiert wurde, Sabotageakte geben, was sich dann ungünstig auf die Entwicklung der Aktien beziehungsweise Einlagen auswirken könnte... Und so schnell lassen sich die Gelder ja nicht abziehen. Letztlich dürfte der materielle Schaden dem des politischen entsprechen!" Sinia zog elegant ein Papier aus ihrem Gürtel, entfaltete es und reichte es Safar hinüber. „Hier die aktuelle List!" Aufmerksam überflog er das Blatt. „Das würden Sie wagen?“ Sinia zuckte mit den Achseln. „Sie spielen mit ihrem Leben!" „Das hatten wir schon festgestellt!", antwortete sie und blickte ihn offen an. „Wir könnten Sie als Sicherheit hier behalten, um Ihre Freunde von diesen Dummheiten abzuhalten, schließlich schaden Sie damit vor allem auch der Wirtschaft jener Länder!" konterte Safar und erkundigte sich: „Was ist das eigentlich für eine Gruppe?" „Keine Ahnung! Jedenfalls werden die sich von Ihrem Arrestvorschlag kaum beeindrucken lassen. Übrigens kannte ich mein Risiko vorher! Es stehen sechs Menschenleben auf dem Spiel!" „Gegen Ihres?" fragte Safar grinsend. „Sie wissen, wer uns schaden will, wird die Macht unseres Zorns zu spüren bekommen!" „Sicher, aber das ist ja nicht das Ziel. - Bitte befreien sie diese Männer, ehe es zu spät ist. Es würde sich für Sie auch auszahlen", sagte Sinia eindringlich. „Besteht ein persönliches Interesse an den Männern, an einem Mann?" „Sie sind ihre einzige Chance, nicht Opfer von Prestige und Sturheit zu werden. Ist das nicht Grund genug? Es muss ja nicht immer die Falschen treffen! Bitte tun Sie was!" „Wissen Sie um den Anlass der Entführung?" Sinia sah ihn zweifelnd an. Bevor sie etwas sagen konnte, wischte Safar mit einer Handbewegung die Bemerkung als unwichtig weg. „Lassen wir das. Also gut, ich werd' s mir überlegen, wenn Sie mir vorher sagen, wer Sie sind, Ihre Auftraggeber und Informanten", zählte er auf. Sinia bewegte langsam ihren Kopf hin und her. „Das ist unwichtig, es gibt da nichts, es gibt nur Ihr Eingreifen und Ihren Triumph, den Sie nach Belieben umsetzen können. Reicht das nicht?" Safar merkte sehr wohl, dass diese fremde Frau ihm jetzt nichts verraten würde. Da sie ihm aber auch nicht gefährlich schien, verwarf er den Gedanken, mit Gewalt etwas herauskriegen zu lassen, gleich wieder. Ihn reizte das Spiel und er war sich seines Sieges sicher. Außerdem war ihm zumindest der Stand der Verhandlungen bekannt. „Mich würde nur noch interessieren, an was Sie meinen Doppelgänger entlarvt haben. Verraten Sie mir wenigstens noch das?", fragte er schmeichelnd. „Oh, es lag nicht an ihm. Er war perfekt. Es ist nur..., ich kenne Ihr Gesicht wohl etwas zu genau", versuchte Sinia zu erklären. „So?" „Ich hatte ein recht gutes Foto von Ihnen. - Es stand eine ganze Weile an meinem Bett", sagte sie mit entwaffnendem Lächeln. Er grinste geschmeichelt zurück. „Das erklärt natürlich alles!" „Es wird Zeit. Sie erlauben, dass ich gehe?" „Wollen sie hier nicht abwarten, ob die Entführten freikommen?" „Ich habe erreicht, weshalb ich gekommen bin. Mehr kann ich nicht tun, außer hoffen. Alles weitere ist Ihre Entscheidung!" Sinia stand auf und zuckte mit den Achseln. „In sha’ allah!" Sie nahm ihren Umhang und ging zu der Schiebetür, durch die sie gekommen war. Aber die Automatik öffnete sie nicht. „Sieht so aus, als müssten sie doch hier bleiben!" stellte Safar grinsend fest. Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, griff Sinia an der linken Seite der Tür hinter den Vorhang, der diese zu beiden Seiten umrahmte. „Wenn sie mal nicht funktioniert, kann man sie mit dieser Kurbel auch manuell öffnen", bemerkte sie, während sie eine kleine Klappe öffnete und an der Kurbel drehte. Sie hatte doch einen perfekten Lehrer gehabt! „Ich wusste nicht, dass sie sich auch in meinem Haus so gut auskennen!", sagte er anerkennend. „Ich werde sie gehen lassen, aber nicht ausreisen. Noch nicht. Sie verstehen?" © S. Remida
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„Ich werd' s mir überlegen. Sie haben ja noch meine Papiere!" „Mein Wagen steht Ihnen unten zur Verfügung. Er bringt Sie zum Hotel zurück!" Sinia zog ihre Stirn in Falten und blickte Safar, der nun in seiner ganzen Größe vor ihr stand, nachdenklich an. „Sie sind ein ungewöhnlicher Mann. Alleine Sie kennen gelernt zu haben, hat den langen Weg gelohnt. Ich vertraue auf Sie!" „Wenn Sie mir vertrauen, werden Sie bei unserem nächsten Gespräch doch etwas mehr über sich verraten. Im Augenblick weiß ich nur, dass Sie offenbar recht mutig sind!" „Und hoffentlich nicht zu leichtsinnig!" erwiderte Sinia. "Möge Allah Sie beschützen!" „Auf Wiedersehen!" betonte er und winkte einen Soldaten her, der sie hinausbegleitete. Ungesehen, wie sie gegangen war, huschte Sinia nun wieder in ihr Zimmer. Schnell zog sie sich um. Es war besser gelaufen, als sie gedacht hatte. Selbst die Wachposten auf dem Hotelkorridor waren verschwunden und auch draußen schien niemand abgestellt worden zu sein, wie sie von ihrem Fenster feststellen konnte. Sie musste nun ihr Verschwinden vorbereiten. Safar würde seine Entscheidung unabhängig von ihr treffen und sich alleine von einer Abwägung aller möglichen Vorteile und wie er sie sich sichern könnte leiten lassen. Sinia klopfte an der Zimmertür von Sven Gustavson. Sein Ja, ließ Sie aufatmen. „Hi, darf ich einen Moment hereinkommen?" Der junge Mann war erfreut. Sie unterhielten sich über Belanglosigkeiten, wobei Sinia hauptsächlich ihn reden ließ. Wegen der Kassette sei sie eigentlich gekommen, tat Sinia, als sei es ihr eben wieder eingefallen und Sven Gustavson erklärte sich sofort bereit, sie zu holen. Minuten später kam er wieder ins Zimmer. Sinia hatte sich von einem Teller mit Obst Weintrauben geholt und sich auf das Bett gesetzt. „Ich darf doch?", fragte sie, deutete auf die Früchte und schob sich eine Traube in den Mund. Selbstverständlich, erwiderte er wortreich. „Ach herrje, ich sollte doch noch meinen Führer für morgen anrufen", kam Sinia plötzlich ein. Der Schwede bot sein Telefon an. "Von hier können Sie überall hintelefonieren!" Sinia holte das Telefon vom Nachttischchen und stellte es aufs Bett, legte den Hörer daneben und wählte mit dem kleinen Finger behände die Nummer, die El Basan ihr angegeben hatte. „Oh, ich muss mir erst die Hände waschen. Können sie so lange den Hörer nehmen? Fragen Sie nur nach Al Fa!" sagte Sinia schnell und steckte sich die letzte Traube in den Mund. „Al Fa? oder Al Fach?" fragte Gustavson nach und hielt den Hörer ans Ohr. Sinia zuckte mit den Achseln, ging ins Badezimmer und wiederholte kauend und entsprechend undeutlich den Namen. Der junge Mann bemühte sich einen Al Fach oder Fa ans Telefon zu kriegen. „Ist das auch die richtige Nummer? Da scheint kein Al Fach zu sein!" „Wirklich? Dann legen Sie auf. Ich probier es morgen noch mal. Ist sowieso schon reichlich spät. Aber danke!" Sinia kam zurück und sah auf ihre Uhr. „Ich sollte schlafen gehen, morgen wartet ein langer Tag auf mich, dieser Führer will mir eine ganze Reihe von Sehenswürdigkeiten zeigen!" „Nur noch ein Drink!", versuchte Gustavson sie zu halten und kam ganz nah an sie heran. Sinia lächelte lieb. „Nicht bös sein, aber ich bin wirklich müde. Können wir das nicht auf morgen Abend verschieben? Sieben Uhr? Ich hätte dann die ganze Nacht Zeit!", sagte sie vielversprechend. Der Mann schien leicht enttäuscht, aber die Aussicht auf den nächsten Abend stimmte ihn versöhnlich.
„Morgen um sieben, und du vergisst es nicht, bestimmt?", hakte er nach und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Sinia nickte, holte ihre Kassette und hauchte von der Tür ihm einen Handkuss zu. „Bis morgen! Träum süß!" Und eilig verschwand sie in ihr Zimmer. Geschafft! ********** Gegen halb vier Uhr morgens schlich eine vermummte Frau aus dem Hotel und wenig später fuhr die gleiche Frau mit einem alten amerikanischen Auto durch die fast menschenleere Stadt in Richtung © S. Remida
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Westen. Es war Sinia, die als Marie Russell mit zierlicher Brille, schwarz gefärbten Lockenhaar und sonnengebräunter Haut die Dunkelheit der frühen Stunde für ihr unauffälliges Verschwinden nutzte. Fast alles, was sie als Katrin Steiger mitgebracht hatte, hatte sie wie von El Basan geraten im Hotel zurückgelassen. Dafür war im Kofferraum eine Tasche mit anderer Kleidung bereits deponiert. Nachdem alles so reibungslos gelaufen war, hielt Sinia diese detaillierten Maßnahmen im Grunde für überflüssig. Nun, denn! El Basan hatte sogar das vereinbarte Codewort erhalten und würde beruhigt auf sie warten. Nur selten begegnete sie einem Menschen. Die Autostraße zum westlichen Nachbarland verlangte wenig Konzentration, so dass sie ihren Gedanken nachhängen konnte. Der Kassettenrecorder spielte flotte Popmusik. Sie dachte an ihre Kinder und dass sie wegen der gründlichen Vorbereitungen ihnen viel zu wenig Zeit gewidmet hatte. Dabei hatte sie das Wenigste davon tatsächlich gebraucht. Selbst die kurzfristig abgeschlossene Reiserisikoversicherung, all die Impfungen und gar die "Dreimonatsspritze" erschienen ihr nun als reichlich übertriebe Vorsichtsmaßnahmen. Sie lächelte belustigt. Nach und nach löste sich die Anspannung der letzten Wochen. Sie fühlte sich befreit und erleichtert und bald ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Sie hatte alles getan, was in ihrer Macht stand. Es dämmerte schon der Morgen, als Sinia im Rückspiegel zwei sich rasch nähernde Lichter bemerkte. Wohl irgend so ein Möchte-gern-Rennfahrer! Aber dann identifizierte sie das Auto als einen Militärjeep. Sie beschleunigte ihre Fahrt, doch der Wagen hatte sie rasch eingeholt und nach einem rasanten Überholmanöver zu einer Vollbremsung gezwungen. Sinias Nerven waren aufs Äußerste gespannt. Langsam ließ sie ihren Wagen zurückrollen. Der Jeep wendete und fuhr auf sie zu. Sinia passte den richtigen Moment ab und mit durchdrehenden Reifen und voll aufgeblendeten Scheinwerfern peilte sie den Geländewagen an, der in letzter Sekunde in den weichen Straßenrand auswich, während Sinia knapp an ihm vorbeisteuerte und mit Höchstgeschwindigkeit davonfuhr. Es sah so aus, als hätte sie ihn abgehängt, als ein Düsenjäger in geringer Höhe von hinten über sie hinwegdonnerte, weit vor ihr eine Schleife zog und im Tiefflug zurückkam. Dann war er verschwunden. Sinia fuhr mit durchgedrückten Gaspedal. Vor ihr kündigte ein fernes Grollen das Jagdflugzeug erneut an. Diesmal eröffnete es sogar das Feuer. Maschinengewehrsalven schlugen bis dicht vor ihrem Fahrzeug in die Straße ein. Und schon drehte es im weiten Bogen und kam wieder auf sie zu. Sinia trat auf die Bremse, dass ihr Auto leicht schleuderte. Im Rückwärtsgang fuhr sie so schnell wie möglich die gerade Straße zurück. Da tauchte auch der Jeep wieder hinter ihr auf. Von vorne näherte sich der Jäger, seine Reifen berührten fast die Straße. Unter seinem Dauerbeschuss spritzten vor ihm tanzende Stein-Staubfontänen hoch. Wenige Meter vor dem Jeep kuppelte Sinia aus, bremste abrupt, dass eine große Staubwolke entstand und umfuhr mit Vollgas den Düsenjäger, der im letzten Moment vor dem Jeep hochstieg. Offenbar hatte der Fahrer des Jeeps vor Schreck den Motor abgewürgt, so dass Sinia schnell an Vorsprung gewann. Auch das Flugzeug blieb weg. Sinia atmete auf. Aber die Staatsgrenze war noch weit! Die Straße führte über einen kleinen Hügel und dahinter glaubte Sinia ihren Augen nicht zu trauen. Der Düsenjäger war mitten auf der Fahrbahn abgestellt und vor ihm stand mit einer Maschinenpistole im Anschlag der Pilot. Es war unmöglich, das gefährliche Hindernis zu umsteuern. Sinia ließ das Auto ausrollen und hielt direkt vor dem Mann. Mit einem Druck stellte sie die Musik ab. „Wohl keinen Sprit mehr? Soll ich Sie bis zum nächsten Ort mitnehmen oder Hilfe schicken?", rief sie auf arabisch. „Aussteigen!" „Dazu habe ich leider keine Zeit! Termine, Sie verstehen? Wenn ich sonst nichts für Sie tun kann, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich durchlassen würden!" Der Pilot kam zu ihrer Tür und öffnete sie. „Aussteigen!", befahl er nun auf englisch. „Langsam, langsam, gehört das auch noch zu ihren Angriffsübungen? Ich werde mich beschweren, ich bin Zivilist! Können Sie Ihre Kriegsspiele nicht auf den Bodentrupp beschränken, der da hinten irgendwo unterwegs ist?" © S. Remida
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„Wir haben Auftrag Sie zurückzubringen!" Im Rückspiegel tauchte der Jeep wieder auf und hielt quietschend hinter Sinias Wagen. Auf der Beifahrerseite wuchtete sich zu ihrem Schreck der Dicke aus dem Militärstützpunkt heraus. Wütend rieb er sich mit einem Tuch sein verschwitztes Gesicht ab und stapfte herbei. „Was fällt Ihnen ein? Sie hätten uns fast umgebracht! Sie sind festgenommen! Los, Sie kommen mit! Geben Sie mir Ihre Papiere!", wandte er sich nach Luft ringend an Sinia. „Das Gefühl hatte ich auch. Aber er war's! Man sollte ihm den Pilotenschein nehmen!", zeigte sie auf den jungen Mann. Der Dicke zerrte Sinia am Arm aus dem Wagen. „Lassen Sie mich los! Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie eigentlich?", schrie sie ihn an und entwand sich seinem Griff. Schutzsuchend stellte sie sich neben den Piloten, der ihr immer noch sympathischer erschien. „Ich bringe Sie zurück, dann werden wir erst mal feststellen, wer Sie sind", erklärte der Dicke. „Als Entführungsopfer bin ich kein lohnendes Objekt. Suchen Sie sich jemanden anderes! Oder sind sie an internationalen politischen Verwicklungen interessiert?" Der Dicke winkte die anderen beiden Insassen des Jeeps zu sich. „Nehmt sie fest!" Sinia wandte sich angstvoll an den Piloten und sagte auf englisch. „Sie wollten mich doch auch mitnehmen. Mit denen gehe ich auf keinen Fall! Da müssen die mich schon umbringen!" Eine kurze Diskussion zwischen den Männern folgte, dann sagte der Militärpilot zu Sinia: „Sind Sie schon mal in so einer Maschine geflogen?" Sinia schüttelte den Kopf. „Sie kommen mit mir, aber keine Dummheiten, sonst zeige ich Ihnen ein paar Tricks, die Ihnen wenig bekommen dürften!" Erleichtert schlüpfte Sinia aus dem schwarzen Gewand, drückte es dem verdutzten uniformierten Dicken in die Hand und eilte nun in heller Hose mit einem weiten schwarzen Hemd darüber dem Piloten hinterher. Sinia saß im engen Cockpit hinter dem Flugzeugführer und war über den Helm mit eingebautem Mikrophon mit ihm verbunden. Minuten später jagte die Düsenmaschine schnell an Höhe gewinnend davon. Der Pilot meldete sich bei ihr. "Alles okay? Ich heiße übrigens Jaffar. Sie kommen aus einem westlichen Land, stimmt' s?" „Ich bin Marie Russel aus der Schweiz!" „Dann sprechen Sie deutsch? Ich habe in Deutschland studiert!", sagte Jaffar in hartem Deutsch. „Wirklich?", entfuhr es Sinia und hielt erschrocken inne, weil das deutsch und nicht schweizerisch geklungen hatte. „Keine Angst, ich verrate nichts. Ich habe Sie eh nicht für eine Schweizerin gehalten. Wenn Sie sich mal in ihrer Sprache unterhalten möchten, lassen Sie 's mich wissen, ich bin da!", bemerkte er, als habe er ihre Gedanken gelesen. „Was will man eigentlich von mir?" „Das müssten Sie besser wissen als ich!" Sinia schwieg. „He junge Frau, Sie können mir wirklich vertrauen, aber das merken Sie noch selbst!" Dabei ließ er es bewenden. Er konzentrierte sich auf das Funkgespräch mit einer Bodenstation. Zwischendurch erklärte er ihr Besonderheiten, die sie überflogen. Noch hielten bei Sinia Angst und Neugier sich die Waage. Ob sie ihm trauen konnte? Sie würde einen Freund jetzt schon gut brauchen können... ****** Längst hatte der Muezzin zum Mittagsgebet gerufen. Sinia lag nun schon seit Stunden auf einer couchähnlichen Liege, eingeschlossen in dem nur mäßig hellen Raum mit seinen kalten weiß getünchten Wänden und grauen Decke. Nach der Landung auf einem ihr unbekannten Militärflugplatz, hatte man sie mit verbundenen Augen sogleich hierher gefahren. Nun wartete sie in diesem kleinen Zimmer auf der Liege auf, sie wusste © S. Remida
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nicht was! Das einzige Fenster oder besser die Fensteröffnung war unerreichbar hoch und obgleich kein Glas eingelassen war, drang kein Sonnenstrahl und kein Geräusch zu ihr hinein. Sie war todmüde und hatte keine Kraft mehr, ihre Ängste zu bekämpfen. Furchtbare Visionen schreckten sie immer wieder aus ihrem Halbschlaf auf. Sie fröstelte und Angstschweiß perlte auf ihrer Haut. Mehrere schwere, schlurfende Schritte näherten sich und schreckten sie auf. Ihr Herz raste als die Tür aufgeschlossen wurde und fünf Soldaten eintraten. Ohne Umschweife wurde sie gepackt und mitgenommen und über lange Gänge und Treppen in einem riesigen, schwach beleuchteten Saal gebracht. Hier stand schon eine unüberschaubare Anzahl von teils uniformierten Männern in Gruppen verstreut und schien zu warten. Oben auf der Empore öffnete sich eine Doppeltür und aus der grellen Helligkeit traten mehre Leute ein und kamen die Treppe hinab. Sofort erkannte Sinia unter ihnen Rashid Safar, der eine dunkle Brille trug. Die Gruppe kam auf Sinia zu, die immer noch von zwei Soldaten festgehalten wurde. Safar trat vor und kam ganz dicht an Sinia heran. Er schnippte mit den Fingern und gleißendes Licht ließ die Halle in ihrer ganzen Pracht erstrahlen. Er bedeutete dem einen Soldaten, ihr die Brille abzunehmen. Sinia blinzelte, wie sie es oft bei Brillenträgern beobachtet hatte. Langsam nahm Safar nun seine Sonnenbrille herunter, musterte die junge Frau eindringlich und schob seine Brille mit einem Anflug eines Lächelns wieder hoch. Dann drehte er sich wieder um zum Gehen und rief dabei zu seinen Männern: „Wascht erst mal die Farbe von der Lady ab!" Die Meute reagierte mit begeistertem Gegröle. „Nein! Nein! Das können Sie nicht zulassen!", schrie Sinia entsetzt und befreite sich mit einem Tritt ins Knie von dem einem und mit einem kräftigen Stoß ihres Ellebogen in die Rippen des anderen Soldaten. Safar drehte sich zu ihr um und augenblicklich verstummte das Gejohle. „Also gut, dann sage deinen Namen und den deiner Auftraggeber, Helfer und Informanten!", befahl er scharf. „Ich bin Marie Russell. Ich weiß nicht, wovon Sie reden!", schrie sie mit verzweifelter Stimme zurück. Obwohl ihr längst klar war, dass Safar sie erkannt hatte. Der Minister zuckte gleichgültig mit seinen Achseln, wandte sich zum Gehen und signalisierte mit einem kurzen Wink seinen Schergen weiterzumachen. Augenblicklich stürzten sie sich auf Sinia und drängten sie zurück. Hinter ihr hatten die Männer eine schmale Gasse freigelassen, die zu einem riesigen Brunnen mit einem üppig bepflanzten hochaufragenden Felsen in seiner Mitte führte. Mit begeistertem Geschrei wurde Sinia nun dorthin getrieben. Mit einem riesigen Satz flüchtete Sinia auf den steinernen Brunnenrand und sprang beherzt hinein. Das kalte hüfttiefe Wasser stockte ihr den Atem, dennoch watete sie voller Panik zu dem wohl vier Meter hohen Felsstein in der Mitte. Sie stolperte über Wasserpflanzen und rutschte auf glatten Steinen aus, ging unter und rappelte sich wieder hoch, wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht und stellte dabei erschrocken fest, dass die schwarze Farbe sich aus ihrem Haar löste, ebenso wie der braune Teint von ihrer Haut. Sie hatte extra leicht auswaschbare Färbemittel genommen um sich problemlos in Sinia Martin zurückverwandeln zu können, als die sie nach Deutschland ja zurückfliegen musste. Einige Männer waren ihr hinterhergesprungen, das trieb sie weiter zum Fels, von dem auf verspielten Wegen Wasser herunterfloss. Sie kletterte an dem nassen und stellenweise auch glitschigem Gestein hinauf, vorbei an Schlingpflanzen, jungen Palmen und exotischen Blütensträuchern. Auch ihre Verfolger begannen den Steinbrocken zu besteigen und griffen johlend nach ihren Füßen. Oben angekommen klammerte sie sich an den Stein und trat mit den Füßen wild nach unten. Sie sah sich hilfesuchend um. Etwa acht Meter gegenüber von ihr entfernt zog sich ein Bogengang an der Wand entlang und in dieser Wand stand eine Tür achtlos offen. Flink krabbelte sie auf die andere Seite des Felsens, rutschte ein Stück hinunter und sprang in den Brunnen. Kletterte über den Rand und rannte auf die Tür zu, dicht gefolgt von den Männern. Als sie an einer der Säulen vorbeikam, riss eine Hand sie brutal zurück und drehte ihr den rechten Arm schmerzhaft auf den Rücken. Ohne sie loszulassen, schleuderte der kräftig gebaute, in arabische Tracht gekleidete Kerl sie gegen die Wand, dass sein Gewand wild umherwirbelte und das lange © S. Remida
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Tuch um seinen Kopf ihr ins Gesicht peitschte. Sinia sah in zwei pechschwarze Augen, die aus einem verwegenen Gesicht mit schwarzen Bartstoppeln vor siegreichem Jagdfieber leuchteten. Noch ehe sie sich wehren konnte, hatte er mit seiner linken Hand ihren freien Arm am Handgelenk gepackt und drückte nun seinen Unterarm gegen ihren Hals. „Du kommst hier nicht mehr raus!", zischte er. „Red endlich, wer bist du?" Sinia versuchte zu sprechen, aber es kam kein Ton heraus. Er lockerte den Druck auf ihren Hals, drückte dafür mit einem kurzen Ruck ihren Arm hinter ihrem Rücken nach oben. „Au!", schrie sie vor Schmerzen auf. „Du bringst mich ja schon vorher um!" Sinia schloss die Augen und atmete schwer. Da fiel ihr wieder der Pilot ein. Sie hatte ihn hier nirgends gesehen. Verzweifelt ob ihrer aussichtslosen Lage, manifestierte sich plötzlich die irrwitzige Hoffnung auf eine Rettung durch diesen Mann. Sie holte tief Luft, sah ihren Peiniger an und schrie aus voller Kraft auf Deutsch: „Jaaffaaar! Hilf mir!" Im Gesicht ihres Gegners glaubte sie so etwas wie Triumph zu erkennen. Er ließ sie los und unvermittelt holte er zu einem Schlag aus, der, noch ehe er ihr Gesicht traf, von Jaffar blitzschnell abgeblockt wurde. „Tu’ s nicht!", raunzte er beschwichtigend seinem Landsmann zu. Der versuchte ihn abzuschütteln, besann sich aber dann und ließ mit einem unverschämten Grinsen von Sinia ab. „Das nächste Mal wirst du vergeblich auf deinen Retter warten!" „Bringen Sie mich weg, von diesem Wahnsinnigen", flüsterte Sinia tonlos in deutsch. „Sie wissen wohl nicht, wer er ist? - Er ist Karim, Safars Sohn!" klärte Jaffar sie auf. Sinia wurde schwindelig. Sie lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. „Oh, Gott!" Darauf war sie nicht gefasst gewesen! Warum hatte sie sich auch nie für seine Familie interessiert? Wenn sie nur irgendwie weg von hier könnte oder wenigstens ohnmächtig würde! Ja, das war' s! Hoffentlich wirkte es echt, dachte sie und sackte kraftlos in sich zusammen und fiel hart auf den Steinboden, noch ehe Jaffar sie auffangen konnte. Er hob sie hoch und rief nach einer Decke, die auch schon um ihren nassen, kalten Körper gelegt wurde. „Na bitte, jetzt hast du sie doch umgehauen!", wandte sich Jaffar an Karim. Sinia tat, als käme sie wieder zu sich und Jaffar ließ sie vorsichtig wieder hinunter, hielt sie aber am Arm fest. „Geht es wieder?", erkundigte er sich besorgt. Sinia nickte dankbar und raffte die Decke fester um ihren zitternden Körper, an dem ihre nassen Kleider eiskalt klatschten. „Bringt sie zurück!", befahl Karim ein paar Männern, dann wandte er sich an Sinia. „Wir sprechen uns noch!" Das war eine Drohung! ********** Zurück in ihrem kahlen Gefängnisraum, fand sie ihre Tasche aus dem Hotel, wie auch den Koffer aus dem Auto vor. Eilig zog sie sich um. In trockenen Jeans, einem Hemd, darüber dem einzigen, wenn auch leichten Pulli und einer Jacke fühlte sie sich schon wohler. Sie legte sich wieder auf die Couch, doch eine innere Unruhe ließ sie nur leicht vor sich hindämmern. Es war schon Nacht, als sie leise Schritte hörte. Ihre innere Stimme zwang sie aufzustehen, die Reisetasche an ihrer statt dort hinzulegen und zuzudecken. Dann stellte sie sich hinter die Tür und wartete gespannt. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und der Schein einer Taschenlampe fiel auf die Couch. Ein Mann huschte herein und schloss hinter sich lautlos die Tür. Er schlich zur Liege, zog die Decke weg um sich auf die vermeintlich Schlafende zu stürzen und hielt erschrocken inne. Sinia hatte die Gestalt längst erkannt. „Suchst du mich, Karim?", fragte sie mit fester ruhiger Stimme. „Ja, und jetzt hab ich dich!", sagte er mit einem Unterton, der keinen Zweifel daran ließ, was er mit ihr vorhatte, dabei hielt er den Lichtkegel genau auf sie, während er langsam näher kam. Sinia fixierte ihn und wartete bis er nah genug war. Wie eine Katze sprang sie ihn an, dass er nach hinten stürzte. Schon saß sie auf seiner Brust und hatte mit überkreuzten Händen seinen Kragen gepackt und zog nun beide Seiten gegeneinander, wobei sie ihre Fingerknöchel auf seine Halsschlagader drückte. Karims Gegenwehr erschlaffte sofort. Sinia lockerte ihren Griff. „Du hast die Wahl! Entweder du verschwindest und niemand erfährt hiervon oder ich schreie so laut, bis sich genug Leute von deiner mißlichen Lage überzeugen konnten, wenn du verstehst, was ich meine!"
„Schon gut! Es tut mir leid! Ich weiß, das war dumm", reagierte er unerwartet einsichtig. © S. Remida
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Sinia lächelte, so schnell wird ein brutaler Macho lammfromm. „Ich will's mal glauben!", gab auch sie nach. Langsam ließ sie ihn los, reichte ihm die Hand zum Aufstehen und gab ihm seine Taschenlampe zurück. In seinem Schein trafen sich ihre Blicke, lauernd, unsicher. Sinia suchte nach irgend etwas sympathischen in seinem Gesicht, aber das schwache Licht ließ den unrasierten sechsundzwanzigjährigen Ministersohn mit den schwarzen ungebändigten Locken und den stechend dunklen Augen, nur noch dämonenhafter erscheinen. „Bitte geh!", sagte Sinia eisig. „Glaub nur nicht, dass du jetzt gewonnen hast! Du wirst noch viel Zeit haben, um zu bedauern, dass du hergekommen bist!" Selbstbewusst schritt Karim zur Tür. Theatralisch wandte er sich nochmals um. „Du wirst mich noch fürchten lernen, wenn du nicht aufgibst!" Dann war sie wieder alleine. ******* Am nächsten Morgen fand Sinia eine goldene Kette mit einem goldenen Amulett auf dem Boden. Sie hatte es Karim bei dem nächtlichen Kampf wohl abgerissen. Sie steckte es ein. Mit dem um halb acht gebrachten Frühstück wurde ihr mitgeteilt, dass Rashid Safar sie nachher erwarteten würde. Das hieß für sie, ihr Outfit entsprechend anzupassen. Sie wählte den braunen halblangen Rock, mit dem sie in dies Land gekommen war und eine schneeweiße schlichte Bluse. So hoffte sie auf Safar einen mädchenhaft harmlosen und schutzbedürftigen Eindruck zu machen. Rashid Safar saß mit seinem Sohn und zwei weiteren Männern, alle hemdsärmelig in westlicher Kleidung, in einem sonnendurchfluteten luxuriös ausgestatteten Salon und genoss ein gemeinsames üppiges Frühstück. Die Umgebung erinnerte Sinia sofort an den in die Schweiz abgetauchten alten Iraker. Die vier Männer schienen sich an ihrer Gegenwart nicht zu stören. Nach einem kurzen Gruß wandte Sinia ihr Interesse den Kostbarkeiten des Raumes zu. Schließlich erhob sich Rashid und winkte Sinia zu sich. „Ich will Ihnen etwas zeigen, Lady!", sagte er in englisch. Sinia folgte ihm in einen abgetrennten Raum. Als sie an Karim vorbeikam, zischte sie leise „Hier!" und warf ihm seine verlorene Kette zu. Reflexartig fing er sie auf und ließ sie überrascht in seiner Hosentasche verschwinden. Safar drehte sich fragend um, sagte aber nichts. Dann zeigte er mit einer Fernbedienung auf einen überdimensionalen Bildschirm. Sinia sah gespannt auf die schwarze Scheibe. Weiße Streifen flackerten auf und unvermittelt erschien das Bild. Sinia trat ungläubig einen Schritt nach vorne. Vorbei an gleißendem Scheinwerferlicht gingen sechs fröhlich in die Kamera winkende Männer in die Nacht zu einer hell angestrahlten französischen Militärmaschine. Und einer davon war Chris, ihr Mann! Sauber gekleidet und frisch rasiert machte er einen glücklichen Eindruck, vielleicht etwas abgemagert, aber offenbar gesund! Die sechs stiegen die Gangway hoch, wurden an der Bordtür mit Blumen begrüßt und verschwanden im Innern. Wenig später hob das Flugzeug ab und verschwand in der Dunkelheit. Safar klickte das Gerät aus. „Das war gestern Abend in Adis Abeba. Nach einem Zwischenstopp in Kairo, sind sie inzwischen auf der Air Base in Frankfurt gelandet. Leider unter Ausschluss der Presse. Deshalb habe ich nur diese Videoaufzeichnung." „Sie sind wirklich frei? So schnell? Sie haben es wirklich getan?" Sinia konnte es noch gar nicht fassen. Es war vorbei! Ihr Mann war frei! „Glauben Sie mir nicht?", fragte Safar freundlich. „Doch", sagte sie bewegt, „Sie haben keinen Grund so etwas zu inszenieren. Es ist nur... Nach all dem, habe ich kaum noch dran geglaubt. - Au, Mann, Sie sind super!" Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu. In ihrer riesigen Freude wäre sie ihm am liebsten um den Hals gefallen, sie hielt abrupt inne. „Oh, Entschuldigung!" Safar lächelte über ihren Gefühlsausbruch. © S. Remida
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„Sie haben ihnen das Leben gerettet!", erklärte sie im beherrschten Ton. „Ich danke Ihnen. Ich werde immer in Ihrer Schuld stehen!" „Aber, aber! Es ist doch Gebot jedes Moslems, denen zu helfen, die seiner Hilfe bedürfen!", wiegelte Safar salbungsvoll ab und fuhr nach einer Pause fort, „Außerdem, ich habe nur meinen Teil der Abmachung erfüllt! - Nun sind Sie dran! Und Sie können unser Land jederzeit verlassen!" Sinias Miene verfinsterte sich, was für eine Wendung! „Nur die Namen! Alle!", wurde Safar deutlich. „Weshalb? Es ist doch vorbei! Außerdem war das nie vereinbart", versuchte Sinia klarzustellen. „Und es ist doch auch nichts passiert?" Safar nahm in einem bequemen Sessel Platz, während er beiläufig sagte: „Sehen Sie, diese Jungs hatten teils sogar gefälschte Papiere. Ich habe sie dennoch befreit, auch ohne ihre wahre Identität zu verlangen." „Aber wieso? Ich verstehe nicht?" Wenn das stimmte, war es zumindest ein beruhigender Gedanke, dass man ihrem Namen somit auch noch nicht auf der Spur war. „Firmenpolitische Gründe? Vorsichtsmaßnahme? Egal! Ich glaube auch nicht, dass uns die richtigen Namen viel weiterhelfen würden. - Sie könnten uns wirklich viel Zeit und sich Unannehmlichkeiten sparen, wenn Sie reden würden!" Sinia schüttelte den Kopf. Ihre Gedanken wirbelten. „Es war alles meine Idee! Ich musste irgendwie bis zu Ihnen kommen und Sie dazu bringen, die Männer zu retten. Sie haben es Gott sei Dank getan. Wenn Sie aber trotzdem jemanden standrechtlich erschießen wollen, dann mich!", merkte sie lapidar an. „Lady, Sie wissen, für welche Namen ich mich interessiere!", sagte Safar gelassen. „Nun, überdenken Sie es in Ruhe. Mein Sohn wird sich freuen, Sie so lange als Gast hier zu haben!" Ach so!, dachte Sinia, und hatte sich augenblicklich wieder in Gewalt. Cool bleiben! Sie lächelte abfällig. „Wollen Sie ihm das wirklich antun?" „Warum?" fragte Safar verwundert. „Na, vielleicht bin ich gefährlich! Aber auf jeden Fall doch viel zu alt für ihn!" „So? Keine siebenundzwanzig beziehungsweise neunundzwanzig, wie in den Pässen ausgewiesen?", erkundigte er sich spöttisch. „Diese Angaben sind tatsächlich sehr schmeichelhaft! Nur im Verhältnis zu Ihnen bin ich noch relativ jung!" „Ja, wenn das so ist!", Safars Stimme wurde scharf. „Möchten Sie nicht doch etwas mehr verraten? Wollen Sie denn nicht älter werden!" „Vergessen Sie's!" Sinia blieb freundlich, aber sie begann zu pokern. „Ganz schön stur, Lady! Wie Sie wollen! Im Gefängnis werden sie schon zur Besinnung kommen!" „Bedauerlicherweise habe ich nicht vor, länger hier zu bleiben!" „Sie können ja versuchen zu fliehen!", grinste Safar. „Eben! Werde ich auch!" Safar betrachtete sie abschätzend. „Sie wissen schon wie?“, fragte er belustigt „Klar, es gibt immer eine Möglichkeit! Lassen Sie sich überraschen!" Sinia klang sehr überzeugt. Ihr war ein verrückter Gedanke gekommen. Sie musste ihn nur neugierig genug machen. Safar taxierte sie aufmerksam, dann drückte er auf einen Klingelknopf an der Wand. Sofort eilten drei Soldaten herbei. Hinter ihnen erschien auch Karim. „Bringt Sie in den Keller und passt auf, dass Sie euch nicht entkommt!" Karim grinste böse. Er ließ sich von einem der Uniformierten Handschellen geben und fesselte Sinias Hände auf den Rücken. „Warum bringen Sie mich nicht selbst dahin? Dann könnten Sie beruhigt sein - oder auch nicht!", reizte Sinia den Minister. „Lady, das ist kein Spaß mehr!", erklärte er warnend. „Ich meine es auch ernst - todernst!" betonte sie. „Raus mit ihr!", befahl Rashid wütend mit gedämpfter Stimme. © S. Remida
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„Moment noch Leute", wandte sich Sinia ganz ruhig an die bewaffneten Soldaten, zerrte ihren Arm aus Karims Griff und ging, wohlwissend, dass alle MPs auf sie gerichtet waren, mit gefesselten Händen zu Safar. Sie schaute in sein verfinstertes Gesicht, doch im Geiste stellte sie sich sein Foto von zuhause vor, das Gesicht, das ihr vertraut geworden war, ja, sie gar liebgewonnen hatte! Mit dieser Erinnerung kehrte sie in die Gegenwart zurück. Sanft sah sie in seine Augen. „Nur das Erreichte zählt für mich, alles andere ist dagegen unwichtig! Das sollten sie wissen. -- Allah beschütze Sie!" Sie trat einen Schritt zurück und deutete eine Verbeugung zum Abschied an. „Leben Sie wohl!" Dann ging sie zu den Soldaten. „Keine Angst, ich pass schon auf euch auf!", beruhigte sie zynisch mit einem Blick auf deren im Anschlag gehaltene Waffen. Karim zerrte sie brutal fort. **** Die Gefängniszelle war dunkel, modrig und kalt. Die Wände aus grob gehauenen Steinen glänzten feucht im schwachen Schein der Kerze, die man ihr gelassen hatte. Auf einer einfachen Eisenpritsche lag zusammengeknüllt eine schäbig alte Decke. Sinia lief vor Ekel ein Schauer über den Rücken. Kein Fenster, keine Öffnung, durch die etwas Licht oder wenigstens frische Luft dringen konnte, dafür aber, wie sie plötzlich in dem Halbdunkel über der eisernen Kerkertür oben an der hohen Decke zu erkennen glaubte, eine Überwachungskamera. Das gibt's doch nicht, dachte sie verwundert. Ob die noch funktionierte? Jedenfalls musste sie das Ding sicherheitshalber außer Gefecht setzen, ehe sie mit ihrem Vorhaben, der Flucht, begann. Sie setzte sich auf die Liegefläche, die aus alten, grob gehobelten Holzbrettern bestand, und dachte nach. Es gab viel zu denken und sich geistig auf das, was sie tun wollte, einzustellen. Denn es gab jetzt kein zurück mehr! Sie konnte auf kein Rumpelstilzchen hoffen, das um den Preis ihrer Freiheit mit sich dealen ließ, kein Zauberspruch sprengte die Wände und Tarnkappen oder durch die Mauer gehen, das gab es nur in Märchen. Sie war mit ihrem Körper hier gefangen. Allein ihr Geist konnte entfliehen! Und das wollte sie! Nervös spielte Sinia mit ihrer Kette und sah sich suchend um. Doch weder ein geeignetes Stück Stein noch ein scharfes Eisenteil mochte sie entdecken, wobei eine Infizierung durch den Schmutz der hier alles überzog, zusätzlich abschreckte. Der Stein in ihrer Kette, fiel ihr plötzlich ein, der konnte für ihre Zwecke scharfkantig genug zugeschliffen sein! Die Kamera war das andere Problem. Sie musste versuchen, die filzige Decke hoch genug und darüber zu werfen. „Ich muss es schaffen! Ich schaffe es! Ich schaffe es!", suggerierte sie sich leise. Aus ihrer Erinnerung erschienen lachend ihre zwei Mädchen und Chris mit Andy auf dem Arm. Viele schöne Momente zogen an ihr vorüber, als wollten sie Abschied von ihr nehmen. Es schnürte ihr die Kehle zu. „Vielleicht sehen wir uns doch wieder", hörte sie eine innere Stimme. Und wenn ich sterbe, wer wird davon erfahren? dachte sie verzweifelt. El Basan wird sich schon darum kümmern. Und die Auszahlung der Versicherungssumme würde etwas den Schmerz ihrer Lieben lindern!, hörte sie die tröstliche Antwort aus ihrem Inneren. Sinia wischte ihre Tränen weg. So würde sie es nie schaffen! Sie konzentrierte sich auf ihre Situation und analysierte, wie sich alles so unglücklich entwickeln konnte. Allmählich gewann sie kühlen Abstand zu ihrer Person. Es war nur noch wichtig, Wort zu halten! Und es gab ja eine geringe Chance! Nun war sie entschlossen! Sie brachte die kurze dicke Kerze hinter der Liege in Sicherheit. Dann nahm sie mit der ausgebreiteten Decke in den Händen Schwung und sprang mit kurzem Anlauf hoch. Das schmuddelige Ding fiel aber in hohem Bogen hinter seinem Dreck und Staub auf den mit groben Steinen gepflasterten Boden zurück. Entschlossen startete Sinia einen zweiten Versuch. Tatsächlich blieb diesmal das ausgefranste Filztuch über dem Objektiv hängen. Sofort machte sie sich daran, mit Hilfe ihrer Zähne den Edelstein aus seiner Fassung zu befreien. Endlich hielt sie ihn in der Hand. Sie setzte die geschliffene Kante an ihr Handgelenk an und zögerte. Den entscheidenden Schnitt auszuführen, war doch schwerer als sie dachte. Wie sehr sie noch an ihrem aussichtslosen Leben hing! Wieder und wieder spielte sie die Entwicklung bis zu diesem Augenblick durch. Es blieb ihr wirklich keine andere Wahl! Dann war sie so weit! Mit zusammengekniffenen Augen drückte sie fest auf die dünne Haut und zog © S. Remida
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schnell durch. Sofort spürte sie ein Brennen. Schnell wechselte sie den Stein in die andere Hand, atmete tief durch, „jetzt", befahl sie sich und fühlte auch an diesem Handgelenk den brennenden Schmerz. Zitternd klemmte sie den blutverschmierten Stein in seine Fassung zurück, lutschte den Anhänger kurz ab und erschrak über den metallisch-blutigen Geschmack. Sie holte die Kerze und sah in ihrem schwachen Schein, wie das Blut im pulsierenden Rhythmus aus den aufgeschnittenen Schlagadern drang. Ihr wurde schlecht. Panik kam hoch! Schnell hielt sie die Flamme an die Filzdecke, die hell auflodernd nach der neuen Nahrung griff. Sie ließ die Kerze fallen, wich zurück und kauerte sich auf die Pritsche. Gebannt starrte sie in das hell flackernde Licht, das eifrig emporkletterte und unter sich verglimmende Fetzen hinabwarf. Im Feuer flammte das Gerät für einen Moment zischend auf, dann wurde der Schein schwächer und erlosch. Es war stockfinster. Sinia spürte das klebrig warme Blut auf ihren Oberschenkeln, das durch ihren Rock sickerte. Sie war ganz ruhig und suchte Zuflucht in Erinnerungen aus ferner Vergangenheit. An was alles sie sich plötzlich erinnerte. Längst verloren geglaubte Momente durchlebte sie erneut. Was für ein wunderbares Gefühl, endlich Zeit dafür zu haben. Nichts drängte sie mehr weiter, weil es nichts mehr gab. Störend mischten sich Begebenheiten ein, in denen sie sich ungerecht oder falsch verhalten hatte. Drohenden Schatten gleich, umschlichen sie ihre Gedanken.
Sinias Herz schlug schneller, die Angst kam übermächtig zurück und machte ihr endgültig klar, dass es noch nicht Zeit gewesen wäre. Jetzt war es zu spät. Wenn nur jemand nach ihr sehen würde, ehe es wirklich zu spät war! Beschwörend begann sie zu beten. Kein Gedanke ließ sich mehr halten. „Mama? Mama!" Ganz deutlich hörte sie eine vertraute fröhliche Kinderstimme. „Andy! Andy, wo bist du?", rief Sinia aufgeregt, doch es blieb still und mit ersterbender Stimme flüsterte sie: „Rashid, wo bleibst du,... komm...., bitte...“ Bewusstlos sackte sie zusammen und Totenstille breitete sich in der tiefschwarzen Dunkelheit aus...
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Kapitel III Gleichmäßiges Piepsen holte Sinia langsam aus tiefer Bewußtlosigkeit. Bevor sie die Augen öffnete dämmerte ihr wieder, dass sie in einem fremden Land war und zuletzt gar in einer scheußlichen Gefängniszelle. Sofort war sie hellwach. Der Piepston änderte seinen Rhythmus. Er kam von einem Überwachungsgerät, mit dem sie verbunden war. Mit halb geschlossenen Augen erkundete Sinia ihre Umgebung. Sie lag alleine in einem Krankenzimmer, an einer Infusionsflasche und diesem Apparat angeschlossen. ‚Gerettet!‘, durchfuhr es sie glücklich und sie schickte ein inniges Dankeschön nach oben! Die Tür wurde aufgeschlossen. Sinia stellte sich schlafend. Zwei Schwestern sahen nach der Patientin und den medizinischen Geräten. Tuschelnd gingen sie wieder hinaus und verschlossen die Tür. Vorsichtig stellte sich Sinia im Bett auf. Sie fühlte sich schwach und ihr war schwindlig. Aus dem Fenster konnte sie auf eine mit Blumenrabatten und Büschen angelegte Rasenfläche sehen, an der eine belebte Straße vorbeiführte. Die Häuserreihe dahinter verrieten Sinia sofort, dass sie in einem öffentlichen Krankenhaus sein mußte. Genau genommen im zweiten Stock! Schon fiel ihr Augenmerk auf das Kabelwirrwarr unter der Überwachungsapparatur. Schnell zog sie sich die Infusionsnadel aus der Vene am Arm, nahm ein Mulltuch, das neben ihr auf einem Hochtisch lag, band es über die Einstichstelle und zog es mit Hilfe der Zähne fest zu. Dann befreite sie sich von den Drähten. © S. Remida
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Die Vorstellung, ihre greifbar nahe Freiheit könnte an Sekunden hängen, verlieh ihr wieselflinke Schnelligkeit. Mit wackligen Beinen rannte sie zur Tür und verstopfte das Schlüsselloch mit einem Stückchen Mull. Dann holte sie die Kabel hervor, öffnete eilig das Fenster, riß die Stecker aus den Dosen an der Wand und ließ erst eine Verlängerungsschnur hinab, verknotete ihr Ende mit dem Kabel der Nachttischlampe und verband dieses mit dem langen Anschlußkabel des Überwachungsgerätes, das sie zum Fenster schob. Nur mit einem weißen Krankenhemd bekleidet kletterte sie auf den Außensims und schloß den einen Fensterflügel, so dass das Kabel eingeklemmt wurde. Dies alles hatte keine zwei Minuten gedauert, doch schon vernahm sie aufgeregte Stimmen an der Zimmertür. Ohne Nachdenken seilte sie sich flink die wohl acht Meter hinab. Über ihr krachte es bedenklich. Die restlichen zwei fehlenden Meter sprang sie auf den Rasen und kam hart auf. Ihre Handgelenke und Beine schmerzten. Schrill klingelte eine Alarmglocke. Sinia hetzte zwischen den Büschen über die Grünfläche, rannte zwischen quietschenden Reifen über die breite Fahrbahn und verschwand in einer engen Gasse, wohl wissend, dass man sie längst gesehen hatte und hinter ihr her war. Sie schlüpfte durch ein angelehntes Tor und stand in einem Hof, von dem eine steile Treppe auf eine Terrasse führte und dort hingen - Sinia konnte den glücklichen Zufall kaum glauben - zwei Leinen voll Wäsche! Schon stand sie davor, griff eine der schwarzen Abayas und schlüpfte in das noch feuchte und zu große Frauengewand. Behende kletterte sie über die Brüstung in einen angrenzenden Garten und gelangte von dort auf eine andere Straße. Polizeisirenen und lauter Tumult überzogen das Viertel. Mit weit über den Kopf gezogener Kapuze und verhülltem Gesicht schlich sie unscheinbar an den achtlos dahin laufenden Menschen vorbei, weg vom Krankenhaus. Aus einer Hofeinfahrt kam ein Lastwagen mit hinten hochgeklappter Plane heraus. Als er kurz anhielt, um sich in den Straßenverkehr einzuordnen, war Sinia schon zwischen den prall gefüllten Jutesäcken untergetaucht und schnaufte schwer vor Aufregung und Anstrengung. Die verbundenen Gelenke färbten sich langsam rot. Verdammt, die Wunden waren wieder aufgegangen. Aber sie hatten von heute vormittag bis jetzt, es war wohl früher Abend, ja auch noch nicht zuheilen können, wurde ihr bewußt. Sie stützte ihre Arme senkrecht auf die angewinkelten Knie, drehte die weiten Ärmelenden so kräftig sie konnte zu und hielt sie mit jeweils der anderen Hand fest. Hoffentlich ließ sich so die Blutzufuhr drosseln und die Blutung stoppen. Sie erinnerte sich an Ali, ihren arabischen Lehrer aus Deutschland, der sie immer wieder zu Entspannungsübungen angehalten, und von der motivierenden Kraft überzeugt hatte, die diese stetig zu wiederholenden positiven Leitsätze ausüben konnten. Und bisher hatte das Aktivieren dieser in jedem Menschen inne-wohnenden Kräfte ihr ja ganz gut geholfen. Sinia konzentrierte sich auf ihre Handgelenke und beschwor sie flüsternd mit: „Heilt zu! Heilt zu!"
Längst hatte der Lastwagen Bagdad in südöstlicher Richtung hinter sich gelassen und war durch mehrere Ortschaften geschaukelt. Dennoch schreckte Sinia, versunken in ihre Beschwörung, panisch auf, als das Fahrzeug vor einem Geschäft in einer verkehrsreichen Straße hielt. Einige Säcke wurden entladen, dann ging die Fahrt weiter. Doch beim nächsten Halt entdeckte der alte Fahrer seine blinde Passagierin, ehe sich diese zum Verschwinden aufrappeln konnte. Wütend schimpfte er auf Sinia ein. Sie konnte nur ahnen, was er ihr alles an den Kopf warf. Doch dann bemerkte er die braunrot durchgefärbten Verbände an ihren Handgelenken. Er schob die Plane an der Seite zurück, so dass das Abendlicht in Sinias Gesicht fiel. Verblüfft erkannte er, dass es sich um eine hellhäutige ausländische Frau handelte. Beruhigend schwatzte er auf sie ein und verließ hektisch die Ladefläche. Dann setzte er sein Gefährt wieder in Bewegung und fuhr zügig weiter. Sinia fühlte sich verraten, ihr war nun alles egal! © S. Remida
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Einige Zeit später bog der Fahrer durch eine schmale Hofeinfahrt auf ein mit Gerümpel vollgestopftes Gelände, hielt vor einem baufälligen Haus und rief aufgeregt in die offene Haustür. Gleich erschienen zwei tief verschleierte Frauen, umringt von vier neugierigen kleinen Kindern. Sinia krabbelte über die restlichen Säcke an den Rand der Ladefläche und ließ sich von den Frauen hinunter helfen. Gestützt führten sie Sinia hinein und legten sie in einem kleinen Zimmer auf einen weichen Diwan. Himmlisch, dachte Sinia. „Shukran! alhamdu lillah! shukran, shukran!" - Danke! Gelobt sei Gott! Danke, danke! - sagte Sinia mit schwacher Stimme, dann wurde ihr schwarz vor Augen. ********* Der Mond schien freundlich durch das kleine Fenster. Neben Sinias Ruhestätte saß eine alte Frau, die lächelnd beobachtete, wie sie wieder zu sich kam. Sie fragte Sinia langsam auf Arabisch, wie sie sich fühle. Sinia nickte ihr dankbar zu. Strahlend verließ diese daraufhin das Zimmer und kam mit einer dampfenden Schale zurück. Sinia schlürfte vorsichtig die heiße scharf schmeckende Flüssigkeit. „Das war gut!", seufzte sie. Mitfühlend erkundigte sich die Alte, woher sie komme und diese furchtbaren Wunden wären und ob sie diejenige sei, die man in Bagdad suche. Als sie Sinias ängstlichen Blick bemerkte, beruhigte sie sie. „Haben Sie keine Angst, hier sind Sie sicher. Keiner will Sie verraten!" Soviel Entgegenkommen hatte Sinia von diesen fremden Menschen nie erwartet, obwohl Ali immer wieder die große Gastfreundschaft der Araber hervorgehoben hatte. Ali, Deutschland, Chris, die Kinder, Zuhause - welch wunderbare Vorstellung! All das war jetzt wieder greifbar nahe! Bedächtig wählte Sinia die Worte. „Wissen Sie warum man mich sucht und wer?" „Die Polizei! Wegen Sachbeschädigung wird gesagt!" Sinia schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich kam aus Europa, weil mir nur hier jemand helfen konnte. Doch dann verlangte er einen höheren Preis, als vorher vereinbart. Weil ich ihn nicht bezahlen konnte, ließ er mich einsperren. Es war so furchtbar, dass ich sterben wollte. Aber ich wurde gerettet und bin geflohen. Ich habe aber nichts Unrechtes getan!" Die Frau hatte aufmerksam zugehört. Nun nickte sie, als habe sie verstanden. „Ich weiß. Sie können hierbleiben und sich ausruhen und gesund werden." „Sie sind sehr gütig. Ich will Sie nicht in Gefahr bringen!" Die Alte winkte dies als Unfug ab. Gefahr, mit diesem Stichwort erinnerte sich Sinia wieder an El Basan. Ihr abgesprochener Anruf musste seit etwa zwölf Stunden überfällig sein. Hoffentlich hatte er noch nichts unternommen. Die Frau merkte Sinias Unruhe. „Was ist?", erkundigte sie sich. „Ich muß dringend anrufen. Können Sie mir sagen, wo ich ein Telefon finde?" „Wir haben eins!", überraschte die Frau Sinia. „Kommen Sie!" Sie half ihr auf und brachte sie zu einem wohl noch aus den Anfängen der Fernsprechkunst stammenden Apparat, der an der Wand befestigt war und tatsächlich noch funktionierte. „Alpha! Ist Abdul da?", sagte Sinia, als sich eine Frauenstimme meldete. Es knackte in der Leitung. „Sinia? Gepriesen sei Allah! Wo bist du? Weißt du, dass alle frei sind?" „Ja, ja! Es ist alles okay! Ich bin in Sicherheit. Tut mir leid, es ging nicht früher. Du hast doch noch nichts unternommen?" Nach einer kurzen Pause sagte er: „Keine Sorge. Wann kommst du?" „Bald. Ich melde mich wieder, gib mir mehr Zeit! - Und, danke!" „Verstehe, ich warte. - Viel Glück!" Sie hing den Hörer auf. Das Vertrauen ihrer Gastgeberin, veranlaßte sie plötzlich, sich mit ihrem richtigen Namen vorzustellen. „Übrigens, ich heiße Sinia Martin!" „Sinia? Willkommen bei uns, Sinia!", freute sich die Frau über ihre Aufrichtigkeit. „Ich bin Lulwa und meine Familie stelle ich dir morgen vor!" © S. Remida
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Den freundlichen Klang von Lulwas und El Basans Stimme in den Ohren, schlief Sinia wenig später beruhigt und tief ein. *********** Über Nacht bekam sie Fieber. Die Flucht hatte ihren Körper überanstrengt, so dass er nun, sich in Geborgenheit wissend, keine Kraft mehr aufzubringen vermochte, um schnell von selbst zu gesunden. Unermüdlich kümmerten sich die beiden Frauen um die Kranke und was auch immer das Geheimnis ihrer Medizin war, sie wirkte jedenfalls überraschend schnell! Schon zwei Tage später konnte Sinia ihre Liegestätte verlassen und obwohl noch schwach auf den Beinen, fühlte sie sich wieder völlig hergestellt. Sie erfuhr auch, dass sie immer noch gesucht wurde und dem Krankenhauspersonal sogar Konsequenzen drohten. Das alte Ehepaar und die Familie ihres Sohnes aber überredeten sie, dennoch ein paar Tage zu bleiben. So meldete sich Sinia kurz bei El Basan und ließ sich von ihm eine Verbindungsnummer zu Rashid Safars Palast geben. Aus Sorge um die Sicherheit ihrer Gastgeber, bat sie Yusef, den jungen Familienvater sie zu einer anderen Telefoneinrichtung zu bringen. Und so rief sie schon wenig später aus einer leerstehenden Lagerhalle einen Ort weiter bei Safar zu Hause an. „Ich bin die gesuchte Patientin. Können Sie Rashid Safar etwas ausrichten?", meldete sich Sinia in Arabisch und hörte, wie der Mann am anderen Ende der Leitung jemanden eiligst herbeirief. „Hier Jaffar, ja bitte?" „Oh, schön Sie zu hören!", begrüßte ihn Sinia auf Deutsch. „Werden Sie Safar in meinem Namen bitten, dass er seinen Frust über mein Verschwinden nicht an der unschuldigen Krankenhausbelegschaft auslassen darf? Er wußte doch selbst am besten, dass ich jede Chance nutzen würde!" „Marie Russell? Wo sind Sie? Sie brauchen dringend ärztliche Hilfe!", rief Jaffar aufgeregt. „Aber möglichst weit weg von euch! - Eh, wem habe ich eigentlich meine Rettung zu verdanken?" „Dem Minister! Safar! Also, wo stecken Sie?" „Oh! - Aber er erwartet doch nicht, dass ich mich bei ihm höchstpersönlich bedanke! - Sie könnten ihm aber sagen, dass ich ganz froh bin, dass es ihn gibt!" „Soll ich ihm das so sagen?" „Ja", antwortete Sinia zögernd, dann bestimmt, "Ja, tun Sie das!", und legte den Hörer auf. Auf dem Rückweg fiel ihr auf, dass das Haus ihrer Gastgeber zum Glück etwas abseits lag. So genoß sie unbeschwert die herzliche Gastfreundschaft dieser Großfamilie. Ständig war Sinia von den Kindern umringt, die aufmerksam den fremden Märchen, die sie oft verzweifelt nach den richtigen Worten suchend erzählte und ihren lustigen Kinderliedern lauschten, oder einfach mit ihr irgend etwas spielten. 'Sinia' war wohl der meist gerufene Name im Haus und auf dem Hof. „Hast du auch Kinder?", war deshalb eine verständliche Frage von Radifa, der Mutter der vier Kinder. Sinia nickte. „Drei auch so kleine!" Radifa lachte ob dieser Gemeinsamkeit. Sie hatten nun ein Thema mehr, über das sie reden konnten. Sinia rechnete nach. Dies war nun schon der neunte Tag seit ihrer Ankunft in Damaskus. Eine große Sehnsucht nach ihrer Familie hatte sie ergriffen. Zu sehr erinnerten die vier Kleinen hier an die eigenen Kinder im fernen Deutschland. Es war an der Zeit zu gehen! Mit diesen Überlegungen überraschte sie nach dem Mittagessen die alte Frau. Hielt Lulwa Sinia auch noch für zu schwach und ihren Aufbruch für zu früh, so hatte sie andererseits doch auch Verständnis für die starken Gefühle, die diese junge Mutter nun weitertrieben. Da die Schnittwunden gut zuheilten und jeder Tag länger hier, das Risiko für Sinia und die hilfsbereite Familie nur erhöhte, stimmte man schließlich ihrem Wunsch zu. Yusef riet ihr, sich als Mann zu verkleiden und sich möglichst in östlicher Richtung zu halten, da es der ungefährlichste Weg zu der un© S. Remida
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gefähr einhundertachtzig Kilometer entfernten iranischen Grenze sei. Sicher würde das westliche Grenzgebiet, aus dem sie eingereist war, besonders scharf überwacht. Aber auch Kuwait im Süden zu erreichen war fast unmöglich, weil sie weiter südlich in ein Sumpfland geraten würde, das stellenweise die Flußufer des Tigris säumte. Ausdrücklich warnte er vor dem Schwemmland im Süden mit seinen weiten, morastigen Sümpfen entlang dem Schat-el-Arab, einem ungefähr einhundertneunzig Kilometer langen Mündungsstrom, in dem die Flüsse Euphrat und Tigris vereint dem Persischen Golf entgegen fließen. Schließlich fand Yusef nach langen Suchen noch eine uralte Landkarte, auf der er, von seinem Vater immer wieder unterbrochen oder verbessert, den besten Weg ins rettende Nachbarland aufzeigte. Endlich hatte Sinia die besorgte Familie überzeugt, dass sie alle Ratschläge befolgen und es keine Probleme geben werde. El Basan wußte inzwischen ebenfalls von dem neuen Fluchtplan und hatte sofort zugesichert, sie auch von dort herauszuholen. Er hatte bereits einen Verbindungsmann in der Grenzregion, einen angesehenen Geistlichen, informiert und Sinia brauchte auf iranischer Seite nur nach ihm zu fragen. ************** Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang nahm Sinia von den liebgewordenen Menschen Abschied. Selbst die Kinder hatten es sich nicht nehmen lassen, zu so früher Stunde ihrem Gast 'Lebe Wohl' zu sagen und kleine Andenken mitzugeben. In einem weißen hemdähnlichen Gewand und einem tief ins Gesicht gezogenen Turban, die Augenbrauen mit schwarzer Kohle nachgezeichnet, dunklen Schatten über Kinn und Wangen verteilt, stieg Sinia auf den Beifahrersitz zu Jusef in den Laster, der sie wenigstens bis zum Tigris fahren wollte. Unter großem Hallo und Tränen ließen die beiden das kleine Paradies hinter sich zurück. Sinia verstaute einen stabilen Wanderstock, den ihr der alte Mann gestenreich um sich wirbelnd überreicht hatte, und einen mitgegebenen Beutel, der einfach aus einem zusammengebundenen Tuch bestand, das mit Essen und zwei Trinkflaschen gefüllt war. Dann betrachtete sie die Erinnerungsstücke der Kinder: ein wunderschön grün schimmernder Stein, ein gezeichnetes Bild mit einem etwas schräg geratenem lachenden schwarz gelockten Kindergesicht, eine aus Stroh kunstvoll geflochtene Blume und eine einfache Flöte aus Schilfrohr, der sich immerhin zwei verschiedene Töne entlocken ließen. Sorgsam verstaute Sinia diese Kostbarkeiten in den Vorratsbeutel, derweil schaukelte der Laster über schlechte Straßen der höher steigenden Morgensonne entgegen. Nach langer ermüdender Fahrt hatten sie den Tigris erreicht. Silbrig glänzend zog sich der mächtige Strom dahin, der auf seinem langen Weg einige Male von Stauwehren gebremst wurde. Nun hieß es, auch von Yusef Abschied zu nehmen. Wie selbstverständlich steckte er ihr noch eine Handvoll Dinar zu, wünschte ihr Allahs Schutz und schon schaukelte er mit seinem staubigen Lastwagen wieder zurück. Dann war Sinia auf sich allein gestellt. Sie zog den Stock unter dem Knoten des gebundenen Tuches durch, schulterte ihn mit der daran hängenden Last und ging guten Mutes zu einer flußabwärts gelegenen Anlegestelle einer wenig vertrauenerweckenden Fähre. Unbeschadet, wenn auch naßgeschwitzt erreichte sie damit das andere Ufer. Immer nach Osten! Sie sah zur Sonne hoch, die unbeirrt auf ihrer Bahn nach Süden zog. Wo war jetzt wohl Osten, fragte sich Sinia, die seit ihrer Rettung nach dem Selbstmordversuch ihre Uhr vermißte. Doch sie hätte auch mit der genauen Uhrzeit und dem Sonnenstand nicht die richtige Richtung ausmachen können. So ging sie auf gut Glück eine Straße entlang und merkte doch bald, dass sie sich nicht nach dem von Yusef auf seiner alten Landkarte erklärten Weg richten konnte. Hier war alles anders. Glaubte sie auf einem unbefestigten Nebenweg eine Abkürzung genommen zu haben, so endete er unvermittelt in undurchdringlichem Gelände oder sie stand plötzlich vor einem riesigen Feld und kam nicht weiter. Wütend stapfte sie dann wieder zurück auf die breite neu angelegte Straße, die jedenfalls nicht nach Osten führte. Sie begegnete Leuten, die wie sie zu Fuß waren, Sachen trugen oder kleine Wägelchen zogen oder schoben, doch keiner beachtete sie. Ochsen- und Eselkarren zogen gemächlich an ihr vorbei. Aber auch Fahr© S. Remida
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zeuge jeglicher Art rauschten von Zeit zu Zeit mit einer windigen Staubwolke im Schlepptau dahin. Bald freute sich Sinia auf diese kühlen, wenn auch staubigen Brisen in der unerträglichen Hitze. Schließlich suchte sie abseits der Straße eine große Dattelpalme auf, in deren Schatten sie sich ausruhte. „Das schaff’ ich nie!", stellte sie geknickt fest und hatte keine Lust mehr, bei dieser Hitze weiterzugehen. Als sie sich wieder auf den Weg machte, hatte sie einmal das Glück, unbemerkt auf der Ladefläche eines alten Lasters eine weite Strecke mitfahren zu können. Es war schon Nacht, als sie eine verfallene Hütte entdeckte, unter deren löchrigen Dach sie zusammengekauert sich schlafen legte. Nasse Tropfen weckten sie im Morgengrauen. Das durfte nicht wahr sein, es regnete! Bald waren ihre Sachen klamm, auch ihr Vorrat, das Fladenbrot, die getrockneten Datteln und Früchte. Als es aufhörte zu regnen, machte sich Sinia auf den Weg, wieder auf die Straße vom Vortag zu kommen. Doch sie merkte bald, dass sie sich im Dunst verlaufen hatte. Wo war Osten? Jeder schmale Weg weckte neue Hoffnung und ließ sie genauso schnell zerplatzen, wenn er im Nichts endete. Dann rannte Sinia herzklopfend bis zu einer Wegkreuzung zurück und wählte eine neue Richtung. Es war wie in einem Labyrinth, in dem sie, jegliches Zeitgefühl verloren, einen Ausgang finden wollte. Irgendwann hatten sich die Sonnenstrahlen zu Sinia herunter gekämpft, als wollten sie nachsehen, was die da unten trieb. Mit der Macht ihrer trocknenden Wärme zerrissen sie die Dunstschwaden und lösten sie in kurzer Zeit ganz auf. Sinia hatte freie Sicht. Nur, wie spät war es? Am kurzen Schatten erkannte sie, dass es um die Mittagszeit sein mußte. Hatte die Sonne schon den Zenit überschritten und wanderte nach Westen, oder war noch später Vormittag? Wo lag wohl Osten? Jeden Zeitgefühls beraubt, ging sie auf gut Glück weiter. Schließlich traf sie auf eine Straße und folgte ihr. Irgendwann glaubte Sinia fern am Horizont Häuser mit den typisch flachen Dächern ausgemacht zu haben. Ob das nur eine Fatamorgana war? Mit wenig Hoffnung, aber einer übermächtigen Sturheit, dieser vertrackten Situation entkommen zu wollen, suchte sie die Wege, die durch das morastige Land zu der erhofften Ansiedlung führten. Längst hatte sie alles gegessen, was nicht verdorben war und auch die Trinkflaschen waren leer. Sie rollte das Tuch diagonal zusammen, zog es durch die Schlaufen der leeren Flaschen und band es sich als Gürtel um die Taille. Bei jedem Schritt baumelten nun die Flaschen mit einem dumpfen Geräusch aneinander. Die Geschenke der Kinder hatte sie in die Taschen ihres Gewandes gesteckt und den juckenden Verband von ihren Gelenken genommen. Auf den Stock gestützt wanderte sie müde dem scheinbar vor ihr immer weiter zurückweichenden Ziel entgegen. Im letzten Sonnenlicht überquerte Sinia eine Senke. Die quäkende Stimme eines Muezzin hallte über ein Wäldchen hinweg, als wollte sie ihr sagen: „Hier, hinter den Bäumen sind wir!“ Sinia lief quer durch den verwilderten Hain und stand - vor Häusern! Sie rückte ihr verschmutztes Hemd und den Turban zurecht und ging erhobenen Hauptes mutig die Hauptstraße entlang. Natürlich wurde sie in diesem abgelegenen Nest verstohlen beobachtet. Kinder spielten laut schreiend auf den Straßen und - es konnte ja nicht ausbleiben - heulte auch eines. Sinia ging zu ihm und holte den grünen Stein aus ihrem Gewand. Auf Arabisch sagte sie langsam: "Nicht weinen, schau, ich habe einen magischen Stein. Er kann Tränen trocknen. Er kommt von weit zu dir hier her! Willst du ihn haben?" Wenn das Kleine auch über die schmuddelige Männergestalt erschrak, so weckte Sinias sanfte weibliche Stimme doch Vertrauen. Sein Heulen war interessierter Neugierde gewichen. Schon kam eine verschleierte junge Frau das Kind holen, dabei musterte sie eindringlich die fremde seltsame Gestalt und verschwand. Doch schon war Sinia von den anderen Kindern umringt, die nun auch etwas erbetteln wollten. So wurde sie die geflochtene Blume, die Pfeife und sogar das von der Feuchtigkeit zerknitterte und leicht verschmierte Bild los. Bedauernd hob sie die Arme. Aber die leer ausgegangen Kinder zupften an Sinias Trinkflaschen aus Ziegenleder. Schließlich war sie sogar den aus dem Tuch selbst gedrehten Gürtel und den Wanderstock los. Es war hier nicht anders, als bei den Kindern daheim. Entweder bekam keiner etwas oder jeder mußte was kriegen.
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Ein junger Mann kam herbei, nahm ermahnend einem Jungen, offenbar sein Sohn, die ergatterte Flasche ab und reichte sie Sinia zurück. Dann scheuchte er die Horde Kleiner weg und fragte Sinia, ob sie etwas essen wolle. Dankbar ging sie mit. Während sie sich in einer Schüssel die Hände wusch, konnte sie in einem halbblinden Spiegel sich von ihrem befremdlich seltsamen Aussehen überzeugen. Der fachmännisch aufgemalte Schatten eines Bartes war längst verschwunden. Das Schwarz der Augenbrauen lag nur noch leicht verwischt um ihre grünen Augen. Eine blonde Strähne schaute vorwitzig im Nacken unter der Kopfbedeckung hervor. Kurz, ihre Maskerade stimmte hinten und vorne nicht mehr! Sie machte sich soweit es ging etwas zurecht. Scheu setzte sie sich an den Tisch. Die junge Frau von vorhin reichte ihr eine Schale mit Brei, Fladenbrot und Tee. Darauf bedacht, nicht zu hastig zu essen, genoß sie jeden Bissen. Offenbar machte sie dabei einen recht würdevollen Eindruck auf das junge Paar und seine zwei neugierigen Kinder, wie sie an der Art ihrer Fragen schnell erkennen konnte. Die Familie hielt sie wohl für einen durchgebrannten Sproß aus vornehmen Hause und mit ihren vagen Antworten bestärkte Sinia sie nur mehr in ihrer Annahme. Sie bedankte sich für die freundliche Bewirtung und wollte gehen. Doch der Hausherr bot ihr an, hier zu übernachten. Sinia war glücklich. Mit dem frühen Ruf des Muezzin stand Sinia auf und nach einem einfachen Frühstück verließ sie mit neuer Zuversicht, gefüllter Wasserflasche und ein paar getrockneten Früchten das ärmliche aber gastliche Haus, jedoch nicht ohne ein paar Scheine auf ihrer Ruhestätte zum Dank liegengelassen zu haben. Wie es sich für einen Gast vornehmer Herkunft hoffentlich auch hier geziemte! Auf einer schlechten Straße, die dafür aber nach Osten führte, ging sie fröhlich vor sich hin trällernd der Morgensonne entgegen. Bald hielt sie einen klapprigen Pritschenwagen an, der sie hinten auf der Ladefläche ein gutes Stück mitnahm. Bevor der Fahrer von der Straße abbog, ließ er sie absteigen. Auf ihrem staubigen Weg machte sie in einiger Entfernung einen von Büschen umgebenen kleinen See aus, in dem sie alsbald in voller Montur untertauchte. Patschnaß, dafür aber sich und ihre Kleidung gewaschen, ging Sinia erfrischt weiter ihrer Freiheit entgegen. Dann saß sie neben dem Kutscher eines lustlos vor sich hin trabenden Maulesels, der zur späten Mittagszeit vor einem kleinen schäbigen Gasthaus anhielt. Drinnen war es dunkel. Um einen Tisch saßen laut diskutierend Männer, die mit ihrem Tabakqualm die stickige Luft im Schankraum noch unerträglicher machten. Sinia verzog sich darum mit ihrem Essen nach draußen in den Schatten eines Busches. Sie spürte immer noch die unverhohlenen neugierigen Blicke der Männer, die nun offenbar über sie und ihr seltsames Aussehen redeten, wie aus den gedämpften Stimmen zu schließen war. Deshalb setzte Sinia schon bald ihren Weg fort. Sie wollte möglichst schnell den Rastplatz hinter sich lassen. Plötzlich hielt neben ihr ein neuerer Geländewagen. „Kommen Sie, ich nehme sie ein Stück mit!", rief auf Arabisch der beleibte Fahrer, ein Mann mittleren Alters, ihr zu. Froh über die unerwartete neuerliche Mitfahrgelegenheit, mit der sie schneller als erwartet ihr Ziel erreichen würde, stieg Sinia ohne zögern ein. Der einheimische Fahrer trug ein kurzärmliges, gestreiftes, langes Hemd und eine helle weite Hose. Unter einem um den Kopf gebundenen Tuch glänzte sein verschwitztes Gesicht. Er ließ seinen Fahrgast nicht aus den Augen, als er sich nach dessen Herkunft und Ziel erkundigte. Sinia gab ausweichend Antwort. Doch der Mann ließ nicht locker. Sinia wurden seine aufdringlichen Fragen unangenehm. Schließlich kam er auf den Punkt. „Ich habe dich schon im Gasthaus beobachtet. Ich habe gleich gewettet, dass du kein Mann bist. Du bist bestimmt die, die gesucht wird!" Dabei riß er Sinia den Turban vom Kopf und umklammerte fest ihr linkes Handgelenk, als sie abwehrend die Arme hob. Er lenkte den Wagen abrupt von der Straße zu einer Baumgruppe und hielt an. Sinia versuchte verzweifelt sich aus seinem Griff zu befreien. Mit breitem Grinsen schüttelte er sie am Arm und schlug ihr mit der anderen Hand ins Gesicht. „Na, du Katze, ich werd mit dir schon fertig! Und danach liefere ich dich ab und kassiere die Belohnung!", höhnte er schmierig und warf sich mit seiner ganzen Körperfülle auf Sinia. Dabei rutschte das © S. Remida
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Tuch von seinem schweißnassen Kopf und gab eine Halbglatze frei. Schon fummelte er am Halsausschnitt ihres Hemdes und zerrte daran, dass es einriß. „He, bring mich doch nicht um! Es macht doch mehr Spaß, wenn ich noch lebe!", säuselte Sinia, obwohl sie unter seinem Gewicht kaum Luft bekam. Sie versuchte den rechten Arm frei zu kriegen. In der Erwartung nun leichtes Spiel zu haben, ließ er sie gewähren. Sofort drückte Sinia sein Kinn nach hinten, wütend suchte er ihren Arm wegzureißen. Dabei erwischte Sinia gerade noch sein Ohr und zog daran, dass der Mann vor Schmerz aufschrie und wild auf sie einschlug. Sinia versuchte mit ihrem rechten Arm ihr Gesicht zu schützen. Da erinnerte sie sich an einen Abwehrgriff, den je anzuwenden es ihr damals schon beim bloßen Erklären zutiefst widerstrebt hatte, aber der sie jetzt wahrscheinlich nur noch retten konnte. Sie mußte ihre Finger mit aller Kraft in seine Augenhöhlen stechen. Mit seinem nächsten Schlag erschlaffte ihre Gegenwehr. Der Mann schüttelte sie grob, doch sie blieb reglos. Er atmete schwer und grunzte zufrieden. Seine Hand glitt erregt auf ihrem Hemd über ihre Brust am Körper hinunter und begann das Hemd hochzuziehen. Mit einem markerschütternden Karateschrei zielten ihre gespreizten Finger der rechten Hand geradewegs in seine Augen. Obwohl sie ihn nicht heftig getroffen hatte, war die Wirkung verblüffend. Mit einem Aufschrei wich der Dicke zurück und verbarg mit beiden Händen seine schmerzenden Augen. Sinia stieß die Tür auf, noch ein gezielter Tritt in seine Männlichkeit und sie konnte sich aus dem Sitz befreien, aus dem Auto hinausfallen lassen und davon rennen. Doch schon stürzte ihr Peiniger in Rage mit einem Dolch in der Faust hinter ihr her. Sinias langes Hemd verfing sich in den dürren Ästen von Sträuchern oder blieb an Dornen hängen, so dass sie sich frei zerren mußte und ihr geringer Vorsprung schnell dahinschmolz. Schon hatte der Verfolger sie eingeholt. Sinia gelang es gerade noch mit ihrem Arm die Wucht, mit der er auf sie einstechen wollte, zu bremsen. Ihr Fuß traf in seine Magengrube und ihre Handkante seine Halsschlagader. Der Angreifer stürzte und verlor dabei seinen Dolch, das Sinia sofort an sich nahm. Sie rannte zum Wagen zurück. Doch dort steckte kein Schlüssel im Zündschloß. Mit bebenden Händen griff sie suchend unter die Konsole, erfühlte ein Kabelbündel und riß es ab, dabei ließ sie den Fremden nicht aus den Augen, der sich wieder hochgerappelt hatte und fluchend mit irrem Blick zurück gestolpert kam. Sie hielt die Drähte zusammen, der Motor drehte kurz durch. In Windeseile probierte sie die Kabel durch. Der Wahnsinnige verlangsamte seinen Lauf und hielt den Schlüssel hoch. Er lachte verrückt, doch in seinen Augen stand mörderischer Haß. Der Motor tuckerte erneut an. Sinia drehte die Kabel zusammen, drückte den Rückwärtsgang hinein und gab Vollgas. Die Reifen drehten auf dem losen Untergrund durch und setzten den schweren Geländewagen nur langsam in Bewegung. Der Mann - jetzt ganz nah - sprang, klammerte sich an die Fahrertür und griff in das Lenkrad. Dabei schrie er sie an. Sinia schrie zurück, öffnete mit aller Kraft die Tür, kämpfte um das Lenkrad und setzte nah am nächsten Baum vorbei, der die Autotür aus ihrer Verankerung riß. Ihr Angreifer blieb zurück und brüllte Haßtiraden. Sinia erreichte die Straße, würgte mit zitternder Hand krachend den ersten Gang hinein. Das Fahrzeug schlingerte davon. Handbremse noch öffnen, fiel ihr ein. Dann raste sie mit durchgedrücktem Gaspedal die schlechte, fremde Straße entlang. Sie war erst wenige Kilometer gefahren, als die Straße über einen Hügel führte und hinter seinem Scheitelpunkt eine scharfe Kurve machte, die Sinia zu einer unerwarteten Vollbremsung zwang. Der Wagen schleuderte und blieb an der Böschung hängen. Sinia würgte den Motor ab. Das Fahrzeug rutschte seitlich auf eine Gruppe Sträucher. Aus dieser Lage bekam sie das Auto alleine nicht mehr frei! Verärgert stieg Sinia aus, sie musste also wieder zu Fuß weiter! Ihre linke Schulter klopfte. Sie faßte nach hinten und fühlte - feucht, klebrig Blut! Verflucht, hatte das Schwein sie doch getroffen! Mit ihren Zähnen hielt sie den linken Ärmel fest und riß das untere Stück ab, um das Stoffstück auf die blutende Schulterwunde zu drücken. Aus der Ferne hörte sie einen Lastwagen herandonnern. Angst trieb sie die Böschung hinunter, durch Dickicht und hohes Schilfgras, immer weiter in verwildertes sumpfiges Gelände, Hauptsache weit weg von der Straße. Als sie sich endlich in Sicherheit fühlte, lehnte sie sich erschöpft gegen eine Palme. Die Schulter und der ganze linke Arm taten weh. Von dem brutalen lang anhaltenden Griff © S. Remida
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ihres Peinigers war ihr Handgelenk blau angeschwollen. Ein aufdringlicher Schwarm Mücken umtanzte sie angriffslustig. Sinia wurde schlecht. Heiß kroch die Furcht hoch vor einer Entzündung am Handgelenk und des immer noch leicht blutenden Stichs an der Schulter. Wenn hier nur irgendwo Wasser wäre! Aber dies glänzte zwischen den hohen wild wuchernden Moorpflanzen nur als dünne Schicht auf dem morastigen Boden. Ihre halb leere Wasserflasche und den restlichen Proviant hatte sie im Wagen vergessen. Erfolglos sich gegen die Übermacht der Mücken wehrend, schleppte sie sich entmutigt weiter und weiter und geriet dabei mit jedem Schritt tiefer in eine immer unwirtlichere Wildnis. Als gelbroter Ball stand die Sonne am westlichen Abendhimmel und wies Sinia ein letztes Mal den direkten Weg nach Osten. Wahrscheinlich war sie überall hingelaufen nur nie in diese Richtung, überlegte sie. Ihr kam die Idee, sich in der Ferne einen markanten Punkt zu suchen, auf den sie dann nur noch zulaufen brauchte. Aus einer Baumgruppe ragte eine Baumkrone besonders heraus. Das war nun ihr Ziel, das sie auf ihrem beschwerlichen Weg nicht mehr aus den Augen ließ, bis auch das letzte Dämmerlicht der alles verschluckenden Nacht gewichen war. Sinia krabbelte auf einen schief gewachsenen Baum und setzte sich zwischen einen Ast und dem Stamm. Obwohl es recht unbequem war und sie Schmerzen hatte, fiel sie bald in einen traumlosen Halbschlaf, aus dem sie immer wieder aufschreckte und durch eine neue Lage ihren gepeinigten Körper zu entlasten hoffte. Sinia wurde von den ersten warmen Strahlen der Morgensonne geweckt und traute ihren Augen nicht. Die Sonne blinzte hinter einer, wenn auch entfernten, Bergkette hervor. Das konnte nur das Sargosgebirge sein und das lag im Iran. Vor lauter Aufregung spürte sie weder ihre Schulter und das Gelenk, noch Hunger oder Durst. Schon rannte sie der Sonne entgegen; sie wollte keine Zeit verlieren. Am späten Vormittag erreichte sie einen Fluß, der nur noch in der Mitte seines an den Seiten ausgetrockneten breiten Bettes gemächlich dahinfloss und nur hier und da einen Umweg um einen großen Stein nahm, was ihm an diesen Stellen dann eine stattliche Breite verlieh. Sinia rannte in das kniehohe Wasser und trank begierig das köstliche Naß aus ihren wie eine Schale zusammengehaltenen Händen. Dann legte sie sich hinein und kühlte ihre verletzte Schulter und die Arme. Da sie auf der anderen Seite der Grenze auf die Hilfsbereitschaft jener Menschen angewiesen war, durfte sie nicht zu verwahrlost aussehen. Sie zog ihr Hemd aus und rubbelte den verkrusteten Blutfleck heraus, danach riß sie am Saum, der völlig zerfetzt war, ein breites Stück rundherum ab. Einen Streifen davon band sie sich zur Kühlung um das geschwollene Handgelenk. Dann zupfte sie ein paar Fäden am eingerissenen Halsausschnitt soweit heraus, dass sie sich miteinander verknüpfen ließen und den Riß notdürftig zusammenhielten. Sie zog es an. Zwar ging ihr jetzt das einstmals bodenlange Gewand nur noch knapp über die Knie, dafür fühlte sie sich wieder sauber und bot bestimmt einen ordentlicheren Anblick. Ein tuckerndes Geräusch, das schon den ganzen Morgen immer wieder zu hören war, kam schnell näher. Noch ehe Sinia die rettenden Palmen am Ufer erreicht hatte, tauchte ein riesiger Militärhelikopter auf und ließ im rasanten Tiefflug die Erde erzittern. Eine ganze Weile wartete Sinia mit klopfendem Herzen in ihrem Versteck. Aber er entfernte sich und war schließlich nicht mehr zu hören. Sicher eine Grenzpatrouille beruhigte sie sich und lief am dicht bewachsenen Ufer des Flusses, der mit Sicherheit im Sargosgebirge entsprang, weiter. Als sie gerade den Stoffstreifen wieder naß machen wollte, erschien urplötzlich der Hubschrauber erneut und jagte am Fluß entlang wieder zurück. Auch diesmal hatte sie sich nicht schnell genug verstecken können. Nun blieb sie sehr vorsichtig und hielt ihre Ohren offen nach ungewöhnlichen Geräuschen. Doch sie hörte nur das vertraute melodische Gezwitscher der Vögel, manchmal von einem krächzenden Geschrei begleitet, dazu summte, zirpte und quakte es und erinnerte an heimische Klänge, was recht beruhigend auf sie wirkte.
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Schon wurden die Schatten länger und kündigten den nahen Abend an. Die Landschaft war nach und nach von der sumpfigen Ebene in sanfte Hügel übergegangen und die Gebirgskette hob sich gewaltig und unleugbar klar vom östlichen Himmel ab. Allmählich war die Uferböschung steiler geworden und es wurde immer schwieriger im Schutze des wilden Bewuchses hier oben entlang zu gehen. Ein paar Mal war Sinia schon ein Stück der nicht minder bewachsenen Uferböschung hinab gerutscht und mühsam zwischen den störrischen ausgetrockneten Büschen und hohen Grasbüscheln, die sich an der steinigen Schräge verwurzelt hatten, wieder hinaufgeklettert und hatte dabei so manches Mal einen regelrechten Steinschlag in die Tiefe losgetreten. So nah an der Grenze glaubte sie nun, sich die steile Böschung zu dem ruhig dahinfließenden Gewässer hinunterwagen zu können, um hier im und am Fluß entlang die rettende Grenze etwas bequemer zu erreichen. Sie klopfte den Staub von ihrem Hemd und watete durch das knöcheltiefe kühle Naß zu einem der nun zahlreicher umher liegenden großen Steine, die das Wasser umspülte. Sie lockerte ihre Nackenmuskeln und setzte sich, um sich vor dem letzten Wegstück kurz auszuruhen. Dabei genoß sie den friedlichen Anblick auf das tiefer liegende, sich in schier unendliche Fernen in allen möglichen Grünschattierungen ausbreitende Sumpfland im Westen und das Sicherheit heischende Bergland im Osten. Und noch weit davor, wußte Sinia, verlief die rettende Grenze. Wie unwirklich ihr auf einmal all das, was sie erlebt hatte, vorkam. Sie betrachtete die Uferböschung, die sie die ganze Zeit nur von oben gesehen hatte. Selbst in der trockenen Jahreszeit bot das teils sehr steile Gelände doch allerlei Gräsern undurchdringlichen Sträuchern und unzähligen Pflanzen Lebensraum. Zu wasserreicheren Zeiten schien der nun so zahme Fluß mit wilder Kraft sein Bett in stattlicher Breite unablässig durch die Anhöhen zu graben. Denn mit zunehmendem Höhenunterschied wurde das Ufer noch höher, steiler und langsam auch schroffer. Wie schön, wie friedlich, dachte Sinia entspannt. Sie hatte sich an das andauernde Schmerzgefühl auf ihrer linken Seite gewöhnt. So kurz vor dem Ende ihrer dramatischen Flucht waren solch körperlichen Leiden unwichtig geworden. Sie stillte ihren Durst mit ein paar Handvoll Wasser, wie sie es schon mehrfach am Tage getan hatte. Das Hungergefühl, das sie nicht stillen konnte und ihr noch mittags Krämpfe beschert hatte, war überwunden. Sie fühlte sich nun leicht wie ein Vogel, der unaufhaltsam seinem Ziel zustrebte. Wohl konnte sie nicht fliegen, dafür überkam sie ein unbändiges Gefühl, leichtfüßig weiterlaufen zu können. Gleich geh ich los!, dachte sie ermuntert. Das feine Rasseln eines Glöckchens ließ Sinia hoch in die Luft schauen. Ein Raubvogel drehte über ihr Kreise. Unvermittelt schoß er auf sie hinab und attackierte sie mit seinem spitzen Schnabel. Hitchkocks Vögel kamen ihr sofort in den Sinn. Wie konnte sie sich vor dem flatternden Biest mit seinen scharfen Krallen und zuhackenden Schnabel wehren? Geduckt versuchte sie fortzurennen, die Arme hielt sie schützend über den Kopf. „Verschwinde! Geh weg!", schrie sie, doch der Vogel ließ sich nicht verscheuchen, auch nicht von dem hoch aufspritzenden Wasser. Er griff weiter an. Da vernahm Sinia einen hohen Pfeifton und sofort ließ der Vogel von ihr ab und landete unmittelbar vor ihr auf einem dicken Stein, dabei beobachtete er sie scharf. Bei jeder seiner Bewegungen erklang eine kleine Schelle, die er um einen Fuß gebunden hatte. „Scheiße! Ein abgerichteter Falke", sagte Sinia zu sich. Das Tier trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und wurde noch nervöser, als eine Reitergruppe mit zwei Hunden oben am Ufer erschien. Sinia erschrak zutiefst. Obwohl sie gegen die Sonne schauen mußte, erkannte sie doch sofort in einem der Männer den gemeinen Sohn von Rashid, Karim! Sie wollte davonrennen, doch schon stürzte sich kreischend der Vogel erneut auf sie. „Schon gut!", schrie sie beschwichtigend. Die Arme schützend über dem Kopf wagte sie sich nicht zu bewegen. Noch einmal ertönte ein hell trillernder Pfiff und der Falke beruhigte sich wieder, setzte sich auf den Stein und stieß einen kurzen spitzen Schrei gegen Sinia aus. © S. Remida
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Geduldig ließen die Reiter ihre Pferde den sichersten Weg hinab durch Geröll und Strauchwerk suchen, während die Hunde ohne Laut zu geben vorrannten. Sinia richtete sich auf, ließ ihre Arme hinuntersinken und sah den sechs Männern abwartend entgegen. Vor dem Fluß blieben sie mit ihren beiden hechelnden Begleitern stehen. Nur Karim dirigierte sein Pferd durch das Wasser und blieb vor Sinia stehen. Belustigt ließ er seinen Blick an ihr heruntergleiten. Ihre Haare glänzten golden im Sonnenlicht und fielen, von der Feuchtigkeit in leichte Locken gedreht, über die Schultern. Der notdürftig geflickte Riß vorn am Halsausschnitt war wieder aufgegangen und zu einem V-Ausschnitt auseinandergefallen. Das naß gespritzte Hemd verriet mehr von ihrer schlanken Figur als es verbarg und die Kratzer am ihren Beinen deuteten auf eine ausgesprochen abenteuerliche Wahl des Fluchtweges hin. Karim schnalzte mit der Zunge und der Falke flatterte auf seinen gepolsterten linken Unterarm. Zärtlich flüsterte er ihm zu. Mit einem leichten Zug am Zaumzeug brachte er sein tänzelndes Pferd wieder zur Ruhe. Dann wandte er sich wieder an die verwegen wirkende Frauengestalt. „Du hast Glück, dass wir dich noch lebend gefunden haben, um dich hier herauszuholen. Willst du dich nicht bei deinen Rettern bedanken?", fragte er sarkastisch. Sinia spuckte angewidert ins Wasser. Karim zog mit der rechten Hand eine Peitsche hervor und hielt den Stock unter ihr Kinn und drückte es hoch. Ihre Blicke trafen sich und im gleichen Moment stieß Sinia mit ihrer rechten Hand dem Peitschenstiel zur Seite. Eine flinke Bewegung von Karim und das geschmeidige Seil hatte sich um ihr Handgelenk gewickelt. Mit einem Ruck zog er Sinia zu sich ans Pferd. Sie schrie vor Schmerzen auf und versuchte sich mit der anderen Hand zu befreien. Aber Karim hielt die Schnur auf Spannung. „Nur um mich umzubringen, hättest du dir den Weg sparen können. Warum läßt du mich nicht einfach hier krepieren!", schrie sie wütend. „Du wolltest zu unseren Feinden flüchten?", er sah sie scharf an. „Du hättest es fast geschafft! Die Grenze ist keine halbe Stunde von hier entfernt und eine kleine Siedlung ganz in der Nähe!" Er grinste, als sei ihm ein besonders guter Streich gelungen. Sinia starrte ihn an. „Nein! Oh Gott, nein!", stotterte sie. Karim zog sie an der Peitsche zu den anderen. Apathisch stolperte Sinia hinter dem Pferd her. Als er sie neben sein Pferd zerren wollte, stürzte sie und konnte sich gerade noch mit der linken Hand abfangen. Dabei schrappte ihr verbundenes, geschwollenes Handgelenk an einer Steinkante entlang. Sie biß die Zähne zusammen, es tat höllisch weh. Oben vom Pferd herab befreite Karim ihr Handgelenk von der fest umwickelten Schnur. Sinia sank zu Boden, gleich umringt von den schnüffelnden Hunden. „Nehmt sie mit!", befahl er und ritt in stolzer Haltung voraus. „Ich kümmere mich um sie!", wimmelte eine vertraute Stimme die anderen Begleiter ab. „Jaffar! Du bist auch hier?", schluchzte Sinia. Er half ihr auf und legte ihr sein schwarzes langes Cape um, dass er über seiner Uniform getragen hatte. „Wie geht es dir? Tut mir leid, dass du es nicht geschafft hast!" Sinia zuckte mit den Achseln. „In sha’allah!" Er hob sie auf sein Pferd, stieg hinter ihr auf und trieb das Tier an, die schon voraus reitende Gruppe einzuholen. Erschöpft dämmerte Sinia vor sich hin. Sie wollte nicht reden, nicht denken. Sie wußte nur, sie hatte verspielt! Sie hatte verloren! ************** Ein einfaches unbewohntes Haus diente den sechs Männern als Stützpunkt, von dem aus sie das unwegsame Gelände zu Pferd auf der Suche nach Sinia durchquert hatten. Da hinein hatte nun Jaffar Sinia geführt und gebeten, hier zu warten. Es bestand aus einem einzigen großen Raum, dessen ganzes Inventar aus einem grob gezimmerten Holztisch, fünf passenden Stühlen und einem wackeligen Halbschrank, auf dem eine moderne Funksprechanlage blitzte, bestand. Der hintere Teil des Zimmers war mit zwei über eine Leine gespannten alten Decken abgetrennt. © S. Remida
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Karim trat mit seinem Falken ein, holte sich einen Stuhl, stellte ihn in die Mitte des Raumes und ließ seinen Raubvogel auf der Lehne ab. Er fischte aus seiner Uniform ein Säckchen und begann das Tier mit dem Inhalt zu füttern. Seine umfangreiche Bewaffnung sprang Sinia sofort ins Auge. Auf der einen Seite eine große Pistole, auf der anderen ein auffälliges Messer in einem Schaft und schräg in seinen Gürtel gesteckt die Peitsche. „Deine Flucht war recht dumm, findest du nicht auch?", fragte er nebenbei. Sinia drehte ihm genervt den Rücken zu und stützte ihre Hände auf den Tisch. „Und dann noch ausgerechnet zu diesen Hundesöhnen! Oder sind das etwa deine Freunde, die du deckst? -- In ihrem Auftrag hast du meinen Vater um Hilfe gebeten und die werden seinen selbstlosen erfolgreichen Einsatz so darstellen, als hätten wir mit den Rebellen gemeinsame Sache gemacht!", mutmaßte Karim laut vor sich hin. „Oder wollen sie diese völlig aus der Luft gegriffene Liste, mit der du meinen Vater zu erpressen versucht hast, veröffentlichen und uns damit vor aller Welt lächerlich und unseriös gegenüber unseren hochkarätigen Geschäftspartner machen?" „Haben sie das schon getan?" „Sie warten wohl, bis du zurück bist!" „Aber klar! --- Wessen Erkenntnisse sind das eigentlich?", fragte Sinia leichthin. „Meine!" „Das hatte ich mir doch gedacht! Sie entbehren nämlich jeglicher Logik!" „Du traust dich, mich zu beleidigen?" „Nein, tu ich das? Aber warum versuchst du es nicht erst mal mit nachdenken? Weshalb sollten die an der Rettung irgendwelcher Westler interessiert sein, zumal sie nicht mal was davon haben, im Gegensatz zu euch? Und die Liste hätten sie auch so veröffentlichen können, eh?", klärte Sinia auf. Karim gab seinem Vogel einen Schubs, der mit seinen mächtigen Schwingen sofort abhob und durch den Raum kreiste. Sinia duckte sich schnell und spürte die aufwirbelnde Luft, die seine Flügelschläge dicht über ihr erzeugten. Karim pfiff den Greif zu sich zurück. „Du hast ja doch Angst!", feixte er. „Ich wette ohne deinen Vogel und deine Bodyguards würdest du dich nicht mal in meine Nähe wagen!", sagte sie wütend. Karim stürzte sich auf sie und zerrte sie ganz nah zu sich. „Wenn mein Vater nicht ausdrücklich befohlen hätte, dass wir dich lebend zurückbringen sollen, würde ich dich jetzt umbringen!", zischte er haßerfüllt und schleuderte sie von sich, dass sie auf den Boden fiel. „Gelobt sei dein Daddy!“, fauchte Sinia und rutschte weiter weg von ihm. Jaffar trat schwungvoll ein. „Ich hatte gar nicht dran gedacht, dass ihr zwei ja hier alleine seid! Aber ihr habt's ja überlebt, wie ich sehe!" Er schaute Sinia an. „So schwach? Du mußt erst mal was essen. Wie geht es deinen Pulsadern? Unser Sanitäter sieht sie sich gleich mal an!" „Ich habe keinen Hunger und brauche auch keine medizinische Betreuung! Erledigt lieber euren Auftrag und bringt mich zu Safar! Und zwar jetzt!", sagte sie in Deutsch. „Morgen. Du mußt dich erst mal ausruhen!" „Bis morgen könnte ich schon über den Jordan oder -", Sinia blickte zu Karim, „da, das wandelnde Waffenarsenal in meiner Gegenwart explodiert sein!" „Willst du wirklich so vor ihn treten?", erkundigte sich Jaffar und musterte sie in dem schwarzen, viel zu langen Umhang amüsiert. „Ja! Wenn er später mal die Wahrheit erfährt, soll er sich so an mich erinnern und wird erkennen müssen, wie sehr er mir mit seinem übertriebenen Mißtrauen Unrecht getan hat!" Jaffar schüttelte den Kopf. „Du hältst dich also für völlig schuldlos an deiner Lage?" Flapsig entgegnete sie: „War ja nicht meine Idee, jedesmal gleich eine ganzen Armee gegen mich auszuschicken! - Was ist? Soll ich schon mal vorgehen?" Jaffar besprach sich kurz mit Karim, der von ihrer Unterhaltung nichts verstanden hatte. Dann richtete er sich wieder an Sinia. „Okay, fahren wir zum Hubschrauber. Er bringt uns zurück!" Nach einigen Telefonaten, ging es mit Jaffar als Fahrer, Karim als Beifahrer und zwei Begleitern, mit Sinia in ihrer Mitte, in einem Ranch Rover zum Landeplatz und in einem kleinen wendigen Helikopter © S. Remida
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weiter Richtung Bagdad. Sinia versuchte ihre Anspannung unter Kontrolle zu kriegen. Nervös nestelte sie an dem alten Stoffverband um ihrem Handgelenk, dessen Ende sich inzwischen gelöst hatte, aber sonst mit ihrer blutig aufgeschrappten Wunde fest verkrustet war. Das ruhige Sitzen und die fehlende Ablenkung ließen ihre Schmerzen allmählich wieder in den Vordergrund rücken. Halb betäubt davon stieg sie nach langem Flug mit den vier Männern aus. Trotzdem fühlte sie sich hellwach, ganz ruhig und vor allem - ihr war alles egal! Sinia wurde in einer kleinen Halle von Rashid Safar und einigen ehrwürdig aussehenden alten Männern in weißen Gewändern schon erwartet. Nach ihrem Eintreten versperrten zudem wohl ein Dutzend Uniformierter hinter ihr den Eingangsbereich. Karim hatte es sich nicht nehmen lassen, Sinia persönlich hereinzuführen und mit einem kräftigen Schubs in die Mitte des Raumes zu befördern. Sinia stolperte aber über ihre lange Kutte. Verärgert zog Karim seine Peitsche und ließ sie, ehe jemand eingreifen konnte, auf seine Gefangene niedersausen. Die Wucht drückte Sinia nur noch mehr auf den Boden. „Los, steh auf!", befahl Karim unbeherrscht und ging um sie herum, um sie am Arm hochzuziehen. Sinia lauerte auf den richtigen Moment. Dann schnellte sie nach vorn und warf sich mit einem geschmeidigen Sprung wie ein schwarzer Schatten über Karim, der rückwärts auf den Boden fiel. Dabei entriß sie ihm die Peitsche und zog mit der anderen Hand seine Pistole. Fest drückte sie ihren Ellenbogen auf seine Gurgel und griff sich auch noch sein Messer. Das hatte nur Sekunden gedauert. Sie ließ von ihm ab und erhob sich. Ganz ruhig klang ihre Stimme. „Wieviel Mut besitzt du noch, ohne das...", dabei ließ sie seine Pistole quer durch die Halle über den Steinboden schlittern. „Und das!" Mit Wucht warf sie das Messer an Karim, der sich langsam aufrichtete, vorbei auf eine Holztür, wo es zu ihrem Erstaunen sogar stecken blieb. Deutlich spürte sie die Anerkennung der Männer. Dann ließ sie die Peitsche knallen, „...und das!", und warf sie der Pistole hinterher. Sinia sah Rashid an, raffte den Umhang vorne fest zusammen und ging ganz langsam auf ihn zu. Karim hatte zwar barsch die Hilfe seiner Freunde beim Aufstehen abgewiesen, doch jetzt verlangte er nach einer Schußwaffe. Sinia sah, wie Rashid seinen Revolver zog und auf seinen Sohn richtete. Wollte er sie etwa schützen? Verwundert hob sie eine Augenbraue und trat genau in die Schußlinie. Sie fixierte den Minister. „Nein! Er ist doch Ihr Sohn!", sagte sie leise und fühlte wie ihre Schmerzen, die sie für einige Minuten verdrängt hatte, übermächtig vom Rücken über den linken Arm bis zur Hand entflammten und ihre Knie nachgaben. Aber sie fing sich wieder, richtete sich gerade auf und konzentrierte sich erhobenen Hauptes auf jeden neuen Schritt. Rashid ließ seinen Revolver sinken, sicherte ihn und steckte ihn in den Halfter zurück. Das gleiche klickende Geräusch der Sicherung vernahm Sinia auch hinter ihrem Rücken. Gefahr vorerst gebannt, dachte sie erleichtert und blieb einige Meter vor dem Minister stehen, um nicht bei einem weiteren Schritt doch noch zusammenzubrechen. Safar schaute sie streng an und fragte: „Hast du mir nichts zu sagen, Lady?" „Nicht dass ich wüßte!", stöhnte Sinia rauh. Ihr Blick wanderte über die alten Männer neben ihm. „Und Sie?" sprach sie weiter. „Aber machen Sie es kurz!" Safars Augen wurden schmal und seine Backenknochen bewegten sich. Er war verärgert, dass sie statt nachzugeben, ihn offenbar lieber provozieren wollte. Nun denn! Er gab den weißgekleideten Männern einen Wink, worauf diese auf ein hinter ihnen aufgebautes Podest stiegen und hinter einem langen Tisch gemächlich auf bequem gepolsterten Stühlen Platz nahmen. Auch Rashid setzte sich. Sein Blick ruhte unverwandt auf Sinia. Sie erinnerte das Ganze an ein Tribunal. Und mit Recht, wie sie schnell merkte. Schon erhob sich einer der Männer und pries Allah, setzte sich wieder und begann mit einer Aufzählung von schweren Verfehlungen gegen diesen Staat, seine Vertreter und Teile der Bevölkerung. Bald verzettelte er sich in der übertriebenen Ausführung von Einzelheiten. Sinia kam das wie eine Farce vor und hatte keine Lust, dem Alten zuzuhören. Unbeobachtet unter ihrem Umhang fingerte sie wieder an ihrem Verband herum und riß ein an der Wunde festgeklebtes Stück ab, so dass der Stoffstreifen frei und nunmehr © S. Remida
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ganz locker um das Gelenk lag. Sie ließ den Arm hinunterhängen und fühlte sogleich das warme Blut über die Hand und Finger laufen. Sie sah zu Rashid und bald durch ihn durch auf einer gedanklichen Flucht vor ihrem geschundenen Körper und diesem unheimlichen Prozeß zur Geisterstunde... „Haben Sie das Urteil verstanden? Möchten Sie noch irgend etwas sagen? Sie haben das Recht dazu!", sagte langsam in hartem englisch ein anderer weißgekleideter Alter mit eindringlicher Stimme, die Sinias Gedanken wieder in die Gegenwart zurückholte. „Urteil?", überlegte sie angestrengt, da sie doch gar nicht zugehört hatte. Zu was könnte man sie wohl verurteilt haben? Sicherlich zum Tod, kam sie zum Schluss. Egal, wenn sie nur nicht mehr stehen brauchte! „Ja, dann halten Sie sich mal ran, meine Herren, dass Sie nicht noch um den Spaß seiner Vollstreckung kommen!", erklärte sie zynisch mit schwacher Stimme. Sie sah wieder zu Rashid, der über ihre unverfrorene Antwort erschüttert den Kopf schüttelte. „Führt sie ab!", erhob er sich mit bebender Stimme. Zwei Soldaten traten hinter Sinia und packten sie an den Armen. Schockiert ließ der eine ihren linken Arm sofort wieder los und sah auf seine blutverschmierte Hand. Über dem Fußboden hatte der Umhang eine rote Fläche gewischt. Safar ging zu Sinia und die beiden Männer traten einen Schritt zurück. Er riß das am Halsausschnitt zusammengehakte schwarze Gewand auf und ließ es auf den Boden gleiten. Ein erschrockenes Raunen ging durch die Reihen der Soldaten hinter ihr. Safar betrachtete verwundert das zerrissene und gekürzte Männerhemd, dann griff er ihren Arm und besah die blutende Wunde. Seinen Daumen drückte er darüber fest auf die Schlagader. Langsam zog er Sinia soweit herum, dass er auf ihren Rücken sehen konnte. Der Peitschenhieb hatte ihre Verletzung an der Schulter wieder geöffnet und ihr Hemd auf einem großen Stück rot eingefärbt. Sinia sackte ohnmächtig zusammen. Rashid fing sie auf. „Den Arzt, schnell!", rief er und rannte mit ihr auf den Armen in das schon vorbereitete Krankenzimmer. *****
Knietief stecke Sinia im Schlamm und mit jeder verzweifelten Fluchtbewegung sank sie ganz langsam tiefer und tiefer ein, bis zu den Oberschenkeln, dann schneller bis zu den Hüften. Die Angst, sich doch nicht aus eigener Kraft befreien zu können, zwang sie schließlich laut um Hilfe zu schreien. Davon schreckte sie auf. Es war zum Glück nur ein Alptraum gewesen! „Psch, psch, psch!", beruhigte sie gleich ein Mann im Arztkittel und fügte in Englisch mit französischem Akzent sanft hinzu: „Willkommen unter den Lebenden! Ich bin Dr. Dijon. Wie fühlen Sie sich?" Er hatte schwarze, kurze, glatte Haare und die helle Haut eines Europäers. Sinia sah sich um. Sie lag in einem Himmelbett aus glänzendem Messing. Das leichte Bettzeug war aus cremefarbener Seide. Mit dem Kopfende an der Wand, ragte das Bett in ein geräumiges Zimmer. Durch große Bogenfenster fiel helles Sonnenlicht auf die mit feinen Ornamenten in Gold und verschiedenen Grüntönen bemalten Wände. Die edlen Kommoden aus dunklem Holz mit zierlichen Goldbeschlägen, die eleganten Sessel und der moderne Glastisch, sowie die diskret in die Wand eingelassene Schrankreihe paßten sich mit märchenhafter Leichtigkeit in die freundliche und belebend frische Atmosphäre des Raumes ein. Sinia sah den Arzt zweifelnd an. „Hallo Doc!", grüßte sie im Flüsterton, räusperte sich und antwortete: „Ich denke, tot könnt es mir nicht besser gehen!" „Na, na! Es sah wirklich nicht gut aus! Aber das hier ist doch wohl die bessere Alternative, oder?" Sinia zuckte mit den Schultern. „Wo bin ich eigentlich?" "In der Residenz von Monsieur Safar! Er wird übrigens gleich kommen. Ich sollte ihm melden, sobald Sie wach sind!" „Bloß das nicht! Ich will ihn jetzt nicht sehen! Sagen Sie ihm, dass ich im Koma liege, nein, besser, dass ich tot bin und sofort nach Hause überführt werden will, Quatsch, natürlich: muß!" Dr. Dijon hielt einen kleinen Sender hoch. „Zu spät! Aber ich denke, Sie sollten die Gelegenheit nutzen, um ihm zu danken!" „Wofür? Dass er mich hochpäppeln läßt, nur um mich umbringen lassen zu können?" „Sie tun ihm Unrecht!" © S. Remida
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„Kommen Sie aus Frankreich? Hat er Sie etwa auch in der Hand, dass Sie ihn so in Schutz nehmen?" „Ich bin Algerier und kenne Monsieur Safar schon lange. Wir sind sogar befreundet!" „Wie kann man nur!" In dem Moment kam Rashid Safar herein. Der Arzt lächelte Sinia aufmunternd zu und ging nach einem kurzen Wortwechsel mit Rashid aus dem Zimmer. Sinia hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. „He Lady! Du hast mir ganz schön Angst gemacht!", sagte Safar und zog die Decke ein Stück zurück. „Wie geht es dir?" Sinia klappte die Decke wieder über ihren Kopf und Rashid gleich wieder zurück. Diesmal hielt er ihre Hand mit fest. „Ich hoffe, du unterläßt in Zukunft solch abenteuerlichen Alleingänge. Wir hatten keinen Anhaltspunkt, wo wir dich suchen sollten. Erst der Mann, dem du das Auto geklaut hast, brachte uns auf die richtige Spur. Er beansprucht übrigens die Belohnung!", sagte er und wartete gespannt auf ihre Reaktion. Sinia hatte die ganze Zeit demonstrativ zur andere Seite geschaut. Aber jetzt blitzte sie ihn an. „Was? Ausgerechnet der? Der würde ganz was anderes verdienen!" „Du redest also doch noch mit mir?", stellte er belustigt fest. "Schön! Übrigens haben wir inzwischen sein Geständnis und wissen, was tatsächlich vorgefallen ist. Er wird seine verdiente Strafe erhalten!" „So? Warum? Weil er Ihnen beinah die Arbeit abgenommen hätte?" „Wieso?", überlegte Safar. „Ach, wegen der Verhandlung heute Nacht! Es glaubten ein paar, dich damit zum Reden bewegen zu können. Ich hielt nichts von dem Vorschlag, und hätte ich mich nicht über dein Verhalten so geärgert, hätte ich es auch nicht zugelassen." „Was habe ich denn getan?" „Nur als Beispiel, du bist grundlos aus dem Krankenhaus abgehauen. Du hast nicht nur Karim vor den Männern gedemütigt, sondern auch seinem Vater die Möglichkeit genommen, ihn zur Vernunft zu bringen. Das war genau so unnötig und dumm, wie dein Stolz oder war es Starrsinn, der aus deinen Worten sprach?" Er lächelte sanft. „Aber das ist jetzt erledigt. Du brauchst nichts zu verraten. Wir werden auch so herausfinden, was uns interessiert!" „Dann können Sie mich ja gehen lassen!" „Sicher, aber bis du ganz gesund bist, bleibst du hier. Nicht, dass wir noch für deinen schlechten Gesundheitszustand verantwortlich gemacht werden!" „Aber mir geht es doch schon wieder blendend! Und Sie bräuchten sich auch nicht länger über mich ärgern!" „Darüber reden wir später, ja?" Safar stand auf. „Übrigens habe ich meinem Sohn verboten in deine Nähe zu kommen. So, jetzt ruh dich aus!" Er zwinkerte ihr mit einem Auge zu und zog die Decke über ihren Kopf. Sinia deckte sich gleich wieder auf. „Rashid! Eh, Mister Safar!", rief sie hinter ihm her. An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Danke..." Sinia überlegte, was sie noch zufügen könnte. „Dass es mich gibt?", fragte er lächelnd. „Auch das!", grinste Sinia. *************** Später kam Dr. Dijon in Begleitung einer jungen bildhübschen Frau zu Sinia ins Zimmer hinein. Er stellte sie als Samira, die Nichte von Rashid vor. Sie hatte pechschwarzes langes glattes Haar und ausdrucksvolle dunkelbraune Augen. Ihre Haut schimmerte zart hellbraun. Sie trug ein schlichtes langes hellblaues Kleid. Das achtzehnjährige Mädchen war so schrecklich neugierig auf diese ausländische Frau gewesen, dass sie nicht eher Ruhe gegeben hatte, bis sie Erlaubnis bekam, Sinia besuchen zu dürfen. Sinia lachte, als Samira ihr das erzählte und bald unterhielten sie sich angeregt über alles mögliche, ausgenommen über Sinias Herkunft. Es war nicht zu übersehen, dass sich die beiden auf Anhieb moch© S. Remida
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ten. Sinia fühlte sich zusehends besser, sie hatte endlich eine Freundin gefunden, der sie vertrauen durfte. Am nächsten Morgen stand Sinia auf und erkundete ihr Zimmer. Wie Samira gesagt hatte, fand sie all ihre Sachen fein säuberlich geordnet in den Schrank gelegt oder gehängt wieder. Sogar ihr Kassettenrecorder und die Fotoausrüstung lagen unversehrt neben dem akkurat verstauten Koffer und der Reisetasche. Sie freute sich königlich darüber und besonders, dass Rashid ihr trotz allem so freundlich gewogen schien! Dennoch war es wieder höchste Zeit, sich bei Abdul El Basan zu melden und zwar von außerhalb dieser Gemäuer. Dr. Dijon weigerte sich jedoch hartnäckig, ihr die Erlaubnis zum Verlassen des Geländes zu erteilen, zumal er ihre Begründung, ihr würde der Trubel in der Stadt guttun, nicht verstehen mochte. Samira bemerkte nicht nur Sinias bedrückte Stimmung, sondern betrachtete deren Ansinnen, irgendwie in die Stadt zu gelangen um heimlich telefonieren zu können, als eine aufregende Aufgabenstellung, die sie lösen wollte. Und tatsächlich saßen die beiden Frauen alsbald in einer chromblitzenden Limousine, die sie von einem ahnungslosen Chauffeur gelenkt in die Stadt brachte. Samira führte Sinia in ein großes Geschäft, von wo aus sie ungestört aus einem Hinterzimmer mit El Basan telefonieren konnte. Sinia machte es sehr schnell. Nein, er brauche nicht eingreifen, sie werde auch ohne ihre Helfer gefährden zu müssen, zurückkehren. Sie warte nur auf den richtigen Moment und werde sich wieder melden, er möge sich noch etwas gedulden und ihrer aufrichtigen Dankbarkeit stets gewiß sein! Damit legte sie erleichtert auf. Samira hatte so lange vor der Türe aufgepaßt, dass keiner sie störte. Danach bummelten die beiden, unerkannt in ihre schwarzen Gewänder gehüllt, noch über den Basar und kicherten sich immer wieder verschworen zu. Als der große Wagen auf seinem Rückweg an den Wachposten zu Rashids Residenz vorbeikam, erfuhren Sinia und Samira schon, dass der Hausherr bereits ungeduldig auf die beiden Ausreißerinnen wartete. „Wer hat euch erlaubt, in die Stadt zu fahren?", polterte Rashid los. „Sie hätte wieder versuchen können zu fliehen. Glaubst du, ich habe sonst nichts zu tun, als sie dauernd suchen zu lassen? Außerdem ist sie noch zu schwach, um irgendwelche Ausflüge zu unternehmen!", schimpfte er mit Samira. „Aber sie ist doch noch da und sie ist auch nicht krank. Und außerdem ist sie unser Gast, hast du gesagt!", rechtfertigte sich Samira. „Und da mußt du gleich mit ihr in die Stadt? Was habt ihr da eigentlich gemacht? Hätte es ein Spaziergang durch unsere Gärten nicht auch getan?" „Ich habe ihr doch nur den Basar gezeigt. Du weißt, wie gerne ich dort bin!", schmollte Samira. Sie schwindelte wirklich sehr überzeugend, dachte Sinia. Es war an der Zeit sich einzuschalten. „Bitte machen Sie Samira keine Vorwürfe. Es war mein Wunsch hier herauszukommen. Ich brauchte einfach das Gefühl, mich frei bewegen zu dürfen, wie es einem Gast gestattet ist. Ich wollte sie aber nicht verärgern. Entschuldigung!" Rashids Augen fixierten Sinia. „Tu das nie wieder, Lady! Klar?" Sinia hielt seinem Blick stand und antwortete langsam aber nachdrücklich: „Sie wissen, dass ich noch immer fort will, mit oder ohne Ihre Zustimmung. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag. Solange ich sage, dass oder wohin ich gehe, werde ich immer wiederkommen. Habe ich aber vor, das Land zu verlassen, werde ich ohne ein Wort einfach verschwinden!" „Na schön, du wirst mein Grundstück nur mit meiner Erlaubnis verlassen dürfen, wenn du genau angegeben hast, wohin du willst und nur in Begleitung. Und wage es nicht dein Versprechen zu brechen!" „Und wenn Sie nicht erreichbar sind?" „Ganz einfach, dann bleibst du da!" „Tz!", Sinia sah Samira an und zog einen Mundwinkel hoch. © S. Remida
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„Danke!", Samira hauchte ihrem Onkel einen Kuß auf die Wange und zog Sinia am Arm. „Los, komm!" „Nur einen Moment noch!" Sinia schüttelte Samira ab und trat vor Rashid. „Ich habe noch eine Bitte!" „Noch so eine Idee?" „Es geht um den Mann, der die Belohnung wollte. Ich bitte Sie, ihn laufen zu lassen. Er hat mir ja eigentlich nichts getan. Ich denke, er ist schon genug gestraft, dadurch, dass er sich mit mir angelegt hat!" „Du bittest wirklich für ihn um Gnade? Er wollte dich vergewaltigen und töten!" „Ich lebe noch und ich kann verzeihen!", erklärte sie und der Wink mit dem Zaunpfahl war dabei nicht zu überhören. „Außerdem kenne ich eure Gefängnisse und Gerichtsverhandlung!", sagte sie mit schnippischer Anspielung und ernst weiter: „Bitte! - Das Geld von der Belohnung hätte übrigens ich gerne!" Und leichthin fügte sie an: „Für Leute, die es wirklich verdient haben!" Rashid mußte erst mal tief Luft holen. „Lady, du erstaunst mich! Und was sind das für Leute?" „Nette! - Sie haben mich aufgenommen und gesund gepflegt, als ich das Krankenhaus... na ja... Lassen Sie es mich allein hinbringen? Ich komme auch wieder!" „Du traust mir nicht, weshalb soll ich dir dann trauen?" „Irgendeiner muß ja mal anfangen!" Sinia lächelte ihn offen an. Rashid konnte nicht streng bleiben. „Ich werde es mir überlegen, geht jetzt!" Nachdenklich sah er den beiden hinterher. ********** Samira war schon in der Uni, als Sinia aufstand. Bis auf die Dienstboten schien das Haus leer. Sinia schlenderte durch die riesige Empfangshalle hinaus, die Empore hinunter und über die breite mit kunstvollen Ornamenten gepflasterte Auffahrt. Was für ein langweiliger, warmer Vormittag! Sie roch an den exotischen Blüten, die auf dem englischen Rasen in ausladenden Rabatten angepflanzt waren. Ein Jeep raste auf die Ausfahrt zu, mit ein paar johlenden jungen Männer. Unter ihnen war auch Karim, der mit einem Gewehr auf Sinia zielte und laut „Peng! Peng! Peng!" schrie. Dann war es wieder still. In einem offenen Sportwagen kam Jaffar die Auffahrt entlang, winkte ihr zu und eilte die Treppe hinauf ins Haus. Sinia schlenderte zum Auto. Jaffar kam mit ein paar Unterlagen in der Hand wieder zurück. „Hallo Marie, eh, Katrin! Siehst aus, als ob du dich langweilst!", stellte er freundlich fest. „Tja! Dabei kommen einem so allerlei Gedanken!", antwortete sie gedehnt und sah zu einem buschigen Baum, der ganz in der Nähe einer hohen Mauer stand, die das ganze Areal umgab. „Würde ich nicht tun, du brichst dir den Hals, wenn du auf der anderen Seite runter willst!" „Ah, ja? Und was tust du?" „Auf mich wartet jetzt noch ein Übungsflug!" „Nimmst du mich mit, damit ich mir hier nicht noch den Hals breche?" „Tut mir leid, aber da haben Frauen nichts verloren!" „Feigling! Aber möglicherweise ist es auch leichter Rashid zu erklären, wo ich abgeblieben bin! Na ja dann, gute Landung!" Sie schlenderte ein paar Schritte zurück und winkte ihm schelmisch zu. „Also schön, steig ein!" ************ Sinias Erscheinen auf dem Militärflugplatz löste wirklich einige Verwunderung aus, was sie mit der schnippischen Bemerkung kommentierte, dass es nur daran liege, weil die Jungs sie diesmal nicht hierher entführt hätten. Jedenfalls hielt Jaffar es doch für besser, Sinia auf seinem Flug mitzunehmen und alsbald saß sie im geliehenen Overall hinter ihm im Düsenjet. Seinen leisen Ärger darüber machte er aber dann durch reichliche Flugmanöver und Loopings Luft. Als er endlich landete, war es Sinia entsprechend übel, schwindelig und kaum möglich sich auf den Füßen zu halten. © S. Remida
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„Ich sagte doch: Übungsflug! Aber du wolltest ja unbedingt mit!", bemerkte Jaffar schadenfroh. Sinia winkte ab. „Jetzt weiß ich es auch. Und ich hatte immer Angst vor der Achterbahn!", stöhnte sie. Johlend und klatschend kamen seine Kameraden auf sie zu. Jaffar legte stützend seine Hand um ihre Taille und riß ihren Arm in Siegerpose hoch. „Ich weiß, das war nicht sonderlich nett von mir! Entschuldige! Atme tief durch, dann geht's dir gleich besser. Die brauchen davon ja nichts zu merken!" „Wie nett von dir! Ich werde mich bei Gelegenheit revanchieren!" Sinia ließ sich denn auch nichts anmerken. Die offene Bewunderung der Männer tat ihr gut. Jaffar aber hatte wohl das Gefühl, etwas wieder gut machen zu müssen, weshalb er Sinia versprach, sie bei seinem nächsten, dann aber normalen Flug noch einmal mitzunehmen. Bei Sinia weckte das eine, wenn auch verrückte Fluchtidee! ********* Sinia hatte es geschafft, dass sie Jaffar nun fast täglich bei seinen Flügen begleiten durfte und geschmeichelt von ihrem Interesse an sowohl der Fliegerei als auch an seinem Land gab er gerne ausführlich Auskunft. Sinia indes versuchte sich das für sie Wichtige genau einzuprägen. Die meiste Zeit verbrachte sie jedoch mit Samira, die ihr längst nicht nur das ganze Anwesen gezeigt, sondern auch seine übrigen Bewohner vorgestellt hatte. Da waren ihre zwei jüngeren Schwestern, ihr Bruder, der mit seinen neun Jahren der jüngste war und ihre Mutter, eine freundliche Frau von fülliger Gestalt und vornehmen Benehmen. Sie war Witwe und hatte als Zwillingsschwester von Rashids Frau im Palast ihres Schwagers eine luxuriöse Bleibe gefunden, wie Samira sich ausdrückte. Rashids Frau hingegen bekam Sinia nie zu Gesicht. Sie weilte wohl im Ausland und es schien, als ob man nicht gern darüber reden wollte. Die Bediensteten, drei Ehepaare, bewohnten einen Flügel des Hauses. Sie und ihre Kinder konnten sich aber im ganzen Haus bewegen, so dass der Eindruck einer richtigen Großfamilie entstand. Sinia staunte immer wieder über die lockere Atmosphäre zwischen Herrschaft und Dienerschaft. Rashid schien gerne vertraute Menschen, ob groß oder klein um sich zu haben. Karim sah sie nur selten und wenn beachtete er sie nicht. Auch Rashid war, wenn überhaupt, nur stundenweise zu Hause. Inzwischen hatte Sinia Samira auch ihren richtigen Namen anvertraut, obwohl diese aus Sorge, dass sie ihn in Rashids Gegenwart aus Versehen aussprechen könnte, ihn erst nicht wissen wollte. Sinia hatte ihr jedoch versichert bei nächster Gelegenheit auch ihrem Onkel ihren Rufnamen zu verraten, weil seine demonstrative 'Lady'- Anrede sie zunehmend nervte. An einem Freitag, dem islamischen Sonntag, stand ein Jachtausflug auf dem Tigris Richtung Golf an. Sinia, Samira, ihre Mutter und Geschwister, sowie zwei Ehepaare von der Dienerschaft mit Kindern gingen bei herrlichem Wetter an Bord. Es versprach ein wunderschöner Tag zu werden, zumal Karim weit fort auf Falkenjagd war, wie Samira ihr gesagt hatte. Allein Rashid ließ sich nicht blicken, obgleich er auch an Bord war. Zur späten Mittagszeit dümpelte das Schiff in einer schattigen Bucht und die Kinder vergnügten sich im Wasser oder sprangen kreischend hinein. Von Samira erfuhr Sinia, dass sich Rashid im Moment unter Deck im hinteren Teil des Salons aufhielt. Mit der Bemerkung, „Dann werde ich mich mal dahin verirren!", verschwand Sinia im Schiff. Sie schlenderte in den pompös ausgestatteten Salon und ließ sich mit einem Seufzer auf ein Sofa aus dunkelrotem Samt fallen. Ein eleganter Drehsessel aus weißem Leder drehte sich in ihre Richtung. Darin saß im offenen, bunten Hemd und kurzer weißer Hose Rashid Safar. Sinia tat überrascht. „Oh, ich wußte nicht, dass Sie auch hier sind! Hi", grüßte sie lässig, blieb aber ausgestreckt sitzen. „Ich glaube doch!", antwortete er gutgelaunt. „Warum bist du nicht bei den anderen im Wasser, Lady?" © S. Remida
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„Äh, vielleicht kann ich nicht schwimmen!" „Ich glaube doch. Immerhin hast du dich bisher ganz gut über Wasser gehalten!", bemerkte er. „Vielleicht war es bisher ja nicht so tief!", spann Sinia den Faden weiter. „Ich glaube, dann sollte ich dir sicherheitshalber das Schwimmen beibringen! Fliegen lernst du ja schon!" Bei Sinia läutete eine Alarmglocke. „Fliegen ist dagegen eine Wissenschaft. Deshalb ist es für mich nur ein aufregender Zeitvertreib bis Samira nach Hause kommt. Übrigens danke, dass Sie mir erlauben, mit Jaffar fliegen zu dürfen!" Rashid zuckte mit den Achseln. „Solange weiß ich dich wenigstens gut aufgehoben! Du verstehst dich gut mit Samira?" „Ja, sie ist ein außergewöhnliches Mädchen!" „So wie du!" Sinia lächelte vielsagend. „Oh, ich hätte sogar Ambitionen zu einem Mythos! Aber dazu müßte ich zuvor unauffällig von hier verschwinden!" Safar grinste. „Gegenvorschlag: warum bleibst du nicht einfach bei uns? Dafür verzichten wir sogar gern auf ein Mythos!" Sinia war irritiert, hatte sich aber schnell wieder unter Kontrolle. „Weil das nicht so einfach geht. Ich habe noch ein anderes Leben und das wartet auf mich!" „Ja, hier!", antwortete Safar. Freundlich, aber eindringlich antwortete Sinia: „Das hatte ich nie beabsichtigt. Sie dürfen mich nicht festhalten. Ich gehöre nicht hierher. Sie müssen mich gehen lassen! Es ist schon kompliziert genug. Bitte Rashid, ich will, ich muß heim! - Entschuldigung - Mister Safar", verbesserte sie sich schnell. „Du kannst ruhig bei Rashid bleiben!" Er machte eine Pause und fuhr dann fort: „Es ist ein Angebot, überlege es dir in Ruhe. Es würde dir bei uns gut gehen. Du hast ja sogar schon einige Freunde hier. Wenn dich trotzdem hier nichts halten kann, werden wir dir selbstverständlich dabei helfen, in dein Land zurückzukehren!" Sinia sah ihr Gegenüber nachdenklich an. Wie er sich ausdrückte! Sollte sie ihm das glauben? „Einverstanden?", hakte Rashid nach. Sinia nickte. „Das hätte ich gerne noch schriftlich!" „Du hast doch mein Wort!", stellte er ausdrücklich klar. „Ich werde Sie daran erinnern!" Safar bat sie dann, nichts zu überstürzen. Sie sollte sich auf ärztlichen Rat erst ganz erholen. Außerdem lud er sie zu seinem Fest ein, das er in ein paar Tagen geben wollte. Sie habe Gelegenheit, eine illustre Gesellschaft kennenzulernen und auch den Anführer der somalischen Rebellen. „Abgemacht, Lady?", beendete Rashid seine Ausführungen. Sinias Neugierde war geweckt. „Abgemacht!", bestätigte sie und stand auf. „Übrigens das Geld für deine Freunde liegt bereit! Jaffar hat Anweisung dich zu ihnen zu bringen. Akzeptiert?" Sinia war überrascht, dass er ihre Bitte nicht nur nicht vergessen hatte, sondern sogar erfüllen wollte. „Ich, ich kann nicht mehr als mich dafür bedanken...", stotterte Sinia und wußte nicht, wie sie ihre Freude über seinen Großmut zum Ausdruck bringen sollte. Rashid winkte ab. Er erhob sich. „Komm, Lady! Gehen wir zu den anderen!" „Mein richtiger Name ist Sinia!" „Sinia?" Rashid musterte sie aufmerksam. „Ja, der paßt auch viel besser zu dir als die anderen beiden!", bestätigte er lächelnd. „Ist das ein Zeichen, dass dein Misstrauen schwindet, Sinia?", erkundigte er sich weiter. „Nein", sagte sie schelmisch. "Ich kann Ihr 'Lady' nur nicht mehr hören!" „Du machst es einem wirklich schwer!", stöhnte er mit gespielter Enttäuschung. Auf dem Deck stürzten sich die Kinder sofort auf Rashid, der gleich spielerisch mit ihnen herumbalgte, sie neckte und sich von ihnen jagen und einfangen ließ. Sinia beobachtete neben Samira die fröhlich johlende Meute. © S. Remida
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„Ein starker Typ, mein Onkel! Sagt ihr nicht so?", sagte Samira. „Ja, echt cool!", pflichtete Sinia ihr bei. „Mein Mann muß so sein wie er!", erklärte Samira voller Bewunderung. Sinia sah ihre Freundin nachdenklich an, dann zog es ihren Blick zurück zu diesem ungewöhnlichen und rätselhaften Mann zwischen den wilden Kindern. Ja, sie konnte Samira sehr gut verstehen! ********* Schon am Nachmittag füllten die edelsten Automarken der westlichen Welt den riesigen Vorplatz vor Rashids Palast. Die meisten Gäste, allesamt männlich, trugen weiße Gewänder, die von edlen, mit Gold durchwirkten Bordüren geziert waren. Mit wehender Kopfbedeckung, die aus dem nur von einem Ring gehaltenen obligatorischen Tuch bestand, schritten sie majestätisch die Stufen zur Eingangshalle hinauf. Der andere Teil der Gäste kam in eleganten Anzügen oder reich dekorierten Uniformen. Von einem Fenster aus beobachtete Sinia mit Samira und deren Geschwistern das erhabene Schauspiel. Fast jeden der Ankömmlinge kannten Samira und ihre Geschwister persönlich und wußten über sie etwas zu berichten, und wenn sie sich nur über eine Macke lustig machten. Als es draußen ruhiger wurde, wandten sich die vier heimlichen Beobachter wieder einem Brettspiel zu. Die eigentliche Party begann erst viel später und hing davon ab, wie lange die Herrenrunde unter sich zu tagen gewillt war! Zuvor würden sich deren Damen, mancher hatte gar gleich mehrere, einfinden und in einem, eigens für sie hergerichteten Salon mit Büfett und kleinem Unterhaltungsprogramm auf den geselligen Teil des Abends warten. Als eine Haushälterin die jüngeren Geschwister unter ihre Fittiche nahm, um sie fertig für die Nachtruhe zu machen, wurde es Samira und Sinia ganz schön langweilig. „Ich weiß was, wir fahren in die Disco. Ich wollte schon immer ohne Leibwächter dahin! Bis man uns in dem Durcheinander vermißt, sind wir längst wieder da!", schlug Samira voller Abenteuerlust vor. „Ja richtig, so was habt ihr hier ja auch! Aber was, wenn man uns erwischt?" „Wir lassen uns eben nicht erwischen, oder hast du keine Lust oder Angst?" „Angst und Geld nie gehabt, sagt man bei uns! Also, auf zu heimatlichen Klängen, die spielen doch westliche Musik?" „Sämtliche Top Hits, wenn du das meinst!" Samira fieberte vor Aufregung. Schnell zogen sie sich um und hüllten sie sich in ihre schwarzen Umhänge. Schon ging es über Hintertreppen und leere Korridore hinaus zu einem kleinen Geländewagen. Triumphierend überreichte Samira Sinia die Autoschlüssel. „Kriegst du den Wagen hier raus?" „Schaun wir mal!", grinste Sinia und ließ das Fahrzeug fast geräuschlos zwischen den Nobelkarossen hindurchrollen. Dann ging es in flotter Fahrt in die von Samira vorgegebene Richtung. Es war eine Edeldiskothek, in der sie trotz ihren teuren orientalisch bestickten Seidenblusen und langen Röcken zu dem unauffälliger gekleideten Teil der Besucher zählten. Bevor sie einen freien Tisch gefunden hatten, wurden sie bereits von zwei jungen Männern zum Tanz aufgefordert und schon tobten sie sich auf der überfüllten Tanzfläche zu heißen Rhythmen aus. Wie lange war Sinia schon nicht mehr so ausgelassen gewesen! Und wie viele Jahre erst ihr letzter Discobesuch zurücklag! Lachend und völlig erschöpft ließen sich die beiden auf zwei freie Stühle fallen. Ihre Tanzpartner brachten ihnen noch etwas zu trinken und verschwanden gleich wieder auf die Tanzfläche. Sinia und Samira beobachteten die wogende Masse. Plötzlich stieß Samira Sinia an und nickte zur Eingangstür. Begleitet von seinen ebenso wilden Freunden stürmte Karim herein. Sie schnappten sich einfach ein paar tanzende Mädchen und ließen deren Partner bedeppert stehen. Innerhalb von Minuten mischten sie so die Tanzfläche auf. „Laß uns verschwinden!", rief Samira Sinia zu. Unauffällig schlüpften sie durch die Menge zum Ausgang. Erleichtert ließen sie die Tür hinter sich zufallen. © S. Remida
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„Samira! Warte!", übertönte hinter ihnen eine wohlbekannte Stimme den Lärm. Als wäre der Teufel hinter ihnen her, jagten die Mädchen die Treppe hinunter, zwischen den Autos durch über den Parkplatz zu ihrem versteckt abgestellten Wagen, dicht gefolgt von Karim und seinen Freunden, die sich nicht scheuten, auch über die geparkten Autos zu laufen. Dann hatten die Kerle sie eingeholt. „Schau an, meine Cousine und unsere wilde Freundin! Wer hat euch erlaubt, hierher zu kommen?" Karim baute sich vor Sinia auf und grinste boshaft. „Laß uns in Ruhe! Ich warne dich, ich sag 's deinem Vater!", schrie Samira. „Wie mutig! Dabei wollen wir euch nur heimbegleiten, damit euch nichts passiert!" „Verschwinde endlich!", fauchte Samira, trat neben Sinia und raunte: „Was soll' n wir tun?" „Ich überleg ja schon!", flüsterte diese zurück. Aber schon packte Karim Sinia am Arm und hielt ihr sein Messer an die Kehle. "Du kommst mit und versuch keine Tricks!" Unvermittelt blickte Sinia mit überraschtem Gesichtsausdruck an ihm vorbei. „Verdammt, dein Vater!" Irritiert drehte sich Karim um. Mit einer schnellen Bewegung schleuderte Sinia ihm das Messer aus der Hand und warf ihn zu Boden, dass er hart aufschlug. Geistesgegenwärtig rannte Samira fort und Sinia hechtete hinterher. Gleichzeitig sprangen sie in den Geländewagen und schafften es um Haaresbreite ihren wütenden Verfolgern zu entkommen. „Das war knapp!", stieß Samira atemlos hervor, während Sinia rasant durch die Straßen kurvte, um den hinterher jagenden Rover abzuhängen. „Du, das ist unsere Chance, wir hauen ab! Ich zeige dir, wie wir aus dem Land herauskommen!" „Wir? Ich kann dich doch nicht mitnehmen!", keuchte Sinia. „Doch! Das ist die Gelegenheit, dass ich endlich hier herauskomme!", bekräftigte das Mädchen. Erst jetzt dämmerte es Sinia, dass Samiras ständiges Interesse an ihrem westlichen Lebensstil wohl nicht alleine einer verständlichen Neugier entsprang, sondern auch dem konkreten Wunsch, dieses offenbar freiere und aufregendere Leben gegen ihr sorgloses langweiliges ‚Tausend und eine Nacht‘ - Dasein zu tauschen. „Du spinnst!" „Es ist mein Ernst!" „Warum bittest du nicht deinen Onkel, dir eine Auslandsreise zu spendieren?" „Weil er davon nichts wissen will. Außerdem will ich mich frei ohne Leibwächter bewegen können. Ich will so leben wie ihr!" Sinia fuhr in eine dunkle Gasse und stellte abrupt den Motor ab. „Du weißt nicht, was du sagst! Wie stellst du dir das vor?" Unbeirrt beklagte Samira ihren, wenn auch luxuriösen so doch reglementierten Alltag und die Zwänge, die Religion und Gesellschaft den Frauen abverlangten. Und dass es nur wenigen gelänge, sich daraus zu befreien. „Und du glaubst, bei uns ist alles besser? Dann hast du mir nie richtig zugehört! Du könntest bei mir zwar eine Weile bleiben - Urlaub machen, aber ohne die Brücken hierher abzubrechen, denn ich habe weder das Geld noch die nötigen Verbindungen, um dir einen dauerhaften angenehmen Aufenthalt im Westen zu ermöglichen. Auch bei uns entscheidet das Geld über die Qualität des Lebens, und du bist zu verwöhnt, als dass du auf Dauer mit weniger zufrieden wärst." „Du hältst mich also für verwöhnt, naiv und unfähig selber für mich zu sorgen? Ich dachte nie, dass du so gering von mir denkst!" „Nein, das ist es nicht! Ich verstehe nur nicht, weshalb du hier gleich alles aufgeben willst, ohne zu wissen, was dich erwartet und ohne es anders wirklich versucht zu haben. Was, wenn du in Schwierigkeiten gerätst und du auf dich allein gestellt bist, statt dich einfach auf Hilfe verlassen zu können!" „Vielleicht hast du recht, ich bin nicht so mutig wie du!", gab Samira traurig nach. „Hm, ich bin nicht mutig!", antwortete Sinia bitter. „Doch, du bist ja hier!" „Soll ich dir sagen, warum ich hier bin? Ja? - Weil ich schlicht Angst hatte, ganz erbärmliche Angst um meinen Mann, den Vater meiner drei Kinder!" Sinia holte tief Luft. Samira sah sie überrascht an. „Du bist verheiratet und hast Kinder? Ich verstehe nicht warum du dann nicht andere..." Sie hob ihre Hände fragend in die Luft. © S. Remida
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„Weil, bei dieser Sache zählten wir nichts in unserem schönen freien Land!" Und ohne auf irgendwelche Personen näher einzugehen schilderte sie kurz, wie man sie nach der Entführung ihres Mannes dümmlich hingehalten hatte und sie sich dann auf die scheinbar einzige Chance vorbereitete, wenn auch voller Zweifel und gegen allerlei Widerstände. Nachdenklich fuhr sie sich durch die Haare. „Und es hat sogar funktioniert! Ich weiß nicht warum, aber es war ganz einfach! Dafür hänge ich jetzt hier fest und dabei hielt ich es immer für die einfachste Übung euer Land wieder zu verlassen!" „Warum nimmst du dann mein Angebot nicht an?", fragte Samira. „Der Preis. Er ist zu hoch - für dich!" Sinia startete den Motor. „Fahren wir heim, es ist Zeit!" „Hast du keine Angst, ich könnte meinem Onkel alles erzählen?", versuchte Samira noch einmal einen Vorstoß, Sinia umzustimmen. Sinia zuckte mit den Schultern und grinsend meinte sie nur: „Wirst du?" Vorbei an noch vom letzten Krieg zerstörten Häusern führte ihr Weg aus dem ärmlicheren Stadtviertel zurück in die bessere Wohngegend. Plötzlich stellte sich der Rover ihrer Verfolger ihnen in den Weg. „Karim!", zischte Samira. Doch Sinia schoß schon im Rückwärtsgang zurück, wendete in einer Einfahrt und wollte gerade in eine Querstraße einbiegen, als ein Lastwagen ihr den Weg versperrte. Aus ihm sprang Jaffar sofort zu Samiras Seite. „Los Kleine, komm! Du wirst schon gesucht!", rief er ihr zu und half ihr aus dem Wagen. „Nimm Sinia auch mit! Beeile dich!", rief Samira ihrer Freundin zu, doch Jaffar kümmerte sich nicht darum und hob sie in den Laster. Sinia winkte ab. „Laß nur, ich kann schon auf mich allein aufpassen, er ist doch sauer auf mich!" Und das war Jaffar in der Tat, genau seit zwei Tagen! Seit er von Sinia in die Nähe des Krankenhauses gelotst worden und sie urplötzlich verschwunden war. Und während sie den alten Lastwagenfahrer abgepaßt hatte, um ihm das Geld von der Belohnung auszuhändigen, als Dank für ihre Rettung, die selbstlose Pflege und herzliche Gastfreundschaft bei seinen Angehörigen, hatte Jaffar sie verzweifelt gesucht, weil er befürchtete, sie wolle wieder mal verschwinden. All ihre Erklärungsversuche und Entschuldigungen, doch nur die versprochene Anonymität dieser Familie habe wahren zu wollen, hatten ihn bisher nicht besänftigen können. Sein freundschaftliches Verhältnis zu Rashid und Karim hatte Sinia nach anfänglichem Zutrauen aufmerksam und vorsichtiger werden lassen. Natürlich hatte er das auch gemerkt und das kränkte ihn zusätzlich. Karim riß die Autotür auf und zerrte Sinia heraus. Sofort drehte er ihre Hände auf den Rücken und band sie mit einem Lederriemen zusammen, schlug seine Faust in ihre Magengrube, dass sie sich krümmte, warf sie über seine Schulter und trug sie so zum Wagen, um sie grob auf den Rücksitz fallen zu lassen. Unbeeindruckt von Samiras Schreien und Drohungen stiegen seine Freunde zu und mit Vollgas trieb er den schleudernden Wagen zurück bis zur nächsten Kreuzung und jagte mit aufheulendem Motor davon. „Habe wieder deine Flucht vereitelt, stimmt's! Und eine Entführung verhindert! Mein Vater wird stolz sein!", überschlug sich seine Stimme vor Begeisterung. Er nahm einen kräftigen Zug aus einer Flasche und gab sie weiter. Einer setzte auch Sinia die Flasche an den Mund, aber sie schüttelte sich und weigerte sich standhaft auch nur einen Schluck von dem scharf riechenden Alkohol hinunterzuschlucken. Karim lieferte sich mit Jaffar und einem Freund, der nun den kleinen Geländewagen der beiden Frauen fuhr, ein Rennen. Endlich hielt er mit quietschenden Reifen vor einer Seitentür des väterlichen Anwesens, was Sinia sehr erleichtert zur Kenntnis nahm. In Rashids Nähe fühlte sie sich sicherer vor Karim! „Gewonnen! Erster! Keiner hat's geschafft, mich zu überholen!", johlte Karim übermütig den beiden Fahrern zu und tanzte ausgelassen mit seinem Kumpanen herum. Samira rannte schimpfend auf ihn zu. „Sachte! Sachte! Cousine! Was hast du? Ich hab sie doch noch nicht umgebracht!"
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Gemeinsam warteten sie in dem kleinen Bibliothekzimmer auf Rashid. Im eleganten weißen Anzug trat er ein, entzündete gemächlich ein Zigarillo und sah die beiden Frauen fragend an. „Also?" Samira erklärte bedächtig, dass es ihre Idee gewesen sei, die Diskothek zu besuchen. Dort sei Karim dann aufgetaucht und über sie hergefallen, da wären sie geflüchtet. Lautstark widersprach dieser mit seiner Darstellung und betonte besonders, die Entführung seiner lieben Cousine und Flucht dieser Terroristin verhindert zu haben. „Er lügt! Sie wollte nie mit mir abhauen!", konterte Samira. „So? Wirklich nicht?", fragte Rashid. „Laß! Der Kronprinz will sich doch auch mal für sein Land nützlich erweisen! Außer mir findet er doch nichts mit dem er sich brüsten könnte!", spöttelte Sinia und zerrte hinterrücks an den eng geschnürten Riemen. „Siehst du, sie fängt schon wieder an!" Karim trat wütend neben Sinia, als erwarte er die Erlaubnis, sie erwürgen zu dürfen. „Was soll das, binde sie sofort los!", befahl Rashid. Sinia drückte ihre befreiten Hände gegen den Bauch und rieb ihre Gelenke. „Was hast du?", fragte Rashid. „Oh, war meine Schuld! Ich bin nur gegen seine Faust gelaufen, als ich mich in den Fesseln verfangen habe!" erklärte Sinia mit einem Seitenblick zu Karim. Diesmal schien ihre Antwort eher sein Geschmack zu sein. „Hast du gehört, sie gibt ihre Schuld sogar zu!" Rashid gebot ihm zu schweigen und wandte sich an Samira. Sie war ihm noch eine Antwort schuldig. „Ich war es! Ich wollte ihr helfen ins Ausland zu kommen!", schrie sie aufgebracht mit einem verächtlichen Blick zu Karim. „Samira, hör auf!", mischte sich Sinia leise dazwischen. „Ich wollte auch, dass sie mich mitnimmt!", fügte sie störrisch hinzu und Tränen liefen über ihre Wangen. „Warum erzählst du so was?", flehte Sinia. „Ha, Samira muß sogar für sie lügen!", hielt sich Karim lautstark bestätigt. Rashid sah ihn scharf an, er kannte seine Nichte besser. „Und warum hast du es nicht getan?", wandte er sich an Sinia. Resigniert schüttelte diese den Kopf. Inzwischen fragte sie sich das ja selber!
„Weil sie zu anständig ist! Weil sie mich nicht in Gefahr bringen wollte! Weil sie sich an ihr Versprechen hält!", schrie Samira und wischte über ihre mit Tränen gefüllten Augen. „So? Beruhigend zu hören! Aber du wolltest fort? Was hast du dir dabei gedacht? Was paßt dir hier denn nicht?", fragte Rashid drohend. „Die ist doch viel zu dumm zum Denken. Das kommt alles nur von ihr!", wies Karim auf Sinia. „Du bist selber dumm und gemein. Ich hasse dich!", geiferte Samira zurück. Sinia drehte sich lächelnd zur Seite. Hier wurde also auch nicht anders gestritten. Es erinnerte sie an ihre Mädchen, die sich genauso in die Haare kriegen konnten und dann von ihrer Mutter als Schiedsrichter ein Eingreifen zu Ungunsten des jeweils anderen erwarteten! Doch in diese Auseinandersetzung wollte sie sich nicht einmischen. Rashid wurde es schließlich zu bunt. Er befahl Samira, sich für eine Stunde zu den Gästen zu begeben und sich dann unauffällig in ihr Zimmer zurückzuziehen. Dazu verhängte er ihr Stubenarrest auf unbestimmte Zeit, bis sie wieder zu Vernunft gekommen sei. Seinen Sohn und dessen Kameraden entließ er mit der Drohung, wenn sie sich nicht endlich anständig führten, sie allesamt auspeitschen zu lassen. Geknickt schlichen sie hinaus. Das war alles andere als das erwartete Lob für ihre Heldentat! „Ich sehe, du hast die Sache im Griff. Ich geh dann auch schon mal zu den Gästen!", erklärte Jaffar jovial und ging mit einem „Bis gleich!"
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„Sie wollte wirklich fort?", sprach Rashid nachdenklich mehr zu sich und schüttelte den Kopf. Es war ihm unbegreiflich. Er hatte Samira immer wie eine eigene Tochter behandelt, die er so gerne gehabt hätte. Und er war immer stolz auf das schöne kluge Mädchen gewesen, mehr als auf seinen unbeherrschten eigenen Sohn. „Ich weiß nicht! --- Ob sie mit wäre? --- Man will oft etwas, bis man es könnte, --- aber dann tut man es doch nicht ---", sinnierte Sinia. „Ich warne dich, ziehe nicht noch andere da mit hinein!", drohte er. „He, ich arbeite immer alleine, schon vergessen?", belehrte sie ihn und fuhr versöhnlicher fort: „Bitte seien Sie nachsichtig mit Ihrer Nichte, sie wollte mir nur helfen!" „Ich habe dich nicht um Rat gefragt! Ich werde tun, was ich für richtig halte!" „Eben, vielleicht tun sie ihr damit sogar einen Gefallen!" Sinia sah ihn ärgerlich an. Sein fragender Blick ließ sie die Erklärung anfügen. "So wie sie Sie bewundert! Sie sind ihr Maß, das sie zugrunde legt! Arme Samira! Wer kann schon diesem Vergleich standhalten! -- Aber vielleicht ernüchtert sie das ja jetzt!" „Doch hierbleiben will sie nicht!", blieb Rashid unbeeindruckt. „Vielleicht ja nur, weil sie meine Chance sah, wegzukommen. Betrachten Sie es doch einfach als verdammt noch mal meine Schuld! Okay?" „Soll das heißen, du hast dich also gar nicht für die Gesellschaft hier interessiert?", fragte Rashid überrascht. Sie hatte ihn auf eine neue Fährte gelockt! Ohne ihn anzusehen antwortete sie locker: „Doch schon, aber hier war ja noch nichts los und wir wollten ja auch nicht lange wegbleiben. Es wäre bestimmt nicht mal aufgefallen!" „Glaubst du? Jaffar hatte euch schon bald vermißt! Weißt du nicht, was euch alles hätte passieren können?" „Na ja, mit Karim hatten wir wirklich nicht gerechnet!", deutete Sinia an. „Ich will nicht, dass du Karim ständig provozierst!" „Mal langsam!" Nun drehte sich Sinia zu Rashid hin. „Ich gebe zu, dass es falsch war fortzugehen. Ich möchte mich entschuldigen und bin bereit, die Konsequenzen zu tragen und bitte Sie dafür, Samira nicht zu bestrafen. Aber für Karims Verhalten, bin ich nicht verantwortlich. Er benimmt sich doch immer wie Klein-Rambo!" „Ich verbiete dir, so von ihm zu reden und erwarte mehr Respekt!" „Okay, okay! Sobald er sich entsprechend benimmt!", besänftigte Sinia und ging langsam rückwärts zur Tür. „Ich warne dich! Du wirst tun, was ich verlange!" „Oder auch nicht!" Sie drehte sich zur Tür und öffnete sie. "Wage es nicht, ohne meine Erlaubnis zu gehen!", drohte Rashid. Sinia hielt inne und überlegte es sich. „Also schön, Sie sind der Boss!", gab sie nach und schaute zu Rashid. „Sagen Sie Ihrem Sohn, dass er mich nicht gleich umbringen muß, nur weil ich aus Höflichkeit mich nicht mehr wehren werde? Zufrieden? Kann ich jetzt gehen?" „Das kannst du ihm selber sagen, weil du mitkommst zu meinen Gästen. Deine Anwesenheit hat sich bedauerlicherweise schon herumgesprochen und..." Sinia schüttelte bereits abwehrend den Kopf. „Nein, das kann ich nicht! Nach dem hier.." „...und reiß dich zusammen!" zischte er, griff nach ihrem Arm und zog sie ganz nah an sich heran. „Ich hoffe für dich, dass du verstanden hast, ja?" Sinia nickte verwirrt. Jetzt nur keine Angst zeigen, mahnte sie sich, aber sie war da! Rashid hatte sie bis zu dem großen Saal gezerrt, ihr dann eine Minute Zeit gelassen, sich zu sammeln, um selbst mit einem strahlenden Lächeln ihr die Tür zu öffnen. Sinia streifte ihn mit einem wütenden Blick, doch mit
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Betreten des festlichen Saales verwandelte sie sich - als wäre nie was gewesen - in ein charmantes bezauberndes Wesen. Rashid stellte sie gleich einigen neugierigen Leuten vor, auch einem riesigen General mit dunkelbrauner Haut, schwarzem krausen Haar und Vollbart. Er war General Agar, der Anführer der Rebellen, auf den Sinia besonders gespannt gewesen war und weswegen sie jegliche Fluchtgedanken zurückgestellt hatte. „Darf ich dir Sinia, unseren Gast aus Deutschland..." Rashid machte eine Pause und überlegte. Und Sinia glaubte in Ohnmacht fallen zu müssen, was hatte er schon herausgekriegt? „...nein, der Schweiz - richtig? - vorstellen. Sie ist eine enge Freundin meiner Nichte!", fuhr der Minister seelenruhig fort. Sofort war der Riese Feuer und Flamme. Ja, er kannte die Schweiz und liebte das Land, vor allem wegen seiner diskreten Banken, erklärte er in einem ordentlichen Schulenglisch. Dann gab er mit seinen deutschen ‚Besuchern‘ von neulich an, und umschrieb mit einem kaum überhörbar verachtenden Unterton deren unfreiwilligen Aufenthalt. „Wir hätten sie ja gerne etwas länger behalten, aber leider, leider zwangen mich gewisse Umstände, uns von ihnen vorzeitig zu trennen. Obwohl wir unsere Vorgaben noch nicht erreicht hatten!", erklärte er zweideutig. Sinia gab sich von seinen Schilderungen sehr angetan und beruhigt, aus seinen Worten dennoch schließen zu dürfen, dass es sich zwar um ein für ihn aufregendes aber für die Entführten doch offenbar ungefährliches Abenteuer gehandelt haben mußte. Mit einem breiten Lachen quittierte er ihre scheinbar naive Lebensferne und fügte eiskalt hinzu, dass die Reihenfolge der Erschießungen bereits feststand. Sinia fröstelte bei dem Gedanken, wie knapp ihr Mann und seine Kameraden dem Tod entgangen waren! Nur ließ sie sich nichts anmerken. Seine Entschlossenheit mit Bewunderung schmeichelnd, fragte sie beiläufig nach dem Grund der Entführung. Umständlich beschrieb er, dass in dem chemischen Bereich der in dem Gebiet seiner treuesten Anhänger erstellten Anlage eine Explosion ausgelöst worden war. Der 'Unfall' hatte vielen Tod und großes Leid gebracht. Aber die Welt habe davon nichts erfahren, sowenig wie von seinem Versuch, wenigstens eine teilweise Wiedergutmachen durchzusetzen. Zynisch erwähnte er noch, dass die versprochene finanzielle und ärztliche Hilfe sich als eine sehr umfassende aber leider nur eingehende Untersuchung über die Auswirkungen der verheerenden Katastrophe herausstellte. Man hatte Wissenschaftler statt Ärzte geschickt! Sinia war schockiert, ob das tatsächlich auch die Wahrheit war? Ihr Mann hatte nie etwas von einem Unfall erwähnt! Sie drückte ihr tiefstes Mitgefühl und Verständnis aus und entwand sich seinem immer offensichtlicher werdendem Annäherungsversuch mit der Entschuldigung, kurz zu Samira zu wollen. Mit der Forderung wieder zu ihm zurückzukommen, ließ der Somali sie gehen. Vorbei an den Gästen, denen sie höflich zulächelte, steuerte Sinia auf Samira zu. Karim stellte sich ihr in den Weg. „Paß auf Kleiner, ich habe deinem Dad versprochen, höflich zu dir zu sein. Aber überschreite lieber nicht meine Schmerzgrenze, klar?," sagte Sinia zuckersüß. „Ich freue mich, dass du endlich zur Vernunft gekommen bist. Mein Vater schaut hierher. Wollen wir ihn mit einem Drink nicht von der gelungenen Versöhnung überzeugen, Baby?", gab er sich nicht minder herzlich. „Habt ihr hier überhaupt so was starkes, das so viel Verlogenheit aushält?" Sie hatten! Wenn auch offiziell Alkohol nicht erlaubt war, war er bei solch illustren Privatgesellschaften unter der Hand dennoch zu bekommen. Sinia blieb fast die Luft weg und gönnte Karim seine gelungene Genugtuung darüber. „Ab jetzt also Freunde bis in den Tod?", erkundigte er sich mit gespielter Freundlichkeit. „Ja, sogenannte Todfreunde!", traf Sinia den gleichen falschen Ton. Er zwang sie lächelnd noch ein Glas mit ihm zu trinken, dann gab er ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange, krallte dabei seine Fingernägel tief in ihren Unterarm und ließ sie mit der Bemerkung stehen: „Und vergiß nicht, immer höflich bleiben! Mein Dolch hat eine scharfe Spitze!" „Werden Skorpione nicht erschlagen?", flüsterte sie ihm nach. Ihr war schlecht, sie wußte nur nicht, ob Karim oder der Alkohol daran schuld war.
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Doch schon nutzte ein dicker Scheich im wallenden Gewand den Moment und gesellte sich zu Sinia. Bald protzte er mit seinen Reichtümern, die er gerne einer so bezaubernden Dame zeigen, nein, gar zu Füßen legen wolle. Langsam ging es ihr besser, da der Typ sie von all dem Unangenehmen ablenkte. Er bat sie zu einem riesigen, weichen Sofa und nahm eng neben ihr Platz. Während er nun alle Register seiner Balzkunst zog, war er unablässig darauf bedacht, dass sowohl ihre Gläser als auch der Sektkübel stets neu gefüllt wurden. Ob er sie betrunken machen wollte? Sinia begann mit ihm zu schäkern, ohne ein paar bestimmte Leute aus den Augen zu lassen. So schien Jaffar seinerseits sie zu beobachten, Rashid hingegen intensiv in eine Diskussion verwickelt, Karim hatte sich zu ein paar jungen Mädchen gesellt und spielte den Hahn im Korb und Samira langweilte sich sichtlich neben ihrer Mutter im Kreise vornehmer Damen, bis sie sich schließlich mit einen traurigen Blick zu Sinia erhob und verabschiedete. Sinia zwinkerte ihr aufmunternd zu, was dem Mädchen ein zaghaftes Lächeln entlockte. Irgendwann waren auch Samiras Mutter, Karim und Rashid, ja selbst Jaffar verschwunden, registrierte Sinia sauer. Man ließ sie mit diesem alten dicken Charmeur allein, der sich mit zunehmendem Alkoholspiegel ernsthafte Gedanken machte, wie hoch wohl ihre Ablösesumme sein könne. Na, sicher könnte sie ihm sogar leichter ausbüxen, spielte sie mit dem Gedanken, sein Angebot anzunehmen, der aber von einem großen Unbehagen begleitet war. Dass niemand sie von dem Typ befreite? Sie flirtete seiner zunehmenden Champagnerlaune entsprechend heftiger, wobei sie aber weiter ihr Sektglas unbemerkt schluckweise in eine zierliche chinesische Vase leerte, in der sich der Flüssigkeitsspiegel schon bedrohlich dem Rand näherte. Gerade als der Ölmulti ihr einen flüchtigen Kuß auf die Stirn hauchen wollte, als Dank für ihre Bereitschaft ihm in seinen Märchenpalast folgen zu wollen, tauchte endlich Jaffar auf. „Eminenz erlauben Sie mir, Ihnen kurz die junge Dame zu entführen?", mischte er sich diskret räuspernd ein. „Aber nicht zu lange, nicht zu lange!", strahlte dieser schon ziemlich angeheitert. Jaffar ging mit Sinia zu einer weit geöffneten Verandatür und fuhr sie gleich an: „Was fällt dir ein, dich dem an den Hals zu werfen? Du läßt den armen Kerl in Ruhe, kapiert!" „Armer Kerl? Was soll das? Gönnst du mir nicht, dass mal einer wirklich nett zu mir ist? Außerdem wartet er auf mich!", wehrte sich Sinia störrisch und tat als wolle sie zurückgehen. „Der ist längst wieder auf Brautschau! Tja, Lady, du bist leider ausgerechnet an den Casanova des Orients geraten! Auf dich wartet dafür Minister Safar. Und den solltest du lieber nicht warten lassen. Er scheint nicht grade mit viel Geduld gesegnet!", Jaffar zeigte in eine dunkle Ecke der Veranda, aus der sich langsam ein Schatten löste. Sinia ging zögernd auf ihn zu. „Was hab ich diesmal wieder verbrochen?" „Ich weiß, du willst unseren Omar nur benutzen, um hier fortzukommen! Laß die Hände von ihm und setz dich zu den Frauen, wie es sich gehört!", donnerte Rashid los. „An Ihrer Stelle würde ich mir erst mal sein Angebot anhören, Sie würden dabei nicht schlecht abschneiden, angesichts des Ärgers, den Sie bisher mit mir hatten! - Hicks! Oh, Pardon!" Sie versuchte den Schluckauf zu unterdrücken, dessen Ursache weniger der Alkohol, als viel mehr ihre Nervosität war, wieder einem verärgerten Rashid gegenüberstehen zu müssen! „Du bist ja betrunken!" Richtig, warum sollte sie nicht so tun, als ob, um endlich von ihrer Anwesenheit hier erlöst zu werden und in beschwipstem Ton antwortete sie: „Ich passe mich eben den - hicks - Gegebenheiten an. Das wollten Sie doch?" „Ich hatte aber ein einer jungen Dame angemesseneres Benehmen erwartet. Aber so was kann ich meinen Freunden nicht zumuten! Nimm dich gefälligst zusammen!" „He, ich habe Sie - hicks - nicht gebeten, mir Ihre Freunde zuzumuten! Und ich denke als Ausländerin nicht daran, mich Ihren antiquierten Vorstellungen über weibliches Benehmen zu unterwerfen, was man – hicks - zu tun und so weiter... Ich bin nämlich ein freier Bürger aus einem freien - hicks - ach, Sie wissen schon...!" Das durfte doch hoffentlich genügen! © S. Remida
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Rashid sah sie entsetzt an. „Ich verbiete dir, da wieder hinein zu gehen!" „Wirklich?", hakte Sinia ernüchtert nach. „Für dich ist die Party zu Ende!", stellte er aufgebracht klar. „Gott sei Dank!" „Was?" „Ich fürchtete schon, ich müsse wieder zurück!" „Aber ich dachte, du wolltest... Und Omar?" „Ist nicht unbedingt mein Typ! Dumm, was?" Rashid lachte. „Du bist ja gar nicht betrunken!" „Hatte ich auch nie behauptet! Ich vertrage nicht viel Alkohol!" Während sie wie selbstverständlich die wenigen Stufen zu einer üppig gestalteten Gartenanlage nahmen und auf verschlungenem Weg nebeneinander her schlenderten, erklärte sie ihm ihren Trinktrick mit der Vase. Die Spannung zwischen ihnen löste sich. „Entschuldige, dass ich eben so...", begann Rashid umständlich und machte eine Pause. „Halte ich Sie nicht auf?", kam Sinia der Gedanke.
„Nein, ich ziehe mich immer vorzeitig von solchen Gesellschaften zurück!" Sie gingen eine Weile schweigend weiter. „Darf ich wissen, was du grade denkst?“, erkundigte sich Rashid. „Nichts! Vielleicht, was ich mit dem angebrochenen Abend noch anfangen könnte", antwortete Sinia im Spaß. „Ich könnte dir Bagdad bei Nacht zeigen, oder eine alte Ruine, die ein paar Kilometer vor der Stadt steht oder...", mischte er sich in ihr Selbstgespräch ein. „Ruinen würden sich zur Geisterstunde direkt anbieten!", witzelte Sinia und war ziemlich überrascht, dass Rashid es ernst gemeint hatte. So fuhren sie wenig später in einem ganz neuen komfortablen Geländewagen weit hinaus aus der Stadt und abseits der Verkehrsstraßen einen holprigen Weg entlang. Im hellen Mondlicht erhoben sich gespenstisch die verfallenen Reste eines einstmals gewaltigen Gebäudekomplexes aus der flachen Ebene empor. Begleitet vom Lichtkegel einer Stablampe führte Rashid Sinia durch ein Labyrinth aus Schutt und Mauerresten dieses zerstörten einstigen Machtsymbols. Seine exzellenten Geschichtskenntnisse beendete er mit dem Hinweis auf einen noch bestehenden Aberglauben in der hiesigen Bevölkerung, manchmal noch heute die von unsäglichem Leid geplagten Stimmen der einstigen Bewohner wehklagen hören zu können. „Also doch Geister?", erkundigte sich Sinia mit Schauer. Safar lachte. Sooft er hier Ruhe suchte, sei ihm nie einer begegnet. Nur der Wind blase manchmal heulend durch das Gemäuer. Sie standen in der einzigen als solche noch erkennbaren Halle, deren Decke vor langer Zeit stümperhaft abgestützt und ausgebessert worden war. Bis vor Jahren war sie noch für geheime Treffen und Verschwörungen genutzt worden. Rashid ging aufmerksam herum, auch Sinia schaute sich neugierig um. Plötzlich erlosch der umherschweifende Lichtstrahl. Für Sekunden war es totenstill, bis auf einen leise flehenden, abwechselnd schwach und stärker werdenden Ton. „Rashid?", fragte Sinia leise in die Dunkelheit. Unbehagen beschlich sie. Verunsichert ging sie ein paar Schritte in die Richtung, in der sie Rashid vermutete. „Rashid, wo bist du?", rief sie besorgt. Etwas schien hinter ihr. Sie drehte sich um. „Rashid!", schrie sie ängstlich. „Suchst du mich?", erklang vor ihr seine Stimme. Sinia griff in die Dunkelheit, erwischte sein Hemd und warf sich erleichtert an seine Brust. Sie spürte seine Arme an ihren Schultern und sich um ihren Rücken schließen. Sie hörte den ruhigen Schlag seines Herzens und fühlte sich seit langer Zeit endlich einmal richtig sicher und beschützt, auch wenn ihr Verstand das als lächerlich abtat. © S. Remida
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Entschuldigend sagte er: „Das war keine Absicht. Dass diese Lampen immer im ungünstigsten Moment einen Wackelkontakt haben müssen!" Dabei schlug er, ohne Sinia loszulassen, die Lampe mehrmals gegen seine andere Hand, bis sie wieder anging. „Ich dachte schon Sie lassen mich hier zurück bei den gefangenen Seelen!", erklärte sie ihre Furcht. „Keine Angst, aber laß das ‚Sie‘!“ sagte er. „Das war nur der Wind. - Du denkst ja reichlich schlecht von mir! Dabei kannst du nicht mal behaupten, dass ich dir schon mal was getan hätte!" Sinia überlegte. Richtig, er selber hatte sich auf höchstens verbale Angriffe und Drohungen beschränkt. Sie löste sich aus seiner Umarmung. „War ja auch nie nötig bei dem Personal! - Doch warte, du hast mich in dieses Verließ werfen lassen!" Rashid nahm sie an der Hand und machte sich auf den Weg zurück zum Auto. Dabei erzählte er ihr, dass er dies damals aber auf höchstens zwei Stunden beschränken wollte. „Ich glaubte wirklich, dich damit zum Aufgeben zwingen zu können. Obwohl ich dich nie für gefährlich gehalten habe, schon gar nicht als ich deine Reaktion auf die Bilder von den befreiten Männern sah, aber jemand glaubte die Gelegenheit für sich nutzen zu können, uns zu schaden. Und du warst die einzige, die etwas wissen konnte!" Sinia schüttelte energisch den Kopf und fragte, was er damit meine, aber Rashid überging das und fuhr fort: „Doch du bist mir zuvorgekommen. Und mein Mann am Monitor machte ausgerechnet da eine Pause, als du... Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht! Das kannst du mir glauben! - Und dann mußtest du uns auch noch entwischen!" Sinia kicherte leise. „Wahrscheinlich habe ich dein Entschuldigungsschreiben übersehen!" „Ich weiß übrigens bis heute noch nicht, mit was du dich so schneiden konntest?" überlegte Rashid. Sinia deutete auf ihr Medaillon. „Damit?", fragte Rashid ungläubig. „Bekomme ich es?" „He, dann wäre ich ja der einzig unbewaffnete Mensch hier! - Es ist mein Glücksbringer." Sie sah ihn aufmerksam an. „Ich schenke ihn dir, wenn ich ihn mal nicht mehr brauche!" Rashid öffnete ihr die Wagentür. „Glaubst du denn, bei uns noch auf seine Hilfe angewiesen sein zu müssen?" Sinia hob die Achseln. Er sah sich den Anhänger lächelnd an. „Scheint verdammt gut zu sein, dein Glücksstein! Aber bitte zweckentfremde ihn nicht wieder!“ Auf der Rückfahrt sprachen sie nicht viel. Sinia versuchte die unerwartete Entwicklung dieses Abends auf die Reihe zu kriegen. Sie hätte zu gerne gewußt, was Rashid dachte. Vor dem breiten Aufgang seines Palastes ließ er den Geländewagen ausrollen. „Ich hoffe, du kannst nach diesem gespenstischen Ausflug trotzdem gut schlafen!", sagte er lächelnd. „Danke für den Abend - ich meine für den zweiten Teil!" Rashid wollte aussteigen, doch Sinia hielt ihn zurück. „Laß nur!" Sie öffnete selber die Wagentür und stieg aus. „Gute Nacht!" „Träum was Schönes!", erwiderte er mit weicher Stimme und wartete mit laufendem Motor bis sie die Stufen zum erleuchteten Eingangsportal hochgegangen war. Oben drehte sich Sinia noch einmal um und hob zum Abschied die Hand. Rashid tat es ihr gleich, ehe er den Wagen langsam in Bewegung setzte. Sinia sah ihm hinterher, dann ging sie nachdenklich hinein. Ihre Gefühle waren völlig durcheinandergeraten. Und dieser undurchschaubare Mann war daran schuld! *********** Am nächsten Morgen wurde Sinia von heftigem Klopfen gegen ihre Zimmertür geweckt. Samira hatte ihr gleich zu berichten, dass ihr Onkel den verfügten Hausarrest zurückgenommen hatte. Dann erkundigte sie sich neugierig nach dem weiteren Verlauf des gestrigen Abends. Sinia beließ es bei einer vagen Schilderung des Saufgelages und wechselte das Thema. „Ich wollte dir schon gestern dafür danken, dass du nichts von mir verraten hattest! Du bist wirklich super!" „Das ist doch selbstverständlich! Du bist meine beste Freundin", forschend sah sie Sinia an. „Wenn du wieder zu Hause bist, wirst du dich mal trauen, dich bei mir zu melden?" © S. Remida
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„Wenn es einmal möglich sein wird, werde ich dich sogar einladen. In jedem Fall werde ich versuchen, irgendwie Kontakt zu dir zu halten!" Samira umarmte sie dankbar. „Du bist mir der liebste Mensch, den ich kenne!" Sinia lächelte und überlegte, wer auf ihrer Beliebtheitsskala wohl die erste Stelle einnimmt, Samira oder Rashid. Sinia saß gerade mit Samira, deren Mutter und Geschwistern beim Frühstück, als von draußen lauter Tumult sie ans Fenster lockte. Sofort wurde die Haushälterin losgeschickt sich nach dem Grund zu erkundigen und Minuten später erfuhren sie, dass eine junge Frau mit ihren Kindern und einigen Verwandten und Freunden lautstark die Freilassung ihres Mannes forderte. Als Mitglied einer oppositionellen Vereinigung war dieser wegen seiner öffentlichen kritischen Äußerungen gegen die Regierung inhaftiert worden und wartete schon seit Wochen auf die Anklage wegen Hochverrats. Mit deren Zusammenbasteln man offenbar noch beschäftigt sein mußte, überlegte Sinia. Die erlauchte Gästeliste der gestrigen Gesellschaft, von denen die meisten erst im Laufe dieses Tages abreisen würden, bot eine passende Gelegenheit für diese Demonstration. „Immer wieder glauben sie, so eher was zu erreichen!", sagte Samiras Mutter kopfschüttelnd und ging an den Tisch zurück um in stoischer Ruhe ihr Frühstück fortzusetzen. Sinia war erschüttert. Sie erinnerte sich noch zu gut an den Kerker, an die Kunst der Tatsachenverdrehungen, an die Angst um ihren Mann und sah voll Mitgefühl auf die Kinder, die ebenfalls von dem Sicherheitstrupp in Schach gehaltenen wurden. „Ist der Minister nicht hier, warum tut er nichts? Er könnte ihr doch helfen!" „Das sind auch seine Feinde!", stellte die Frau klar. „Auch die Kinder?", fragte Sinia. „Bitte, ich will jetzt nichts mehr davon hören!" , beendete sie unwiderruflich das Thema. Mit einer Entschuldigung verließ Sinia den Raum. Sie wollte zu Rashid. Vor seinem Arbeitszimmer stand ein Wachposten, der sie zurückhielt. Auf ihr Drängen hin, holte er dann aber doch den Minister aus einer Besprechung. Freundlich erkundigte sich Rashid, was es denn so wichtiges gäbe, dass sie ihn bei der Konferenz stören müsse. Sinia kam gleich auf die demonstrierende Gruppe vor dem Haus zu sprechen. „Ich dachte, es wären alle Männer befreit worden! Gehört der etwa auch noch dazu?", fragte er belustigt. „Aber er hat doch nichts getan. Im Gegensatz zu dem, der mich bedroht und verraten hat und dessen Freilassung du mir trotzdem zugesichert hast!" „Ich bin dir wohl etwas zu oft entgegengekommen! Aber hier halte dich bitte raus! Der bekennt sich offen gegen die Regierung!" „Aber nur mit Worten", warf Sinia ein. „Und morgen mit Waffen. Was weißt du schon von den Menschen hier! Ich brauche deinen Rat nicht, klar?" „Und wo bleibt bei euch die Gerechtigkeit?", bohrte Sinia weiter. „Gerechtigkeit?", lachte Rashid verärgert. „Wer entscheidet, was gerecht ist? Etwas du, weil du aus einem dieser - wie betont ihr so gerne - zivilisierten Länder kommst? Herrscht bei euch etwa Gerechtigkeit? Weshalb bist du dann wohl hierher gekommen?", fragte er aufgebracht und versöhnlich fügte er an: „Ich habe noch einiges zu erledigen. Ich muß wieder zurück. Am besten, du vergißt das alles!" Sinia war von seinem Zornausbruch so überrascht, dass sie nun genau so wütend war. „Jedenfalls weißt du, wie man sich Gegner macht!" „Nein, wer meine Gegner sind! Weißt du das auch?" Damit ließ er Sinia stehen. War das alles, was von gestern Nacht übrig geblieben war? Auf dem Hof war es inzwischen wieder ruhig. Man hatte die Gruppe fortgebracht. Sinia hatte sich mit ihrem Kassettenrecorder auf der untersten Treppenstufe, die zu einer der vielen Terrassen führte, niedergelassen. Sie mußte mit ihrem Ärger alleine sein. Zum Glück half Samira © S. Remida
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ihrer Mutter bei der Verabschiedung der Gäste und die Kinder tobten hinten im Garten. Rashid hatte sich zusammen mit ein paar Männern von einem Hubschrauber abholen lassen und Jaffar war mit Karim davongebraust. Von ihrem Platz konnte Sinia den chaotischen Aufbruch der Männer und Frauen beobachten. Leise hämmerte melodische Popmusik auf sie ein und steuerte ihre Gedanken in Richtung einer immer klarer werdenden Erkenntnis über die Absurdität ihrer Situation. In dem Maß, in dem ihre Wut verrauchte, nahm das Interesse an dem Schauspiel vor ihr zu. Autos verschiedenster Marken - Hauptsache protzig - fuhren ab oder kamen an. Einige Luxusschlitten wurden zwischenzeitlich im Pendelverkehr eingesetzt, aber der Ansturm der erlauchten Persönlichkeiten, von denen jeder ein Prestigegefährt für sich beanspruchte, war größer. Immer wieder fiel ihr Blick auf den noblen Ranch Rover von gestern Nacht. Und auf einmal war sie verschwunden. Minuten später reihte sich der Rover zu den wartenden Fahrzeugen ein. Inzwischen warteten hauptsächlich weibliche Gäste auf ihre Beförderung, was das Durcheinander eher vergrößerte. So nahm niemand Notiz von dem zierlichen Chauffeur im Kaftan und dem Turban auf dem Kopf. Und niemand bemerkte, dass seine grünliche Augenfarbe nicht zu der braunen Haut mit dem dunklen Schatten im Bereich des Bartes paßte. Kichernd und schnatternd stiegen ein paar junge Frauen ein, die zum Flughafen gebracht werden sollten. Unbehelligt ließ der Wagen die bewachte Ausfahrt hinter sich und lieferte die Damen an ihrem Zielort ab. Dann fuhr er weiter zum Militärflughafen. Unterwegs verwandelte sich der seltsame Chauffeur wieder zurück in die hellhäutige Sinia mit Jeans, lässigem Hemd und offenen langen blonden Haaren. Schon von weitem machte sie den wendigen Düsenjet unter den Jagdflugzeugen aus, in dem sie so oft mit Jaffar geflogen war. Die wenigen Jungs, die zum Dienst eingeteilt waren, freuten sich, dass es ihr wieder besser ging. So erfuhr Sinia nun auch, wie Jaffar ihre Abwesenheit in den letzten zwei Tagen erklärt hatte. Nun, schwindeln konnte sie auch! Deshalb erzählte sie, dass Jaffar heute doch einen Trainingsflug machen wolle und sie vorausgeschickt habe, damit schon mal alles vorbereitet sei, wenn er kommt! Und tatsächlich ließ der diensthabende Flugleiter sich bluffen und legte die Unterlagen und den Schlüssel bereit. Sinia paßte einen unbeaufsichtigten Moment ab und tauschte den Schlüssel gegen den vom Auto aus, den sie halb unter einem Papier versteckte. Mit der ungeduldigen Bemerkung, wo Jaffar denn nur bleibe, schlenderte sie hinaus. Dabei bewegte sie sich im Takt der Musik aus ihrem Recorder, der über ihrer Schulter hing. Es wirkte so harmlos, dass niemand ahnen konnte, was sie vorhatte! Und so verschwand sie unbemerkt im Cockpit. In Gedanken ging Sinia alle Handgriffe durch, die das Geschoß zum Starten brachten. Sie stellte die Musik laut. Besser, wenn sie jetzt nicht über ihr irres Vorhaben nachzudenken begann! Mit schrillem Heulen setzte sich der Jet in Bewegung und hob etwas zu steil und zu schnell ab. Im üblich monotonen Ton meldete sich der Tower. Sinia antwortete nicht. Schon verriet die Stimme die ausgelöste Verwirrung, die bald auf größte Hektik schließen ließ. Sinia indes raste in geringer Höhe westwärts und war vollauf damit beschäftigt die Maschine auf Kurs zu halten. Plötzlich hörte sie Jaffars Stimme, der sich vorschriftsmäßig mit Aufruf der Kennung ihres Jets meldete. Sinia schwieg. „Pfeif auf die Vorschriften!", versuchte er es erneut auf Deutsch und wurde energisch. „Melde dich Sinia! Ich weiß, du kannst mich hören! Du bringst mich ja ganz schön in Schwierigkeiten mit diesem Wahnsinn. Sag wenigstens, dass du das beabsichtigt hast!" Sinia schwieg. „Also, schön! In einer Minute haben wir dich eingeholt! - Ehm, hast du eigentlich schon auf die Tankanzeige geschaut? Na? Was spricht sie?" Sinia suchte aufmerksam die Instrumente ab. Dann glaubte sie die richtige Anzeige gefunden zu haben und erschrak. Schnell stellte sie die Musik ab. „Wenn... wenn es die ist, die ich glaube, dass sie's ist, dann zeigt sie auf unter ein Viertel!", meldete sie sich zögernd. © S. Remida
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Jaffar pfiff durch die Zähne. „Nur? Das kann gut sein", überlegte er. "Willst du den Rest des Fluges schieben?" Er holte tief Luft. „Aber schön, dass du dich überhaupt meldest. Ich bin jetzt neben dir. Hör zu, ich werde dich runterlotsen!" Tatsächlich tauchte zu ihrem Schreck links neben ihr eine Düsenmaschine auf. Schnell antwortete sie: „Aber erst hinter der Grenze!" „Was du nicht schaffen kannst!", stellte Jaffar klar. Von links kreuzte ein anderer Düsenjäger unterhalb ihre Route, dass Sinia erschrocken abdrehte. Zwei weitere setzten sich sofort an ihre rechte und linke Seite, so dass sie nicht mehr auf ihren alten Kurs zurückkehren konnte. Zumal nun auch über und unter ihr jeweils eine Maschine auftauchte. Von Südosten näherte sich mit hoher Geschwindigkeit ein Hubschrauber. Sinia hätte eigentlich viel schneller fliegen müssen. Aber das traute sie sich nicht. Rashid schaltete sich ein. „Wie kommst du zurecht, Sinia?" Sinia stöhnte in Deutsch: „Der auch hier?" Und antwortete in Englisch: „Bestens! Was willst du hier? Mußt du nicht wichtigeres erledigen?" „Ich verstehe!“, seufzte Rashid. „Aber glaub mir, du gehörst auch dazu! Doch jetzt müssen wir dich erst mal da herunter holen!" „Du meinst 'abschießen'!" Ruhig erklärte Rashid, dass in der Nähe ein ausgedienter Landeplatz sei, der manchmal zu Übungszwecken genutzt werde. „Da wirst du nach Jaffars Anweisung landen!" „Warum dieser Aufwand, wenn ich's bis zur Grenze doch nicht schaffen kann?" „Vielleicht brauch ich dich ja noch", bemerkte er trocken und fuhr fort, „außerdem hab ich hier ein Telex, das solltest du dir erst mal ansehen. Es betrifft dich!" Eine heiße Welle jagte durch ihren Körper. Bluffte er nur oder hatte er tatsächlich etwas? Sie atmete tief durch. Ruhig, ganz ruhig! Dann meldete sie sich im flapsigen Ton. „He, du kannst es doch vorlesen! Ich höre!" „Du würdest es mir doch nicht glauben! Ich möchte, dass du es selber liest. Und wenn du dann immer noch nach Deutschland willst, bringen wir dich dahin. Ehrenwort!" Er wußte woher sie kam! Ihre Entschlossenheit schmolz dahin wie Eis in der Sonne. Und ohne Mut war sie zum Aufgeben gezwungen! „Na schön! Was muß ich tun!" „Allah sei Dank!“, stöhnte Jaffar. Und ruhig erklärte er, auf was sie bei der Landung achten müsse. Es war doch erheblich schwieriger als der Start. Dann probte sie den Landeanflug. Jaffar korrigierte jede Unsicherheit und kommentierte ihre zweifelhafte fliegerische Leistung mit den Worten: "Du hättest ruhig noch ein paar Flugstunden bei mir nehmen sollen! Ich schick drei Jäger runter, schau, wie die landen und dann probieren wir's noch mal!" Minuten später standen die Militärmaschinen abseits der Rollbahn ordentlich abgestellt und die Piloten beeilten sich, soweit möglich, alles für einen Notfall vorzubereiten. Sinia sah, wie zwei alte Feuerwehrwagen auf Position fuhren und ein klappriges Auto die Piste entlang hoppelte. Das alles wirkte jedoch kaum vertrauenerweckend! Sie wollte es endlich hinter sich bringen, solange sie noch den Nerv dazu hatte. Sie setzte zur letzten Schleife an. „Also Jungs, weg da, ich komm jetzt!" „Nein, noch nicht! Wir gehn's noch mal durch!", schrie Jaffar in das Mikrophon. „Eh -, nur für den Fall, dass es nicht klappt, schickt doch dann bitte meine Überreste heim! Wegen der Lebensversicherung! - Und dann wollte ich euch noch sagen, ihr seid gar nicht so übel – na ja, wenigstens manchmal...", erklang nachdenklich Sinias Stimme in den zugeschalteten Kopfhörern aller sie begleitenden Piloten. „Ich weiß, du schaffst es!" meldete sich Rashid voller Überzeugung. „Klar, wetten? Ich klinke mich jetzt aus!", sagte Sinia so ruhig wie möglich und stellte den Sprechfunk ab. Sie wollte nicht von irgendwelchen Anweisungen irritiert werden. Statt dessen ließ sie das Kassettenband ein Stück vorlaufen. Laut dröhnte der Queens-Oldie 'We are the champions' aus dem vibrierenden Lautsprecher. Vielleicht half es ja! Langsam senkte sich der Jet hinab zum Landeanflug. Sinia drosselte die Geschwindigkeit. Vor ihr breitete sich die Piste wie ein langer, grauer Teppich aus. Zu hoch, zu schnell, glaubte sie und drück© S. Remida
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te den Flieger noch tiefer und verringerte den Schub. Jetzt kam sie zu steil nach unten. Das Flugzeug geriet aus der Balance. Vorsichtig korrigierte sie die Fluglage. Die Maschine senkte sich mit mäßiger Geschwindigkeit der Rollbahn entgegen. Hier hatten die anderen Bodenkontakt bekommen! Warum sie noch nicht, wunderte sie sich und schob den Lenkknüppel millimeterweise nach vorn. Rumms! Schlugen die Räder auf der Erde auf. Der Jet erzitterte und schüttelte sie durch. Erschrocken zog sie die Lenkung um Millimeter wieder gegen sich. Umkehrschub zum Bremsen! Sofort griff sie nach dem Hebel und die Motoren heulten dröhnend auf. Die Maschine gebärdete sich wie ein störrisches Pferd. Aber sie rollte auf der Piste und wurde langsamer, nur die Rollbahn nicht länger! Sinia steuerte den Jet ganz links hinüber und versuchte ihn im großen Bogen zu wenden. Sein Heck begann zu schlingern und rutschte seitlich über den Rand der befestigten Piste. Mit einem Seitenrad blieb er nach wenigen Metern im Sand stecken - und stand! Sinia atmete auf und stellte den Motor und den Recorder ab. Ihr Hemd war klatschnaß. Sie konnte vor sich gerade noch die Landung des letzten Düsenjägers und die mit quäkender Sirene herbei fahrenden Feuerwehrlaster erkennen, ehe im aufwirbelnden Sand sich majestätisch und übermächtig der Hubschrauber nieder senkte. Im gleichen Moment gab es einen dumpfen Schlag und ihr Jet knickte nach vorne ein. Das Bugrad schien gebrochen! Sinia schüttelte entnervt den Kopf, verschränkte ihre Arme über den Lenker, lehnte ihren Kopf dagegen und schloß die Augen. Jaffar war als erster bei ihr und öffnete schnell die Kabinenhaube. „Alles in Ordnung?", schrie er besorgt. Sinia nickte. "Bis auf da vorne!" Jaffar zog sie vorsichtig an den Schultern zurück, um ihr Gesicht zu sehen. Sinia konnte in seinem bestürzten Blick erkennen, worauf er ihre Bemerkung bezogen hatte. Sie lächelte hilflos. „Ich meine deinen Flieger. Ich habe ihm ein Bein gebrochen. Und ich dachte schon ich hätte es geschafft!" „Das hast du auch! Das hast du!" Und grinsend fügte er hinzu: "Bist gar nicht so übel - manchmal, wirklich!" Dann half er ihr hinaus. Mit wackligen Beinen ging Sinia auf Rashid zu, der umringt von den anderen Männern schon auf sie wartete. Zwei Armlängen vor ihm blieb sie stehen, zog eine Augenbraue hoch und mit einer Handbewegung zum demolierten Jet bemerkte sie cool: „Setz es mit auf die Rechnung!" Voller Erwartung sah sie ihn an. „Das Telex?" Mit einem Pokerface, das keine Gefühlsregung erkennen ließ, reichte er ihr ein Blatt. „Eine Kopie des Originals in Englisch, darunter die Übersetzung ins Deutsche!" Sinia überflog das Papier und traute ihren Augen nicht. Auf die geschätzte Anfrage der irakischen Justiz, bezüglich der Identität der in Gewahrsam genommenen weiblichen Person - stand da in Deutsch zu lesen - habe man zwischenzeitlich festgestellt, dass es sich um eine in Deutschland gesuchte Straftäterin mit korrektem Namen Maria Rassel handle, weshalb ihr Heimatland sich nicht zu ihren Gunsten verwenden werde und deshalb einer Verurteilung und Inhaftierung durch das Gastland nichts entgegensteht. „Jetzt weißt du ja sogar mehr über mich als ich!", kommentierte Sinia sarkastisch das Schreiben und hielt es Rashid wieder hin. Kalt blickte sie ihn an. „Was soll das? Wer ist für diesen Schwachsinn verantwortlich?" „Ich war genauso überrascht, auf unsere Erkundigungen hin, jetzt plötzlich Post von Interpol zu bekommen! Ich dachte, du wüßtest, wer dahinter stecken kann?" Sie schüttelte den Kopf. „In solchen hohen miesen Kreisen verkehre ich nicht! Warum Interpol? Und nicht eine deutsche Behörde?" „Du kennst eben deine Feinde nicht! - Das meinte ich mit Gerechtigkeit! Erinnerst du dich?" Sinia drehte sich weg. Irgend jemand wollte, dass sie nicht mehr zurückkam! Wie verloren und allein gelassen sie sich plötzlich fühlte. Was, wenn Rashid dieser Mitteilung doch mehr Glauben schenkte, als er vorgab? Sie kämpfte gegen die Tränen. „Das glaub ich nicht! Das kann doch alles nicht wahr sein! Ich muß nach Hause!" Rashid versuchte es ihr auszureden, aber Sinia schrie ihn an. „Du hast versprochen, dass du mich gehen läßt! Und ich muß zurück!" Sie trat ein paar Schritte zurück. „Ich gehe! Dazu brauche ich kei© S. Remida
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nen von euch! Und wenn ich noch einen Vogel verschrotten muß!" Sie rannte zum nächsten Flugzeug. „Bleib hier! Laß den Unsinn!", rief Rashid und schickte seine Männer hinter ihr her. Aber so leicht ließ sich Sinia nicht festhalten. Besessen von der fixen Idee nach Deutschland zu müssen, wehrte sie sich verzweifelt gegen die Übermacht. Endlich hatte sie sich befreit und rannte, nur ihre Verfolger im Blick, weg und prallte gegen Rashids Brust. Sofort drückte er sie so fest an sich, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. „Langsam Sinia, ein Flugzeug pro Tag reicht!", sagte er beruhigend. „Überlass uns die Sache. Du kommst schon noch nach Hause, aber jetzt nicht." Sinia gab ihren Widerstand auf. Ihr wurde allmählich bewußt, dass sie im Moment hier noch am besten aufgehoben war. Außerdem wollte sie noch eine Weile seine Nähe und seine Arme um sich spüren. Und Rashid hielt sie fest, während er seine Leute anwies, ihre Maschinen wieder zum Stützpunkt zurückzufliegen. Einer nach dem anderen winkte ihnen zu und startete dann mit donnernden Motoren. Als letzter ging Jaffar, nachdem er Rashid augenzwinkernd empfohlen hatte, Sinia ja nicht loszulassen, damit sie nicht doch noch entwischen könne. Dann waren die beiden alleine. Nur der eingeknickte Jet und der Hubschrauber standen noch da. Selbst die Rettungsfahrzeuge waren wieder auf ihren alten Platz zurückgebracht worden. „Na, willst du mal Hubschrauber fliegen?", fragte Rashid locker. „Bleibt ja kaum was anderes übrig." Mit einem abgespannten Lächeln fügte sie hinzu: „Ich überlass dir das Steuer!" Wenig später zogen die Rotoren das Ungetüm in die Höhe und trugen es geschwind in nordöstlicher Richtung davon. Rashid hatte es offenbar nicht eilig. Er wollte noch bei einem seiner Domizile vorbeischauen. Von ihm ging eine Ruhe und Sicherheit aus, die langsam auch auf Sinia überging. Die Gegend unter ihnen wurde hügliger. Schließlich steuerte Rashid im weiten Bogen ein herausragendes Plateau an und setzte sanft auf. Dann forderte er Sinia auf, mitzukommen. Er führte sie einen steilen Pfad hinunter, der vor einer Hängebrücke endete. Der Steg bestand aus zusammengebundenen groben Holzbrettern mit breiten Spalten dazwischen. An den Seiten befand sich je ein dickes Seil, an dem man sich festhalten konnte. Diese beiden Halteseile waren mit den Brettern des Laufstegs jeweils durch ein dünneres Faserseil, das im Zickzack dazwischen gespannt war, verbunden. Zwar war die Brücke nur wenige Meter lang, aber Sinia wurde schon bei dem Blick in die unendliche Tiefe der Schlucht ganz übel, und dann noch über so eine unsichere wacklige Verbindung aus bißchen Holz und alten Seilen zu müssen, gab ihr den Rest. „Denk was du willst, aber da geh ich nicht rüber!" „Das versteh ich nicht, du bist vorhin noch viel höher geflogen. Und hier kannst du sogar hinüber laufen!", wunderte sich Rashid und schaute sie amüsiert an. Sinia suchte nach Ausflüchten, aber Rashid nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mit der freien Hand am Seil festzuhalten, nicht in die Tiefe zu schauen und zu hoffen, dass der schaukelnde Boden stabil genug für sie beide war und sie schnell drüben ankamen. Die Bretter knarrten verdächtig unter ihrer beider Gewicht und die Brücke schwang unruhig hin und her. Endlich erreichten sie die anderen Seite und Rashid witzelte: „Überlebt?" Wie selbstverständlich behielt er ihre Hand in der seinen. Der Weg führte weiter durch Dickicht bis zu einer Lichtung, auf der ein silberglänzender Wasserfall in einen kleinen See hinabstürzte. Üppige Grünpflanzen umsäumten das Ufer und wild wuchernde Schlingpflanzen kletterten die steile Felswand hinauf und so nah an den gischtenden Wasserstrahl, dass sie fast mit hinuntergerissen wurden. Sinia war von dem Anblick überwältigt. Rashid ließ sie los. Gleich hielt sie ihre Hand in das smaragdgrüne Naß. „Du kannst ruhig hineingehen, wenn du willst!", erklärte Rashid. Und Sinia bat ihn lächelnd, sich mal kurz umzudrehen. Flink zog sie Sandalen und Jeans aus und stürzte sich im Hemd in das angenehm temperierte Wasser. Nach den letzten schweißtreibenden Stunden tat die Abkühlung gut. Rashid hatte seine sandfarbene Uniformjacke ausgezogen und sein © S. Remida
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kurzärmeliges Hemd halb aufgeknöpft. Leger saß er nun im Schatten eines alten knorrigen Baumes und sah ihr zu. Sie tauchte hinter den Wasserfall und kletterte dahinter an der Felswand aus dem Wasser hinaus. Fasziniert schaute sie zwischen dem hinabstürzenden Wasservorhang durch, der in stetem Wechsel mal hier mal da einen geheimnisvoll verschleierten Blick in eine scheinbar fremde Welt freigab. Schließlich schwamm sie wieder zurück zum Ufer, streifte das Wasser an sich ab und zog ihre Hose und Sandalen an. Rashid kam zu ihr und legte ihr seine Jacke um die Schultern. „Die wird aber ganz nass!", warnte Sinia, aber Rashid winkte ab. „Du musst trockene Sachen anziehen. Komm mit!" Er legte seinen Arm um ihre Schultern und führte sie zu einem zugewucherten Pfad, den er sich ihnen mit einem Messer frei bahnte. Beiläufig begann er zu erzählen, wie er vor langer Zeit die Schlucht mit dem Wasserfall entdeckt habe und zu dieser Idylle anlegen ließ. Es sei auch ein kleines Haus in der Nähe, aber er war schon lange nicht mehr dort. Zwar habe noch niemand diesen schwer zugänglichen Ort entdeckt, aber da es in dem von der UNO ausgewiesenen Sperrbereich liegt, sei es gefährlicher geworden, hierher zu kommen. Augenzwinkernd wandte er sich an Sinia, sie solle beim nächsten Fluchtversuch lieber keine Militärmaschine mehr nehmen, weil überall Scharfschützen auf so ein Ziel lauern könnten. Sinia winkte ab, vom Selbstfliegen hatte sie genug! Dafür wollte sie wissen, ob er sich wirklich so sicher war, dass ihr die Landung glücken würde. Rashid nickte. Geheimnisvoll erklärte er, Kismeth habe es so bestimmt. Mehr ließ er sich nicht entlocken, trotz ihres hartnäckigen Nachfragens. Bald erreichten sie ein aus grob geschlagenen Steinen errichtetes zweistöckiges Gebäude, dessen Dach zur Vorderseite leicht schräg abfiel und von Säulen gestützt auch noch über die Veranda reichte. Seine verwinkelte Bauweise gab ihm einen schlossähnlichen Charakter. Auf der rechten Seite bildete die Wand ein Halbrund mit bis zum Boden reichenden Fenstern. Diese Rundwand setzte sich bis über den Dachfirst fort und überragte ihn nun als breiter runder Aussichtsturm. Rashid zog einen faustgroßen Stein aus der Wand und holte den Schlüssel aus dem Versteck. Gemeinsam mit den beiden drang auch das Sonnenlicht durch die Tür ins Innere und ließ eine edle, wenn auch verstaubte Einrichtung erkennen. Rashid öffnete die Fensterläden und nach und nach erglänzten mit Samt bezogene Stühle um einen aufwendig gedrechselten Tisch, geschnitzte Schränke und Truhen, ein Diwan mit einer von Fransen eingefassten Seidendecke und massive Holztüren, die auf weitere Räume schließen ließen. Rashid brachte Sinia zum Ankleideraum, wo sie sich aus den vorhanden Kleidungsstücken ein langes Hemd in hellem lindgrün heraussuchte, das sie in der Taille mit einer Kordel band. Ihre feuchten Sachen hing sie draußen über eine waagerechte Holzstange, die eine Verandaseite begrenzte. Rashid kam mit ein paar Früchten in einem Korb zurück. „Leider kann ich dir nicht mehr anbieten. Hätte ich gewußt, dass du heute hier mein Gast sein würdest, hätte ich ein Menü bringen und alles entsprechend herrichten lassen!" „Ich bin weder sonderlich hungrig noch anspruchsvoll. Mir genügt das. Danke!", antwortete Sinia und nahm sich eine orangenähnliche Frucht. „Wir können aber auch zurückfliegen!", testete Rashid und stellte den Korb auf die Veranda. „Wegen mir brauchen wir noch nicht zurück", antwortete Sinia leicht und ging an ihm vorbei. Sie blieb mit dem Rücken zu ihm stehen und blickte versonnen zu der grünen undurchdringlichen Wand, die aus Bäumen und Büschen zusammengewachsen war und nur wenige Schritte von ihr entfernt diesen Rest eines längst verlorenen Paradieses wie ein schützender Wall umgab. Bräuchte sie nur ihrem Instinkt gehorchen, würde dies der Ort sein, wo sie sich verkriechen wollte. Aber da waren ihre Kinder! Wie mochte es ihnen gehen? Ob sie ihre Mutter vermißten? Sicher würden sie zusammen mit ihrem Vater von allen Seiten von Mitleid gestreichelt werden! - Chris! Wie lange hatte sie ihn nicht mehr gesehen? Was wußte er wohl von ihrem Abenteuer, in das sie sich wegen ihn gestürzt hatte? Plötzlich fröstelte es sie. Rashid stand hinter ihr und legte seine Arme um ihre Taille. Mit seiner Wange strich er über ihren Kopf. Sinia lehnte sich zurück an seine Brust und schloß die Augen. Sie war lang genug stark gewesen, sie wollte auch einmal das Recht haben, sich beschützt fühlen zu dürfen. Einmal vergessen, was hinter ihr lag und möglicherweise ihr noch bevorstand! Fühlte sie sich im Grunde ihres Wesens doch gar nicht als Kämpfernatur. Durch ihren Gedanken- und Gefühlsnebel © S. Remida
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bahnte sich Rashids ruhige tiefe Stimme einen Weg. „Wenn es je einen Garten Eden gab, dann hat er bestimmt so ausgesehen." Sie lauschten der Melodie der Natur, einer Harmonie aus dem monotonen Geplätscher des Wasserfalls, Vogelgezwitscher, dem Zirpen und Schreien unsichtbarer Tiere und dem leisen Säuseln des Windes durch die Bäume und Sträucher. „Bleibe bei uns. Ich schenke dir auch dies Paradies!", sprach Rashid im Flüsterton weiter und zog Sinia enger an sich. „Zu einer anderen Zeit und unter anderen Bedingungen wäre ich wohl geblieben, aber - es geht nicht mehr..." Sinia schüttelte langsam ihren Kopf. „Es ist nie zu spät, weil das Schicksal unseren Weg bestimmt. Selbst wer sich dagegen wehrt, muß sich letztendlich Kismeths Macht beugen!" „Hört sich nach einer bequemen Ausrede für Fatalisten an. In meinem Land gibt es eine ganze Reihe von Sprichwörtern, die das Gegenteil besagen, etwa, jeder ist seines Glückes Schmied; hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Ich schick dir mal 'ne Sammlung!" „Wer behauptet, dass das eine das andere ausschließen muß? Sie können sich doch auch ergänzen!" Sinia drehte sich zu ihm um und fixierte ihn schelmisch. „Plötzlich so kompromißbereit? Du wirst mir ja richtig sympathisch!" Rashid hauchte einen Kuß auf ihre Stirn. „Freut mich, dann haben wir doch schon etwas gemeinsam!" Unter einem inneren Zwang befreite sie sich aus seiner Umarmung. „Zeigst du mir das Haus?", fragte sie möglichst ungezwungen. Rashid führte sie durch den auf zwei Ebenen angelegten Bau, zeigte ihr die Aufenthalts- und Schlafräume die Küche und die beiden Badezimmer, die über eine Pumpe mit Wasser versorgt wurden und sogar die Waffenkammer, ein gefangener Raum ohne Fenster, der nur über eine hervorragend getarnte Wandtür erreichbar war. Dann bleiben sie eine Weile auf dem überdachten Turm und genossen den Rundblick über die von einer undurchdringlichen Wildnis und steilen Felsschluchten begrenzten Idylle. Als die größte Mittagshitze nachließ, setzten sie draußen ihren Rundgang durch die mit viel Liebe und Sorgfalt angelegte Oase des Friedens und Ruhe fort. Dann mahnte die Zeit zum Verlassen. Sinia schlüpfte wieder in ihr getrockneten Kleider. Nur widerwillig nahm sie Abschied von dem Ort, an dem sie den süßen Hauch von absoluter Glückseligkeit hatte verspüren können. **************** Am nächsten Vormittag streifte Sinia versonnen durch den Palast. Samira war längst zum Unterricht gegangen, jedoch nicht ohne sie zuvor eindringlich gebeten zu haben, nicht wieder fliehen zu wollen. Bis auf das weibliche Personal, das fleißig seiner Arbeit nachging, war das Haus leer. Selbst Rashid war, seit er sie gestern am Spätnachmittag auf dem hauseigenen Landeplatz abgesetzt hatte, verschwunden. Sie ging hinaus auf eine der weitläufigen Terrassen, die von einer etwa einen Meter hohen Mauer umgeben war. Darauf waren auf einer Seite kühn geschwungene Rundbögen gesetzt, die dem Ausblick auf das sicher zehn Meter tiefer liegende Gelände etwas Atemberaubendes verlieh. Sinia setzte sich barfuß in einen der Rundbögen, versteckte die angewinkelten Beine unter ihrem weiten Rock und lehnte sich an die sonnengewärmte Steinsäule. Die Sonnenstrahlen wärmten angenehm durch die Bluse und der leichte Wind spielte mit ihrem Haar. Sie schloß die Augen und träumte sich in Rashids geheimes Paradies zurück. „Du wolltest also einen Düsenjäger stehlen!" Sinia erschrak so sehr, dass sie fast von der Brüstung gefallen wäre. Vor ihr stand Karim und freute sich diebisch über ihren fassungslosen Gesichtsausdruck. Sinia atmete tief durch und überlegte eilig nach einer passenden Reaktion. Dann zuckte sie die Achseln und antwortete gedehnt: „Wer will die Dinger schon haben!" „He, das sind erstklassige Maschinen!" Wie erwartet, ließ er sich foppen! © S. Remida
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Hoch in der Luft bemerkte Sinia Karims Greifvogel. Sie verfolgte seinen kreisenden Flug. Wie nebenbei sagte sie: „Mein Auftrag lautete nur, eure Kampfflieger zu vernichten!" Mit der Hand beschrieb sie einen hohen Bogen, der steil abwärts führte. „Du verstehst? Aber behalte das bitte für dich!" Sie merkte seinen bohrenden Blick und wie seine Denkmaschine arbeitete. Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Du nimmst mich doch nur hoch! Hab ich Recht? Glaubst du ich fall auf deine Märchen rein?“ Dabei schüttelte er sie so, dass sie besorgt nach Halt an der Mauer suchte. Von oben stürzte der Vogel auf die vermeintlich Kämpfenden hinab. „Hör auf! Entschuldigung! Bitte, las mich los!", flehte Sinia. Karim gab ihr noch einen letzten Schubs und bot seinem flatternden Greif den Arm. „Wenn ich will, könnte er dich töten!", erklärte Karim aufgebracht und zeigte auf das Tier. „Glaubst du mir das?" „Bevor ich's drauf ankommen lasse, ja!" antwortete Sinia mit einem versöhnlichen Unterton. Über Karims Gesicht flog ein Lächeln. „Ich begreife nicht, was Samira oder mein Vater an dir finden!" „Tja, du wirst wohl der einzige sein, der mein wahres dämonenhaftes Wesen erkennt!", sprach sie mit tiefer werdenden geheimnisvollem Ton. Karim betrachtete sie nachdenklich. „Vielleicht ist es auch nur, es kann ja nicht jeder jeden mögen und bei uns beruht das auch noch auf Gegenseitigkeit!", nannte Sinia eine weitere Möglichkeit. „Nimm dich in Acht und hör auf, mich zu ärgern!", sagte Karim und schien selbst doch wenig überzeugt von seiner Drohung. Dann ging er sehr aufrecht und mit steifen Schritten davon. Sinia fiel das sehr wohl auf und sie überlegte, ob er vielleicht aus Hilflosigkeit vor ihr flüchtete? Jedenfalls hatte er ihren Traum von jenem heilen Flecken Erde zum Zerplatzen gebracht. Sinia stand wieder nüchtern der Realität gegenüber. Nun, seit der Erfindung der Störenfriede hatten die Gärten Edens keinerlei Chancen mehr! Und war der eine gerade gegangen, so erstand vor ihrem geistigen Auge schon der nächste. Jener, der ihre Rückkehr nach Hause so hinterhältig zu verhindern suchte! Ihr fiel Rashids Erklärung vom Vortage ein, dass das Telex schon morgens direkt hier eingetroffen war. Wegen des unglaublichen Inhaltes habe er sich gleich mit ein paar Vertrauten beraten. Wie verärgert er war, habe sie ja bemerken können, als sie ihn wegen der Demonstranten aufgesucht hatte! Vielleicht ließ sich dann auch hier ein Hinweis auf den eigentlichen Absender oder Verantwortlichen finden, überlegte sie jetzt und war schon auf dem Weg zum Arbeitszimmer. Neugierig sah sie sich in dem ausgesprochen modern eingerichteten Raum um. Funktelefone, Monitore, Fax- und Kopiergeräte, ja selbst ein Computer fehlte nicht. Sie blickte sich auf dem Schreibtisch um und schaute in seine Schubladen, ging systematisch die Schränke durch und überflog die Aktenordner, aber es war nichts zu finden. Schließlich setzte sie sich in den lederbezogenen Sessel. Sie schob die gläserne Abdeckung einer in den Tisch eingelassenen Kassette zurück und ließ behende ihre Finger über die ordentlich einsortierten Disketten gleiten. Auf einmal stutzte sie und ging interessiert noch mal die Disketten durch. Auf einer war tatsächlich ein 'L' durchgestrichen und durch ein 'S' ersetzt worden. Lady - Sinia, kombinierte sie. Schon hatte sie das Gerät angeschaltet und die Diskette eingeschoben. Doch wie sollte sie an die gespeicherten Informationen kommen, waren ihre Computerkenntnisse doch eher dürftig und ihr schon gar nicht dies Betriebssystem und seine Programme bekannt. Abgesehen davon, dass sie mit einer arabischen Ausgabe ohnehin nichts hätte anfangen können. Doch die Neugierde war stärker! Mit Intuition und einigem Probieren gelang ihr dann aber doch der Wechsel auf die Diskette und sogar in sein Inhaltsverzeichnis. Doch die Dateien ließen sich nur über ein Codewort öffnen. Sinia tippte verschiedene Namen und Begriffe ein, doch auf dem Bildschirm erschien jedesmal nur auf Englisch "Zugriff verweigert". Ihr war klar, dass sich so einfach das Schlüsselwort nicht finden ließ. Enttäuscht ging sie aus dem Programm, schaltete das Gerät ab und legte die Diskette zurück, dabei fiel ihr Blick auf einen darunter deponierten Umschlag. Sie zog ihn hervor und ließ seinen Inhalt herausgleiten. Dabei fielen all ihre gefälschten Ausweise auf den Tisch. Interessiert sah sie die in Arabisch teils eng beschriebenen Blätter durch. Schade, dass sie die arabische Schrift nicht beherrschte! Auf einem war eine Zahlenreihe unkenntlich gemacht worden. Und dann hielt sie das Original von Interpol in der Hand. Es war weder unterzeichnet noch © S. Remida
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trug es sonst irgendeine Kennung, die auf eine bestimmt Person hätte schließen lassen. Nur ein handschriftlich vermerktes "B" mit Fragezeichen war abgehakt, aber das wußte Sinia auch nicht zu deuten. Sie ordnete wieder alles in den Umschlag und sah erschrocken auf. Rashid stand seitlich hinter ihr und beobachtete sie. Wie lange wohl schon? „Und gefunden, was du gesucht hast?", fragte er streng. Sinia schüttelte den Kopf. „Nicht den kleinsten Hinweis auf meine Feinde!" Sie stand auf und versuchte cool zu wirken. „Entschuldige, aber ich mußte es wenigstens versuchen!" Und mit einem Schulterzucken fuhr sie fort: "War mein Fehler, mich nicht zu erkundigen, wann du wieder zurückkommst!" Rashid blickte kurz zum Computer. „Er hat mich zurückgeholt. Er ist mit meinem Büro vernetzt!" Sinia blieb fast die Luft weg. Mit einem Anflug von Bewunderung fügte Rashid hinzu: „Warst übrigens ziemlich nah dran. Hättest nur deinen ganzen Namen eingeben müssen - Sinia Martin! Aber auch da hättest du nicht gefunden, was du suchst. Glaub mir!" Sinia suchte Halt am Tisch. Mit eiskalter Hand wischte sie sich über die Stirn, als wolle sie einen bösen Traum vertreiben. Rashid schien ihre Gemütsverfassung nicht zu interessieren. Er winkte zwei Wachen und seinen Chauffeur durch die Seitentür zu sich her und erklärte ihnen: „Es bleibt trotzdem dabei, sie kommt mit!" Dann richtete er sich an Sinia. „Sei froh, dass ich dich nicht für eine Spionin halte! Übrigens, du bleibst nicht hier. Ich habe angeordnet, deine Sachen packen zu lassen!" - und etwas freundlicher – „Bitte folge seinen Anweisungen!" Dabei zeigte er zu dem gleichmütig dreinblickenden dicklichen Chauffeur. Jaffar erschien in der Tür. Nachdenklich kratzte er sich am Kopf und sah Sinia an. „Was hast du jetzt schon wieder angestellt?" Rashid ging zu ihm. Sie besprachen sich im Flüsterton und gingen gemeinsam zur Tür. Sinia wollte hinterherlaufen, doch ein Wachsoldat hielt sie zurück. Halb wütend und halb besorgt rief sie ihnen nach: „Und was wird aus mir? Rashid, warte! Laß mich erklären..." Ohne sich umzudrehen hob dieser seine Hand hoch und dann waren beide aus dem Zimmer verschwunden. „Kommen Sie mit!", sagte der Chauffeur. „Nein! Ich weiß ja nicht mal wohin!", antwortete Sinia störrisch. „Zum Wagen!", grinste der Mann und fügte ein höfliches aber bestimmtes "Bitte!" an. In Begleitung der Wachen verließ Sinia mit sehr gemischten Gefühlen das Haus, das zusammen mit seinen Bewohnern ihr doch mehr liebgeworden war, als sie sich eingestehen wollte. Dann fuhr der Rolls Royce mit ihr in die Stadt. Vor einem schneeweiß gestrichenen mehrstöckigen Bürogebäude parkte der Fahrer ein. Die Zeit verging und die Hitze im Fahrzeuginneren begann unerträglich zu werden. Weder Türen noch Fenster ließen sich öffnen. Sinia trommelte gegen die Scheibe, die den Fahrgastraum vom Fahrerplatz, trennte. "Ich bekomme keine Luft mehr!", schrie sie den Chauffeur an, der bei offenen Fenstern eingenickt war. Mit einem kurzen Knopfdruck öffnete er die hinteren Fenster einen Spalt breit und zog seine Kappe tiefer ins Gesicht, um weiterzudösen. Sinia war nicht in der Verfassung diesen sturen Typ zu nerven und fügte sich in das Schicksal des ungewissen Weiterwartens. So dämmerte sie vor sich hin, als die Seitentür aufgerissen wurde und Rashid beschwingt einstieg. Er warf sein Jackett gleich auf den gegenüberliegenden Sitz, öffnete die oberen Knöpfe seines Hemdes und krempelte die Ärmel bis über den Ellenbogen hoch. Das Nobelauto hatte sich schon in Bewegung gesetzt. Obwohl insgeheim über sein Auftauchen sehr froh, blieb Sinia doch teilnahmslos hingelümmelt sitzen. Gedehnt und uninteressiert klang ihre Frage: "Und jetzt?" "Werde ich mich um dich kümmern!" Rashid sah sie spitzbübisch an. "Oder was dagegen?" Sinia zuckte mit den Achseln. "Dass du dich nur nicht übernimmst!" "He, wieder Freunde! Ja?", bat er freundlich und zog sie zu sich. "Ich wollte dich eigentlich heute abend fragen, ob du Lust hast ein paar Tage mit mir zu verbringen. Aber nach dem Vorfall von vorhin, habe ich beschlossen, dich einfach mitzunehmen!"
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Sinia schmiegte sich an ihn. Diesmal bekam ihr schlechtes Gewissen nicht die geringste Chance. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie diesem Mann beruhigt vertrauen konnte. Und das war ein viel zu starkes wunderbares Gefühl! Die Fahrt führte durch die fruchtbare Landschaft, die sich flußaufwärts am Tigris entlang zog. Nach einigen Zwischenstopps erreichten sie endlich das am Ufer gelegene herrschaftliche Anwesen. Abgeschirmt von einer von undurchdringlichem Buschwerk überwucherten Mauer führte eine Allee durch ein kleines Palmenwäldchen zu einem mehrfach abgestuften zwei- bis dreigeschossigen Bau mit mehreren begehbaren Dachebenen. Die Zufahrt säumte ein gepflegter Rasen auf dem großzügig Blumen-, Busch- und Palminseln angelegt waren. Rashid geleitete Sinia ins Haus. Durch die lichtdurchflutete Vorhalle führte ein Diener Sinia in ihr Zimmer im ersten Stock. Das viele Glas und die vorherrschende Farbe Weiß, nur von sparsamen Pastelltönen akzentuiert, gab mit der ebenfalls hell gehaltenen sehr modernen Einrichtung dem ganzen Haus eine sommerliche Transparenz und heitere Leichtigkeit, die jeder Betrachter gleich als sehr angenehm empfinden mußte. Sinia sah aus dem großen Fenster auf einen großen, leicht s-förmig angelegten Swimmingpool. Eine teils von hohen Palmen beschattete Rasenfläche führte bis zum Ufer des Tigris, der einem silbrig glänzenden breiten Band glich. Bei dem flimmernden Glitzern der Wasseroberfläche war der Maschendrahtzaun, der das herrschaftliche Areal von dem Fluß trennte, kaum zu erkennen. Unter sich sah Sinia Rashid aus dem Haus heraustreten. Auch er schien den erhabenen und friedlichen Anblick zu genießen und doch glaubte Sinia, so wie er dastand, noch etwas an ihm zu erkennen. Er wirkte irgendwie einsam. Ob das möglich war? Die Sonne stand schon hoch, als Sinia am nächsten Morgen aufwachte. Es war am Abend zuvor, doch recht spät geworden. Sie hatten sich über Belanglosigkeiten unterhalten und manches zu lachen gehabt. Im nachhinein kam ihr das alles wie ein wunderschöner Traum vor. Unten auf der Terrasse traf sie Rashid, der im Morgenmantel auf einer Liege die warmen Sonnenstrahlen genoß. Er begrüßte sie fröhlich und schlug ihr vor, auch eine Runde zu schwimmen, was er schon hinter sich habe. Doch Sinia zog dem lieber das Frühstück vor. Dann bot er an, ihr die Gegend zu zeigen und wenig später saßen sie, unauffällig wie die Einheimischen gekleidet, mit dem Chauffeur als Kutscher auf einen Eselkarren und hatten ihren Spaß, sich über staubige Straßen und holprige Wege schaukeln zu lassen. Unerkannt besuchten sie einen Basar und erholten sich in einer kleinen Teestube. Viel zu schnell verflogen die Stunden und müde kehrten sie am Abend zurück. Längst war es Nacht geworden. Schweigend saß Sinia neben Rashid am Ufer des Flusses, in dem sich wellig das Spiegelbild des Mondes abzeichnete. Wie kleine Diamanten funkelten die unzähligen Sterne, die den Nachthimmel übersäten. "Es gibt Momente, da müßte man die Zeit anhalten können!", überlegte Sinia. "Manchmal würde schon reichen, nur sein Leben zu ändern!", bemerkte Rashid und fügte mit einem Blick zu ihr hinzu, "Du bräuchtest nur bei mir zu bleiben!" Sinia hatte so was geahnt und mahnte sich, vernünftig zu bleiben. "Ist das nicht ein ziemlich leichtsinniges Angebot. Was weißt du denn schon von mir?" "Sicher noch nicht alles, aber genug, um zu wissen, dass ich dich gern bei mir hätte!" Seine Stimme klang so ehrlich, dass Sinia ein schlechtes Gewissen bekam. Sollte sie ihm jetzt nicht von ihrer Familie erzählen, und was war mit seiner Frau und seinem hitzköpfigen Sohn Karim? Vorsichtig fragte sie: "Was weißt du denn außer meinem Namen noch so alles?" "Da muß ich mal überlegen. Ja, wie alt du bist und wie groß, dass du mit Vorliebe gefälschte Papiere benutzt und Gefangene befreist, indem du Unbeteiligte erpreßt...", führte er die Auflistung nicht ernstgemeint weiter. Sinia unterbrach ihn. "Ich bin beeindruckt! - Mit wie wenig du dich doch zufrieden gibst!", foppte sie. Rashid wollte nach ihr greifen, doch sie war schon hochgesprungen und wartete auf seine Reaktion.
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"Ich bin ja noch nicht fertig! Ich weiß auch, dass du Deutsche bist..." Dabei sprang er mit einem riesigen Satz auf Sinia zu. Doch flink entwischte sie ihm erneut und rannte durch die Gittertür im Drahtzaun. Rashid folgte ihr, verschloß die Tür und lief hinter ihr her. "... und Angst vor mir hast!" Sinia blieb stehen. "Dir entgeht wirklich nichts!", machte sie sich lustig. "Richtig!" Rashid stand nun vor ihr und hielt ihren Arm fest. Er atmete ein paar Mal durch. Er war doch etwas außer Puste geraten. "Ich weiß sogar, dass du mich magst!" Seine dunklen Augen musterten sie zärtlich. "Kann sein!" Sie spürte, wie sie weiche Knie bekam. Mit einem Ruck befreite sie sich aus seinem Griff und rief: "Kann auch nicht sein!" Dann lief sie weiter zum Haus. Am Swimmingpool hatte Rashid sie wieder eingeholt. "Ich bin mir nur noch nicht sicher, ob du schwimmen kannst!" Er schnappte sie und trug sie zum Pool. Ehe Sinia sich wehren konnte, klatschte sie in das warme Wasser und tauchte unter. "Bist du gemein!", schrie sie. "Ich hätte ertrinken können!" "Ich hätte vorher das Wasser abgelassen!", rief er ausgelassen. "Komm, ich helf dir raus!" Rashid streckte ihr seine Hand entgegen und zog sie aus dem nassen Element. Im gleichen Moment gab sie ihm einen Schubs, dass nun er im Wasser landete. Aber er ging unter wie ein Stein und kam nicht mehr hoch. Sinia erschrak. Sie mußte ihm helfen und hechtete hinterher, ohne zu wissen, wie sie den untergegangenen Körper hochholen und retten sollte. Doch Rashid hatte sie nur reingelegt und tauchte mit ihr wieder auf. "Spinnst du? Ich hatte schon Angst gehabt!", machte sich Sinia sofort Luft. "Um mich!", wollte Rashid wissen. "Quatsch! Vor deinen Leuten. Die würden doch denken, ich hätte dich umgebracht!" "Ohhh, und ich war dir ganz egal?", tat Rashid enttäuscht und sank angesichts Sinias Gleichgültigkeit vor ihren Augen erneut in die Tiefe. Sinia griff schnell nach ihm und zog ihn wieder hoch. "Nein, bist du nicht!", sagte sie zärtlich und schelmisch fügte sie hinzu: "Jedenfalls so lange ich noch in eurem Land bin!" Schnell schwamm sie zu der breiten Pooltreppe. Fast gleichzeitig stiegen sie aus dem Wasser. Draußen zog Rashid Sinia zu sich herum. Für Sekunden trafen sich ihre Blicke und verrieten, was sie für einander empfanden. Plötzlich schlang Sinia ihre Arme um seinen Hals und preßte sich eng an ihn und genauso schnell ließ sie ihn wieder los. "Ich... ich sollte mir das nasse Zeug ausziehen!", stotterte sie und verschwand ins Haus. "Du kommst aber wieder! Sonst hol ich dich!", rief Rashid hinterher. Sinia ließ den heißen Wasserstrahl der Dusche auf ihre Haut prasseln und überlegte, was sie tun solle. Doch es hatte keinen Sinn! Sie mußte Rashid endlich alles erzählen. Von ihrem Mann, ihren Kindern, der Entführung und weshalb sie ausgerechnet zu ihm gekommen war. Und sie mußte sich beeilen, solange sie zu diesen Erklärungen noch so fest entschlossen war. Ohne lange zu überlegen, griff sie nach einem seidenen Morgenmantel. Dass er ihr etwas zu lang war, störte sie nicht, auch nicht ihre noch feuchten Haare. Sie wollte gerade zur Tür, da klopfte es. Draußen stand Rashid. "Du hast mich doch nicht vergessen?", fragte er, lässig gegen den Türrahmen gelehnt. Auch er hatte sich inzwischen ein trockenes Hemd und eine andere Hose angezogen. Sinia hob entschuldigend ihre Hände. "Ich wollte gerade gehen! Aber bei uns Frauen dauert es immer länger!" Lächelnd ließ Rashid seinen Blick an ihr hinabgleiten. "Ich verstehe!", witzelte er. Sinia wurde ernst und während sie ins Zimmer zurückging, sagte sie: "Ich habe über uns nachgedacht!" Sie drehte sich zu ihm um. "Ich muß mit dir reden!" "Das klingt nach Geständnis!", Rashid schloß hinter sich die Tür. Sinia nickte. "Dass ich nach Hause muß, hat nichts mit dir zu tun. Ich... es ist..." Sie überlegte, wie sie anfangen sollte. Rashid nahm sie in den Arm. "Du brauchst mir nichts zu erklären. Was könnte es auch zwischen uns ändern!" "Und deine Frau und Karim?", fragte sie stirnrunzelnd.
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Er schüttelte den Kopf. "Selbst dass du Mann und drei Kinder hast, kann meine Gefühle für dich nicht ändern! Das Schicksal wird einen Weg für uns finden, selbst wenn wir uns noch so sehr dagegen wehren!" "Du weißt sogar von meiner Familie?" Doch statt einer Antwort berührten seine Lippen die ihren. Sinia tat einen letzten Versuch ihrer mahnenden Vernunft gehorchend und wich einen Schritt zurück. Dabei verfing sie sich in dem zu langen Mantelsaum, knickte um und wäre gestürzt, hätte Rashid sie nicht geistesgegenwärtig an sich gerissen. "Au, mein Knöchel!", jammerte Sinia schnell und zog den Fuß hoch. Rashid trug sie behutsam zum Bett, ließ sie darauf ab und besah sich besorgt ihren Fußknöchel. "Der hier, ja? Tut das weh?", erkundigte er sich während er den Fuß sachte am Gelenk hin- und herbewegte. Sinia verzog ihr Gesicht. " Au, ah!", stöhnte sie. "So was blödes! Wie ungeschickt von mir!" Rashid sah sie mitleidig an. "Ich hol dir erst mal einen kalten Umschlag. Und über Nacht bekommst du einen Verband darum. Du wirst sehen, morgen ist alles wieder gut." Er ging ins Badezimmer und kam mit einem ausgewrungenen kalten und einem trockenen Handtuch zurück. Schlang erst das eine dann das andere geschickt um ihr Fußgelenk und betrachtete sie mit gespielter Zufriedenheit. "Jetzt kannst du wenigstens nicht mehr weglaufen. Ich hole eine Salbe und einen Verband. Du wartest hier doch?" Sinia nickte brav. Noch mehrmals wiederholte Rashid die Prozedur mit den Handtüchern, bis er zuletzt den Verband umlegte. Und obwohl sie sich die ganze Zeit angeregt unterhielten, vergaß Sinia nicht, immer wieder mit einem Seufzer oder Stöhnen ihren Schmerzen Ausdruck zu verleihen und jedesmal schien Rashid mitzuleiden. Mit ihrer Versicherung, dass er wirklich nichts mehr für sie tun könne, verabschiedete sich Rashid schließlich mit einem "Guten Nacht und gute Besserung!", und einem freundschaftlichen Kuß auf ihre Stirn. Sinia blieb indes mit einem schlechten Gewissen zurück. Kurz vor drei wachte Sinia auf. Vorsichtig stand sie auf und zog sich an. Es war absolut still. Sie nahm ein Blatt Papier. Doch welche Worte konnten schon erklären, dass sie tun mußte, was sie tat! So schrieb sie nur 'verzeih' und legte ihre Kette mit dem Medaillon darauf. Eine Träne tropfte auf das Blatt, noch ehe sie sie mit dem Handrücken von der Wange wischen konnte. Selbst über ihre Gemütsverfassung erschrocken beeilte sie sich, das Zimmer zu verlassen. Barfuß huschte sie mit den Schuhen in der Hand die Treppe hinab, schnappte sich den ordentlich in ein Schränkchen gehängten Autoschlüssel und schlich hinaus in die mondhelle Nacht zum Rolls Royce, der vor dem Eingang abgestellt worden war und nun geradewegs auf sie zu warten schien. Sie löste Bremse und Kupplung und fast geräuschlos begann der Wagen die leicht abschüssige Einfahrt hinabzurollen. Nach einigen Metern setzte sie den leisen Motor in Gang und steuerte auf das geschlossene Tor der Ausfahrt zu. Mit einem Knopfdruck, ließ es sich vom Auto aus öffnen. Sie gab Gas. Hinter ihr schloß sich die mächtige Flügeltür wieder. Bald hatte sie die Straße erreicht, auf der sie einst versteckt in einem Lastwagen in entgegengesetzte Richtung gefahren war. Mit Höchstgeschwindigkeit rauschte die Limousine gen Westen. Die leere Straße verschwamm vor ihren Augen und Tränen liefen unaufhaltsam ihre Wangen hinab. Nichts konnte ihre Traurigkeit aufhalten. Sie griff nach dem Telefonhörer und holte tief Luft, dann wählte sie Abdul El Basans Geheimnummer, die sie in letzter Zeit immer seltenen angewählt hatte, um ein kurzes 'Alpha' durchzugeben. Es knickte in der Leitung und El Basan meldete sich höchstpersönlich. "Ich bin auf dem Weg zum alten Treffpunkt. Kannst du kommen? Bitte!", sagte sie und erschrak selbst über den traurigen Klang in ihrer Stimme. "Ich bin da!" Es hörte sich besorgt an. Sie legte den Hörer wieder auf und wischte über ihre Augen, doch die Straße blieb verschwommen. Das Telefon blinkte auf und wiederholt erklang eine kurze Tonfolge. Sinia wollte den Hörer abnehmen, doch zögerte dann. Das konnte nur Rashid sein. In ihre Traurigkeit mischte sich Panik. Nein, sie durfte sich durch nichts und niemanden aufhalten lassen. Ihr Verstand war hellwach und befahl ihr © S. Remida
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mit Vollgas Richtung Syrien zu fahren. Nur wenige Fahrzeuge waren unterwegs. Die ganze Zeit behielt sie den Nachthimmel im Auge, aber von keiner Seite näherte sich ein Flugzeug oder Verfolgerfahrzeug. Auch das Telefon blieb stumm. Vor ihr tauchte die Grenze auf. Sie wirkte verschlafen, nichts Ungewöhnliches war zu erkennen. Aber darauf wollte sich Sinia nicht verlassen. Sie drosselte die Geschwindigkeit auf Schritttempo. Wenige Meter vor dem Schlagbaum gab sie Lichthupe. Die bewaffneten Grenzpolizisten schienen den Wagen zu erkennen, öffneten zuvorkommend die Schranke und nahmen ganz offenbar eine ehrfürchtige Haltung ein. Wußte die etwa doch noch nichts? Sie gab Gas und raste mit kreischenden Reifen durch die Zollstation, um mit einer Vollbremsung die Limousine am syrischen Genzposten anzuhalten. Abdul El Basan kam mit ein paar Uniformierten zu ihr gerannt. Sinia stieg aus. Die überrumpelten irakischen Grenzer hielten zwar sofort ihre Waffen im Anschlag, aber wussten wohl, dass sie nicht mehr schießen konnten. Im Schutz seiner Begleiter brachte El Basan Sinia eiligst auf die syrische Seite. "Allah sei gepriesen, du bist es wirklich!", rief er und ungläubig strich er immer wieder über ihren Arm. "Du hast recht, es wurde auch höchste Zeit!" Sinia lächelte ihn unsicher an. Abdul nickte nur ernst. "Sie sollen bitte den Wagen zurückbringen, ja?", bat sie. "Ist das jetzt deine einzige Sorge?", erkundigte sich Abdul verwundert. "Das machen die schon, keine Angst! - Aber wie geht es dir?" Er musterte sie. "Etwas zu traurig, aber sonst siehst du zum Glück ganz gut aus! Wie steht es hiermit?" Er klopfte sich leicht gegen sein Herz. Sinia warf ihren Kopf zurück, als wolle sie etwas verscheuchen. "Okay, alles okay!" Abdul holte tief Luft. "Na, komm erst Mal. Der Hubschrauber wartet schon." Knatternd flog der Helikopter mit dem aufziehenden Morgen gegen Westen. Nach einer Weile sagte Abdul: "Niemand konnte voraussehen, dass es sich so entwickeln würde! – Tut mir leid!“ Sinia sah ihn fragend an. „Du solltest ihn ganz schnell vergessen!" Sie starrte ihn entgeistert an. "Von was sprichst du? Es ist nichts passiert!" „Ich fürchte, es ist mehr passiert als du glaubst!“, antwortete er.
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Kapitel IV Längst warfen die Häuser lange Schatten auf die ruhige Wohnstraße, in die das Taxi einbog, und zeichneten das vertraute dunkle Zackenmuster eines schönen Hochsommerabends auf den grauen Asphalt. Sinia atmete auf. Endlich war sie Zuhause. Schnell bezahlte sie, stieg aus und eilte durch den Vorgarten zur Haustür und drückte auf die Klingel. Erwartungsvoll sah sie auf die Tür, blickte kurz in den Vorgarten zurück, ohne recht wahrzunehmen, dass er mit den verdorrten Resten abgeblühter Blumen zwischen grün sprießendem Unkraut und Büschen etwas verwildert wirkte. Dann hörte sie von drinnen wohlbekannte Stimmen.
Die Tür ging auf und vor ihr stand Chris. Er starrte sie ungläubig überrascht an. Hinter ihm quengelten sich die Kinder vor. „Mama!“ „Mama ist wieder da!“, riefen die Mädchen begeistert und sprangen ihrer Mutter in die Arme. „Ich auch, ich auch!“ schrie Klein-Andy und drängte sich zwischen seine Schwestern. Sinia war in die Hocke gegangen und drückte alle drei fest an sich. Dann nahm sie Andy auf den Arm, die Mädchen klammerten sich an die freie Hand und mit einem angedeuteten Kuß, einer flüchtigen Umarmung und einem „Guten Abend, Schatz!“ ging sie an Chris vorbei ins Haus. Sie meinte zu spüren, dass ihm jetzt nicht nach einer innigeren Begrüßung zu Mute war. „Ach ist das schön, wieder daheim zu sein!“ stellte sie froh fest. „Ja, guten Abend, Sinia. Das ist eine Überraschung!“, erklang seine Stimme unbeholfen hinter ihr. Doch gleich drängten sich die Kinder wieder in den Vordergrund. Sie überschütteten ihre Mutter mit tausend Neuigkeiten, Fragen und Kleinigkeiten, bis sie spät nachts erschöpft an ihrer Seite auf der Couch einschliefen. Zwischendurch hatte Sinia Chris geholfen, das Abendbrot zu richten, doch ein Gespräch war nicht möglich gewesen und nun waren beide auch zu müde dazu. Gemeinsam brach© S. Remida
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ten sie die Kinder zu Bett, die im Halbschlaf launisch darauf bestanden, alle bei ihren Eltern zu schlafen. Nachdem ein sonniger Morgen mit all zu frühem Kindergeplapper Sinia und Chris geweckt hatten, pendelte sich bereits nach dem Frühstück das altgewohnte Leben ein. Sinia machte den Haushalt der dringend einer hausarbeiterfahrenen Hand bedurfte, die Kinder spielten und tobten wieder durchs Haus und Chris hatte sich nach ausgiebigem Zeitungsstudium in seinen Hobbyraum im Keller zurückgezogen. Ob er beleidigt schien? Erst nach einem gemeinsamen Einkauf am Nachmittag mit anschließendem Spaziergang durch den angrenzenden Park zu einem Spielplatz hatten die beiden Zeit, miteinander zu reden. So erfuhr Sinia, dass Chris nicht mehr mit ihrer Rückkehr gerechnet hatte, es gab da so Gerüchte und Gerber hatte ihm mit Bedauern erklärt, dass sie seines Wissens inzwischen einen Mann, offenbar einen Ausländer, kennengelernt habe und mit ihm ganz plötzlich fortgegangen sei. Die Erzählungen seiner Kinder schienen dies auch eher zu bestätigen, als die unglaubliche Geschichte seiner Schwester Marion und deren Mann von der verrückten Idee ihn retten zu wollen, von der niemand sonst, ja, nicht einmal die Firma etwas gewußt zu haben schien. Sinia merkte wohl, dass alles gegen sie sprach, dennoch blieb sie bei einer knappen Schilderung, wie diese Idee entstanden war, sie sie angegangen und schließlich verwirklicht hatte, wobei sie nicht nur die meisten Namen aus unbestimmter Vorsicht, sondern auch die lebensgefährlichen Situationen, in die sie geraten war, wie auch das alsbald sich seltsam gewandelte Verhältnis zu Safar wegließ und statt dessen ihr unplanmäßig langes Fortbleiben mit einer plötzlichen Erkrankung rechtfertigte, von der sie sich im Kreise einer gastfreundlichen Familie erst erholen musste, was ja auch ungefähr der Wahrheit entsprach. Entschuldigend erklärte sie, dass es ihr trotz einiger Versuche leider nicht möglich gewesen wäre, sich daheim zu melden. Schließlich fügte sie noch hinzu, sich nun schnellstens bei einigen Leuten zurückmelden zu müssen, was er bitte verstehen möge. Chris war viel zu beschäftigt, das alles zu begreifen, als dass er noch groß Fragen stellen konnte. Zudem hatte es in seinem Innersten einen Kampf entfacht, welcher Darstellung er eher glauben sollte, Sinias unglaublicher Schilderung oder Gerbers nüchterner Erklärung! Sinia spürte sehr wohl die Wand aus Zweifel und Misstrauen zwischen ihnen, aber sie wusste auch, dass sie ihm dabei nicht helfen konnte. Die ganze Sache war auch für sie inzwischen viel zu kompliziert geworden! Wieder erschien vor ihr Rashid und lächelte sie an. Wenn er sich nur aus ihren Gedanken verbannen ließ! ************ Ali, Sinias Arabischlehrer und verläßlicher Freund in ihrer schweren Zeit, wohnte nicht mehr in dem altersschwachen Mietshaus. Und keiner wußte, wo er zu finden war. Sinia suchte den Teppichhändler auf. Während dieser so tat, als berate er sie über einen Teppich, steckte er ihr heimlich Alis neue Adresse zu und mahnte sie, die Augen offenzuhalten, man könne sie beschatten. Der irakische Informant, den sie damals mit Herrn Carli in der Schweiz aufgesucht hatten, sei schon bei einem mysteriösen Verkehrsunfall in den Schweizer Alpen ums Leben gekommen, fügte er mit vielsagendem Blick hinzu, als er sie verabschiedete. Sinia war wie vor den Kopf gestoßen. Wollte er andeuten, dass jemand dem Unfall nachgeholfen hatte? Mit größter Umsicht suchte Sinia Alis Wohnung in der Nähe von Mannheim auf. Überglücklich umarmte er sie und drückte sie an sich, schob sie eine Armeslänge von sich weg, um sie von oben bis unten zu betrachten und zog sie wieder an seine Brust. „Du bist es wirklich! Du bist wieder zurück, oh, Allah sei Dank! Er hat meine Gebete erhört!“ Seine ehrliche Freude tat Sinia gut. Neugierig wollte er wissen, was sie erlebt hatte. Wenn sie auch ausführlich über ihre ersten Begegnungen mit Safar und ihre Fluchtversuche berichtete, erzählte sie nur oberflächlich von der Zeit, als sie in Safars Haus wohnte. Zu unwahrscheinlich kam ihr jetzt der Gedanke vor, das dieser Mann sich ernsthaft für sie interessiert habe könnte. Wie © S. Remida
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genau sie ihn sich noch vorstellen konnte! „... und jetzt sitze ich wieder wie damals in diesem Sessel!“, endete sie und klopfte auf die Lehne. Ali betrachtete sie nachdenklich. „Da wäre nur noch Safar!“ Sinia starrte ihn irritiert an. Sie fühlte sich ertappt. Ahnte er etwas? Ali stand auf und kam mit zwei Gläsern Mineralwasser zurück. Er lächelte sie nachsichtig an. „Heute weiß ich, wärst du nicht sein Typ gewesen, ich fürchte, ich hätte dich nie mehr gesehen!“ Seine Miene wurde ernst, ja verzweifelt, als er fortfuhr: „Der ganze Wahnsinn dieser Idee ist mir viel zu spät bewußt geworden. Ich hätte dich davon abhalten müssen! Das kann ich mir nicht verzeihen! Es tut mir alles so leid, so leid!“ Er steigerte sich in Schuldgefühle, die Sinia nicht nachvollziehen konnte. „Was denn? Hör auf, was soll das überhaupt? Es hat doch geklappt und ich bin zurück, mehr wollte ich nicht!“ „Aber um welchen Preis!“ Er machte eine Pause, als überlege er, wo er beginnen solle. „Wußtest du eigentlich, dass dieser irre Exiliraker, Hasan hieß er übrigens, dich nur benutzt hat und entgegen unserer Abmachung in einigen dieser Firmen tatsächlich Sabotageaktionen durchführen ließ? Und damit begann, als die Geiseln gerade freigelassen wurden? Dabei waren Bombendrohungen noch das harmloseste. Ein paar hat er sogar hochgehen lassen mit beträchtlichen Schäden. Und niemand konnte ihn aufhalten! Ich, wir hatten furchtbare Angst um dich. Dieser Safar spielte mit dir ein schmutziges Spiel und es sollte mich wundern, wenn das jetzt alles war!“ Sinia registrierte unterschwellig, dass Ali offenbar überhaupt nichts von Rashid Safar zu halten schien, aber im Augenblick beschäftigte sie mehr noch dieser Verräter. „Moment, dieser Alte hat sich nicht an unsere Abmachung gehalten? Willst du sagen, dass ihm nicht viel an der Rettung lag?“ Sinia erinnerte sich, dass Rashid mal etwas angedeutet hatte. „Nichts, um genau zu sein! Er schien sich sogar einzubilden, Safar würde dich dafür verantwortlich machen!“ „Dann war meine Idee nur ein Vorwand für ihn?“, versuchte Sinia sich vorzustellen. „Und jetzt ist er tot!“ „Er hat seine gerechte Strafe bekommen, wie auch immer!“ „Du meinst also auch, es könnte nachgeholfen worden sein?“ „Davon kannst du fast ausgehen, auch wenn die Todesursache Herzinfarkt am Steuer lautete. Er ist mit seinem Wagen eine Schlucht hinabgestürzt! Da blieb natürlich nicht allzuviel zum Autopsieren übrig.“ „Eine Idee, wer es war?“ „Kannst du dir nicht vorstellen, wer seine Häscher waren?“ Sinia nickte, ob Rashid auch davon wusste? Sie empfand kein Mitleid für den Mann, der aus persönlichen Rachegelüsten ihre Vereinbarung boykottiert und sie und die Geiseln damit erneut in Lebensgefahr gebracht hatte, nachdem schon alles wunschgemäß beinah gelaufen war. Ali erzählte ihr auch, dass später zwielichtige Typen bei verschiedenen Leuten und Geschäften, sogar in dem Wohnheim und bei dem Teppichhändler aufgetaucht seien und sich nach ihr und dem fanatischen Exiliraker erkundigt hätten, weshalb er schleunigst in diese Wohnung abgetaucht sei. Deshalb schien er nun auch sehr besorgt um sie, da er annahm, dass Safar es mit ihrer Flucht nicht einfach bewenden lassen würde! Als Sinia ging, waren ihre Gefühle ziemlich zerrissen. Was sollte sie von alle dem nur halten? Sie hatte sich ihre Rückkehr weiß Gott angenehmer vorgestellt. Nur eines schien letztlich klar, ohne ihre Reise nach Bagdad wäre die Entführung wohl nicht so glimpflich abgelaufen und wer weiß, wen und wie vielen der fünf Männer es dann das Leben gekostet hätte? Auch wenn ihr nicht gerade danach zu Mute war, machte sie auf dem Rückweg noch einen Abstecher zum Büro der CTA, genauer, zu Geber, dem Personalchef. Wie würde er wohl auf ihr Erscheinen reagieren? - Erstaunt und verärgert, stellte Sinia schnell ernüchtert fest, auch wenn er mit schleimigem Charme dies zu überspielen suchte. Diesmal war sie gleich der anmeldenden Sekretärin gefolgt und von Gerber, der sich eilig hinter seinem Schreibtisch hervor gewuchtet hatte und auf sie zugekommen war, während er seine Hose und © S. Remida
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seinen Schlips zurechtrückte, mit Handschlag begrüßt worden. „Ich freue mich, Sie wiederzusehen! Wir haben uns schon Gedanken gemacht, weshalb Sie so plötzlich verschwunden sind. Ausgerechnet als unsere Bemühungen Erfolg hatten! Ihre Familie wird sicher sehr glücklich über Ihre Rückkehr sein!“ Es war nicht der richtige Augenblick auf die unverschämten Unterstellungen, die er gegenüber Chris wegen ihres Verschwindens angedeutet hatte, einzugehen oder wenigstens anzuspielen. Außerdem wollte sie ihm auch keine Einzelheiten über ihre Abwesenheit erzählen! Wieviel er wohl tatsächlich wußte? So beschränkte sie sich darauf, auf seine Feststellungen einzugehen. „Aber sicher! Danke für Ihre Anteilnahme! Und alles, was sie getan haben - mit Unterstützung anderer natürlich!“ „Andere? Gab’s ja leider nicht! - Es war sehr schwierig, wie sie wissen. Aber unsere Firma hat nie aufgegeben in ihrem Bemühen! Heute kann ich mit Stolz wohl sagen, dass das gute Ende vor allem unser Verdienst war, genau so wie ich es Ihnen immer versprochen hatte!“, lobte sich der Personalchef. „Wenn ich ihren Erfolg auch nicht schmälern will, gebührt doch wohl auch ein Teil des Dankes der irakischen Initiative. Bestehen schon irgendwelche Kontakte?“, fiel Sinia mit ihrem Wissen gleich ins Haus und fuhr freundlich, seinem Protest zuvorkommend, fort: „Und wenn man an den Grund der Entführung denkt! -- Tragisch, finden sie nicht?“ Wenig diplomatisch war sie auf den Punkt gekommen. „Ich verstehe nicht! Wie kommen Sie auf diesen Terrorstaat, was soll der damit zu tun haben? Und was war tragischer als die Entführung ihres Mannes?“, fragte Gerber ärgerlich ahnungslos. „Die Explosion und ihre verheerenden Folgen. Wie von verantwortlicher Seite damit umgegangen wurde und dass daraufhin ein paar Rachehungrige diese Entführungsidee ausheckten. Die ja fast für die Betroffenen in die Hose gegangen wäre, wenn ich es mal so formulieren darf! Sie können mir geistig noch folgen?“ „Explosion? Rache? Wo? Wer? Wen wollen Sie beschuldigen? Das ist eine Ungeheuerlichkeit. Aber bitte weiter!“, sagte er lauernd. „Nichts weiter! Nun wird wohl auch ein Dritter daraus Nutzen ziehen können! Ich dachte, Sie wüßten! Nicht? Naja, lassen wir das!“ Sinia machte nur Andeutungen, aber Gerbers Gesichtsausdruck meldete: ‘Volltreffer!’ „Woher nehmen sie sich eigentlich diese Unverfrorenheit, nach all dem, was wir für Sie und Ihre Familie getan haben? Was wissen Sie schon, dass sie sich solche Rotzfrechheiten erlauben! Ausgerechnet Sie! Sie sollten besser bei sich anfangen! Wer ist denn klammheimlich davon ....” Er brach ab und fuhr mit einem neuen Argument fort, “...und vergessen Sie nicht, dass Ihr Mann noch bei uns beschäftigt ist!“ Endeten seine Beleidigungen in einer Drohung. Er schien fast zu platzen. Sinia blieb entgegen seiner Erwartung cool. „Na, bitte beruhigen Sie sich doch! Selbst Ihre Beleidigungsversuche können an den Fakten, wie Sie genau wissen, nichts ändern. Aber wenn dies offiziell nicht bekannt sein soll, bitte, ich werde dem schon nicht im Wege stehen! Es ging ja alles zum Glück noch mal glimpflich aus, das allein ist wichtig! Ganz egal, wer wieviel für was dazu beigetragen hat! Finden Sie nicht auch?“ „Sie unverschämte Person!“, entfuhr es ihrem Gegenüber und lauernd erkundigte er sich: „Was wollen Sie eigentlich?“ Sinia zuckte unschlüssig mit den Achseln. „Das weiß ich jetzt auch nicht mehr! Ich dachte wohl, wir könnten uns normal unterhalten, statt dessen machen Sie mir angst! -- Nun, Sie wissen, dass ich wieder da bin ....“ „Ja, und? Herkommen, um mich zu beleidigen und unsere sehr schwierigen aber erfolgreichen Bemühungen infrage stellen?“ „Warum fassen sie alles so persönlich und nur negativ auf? Ich geh jetzt wohl besser, Sie wissen ja, wo Sie mich erreichen können, falls nötig!“ Es war nur eine nicht ernstgemeinte Floskel. Dabei war sie einige Schritte rückwärts Richtung Tür gegangen. Da kam ihr ein Gedanke zu ihrer eigenen Sicherheit und so blieb sie noch einmal stehen und sagte mit übertrieben versöhnlichen Ton: „Und zu Ihrer Beruhigung, das gesamte Informationsmaterial - aus erster Hand versteht sich - ist natürlich in © S. Remida
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Sicherheit. Ich habe es in Verwahrung gegeben!“ „Was für Informationsmaterial?“ „Schlecht wäre nur, wenn mir etwas zustoßen würde. Weil, es ginge dann automatisch an verschiedene Medien. Bisher haben die ja nicht mal die Befreiung gemeldet, richtig?“ Sinia wandte sich um zum Ausgang, während sie ein „Warum wohl?“ in den Raum stellte. „Weil keiner in der Aufregung an die gedacht hat!“, beeilte sich Gerber zu erklären und kam hinter ihr her. „Ich weiß wirklich nicht, auf was Sie anspielen! Ich möchte gerne sehen, was Sie haben! Wo sagten Sie, haben Sie es hinterlegt?“, erkundigte er sich in schlichtendem Ton. „Unwichtig! Lassen wir es wie es ist! Wen interessiert im Moment schon die elegante Dezimierung einer ungeliebten Bevölkerungsgruppe, wie was vertuscht werden sollte, oder dass ein amerikanischer Spion unter den Gekidnappten war, warum auch immer, an vor allem dessen Rettung hauptsächlich gedacht wurde - oder dieser Safar!“ Sinia stand an der Tür. „Das sagt mir alles nichts. Sie sprechen in Rätseln. Ich muß schon sehen, was Sie da zu haben glauben. Außerdem hört sich das alles sehr nach Erpressung an, obwohl ich nicht verstehe, was damit bezweckt werden soll! Die Befreiung kam unser Unternehmen weiß Gott teuer genug! Dulden Sie bitte keine Lügenmärchen über uns, denken Sie auch an ihren Mann und ihre Kinder! Und bedenken Sie außerdem, dass wir natürlich keinen Einfluß darauf haben, wenn Sie einen Unfall bauen.“ „Hoffentlich!“ witzelte Sinia. „Oder glauben sie, dass wir ...?“, lachte er den unausgesprochenen Satz zu Ende. Sinia grinste zurück. „Wer weiß?“ Sie öffnete die Tür. „Sie machen sich lächerlich. Also, Sie geben mir das wertlose Zeug, ehe mit dem Geschmiere Unfug getrieben wird!“ Gerber wollte die Tür wieder schließen, doch Sinia zwängte sich schon durch die Öffnung. „Na, na, doch keine Angst vor Lügenmärchen, die lassen sich doch schnell widerlegen! - Ach übrigens, meinen Mann lassen wir hier lieber raus, damit alles bleibt wie es ist! Aber das wird ja auch im Interesse des Unternehmens sein!,“ stellte sie zuckersüß klar. „Auf Wiedersehen, Herr Gerber!“ Sie ging auf den Flur. „Warten Sie noch Frau Martin!“ Er bemühte sich versöhnlicher zu wirken. „Sie haben noch gar nicht gesagt, wo sie waren?“ „Ach, das wissen Sie nicht?“, fragte sie schon im Gehen, ohne sich nochmals umzudrehen. „Dabei hatten Sie das doch so anschaulich meinem Mann erklärt, wie ich hörte!“ „Wie? Was? Ich?“, hoffte Gerber sie zu einer Fortsetzung des Gespräches zwingen zu können, aber Sinia tat, als habe sie nichts gehört und verschwand durch eine Glastür ins Treppenhaus. Auf den Fahrstuhl wollte sie diesmal nicht warten! Sie fühlte sich schlecht und trotzdem erleichtert, als sie mit dem Auto viel zu schnell die Bundesstraße dahinraste, so als könne sie entfliehen, vor, sie wußte selbst nicht was! Das mit dem Bluff, Informationsmaterial deponiert zu haben, schien jedenfalls seine Wirkung nicht verfehlt zu haben. Es war wirklich eine gute Idee gewesen, vergegenwärtigte sie sich immer wieder die Szenerie beruhigend. *** Mit jedem neuen Tag verblaßten ihre Erinnerungen an die abenteuerlichen Wochen etwas mehr und damit ebenso ihre Befürchtungen in irgendeiner Weise mit dem Vergangenen nochmals in Berührung zu kommen, zumal sie auch von keiner Seite deswegen belästigt wurde. Und die Freundlichkeit, ja leise Bewunderung ihrer Nachbarn half ihr zusätzlich. Denn die wußten nur zu genau, dass Chris längst überfällig gewesen war und so bezweifelte keiner, dass sie ihm wirklich nachgereist und dabei offenbar selbst in Schwierigkeiten geraten war, wie erzählt wurde, und zeigten Verständnis, wenn sie darüber keine Einzelheiten verlieren mochte. Nur Rashid ließ sich nicht aus ihrer Erinnerung löschen! Schon vier Tage später wartete Chris mit der Neuigkeit einer ansehnlichen Gehaltserhöhung als © S. Remida
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Dank für seine Einsatzbereitschaft auf, deren wahren Grund Sinia insgeheim aber eher in ihrem Gespräch mit Gerber vermutete. Die Kinder, der Haushalt und Garten ließen Sinia keine Zeit zum Grübeln und abends fiel sie todmüde ins Bett und war im Grunde froh, dass Chris immer noch eine gewisse Reserviertheit zeigte. Dafür hatte er sein Verhalten ihr gegenüber grundlegend geändert. Er war wohltuend höflich und zuvorkommend, half ihr neuerdings unaufgefordert und bemühte sich sogar, dies auch richtig zu machen, so dass Sinia manchmal schmunzelnd überlegte, ob er glaube, sich gegen einen unsichtbaren Konkurrenten beweisen zu müssen. ***** Zehn Tage waren inzwischen vergangen. Bepackt mit einer Einkaufstasche und Andy schloß Sinia eilig die Tür auf, denn das Telefon schrillte mit nervender Ausdauer. „Ja, Martin!“ meldete sie sich hastig. „Hier Meier vom Innenministerium. Guten Tag, Frau Martin!“ „Oh, Hallo! Das ist aber nett, dass Sie sich melden! Ich habe auch schon versucht, Sie anzurufen“, freute sich Sinia. „Ah? - Ja, weswegen ich mich melde. Ich möchte Sie sprechen. Geht es noch heute?“ „Nach Bonn? Oh, mein Mann hat das Auto“, erklärte Sinia. „Nein, ich bin in Bad König. Ich würde sie gleich abholen lassen, ja?“ „Na schön, aber ich muß meinen kleinen Sohn mitnehmen und bis zwölf Uhr wieder Zuhause sein, geht das?“ „Muß wohl, also bis gleich!“ Es war kurz vor neun. Sinia hatte auf einmal ein flaues Gefühl. Warum gab sich Volker Meier so kurz angebunden, grübelte sie, doch schon zerrte Andi an ihrer Jeans. „Ich weiß, neue Windeln! Hopp, Hopp ins Bad, junger Mann!“ Zehn Minuten später klingelte es. Eine junge Frau mit kurzen brauen Haaren und Schlabberkleid hatte Auftrag, sie abzuholen. Sinia packte schnell Windeln und frische Anziehsachen für Andy in einen Korb und schon fuhren sie in einem unauffälligen Audi davon. Ein im Wald gelegenes Hotel diente als Treffpunkt. Volker Meier erwartete sie allein in einem Konferenzraum im Obergeschoß. Zuerst stellte Andy mit lautem Geheule klar, dass er nicht vorhatte mit der unbekannten Frau zu gehen, um dann mit begeisterter Zufriedenheit den fremden Raum neugierig zu erkunden. Eine Front von Unterschränkten lockten besonders. „Ich gratuliere Ihnen, auch dass Sie es wieder zurück geschafft haben!“, begann Volker Meier sachlich nach einer schlichten Begrüßung. Sinia nickte kühl. „Ich wollte mich immer bei Ihnen bedanken. Sie werden es nicht wissen, aber sie waren mir einer der wenigen treuen Freunde, denen ich ehrlich vertrauen konnte und die geglückte Rettung mit verdanke!“ „Nein! Bitte!“, wiegelte er ab. „Es war nie meine Absicht, Sie zu diesem gefährlichen Alleingang zu bewegen. Sie haben keine Ahnung! -- Immerhin hätten Sie mir sagen müssen, was Sie da vorhatten. Gab ganz schönen Wirbel, als das Gerücht herumging, jemand habe trotz striktester Informationssperre ausgerechnet die Iraker eingeschaltet, und das entgegen einer quasi weltweiten Ächtung - Sie wissen, die UN-Sanktionen.“ Und mit durchdringendem Blick fügte er an: „Ein falsches Wort und Sie hätten mich und meine Informationsquellen ganz schön in Schwierigkeiten bringen können mit den Internas, die ich Ihnen anvertraut hatte! Ganz abgesehen von sich selbst, Frau Martin!“ Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, dass Sie sich grundlos sorgten, dabei standen Geheimnisverrat und Vertrauensbruch nie zur Disposition. Schade dass Sie mich so schlecht kennen! Ihre Ehrlichkeit - nicht nur dass mein Mann noch lebte, sondern auch zu wissen, was getan oder nicht getan wurde - gab mir immer wieder Kraft und Mut weiterzumachen. Ohne Sie würde mein Mann möglicherweise nicht mehr leben, ist das Ihnen eigentlich bewußt?“ „Sie übertreiben!“, wiegelte er ab, obwohl er Sinia Recht geben mußte. „Nun, es ist passiert. Die Politik wird sich - wie immer - schon den leicht geänderten Spielregeln anpassen. Das soll nicht unser © S. Remida
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Problem sein. Und deshalb habe ich Sie auch nicht hierher gebeten. Wir, das heißt, Sie haben eventuell ein ganz anderes Problem und diesmal weiß ich nicht, wie ich Ihnen helfen könnte!“ Volker Meier stand am Fenster und sah nun hinaus. Ihm war elend zumute. Wie sollte er es ihr nur sagen? „Ja, und was ist es?“, fragte Sinia unsicher nach und beobachtete dabei ihren Sohn, wie er von wachsender Neugierde geplagt, zunehmend aggressiver an einer der geschlossenen Unterschranktürchen herumriß. „Es gibt Informationen, danach scheint Ihr Gastgeber, wenn ich nicht irre -“, er hielt inne und schüttelte den Kopf, „einen Killer hierher geschickt zu haben. Was glauben Sie, könnte sein Auftrag sein? Könnte er es auf sie abgesehen haben? Könnte dies möglich sein?“ In diesem Augenblick gab das Türchen nach und Andy fiel verdutzt zurück auf seinen windelgepolsterten Po. Sinia hatte nur darauf gewartet. Laut lachte sie auf und ging zu dem Kleinen, um die Schranktür wieder zu schließen, ehe er sich des Inhaltes bemächtigen konnte. Volker sah sie verdutzt an. „Haben Sie nicht verstanden?“ „Prima, jetzt versuch die nächste Tür!“, ermunterte Sinia Andy zum Weitermachen, während sie sich mit einem flinken Drehen am Schlüssel versicherte, dass die Tür allen Öffnungsversuchen widerstehen würde. So war der Kleine wenigstens beschäftigt. Sie stand auf und sah Volker Meier an und mußte wieder lachen. „Entschuldigung, aber.... - Ich habe Sie schon verstanden, aber denen fällt auch nichts mehr Neues ein.....“ Sinia versuchte ernst zu werden, aber bei seinem verwirrter Gesichtsausdruck gelang ihr es nicht. Doch wie sollte sie ihm erklären, dass sie in letzter Zeit schon viel zu oft an den Klippen des Todes gestanden hatte, als dass diese Neuigkeit sie nun hätte besonders erschüttern können. „Kann das nicht sein oder glauben Sie es nicht?“, wiederholte Volker unsicher. „Ach möglich ist alles! Langsam brauche ich wohl sieben Leben, wie eine Katze! Ich kümmere mich darum. Danke, dass sie es mir sagten!“ Sie holte tief Luft. „Aber auch hier muß es jemanden geben, der meine Rückkehr zu gerne verhindert hätte.“ Sie beobachtete ihn genau, während sie die Mitteilung von Interpol an Safar sinngemäß wiedergab. „Mit dieser falschen Identifizierung und der unglaublichen Behauptung wollte man mich auf immer loswerden.“ Volkers Augen zuckten leicht. „Das ist doch nicht ---,“ er überlegte, „doch, das ist möglich!“, kam er kopfschüttelnd zum Schluß. „Wer?“ wollte Sinia wissen. Volker wehrte ab. „Nein, vergessen Sie’s! Ich weiß es nicht und ich werde auch meine Finger davon lassen! Aber wer auch dahintersteckt, Sie kämen an ihn doch nicht heran. — Nein, nein, Sie würden auf der Strecke bleiben. Sie haben keine Chance, Sie haben ja nicht einmal etwas in der Hand!“ „Wer?“ bohrte sie nach. „Selbst wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen nicht sagen. Zu Ihrer Sicherheit! -- Vielleicht ist es Ihnen ein Trost, aber ich habe immer wieder festgestellt, in irgendeiner Form wird jeder für sein Tun zur Rechenschaft gezogen. Auch diese Menschen treffen irgendwann ihren Meister, wer oder was es auch immer sei. Glauben Sie mir, überlassen sie es ihm. — Tut mir leid, aber versuchen Sie zu verstehen, ja?“ Er betrachtete sie ernst. „Sie sind wieder hier, nur das ist wichtig. Es ist vorbei. Das ist vorbei!“, sinnierte er. „Bleibt nur noch das andere... Warum eigentlich? Das paßt doch nicht recht zusammen! Man hat Sie doch gehen lassen!“ Sinia wusste das besser! Und sie hatte auch die Unberechenbarkeit ihrer Gastgeber kennen gelernt. Aber war Rashid so etwas zuzutrauen? Wie gut kannte sie ihn tatsächlich? Wohl hatte er sie anfangs in ein Verließ werfen lassen und ihr eine inszenierte Verhandlung zugemutet, aber nie mit der Absicht ihr ernstlich schaden zu wollen, wie er ihr glaubhaft versichert hatte. Und in der Tat hatte sie es auch nur als eine Demonstration seiner Macht verstanden. Schließlich hatte er ihr das Leben gerettet, sie in sein Haus aufgenommen und trotz ihres eisernen Schweigens, von Anfang an wie eine gute Freundin behandelt. Oft genug hatte sie ihn provoziert und er ungehalten reagiert, doch genauso rasch war sein Ärger verflogen und er hatte die Freiheiten, die sie sich herausnahm, geduldet. Und dann war da noch der Ausflug zu diesem paradiesischen Ort und zu seinem Haus auf dem Land gewesen. Sie waren einander so vertraut, dabei wusste er immer, dass sie nicht bleiben konnte.... © S. Remida
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Doch jetzt , so weit weg von ihm, wagte sie ihrem Gefühl nicht mehr zu vertrauen, objektiv blieb er ein undurchschaubarer Typ! „Ich weiß nicht, es könnte passen,“ stellte sie nachdenklich fest. „Aber woher haben Sie das eigentlich?“, erkundigte sie sich. Die Frage zauberte ein verschmitztes Lächeln auf Volkers Gesicht. „So was erfährt man über Nachrichten- oder Geheimdienste und wenn man, wie ich, Augen und Ohren offen hält. Da es nur ganz vage hieß, dass ein des Auftragsmordes Verdächtigter aus dem Irak eingeschleust wurde und sich im Heidelberger Raum aufhalten soll, habe ich sofort an Sie denken müssen. Ich wäre aber Gott froh, wenn ich mich irre! Es muss ja auch gar nichts bedeuten!“ Sinia zuckte die Schultern. „Wir werden sehen!“ „Sagen Sie mir, was ich für sie tun kann?“ Sinia schüttelte langsam den Kopf. Sie wusste es ja selber nicht! Sie dachte an den verunglückten Exiliraker und an Alis Befürchtungen. „Vielleicht ließe sich ja vorab auf diplomatischem Weg...“, überlegte er. „Nein, vorerst nicht, solange wir nicht sicher sind!“, unterbrach sie ihn und dies wollte sie erst herausfinden! Zuhause wurde ihr richtig bewußt, was Volker Meiers Information eigentlich bedeutete. Womöglich war nicht nur sie, sondern auch ihre Familie in Gefahr! Sie mußte sich was einfallen lassen..... Am nächsten Morgen meldete sich Ali überraschend per Telefon, um sie eilig zu warnen, dass dieser Safar vor drei Tagen einen Killer hinter ihr her geschickt habe. Er habe es über den Teppichhändler von El Basan, dem dies zugetragen worden sei, erfahren. Dass Sinia bereits darüber informiert war, erstaunte ihn allerdings sehr. Er konnte sich nicht erklären, woher die denn so schnell ebenfalls davon wußten. Und auch Sinia erschien die Sache je länger sie darüber nachdachte unheimlich. ******** Schon zwei Tage später war Sinia sich sicher, Volker Meier und Ali hatten Recht! Inzwischen war ihr öfters ein grauer, neuer BMW aufgefallen, dessen Fahrer, ein hellhäutiger aber tief schwarzhaariger Mann, sie sehr an den Nahen Osten erinnerte. Es war Zeit, es herauszufinden! Sinia hatte ihre Kinder wegen ‘dringender Einkäufe’ zur ihrer Mutter gebracht. Nun fuhr sie Richtung Stadt. Bald tauchte hinter ihr der BMW auf. Sie bog auf die Autobahn und fuhr betont langsam. Für jeden BMW-Fahrer unzumutbar, blieb dieser Wagen in gehörigen Abstand hinter ihr. Sie gab Gas. Nein, ihr Verfolger ließ sich nicht abhängen. Er bog hinter ihr auf die Rastanlage und nachdem sie getankt hatte, wieder mit ihr auf die Autobahn. Sinia nahm die nächste Ausfahrt. Die Mannheimer Innenstadt mit ihren Ampeln und schwierigen Parkmöglichkeiten hielt sie für ihren Plan geeignet. Auf der Suche nach einem Parkplatz fuhr sie durch mehrere Straßen. Schließlich wurde sie in einer breiten Einkaufsstraße fündig und stellte ihr Auto in einer Parkbucht ab und stieg aus. Aus einer wenige Schritte entfernten Geschäftspassage beobachtete sie die Straße. Da! Langsam kam das Verfolgerauto angerollt und fuhr zügig vorbei. Wenig später kam es auf der anderen Straßenseite zurück und peilte eine gerade freiwerdende Parklücke an. So viel Glück hatte ich noch nie, stellte Sinia mißmutig fest. Von detektivischer Entdeckerlust getrieben, wollte sie jetzt gleich die Wahrheit herausfinden! Verdeckt von einem Pulk Fußgänger ging sie bis zur nächsten Kreuzung, um auf der anderen Seite genauso unauffällig zwischen den Passanten zurückzugehen. Der Fahrer des BMW bemerkte Sinia erst als sie die Beifahrertür öffnete. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie auf mich warten?“, fragte sie, während sie sich demonstrativ auf den Sitz fallen ließ. Die Autotür hielt sie mit ausgestrecktem Bein weit offen. Der Mann starrte sie entgeistert an und sagte etwas das Sinia nicht verstand. Sie zog einen Mundwinkel hoch. „Dann wohl nicht! Sollten Sie aber noch einmal in meiner Nähe auftauchen, werde ich Sie von der Polizei überprüfen lassen, klar?“, sagte sie frech. Wenn sie sich geirrt hatte und er sie vorhin nicht verstan© S. Remida
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den hatte, begriff er das genauso wenig. Sie war schon fast ausgestiegen, als der Fremde blitzschnell ihr Handgelenk ergriff und sie auf den Sitz zurückzog. Mit breitem Grinsen wiederholte er abfällig gedehnt das Wort ‘P-o-l-i-z-e-i’. Erschrocken über die schnelle Reaktion des Mannes und fürchterlich wütend über ihren Leichtsinn rief sie scharf: „Flossen weg! Halten Sie sich fest an was Sie wollen, aber nicht an mir!“ Gleichzeitig versuchte sie sich loszureißen, stets darauf bedacht, dass die schwere Autotür nicht zufiel. „Langsam, langsam! Was willst du von mir?“ fragte er schmierig mit leichtem Akzent, ohne sie loszulassen. „Nichts! Und Sie?“ Er grinste diabolisch. „Aber du nimmst mir Arbeit ab!“ Mit einem Ruck zog er Sinia näher an sich. Vor Schreck trat Sinia gegen die Tür, dass diese durch den Schwung beinahe zugefallen wäre. Schnell streckte sie den Fuß aus und hielt sie so noch ein Stück offen. Mit der linken Hand hatte der Fremde bereits den Anlasser betätigt und schon setzte sich der Wagen in Bewegung. Sinia drehte den Zündschlüssel zurück, doch ehe sie ihn herausziehen konnte, hatte er ihre Hand umklammert. „Tzs, tzs, tzs,“ schnalzte er und sah sie überlegen an. Sinia riß sich zusammen. Ich muß ihn irgendwie aufhalten, dachte sie hastig. Sie zauberte ein verschmitztes Lächeln auf ihr Gesicht. „Schätze, da gibt es ein kleines Problem!“ „So?“ grinste er zurück. „Wie wollen Sie so fahren?“ Dabei sah sie auf seine beiden Hände, mit denen er ihre festhielt. Als Antwort packte er mit seiner rechten Hand auch noch nach ihrem rechten Handgelenk und hielt nun ihre beiden Hände mit eisernem Griff fest. Immer noch lächelnd schüttelte Sinia langsam ihren Kopf. Seinen fragenden Blick beantwortete sie mit: „Die Tür!“ „Mach einfach den Fuß rein!“ Dabei startete er erneut den Motor. Sie schüttelte wieder den Kopf. Der Mann grinste genervt. „Ich habe aber keine Fahrt mit Ihnen gebucht!“, säuselte Sinia. Fahrt? - Reise! Na klar, das war’s, schoss ihr eine Idee durch den Kopf. Sie mußte nur klappen! Hoffentlich! Der Mann drehte am Steuer und wartete auf eine Lücke, sich in den fließenden Verkehr einzuordnen. „Nur noch eine Kleinigkeit!“, versuchte Sinia den Fremden aufzuhalten. „Was denn noch?“ Er setzte zum Herausfahren an. „Wollen Sie mal wissen, wie laut ich schreien kann?“ Mit voller Kraft trat sie die Tür auf. Abrupt stoppte das Auto. „Jetzt ist aber Schluss!“, befahl er zornig. „Das meine ich auch!“, setzte sie im gleichen Ton hinzu. „Sie können ebenso h i e r mir sagen, was Sie wollen, oder auch -- mich abmurksen!“ Mit breiten Grienen sagte er: „Ich habe es mir eigentlich etwas diskreter vorgestellt!“ „Und ich denke, ich habe erst mal ein Recht darauf zu erfahren, wer Sie sind und wer Sie warum und mit welchem Auftrag auf mich angesetzt hat!“ „Und ich denke, das zweite weißt du sehr genau!“ „Da liegt das Problem! Es gibt einfach zu viele Möglichkeiten!“, sagte sie schnippisch. „Sie können mich übrigens ruhig loslassen. Ich bleibe noch etwas. Schließlich bin ich neugierig!“, erklärte sie in versöhnlichem Ton. Wie ein Adler seine Beute visierte der Fremde sie an, während er im Zeitlupentempo seine Hand löste und dann den Motor ausmachte. Sinia registrierte diesen ersten kleinen Erfolg mit großer Erleichterung und sah eine Chance die gefährliche Situation entschärfen zu können, indem sie sich möglichst freundlich gab. „Ihre Auftraggeber, kommen die vielleicht aus dem Land von Euphrat undTigris?“ Der Mann grinste. „Wenn du so willst?“ „Sind die etwa sauer?“ „Was glaubst du?“ Entspannt lehnte er sich gegen die Tür und betrachtete sie belustigt. „Und was denen bisher nicht gelungen ist, dafür schicken die jetzt Sie?“ Sie machte eine Pause und sah ihn spöttisch an - „einen Vollstrecker?“ © S. Remida
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Er entgegnete ihren Blick mit einem schiefen Lächeln ohne etwas zu sagen. „Vorschlag! Geben Sie denen doch eine letzte Chance es noch mal selber zu probieren! Und wenn die wieder solche Probleme dabei haben, dann sollen sie’s einfach vergessen und mich für alle Zeit in Ruhe lassen - mich und meine Familie! Das müßten die doch blicken, oder?“ „Ich muß schon sagen, du hast Humor!“, grinste er. „Und wie stellst du dir das vor?“ „Ganz einfach, ich komme zurück! Ein letztes Mal! - Das heißt in ein Land deren Wahl, ausgenommen Irak! Aber das dürfte für die kein Problem sein! - - Der Spaß würde die nur das Flugticket kosten, zuzüglich einem Extra, Sie wissen schon, was man halt für so eine Reise braucht! Das müßte denen die Sache aber sicherlich Wert sein! Sie sind ja wahrscheinlich auch nicht gerade billig -- eh, ich meine preiswert! Mh?“ Er musterte sie aufmerksam, aber Sinia hielt seinem Blick gelassen stand. „Was soll das? Ist das dein Ernst?“, erkundigte er sich ungläubig. „Mein Todernst, wenn Sie so wollen! Klären sie es ab? Schlagen Sie was vor, wie Sie mit mir wieder in Verbindung treten wollen!“, ging Sinia in die Offensive. „Na schön! Das kommt nicht ungelegen!“, lachte er leise vor sich hin. „Ich werde dich schon irgendwie treffen!“ Es klang wie ein Pfeil, aber Sinia ging nicht darauf ein. Ihr lag etwas anderes am Herzen. „Meine Familie lassen Sie aber da raus!“ „Ist das eine Drohung?“ „Noch nur eine Bitte!“ Er grinste breit. „Man hat mir bis jetzt nur einen Namen gegeben - deinen!“ „Tja, dann war’s das für’ s erste!“, kam Sinia zum Ende. „Ach, übrigens schöne Grüße an Rashid und es ist mir unbegreiflich, wie ein so intelligenter und vielbeschäftigter Mann seine Zeit nicht besser nutzen kann als sie damit zu vergeuden einer Fatamorgana nachzujagen!“ Sie stieg aus. „Vielleicht ist es ja keine! Und keine Tricks!“ „Tricks?“ Sinia beugte sich, mit einem Arm auf die Tür gestützt , noch einmal in den Fahrgastraum hinab und verabschiedete sich, forsch geworden vor Erleichterung über die positive Wendung, mit einem eiskalten Lächeln. „Also dann! Möge Sie möglichst bald der Blitz treffen oder der Teufel holen!“ Respektlos knallte sie die Autotür zu und ging ohne sich noch einmal umzudrehen davon. Ziellos eilte sie die Straße entlang. Ihre Gedanken wirbelten und am ganzen Körper spürte sie ihre Adern nervös pulsierten. Ihr war nicht nach einem Geschäftsbummel und so ging sie zu ihrem Auto zurück und fuhr zu einem außerhalb gelegenen Einkaufsmarkt. Dort setzte sie sich in das dazugehörige Restaurant. Die notwendigen Besorgungen wollte sie später machen. Bei einem Glas heißem Tee versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. Hatte dieser Typ sie wirklich umbringen wollen? Würde Rashid auf ihr Angebot eingehen? Was wird er vorhaben und was konnte sie machen? ****** Der nächste Nachmittag lockte mit heißem Sonnenschein. Weil die Kinder keine Ruhe gaben, beschloß Sinia mit ihnen zu einem nahen Baggersee zu fahren. Mit Nadin hinten und Andy vorn auf ihrem Fahrrad, gefolgt von Anja mit ihrem Kinderrad, radelten sie zum See, an dem schon Hochbetrieb herrschte. Die Kinder rannten begeistert im seichten Wasser hin und her und spielten hingebungsvoll mit anderen in einem morastigen Tümpel, während Sinia belanglos mit ein paar Müttern plauderte. Später radelten sie noch zu einem Spielplatz, den die Kinder ebenso ausgelassen erstürmten. Sinia atmete tief die nach Sommer duftende Luft ein und genoß das entspannte Gefühl, das ihr ein lautes „Herrlich!“ entlockte, während sie die beiden Fahrräder ordentlich abstellte und - erstarrte vor Schreck! Der graue BMW tauchte auf dem nur mit wenigen Fahrzeugen belegten Parkplatz auf und hielt neben ihr an. Sie erkannte den Fahrer sofort wieder, der ausstieg und geradewegs auf sie zukam. Wilde Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Würde er ein Messer oder eine Pistole ziehen? Wo waren die Kinder? Dabei war es für jede Reaktion viel zu spät! Er stand schon vor ihr. „Ich hab was für dich!“, sagte der Mann und griff in seine Jackettinnenseite. Sinia starrte gebannt auf seine Hand. Es erschien ein Couvert und sie atmete erleichtert durch. „In genau einer Woche auf syrischer Seite. Du kennst dich ja da aus!“ Damit reichte er ihr den Um© S. Remida
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schlag. Stimmt doch gar nicht, dachte sie, aber stieß nur ein „Schon?“ hervor. „Das geht nicht!“ „Natürlich!“, widersprach er überlegen. „Du wolltest es doch so! Laß dir die Zeit bis dahin nicht zu lange werden!“, fügte er zynisch hinzu und ging zum Auto zurück. Verdattert sah Sinia ihm nach, wie er in einem großen Bogen wendete und wieder an ihr vorbeikam. Er hielt noch mal an. „Vergiß nicht, in einer Woche, sonst sehen wir uns wieder!“ Mit seinem Zeigefinger zeigte er auf sie als sei es ein Pistolenlauf, dann fuhr er davon. Hinter ihr kamen die Kinder angerannt. „Wer war das?“ „Was hast du da?“, fragten sie durcheinander. Abwesend antwortete sie: „Hat nur nach ‘ner Straße gefragt. Das ist bloß Post!“ Dann drehte sie sich zu den dreien um. „Was tut ihr hier eigentlich? Wollt ihr schon heim?“ Wie erwartet rasten alle drei mit ohrenbetäubendem Geschrei wieder zurück zu den bunten Spielgeräten. Sinia ging ihnen nach und überlegte, ob er wohl ein richtiger Killer war, dann schaute sie in den Umschlag. Sie erblickte ein Flugticket, einen vergrößerten Ausschnitt einer Landkarte mit einem markierten Weg und acht Tausendmarkscheine. Sie erschrak. Nun gab es kein Zurück mehr! Und sie würde es Chris sagen müssen, aber wann und wieviel sollte sie verraten? ****** Schon früh hatte Sinia die Mädchen in den Kindergarten gebracht und betrat nun zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr wieder die Kampfsportschule von Dan Thomson. Andy trug sie auf dem Arm. Der Aufenthaltsraum war leer. „Hallo, ist hier keiner?“, rief sie. Sie hörte Stimmengemurmel, das es nicht eilig zu haben schien, herzukommen. Immer noch der gleiche Scheißladen, dachte Sinia verärgert. Endlich tauchte Dan höchstpersönlich auf. „Das gibt’s doch nicht! Sie ist es tatsächlich, unsere Kampfmaus! Du willst jetzt in den Kurs für Fortgeschrittene? Ah, ich hab’ gehört, die Bronks soll in Schutt und Asche liegen, das warst du?“, flachste er in seiner penetrant übertriebenen Art. „Sicherlich! Wenn ich dort gewesen wäre!“ Sie ging an ihm achtlos vorbei und sah in den Gang, der auch zu den einzelnen Trainingsräumen führte. „Ist Peter Schmieder da?“ Er kam hinter ihr her und strich über Andys kleine Hand. „Hi, Kleiner! Wie heißt du denn?“ Und an Sinia gewandt, fragte er: „Deine Jugend?“ „Das ist Andy,“ sagte sie kurz. „Und, ist er?“ „Nein, der ist zur Zeit in Urlaub!“ lenkte Thomson ein, der wohl gemerkt hatte, dass er den falschen Begrüßungston angeschlagen hatte. „Aber sag mal, wo warst du jetzt die ganze Zeit. Du bist schon vermißt worden!“ „Schade! Und Julius äh, weiß nicht, wie noch oder dieser Dietmar Dingsda“, grübelte Sinia über die Nachnamen. „Julius Schlagenauer, Dietmar Denzlinger“, half Dan weiter, „die haben glaub ich Dienst! Willst du zur Polizei? Eintreten oder hast du Probleme?“, forschte er weiter. Nein, sie dachte nicht daran, diesem unveränderlichen Lackaffen auch nur eine seiner neugierigen Fragen zu beantworten. „Naja, kann man nichts machen. Vielen Dank für Ihre - oh, deine Hilfe. Ich will dich nicht länger stören!“ Sinia wandte sich zum Gehen. „So eilig? Wenn du noch etwas Zeit hast, Jürgen Ascher ist gleich mit dem Training fertig. Der gehört ja auch zu den Gesetzeshütern, du kennst ihn.“ Sinia verzog ihr Gesicht zu einem kurzen Lächeln. „Na schön, auf fünf Minuten kommt es mir nicht an!“ Sie setzte sich an einen Tisch. „Ich hol ihn!“ Dan klopfte auf die Tischplatte und ging sichtlich gekränkt fort. Sie war auf keinen seiner Gesprächsversuche eingegangen. Jürgen Ascher, groß, blond, war ein junger, ehrgeiziger Polizeibeamter und wirkte immer sehr korrekt. Sinia überlegte, ob er der Richtige für ihr Problem war und wie sie es ihm am besten erklären konnte. Wenig später saß Ascher frisch geduscht, aber noch abgekämpft neben ihr und erkundigte sich nach ein paar belanglosen Freundlichkeiten nach ihrem Anliegen. Sinia sah ihn aufmerksam an und begann nach einer Pause. „Ich habe eine sehr ungewöhnliche Bit© S. Remida
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te, aber bekomm keinen Schock...“ Ascher nickte aufmunternd: „So schnell wirft mich nichts um!“ „Okay!“ Sie holte tief Luft. „Ich will wissen, wie Schußwaffen funktionieren und sie auch mal ausprobieren. Und das innerhalb der nächsten Tage. Leider fehlt mir mehr Zeit. Und ich weiß noch nicht, ob ich dir den Grund sage. Jedenfalls habe ich keine Straftat vor!“, zählte Sinia auf. „Ich habe auch gerade überlegt, für was du dich eignen würdest!“, grinste er und wurde ernst. „So einfach ist das nicht!“ Er merkte gleich, dass Sinia so eine Antwort von ihm erwartet hatte. Das kratzte an seiner Ehre. „Also, laß mir einen Tag Zeit. Ich schau, was sich machen läßt. Ich melde mich morgen vormittag bei dir! Deine Nummer ist? - Steht im Telefonbuch“, beantwortete er sich die Frage selber. „Bis dahin, wirst du mich doch hoffentlich durch den Computer gejagt haben“, lästerte Sinia lächelnd. „Willst du, oder willst du nicht?“, überging er ihre Anspielung. „Brauchst du noch irgendwas von mir - zur Entscheidungsfindung?“, fragte Sinia in keinem besseren Ton und fügte deshalb entschuldigend hinzu: „Es ist nur, ich habe keine Zeit. Aber ich denke, ich sollte schon Ahnung davon haben. Verstehst du? - Wahrscheinlich nicht!“ „Nein, aber vielleicht liegt das auch nur an meiner fehlenden hellseherischen Gabe!“, gab er sich die Schuld, ihr gedanklich nicht folgen zu können. Sinia verstand sehr wohl die Anspielung, aber ließ sich trotzdem nichts entlocken. „Ich warte auf deinen Anruf. - Und danke, das meine ich ehrlich!“ „Ja, sicher!“ In seinem Blick lag Enttäuschung. Mit einem erstaunlich braven Andy auf dem Arm, verließ sie die Schulungsstätte für waffenlose Selbstverteidigung. Sie war bereit für eine ganz andere Erfahrung, die Lehre vom Umgang mit Waffen, was immer sie sich auch von diesem Wissen versprach. „Ja“, hatte ihr Jürgen Ascher tags darauf am Telefon versprochen, er würde ihr eine Einführung in die Waffenkunde geben und hatte auch gleich einen Termin für den Nachmittag ausgemacht. Es war nicht einfach für Sinia sich die verabredete Zeit freizumachen, aber schließlich klappte es doch. Und ehe sie sich versah, stand sie Jürgen Ascher gegenüber, der sie in bequemen Jeans und lässigem Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln in die polizeieigenen Waffenkammer begleitete. Ohne lange Umschweife kam er gleich zum Thema. Sie erfuhr, welche Arten von Schußwaffen es gab, zu welchen Waffengattungen sie gehörten und besonders wichtig, die verschieden Lade- und Sicherungsmechanismen, die sie auch ausprobieren durfte. Nun, als besonders schwierig empfand sie diese Theorie nicht, weshalb wohl auch jeder Idiot mit einer ‘Knarre’ rumrennen konnte, resümierte sie. Aber dann begann in der Schießanlage der praktische Teil, will heißen: Schießen und vor allem, Treffen. Die ersten Versuche landeten fern ab von der Zielplatte in den wenigen unberührten Ecken der sonst schon reichlich durchsiebten Wandverkleidung. Jürgen witzelte etwas von lieber aufgeben, aber Sinia blieb hartnäckig und so stand er schließlich eng hinter ihr. Mit ausgestreckten Armen umfassten seine Hände die ihren, die krampfhaft die Pistole umklammert hielten, dabei erklärte er ihr, wie das Ziel zu suchen und zu treffen sei. Die abgefeuerten Schüsse trafen wie von selbst den Mittelkreis oder verfehlten ihn nur knapp. Sinia war die unvermeidlich enge Umarmung zwar unangenehm, aber die einzige Möglichkeit zu erfahren, auf was bei einem guten Schuß geachtet werden mußte. Dennoch gingen ihre Alleinversuche daneben oder schlugen nur in den Randbereich der entfernten Zielscheibe ein. Genervt beschloß Jürgen schließlich das Training lieber am folgenden Tag fortzusetzen. Aber auch da mußte Sinia sich bald eingestehen, dass sie kein Wunderkind war und ein zielsicherer Umgang mit der Waffe doch längeres Training abverlangen würde. Dabei blieben ihr nur noch drei Tage, das letzte Wochenende und der Montag! Sie war zutiefst deprimiert. Auch Jürgen merkte das. Eine Trainingseinheit könnte er am Montag für sie noch locker machen, tröstete er. ***** Sie hatte lange mit sich gerungen, wann der günstigste Augenblick war, ihre neuerliche Reise Chris © S. Remida
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und den Kindern mitzuteilen, aber es schien keinen günstigen Zeitpunkt zu geben. Allein die Tage waren ihr davongelaufen. Nun war Sonntag, der vorletzte Tag vor ihrer Abreise! Schon beim Frühstück kündigte sie ihrer erstaunten Familie an, nur eine Kleinigkeit zum Mittag kochen zu wollen, da sie sie abends zum Essen in das Restaurant ‘Chez Pierre’ einladen wolle. Die feudale Adresse ließ Chris die Überlegung anstellen, ob sie heimlich im Lotto gespielt und gewonnen habe. Aber Sinia ließ ihre Ankündigung geheimnisvoll im Raum stehen. Die Mädchen hatten für den Rest des Tages ganz andere Sorgen, für welches Kleid sie sich entscheiden sollten! Nach einem hervorragenden, viel zu üppigen Mahl, klopfte Sinia leicht an ihr Weinglas und begann: „Ich muß euch etwas sagen und ich möchte, dass ihr jetzt keinen Zirkus macht. Immerhin haben wir schon ganz andere Sachen hinter uns gebracht. Wir müssen nur weiter zusammenhalten.“ Wobei sie zwar leise Zweifel hatte, aber es hörte sich doch gut an. „Ich muß noch einmal fort. Nur ganz kurz! Und danach ziehen wir einen Schlußstrich unter all das, was in der letzten Zeit passiert ist!“ „Och, nein!“ „Nicht schon wieder so lange weg!“ „Kann ich wenigstens mit?“, riefen die Mädchen enttäuscht durcheinander. Und Andy plapperte begeistert „Ooch neiiin mit, och nnnein, neiiiiin, neiiiiiiin, oooch...!“ nach. Chris starrte sie ungläubig an, als hätte sie ihm gerade verkündet ihn zu verlassen. „Also, das ist der Haken an deiner Einladung, ich hatte schon geahnt, dass irgend so ein Hammer kommt!“, stieß er tonlos hervor. Sinia betrachtete ihn beunruhigt. Gefaßter erkundigte er sich: „Wann und wohin?“ „Dienstag früh, Richtung Syrien!“ „Syrien, wieso Syrien? --- Okay, ich komme jedenfalls mit!“, erklärte Chris entschlossen. „Ich auch!“ rief Anja. „Ich will auch mit!“, drängelte Nadin. Und Andy klopfte mit dem Schnuller auf den Tisch. „Auch mit, auch mit, auch mit!“ „Nein, nein!“, wiegelte Sinia ab. „Ich wollte lieber, dass du dir zwei, drei Tage Urlaub nimmst und bei den Kindern bleibst!“ Einen Moment lang starrte sie vor sich hin, dann sah sie ihren Mann offen an. „Meine erste Reise war weit gefährlicher und ich habe es auch alleine geschafft, ob du es nun wahrhaben willst oder nicht! Ihr braucht euch wirklich keine Sorgen zu machen, ganz im Gegenteil, macht euch ein, höchstens zwei schöne Tage ohne mich, dann bin ich ja schon wieder da!“ Ihre Stimme klang optimistisch leicht. „Wer ist es?“, fragte Chris mißtrauisch. „Oh, nur ein paar Leute, denen ich für ihre Unterstützung noch zu danken habe!“, schwindelte Sinia leichthin. „Das kannst du auch schriftlich, oder ruf sie an! Ich zahle die Rechnung!“, schlug Chris vor. „Das Ticket wurde bereits bezahlt sogar mit einem Handgeld, - hier für euch. Damit ihr auch was davon habt! Das ist alles übrig!“ Sinia schob einen Umschlag zu ihrem Mann und bezweifelte schon, ob das klug gewesen war. „Scheinst den Typen ja viel wert zu sein! Oder ist es doch nur einer?“, stellte er abfällig fest mit einem flüchtigen Blick in den Briefumschlag. „Es ist eher, dass man in diesen Kreisen wohl kein vernünftiges Verhältnis mehr zu Geld hat. Soweit ich weiß, trifft es schon keine Armen!“, erklärte sie salopp. Chris wollte schon auf die jämmerlichen Verhältnisse in diesem Volk anspielen, das Sinia aber gleich mit einer ärgerlichen Handbewegung abtat. „Das soll heute bestimmt nicht unser Problem sein. Nirgendwo ist alles sauber. Denk nur an deinen Laden! Aber lassen wir das. Es wird erwartet, dass ich komme! Es kostet mich nichts außer ein paar Worte ‘Freundlichkeit’ und ich habe ihren Höflichkeitssitten entsprochen. Das sollte deine glückliche Heimkehr meiner Ansicht nach wert sein.“ Sinia schien fast selber zu glauben, was sie da sagte. Chris schüttelte genervt den Kopf. „Dann möchte ich mich auch selbst bei meinen Lebensrettern bedanken! Das gebietet mir mein Anstand! Wer ist es ---- wer sind die eigentlich? --- Syrien, aber hattest du nicht was vom Irak erzählt?“ Sinia überging seine Frage nach den Personen. Sie suchte fieberhaft nach plausiblen Argumenten ihn von einer Mitreise abzubringen. Ihr Gesicht erhellte sich. „Deine Firma wird eine fremde Hilfe bei © S. Remida
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dieser Sache“ - wegen der aufmerksam lauschenden Kinder wollte sie sich nicht zu genau ausdrücken - „nie offiziell zugeben. Erinnere dich an ihre Märchenversion mich betreffend! Tja, deshalb habe ich denen auch versprochen dem Folge zu leisten, vor allem um Ruhe zu haben...“ Chris Augen wurden groß vor Erstauen. „Wem hast du...? Was geht da eigentlich ab?“ „Tut nichts zur Sache! Nur solltest du dich dem ebenfalls fügen, weil es sonst fatale Folgen - mit Sicherheit nicht nur für dich, sondern besonders auch direkt für mich haben wird. Ich habe nicht vor, mich mit denen anzulegen, wo der Sieger schon vorher feststeht! Bitte überlege doch...“ Sinia sah Chris so besorgt an, wie es ihr nur möglich war. Es schien zu wirken! Den Kindern war es langweilig geworden. Sie hatten sich an die ihren diskutierenden Eltern gegenüberliegenden Seite des Tisches zurückgezogen und spielten mit den Pappuntersetzern, die sie sich zusätzlich von anderen Tischen zusammenklaubten. „Du spricht von der CTA?“, stellte Chris mehr für sich fest. „Weißt du, was du denen unterstellst?” Sinia nickte nur langsam. “Mein Gott, wenn das stimmt! Wenn ich nur wüßte, wie ich dir...“ Chris überlegte verzweifelt. „Ich bleib nicht in der ....“ Sinia unterbrach: „Lieber anständig arbeitslos? Das Vergangene kannst du damit nicht ändern, aber mit der Zukunft könntest du es versuchen. Hast du nicht gemerkt, dass sich deine Position verbessert hat? Mach was draus! Du hast es - du hast sie - in der Hand. Das ist deine Chance!“ Sie sprach leise, beschwörend. „Aber ich will dir helfen!“, wiederholte er sich. „Glaub einfach an mich, okay? Das würde mir sehr helfen. - Wir schaffen das schon und wir brauchen niemanden! In einer Woche ist das hier alles vergessen. - Wenn wir uns nicht vertrauen, wem dann?“ Das meinte sie ernst. Sie strich ihm über seine Hand und hoffte, dass sie ihm vertrauen konnte, er nicht - wie erst geschehen - anderen mehr glauben würde als ihr. Sie hatte ihn nicht einmal betrogen! Ob er in ähnlicher Situation wohl auch widerstehen würde? Sie wollte nicht die Hand für ihn ins Feuer legen! Hatte sie nicht mit mehr Mut, als sie sich je zugetraut hätte, um ihn und für ihn gekämpft, sein Leben für wichtiger erachtet als das ihre. Nach all dem hatte er jetzt kein Recht, ihr Vorhaben zu kritisieren, sie in die Enge zu treiben oder gar davon abzuhalten. Es war ihre Idee und ihre Entscheidung sich der neuen unerwarteten Entwicklung s o zu stellen. Für einen Augenblick kam ihr der erleichterte Anruf von Volker Meier in den Sinn, dass der vermeintliche Killer, der für ein paar Tage in Deutschland abgetaucht war, offenbar unverrichteter Dinge wieder in seine Heimat zurückgereist war. Auch Ali hatte nach Erhalt dieser Information aus seiner Quelle sich gemeldet, aber ahnungsvoll vorsichtig gefragt, ob sie wisse, was das bedeuten konnte. Natürlich, wußte sie es. Und eine halbe Stunde später war auch Abdul el Basan darüber unterrichtet, der sich zutiefst besorgt gleich bei ihr telefonisch gemeldet und ihr seine Hilfe angeboten hatte. Wenngleich ihm die Reaktion eines noch so gekränkten Safar, ihr gleich einen Killer hinterherzuhetzen, trotzdem immer noch völlig abwegig erschien. Aber wer wußte schon, was sich im fernen Bagdad zusammengebraut hatte und die Fakten sprachen für sich. Nachdem Sinia sein Angebot, sie zu diesem Treffen begleiten zu wollen, kategorisch abgelehnt hatte, wollte er es sich doch nicht nehmen lassen, sich wenigstens um alles andere zu kümmern. Vom Bereitstellen eines Fahrzeuges, über die beste Fahrroute zum Treffpunkt bis zum unbehelligten Verlassen des Landes, gab es nichts wofür er nicht mit Umsicht sorgen würde. Sinia kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sämtliche Vorbereitungen bei ihm in guten Händen lagen und dazu äußerst diskret! Geistesabwesend hatte sie ihren Töchtern zugeschaut, wie sie mit größter Vorsicht ein Kartenhaus von 5 Etagen aufbauten und Andy, in seinem vom Tisch zurückgezogenen Hochstuhl sich anstrengte, das wacklige Gebilde zu erreichen. Als Chris sie mit einem Stupser in die Gegenwart zurückholte. „Ich sagte gerade, dass wir dich zum Flughafen bringen. Du hast ja gar nicht zugehört!“ „Entschuldigung. Ja, natürlich, das ist eine liebe Idee“, antwortete Sinia schnell. „Was ist? An was denkst du?“, erkundigte sich Chris besorgt. © S. Remida
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Sinia lächelte ihn arglos an. „Es ist alles okay! Wirklich!“, und drückte dabei zuversichtlich beide Augen zu. Am nächsten Morgen fuhr zur verabredeten Zeit Jürgen Ascher vor. Sinia hatte ihre Mädchen zeitig in den Kindergarten gebracht und stieg nun eilig beladen mit Andy und einer Tasche in den Privatwagen ein, in dem auch Aschers Freundin saß. „Hallo, ihr zwei! Das ist also der junge Mann, mit dem ich eine Weile verbringen darf! Guten Tag, ich bin Sabine und du bist Andy, ja?“, gab das junge und überaus sympathische Mädchen dem Kleinen die Hand. Dabei schüttelte sie ihre langen braunglänzenden Haare, die in lauter kleinen Löckchen über ihre Schultern wallten. Andy strahlte. „Hallo, ich bin Sinia. Schön, dass Sie Zeit haben. Wie ich sehe, gefallen Sie meinem Sohn!“ „Na klar, ich gefalle allen Männern, stimmt’s nicht?“, flachste Sabine mit einem Blick zu ihrem Freund und wandte sich wieder an Sinia. „ Sie können ruhig ‘Du’ zu mir sagen!“ „Zu mir auch!“ Sinia war von Sabine sofort genauso begeistert wie Andy. „Also dann wollen wir noch einmal!“, bemerkte Jürgen, nachdem sie Sabine mit Andy an einem tollen Spielplatz abgesetzt hatten und er Minuten später die Zufahrt zur Schießanlage einbog. Sinia versuchte sich erneut im Zielschießen, doch das Ergebnis war nur wenig besser als beim letzten Mal, daran konnten auch die korrigierenden Anweisungen ihres Lehrers nichts ändern. „Du willst noch einmal in den Nahen Osten? - - Schon morgen, stimmt’s? Verrätst du mir warum?“, fragte plötzlich Jürgen. Vor Schreck drückte Sinia ab und starrte ihn an. „Woher weißt du?“ „Das gibt’s doch nicht!“, staunte er. Auf Knopfdruck sauste die Zielscheibe an dem dünnen Band auf ihn zu. „Genau ins Schwarze!“ Und fügte gleich abwertend hinzu: „Wohl nur ein Zufallstreffer!“ „Woher weißt du?“, hakte Sinia nach . „Du bist doch beim ersten Mal ohne Schußwaffe ausgekommen, verzichte auch diesmal darauf“, sprach er weiter. „Woher?“, wiederholte Sinia. „Man hat bei der Polizei so seine Informationsquellen. - - Da gibt es zum Beispiel Passagierlisten, fallen Nachrichten und bestimmte Entwicklungen in einen zeitlichen Rahmen und dann gibt’s da noch die Kombinationsgabe. Ich muß zwar zugeben, dass ich über dein Verbleiben in Syrien, oder Irak nichts herausfinden konnte, aber das sieht nicht nach Spaß aus!“ Dabei griff Jürgen nach ihren beiden Handgelenken und drehte die Innenseiten mit den beide Narben, die jeweils als dünner Strich sichtbar geblieben waren, nach oben. „Das hattest du vorher nicht und so was fügt man sich in der Regel selbst zu, stimmt’s?“ Sinia hatte stets darauf geachtet, dass diese Narben unter langen Ärmeln oder durch geschickte Haltung der Hände unauffällig blieben. Dass Ascher auch darauf statt nur auf ihre Schießkünste geachtet hatte, erschreckte sie zutiefst. „Ich vermute deine neuerliche Reise ist nicht das, was man einen Freundschaftsbesuch nennt, sonst hätte dich das hier nicht interessiert!“, stellte Jürgen weiter fest und ließ ihre Hände wieder los. „Willst du mir wirklich nichts sagen?“ Er schaute sie durchdringend an, aber Sinia schwieg stur. „Na dann, viel Glück, Karate-Lady, und laß die Bleischleudern lieber hier, das wäre doch nur Umweltverschmutzung und davon haben die ja schon genug!“ Sinia sicherte die Pistole, gab sie Jürgen und ging hinaus. Jürgen löschte das Licht und schloß ab. Draußen öffnete er ihr die Beifahrertür. „Das war’s! Steig ein!“ Schweigend fuhren sie zum Spielplatz zurück. „Ich hol’ die beiden!“ sagte er sauer. „Was hast du davon, wenn ich dir alles erzähle, außer dass deine Neugierde befriedigt wäre?“, platzte Sinia heraus. „Ich muß da alleine durch. Man droht mir, weil die einen die Wahrheit fürchten, die anderen sich wohl beleidigt fühlen. Und wer mir geholfen hat ist besorgt entdeckt zu werden! Auch Lust auf so `nen Kick?“ „Lady, ich bin bei der Polizei!“ © S. Remida
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„Sag nicht Lady zu mir!“, schrie Sinia fuchsteufelswild. Es erinnerte sie an Safar und machte sie unglaublich wütend, weil er ihr diesen Ärger eingebrockt hatte. Doch gleich mahnte sie sich, jetzt nicht hysterisch zu werden und flüsterte ein tonloses „Entschuldigung!“ „Manchmal hilft es, sich es von der Seele reden zu können. Ich wäre...“ Andy und Sabine kamen angerannt. Sinia stieg aus und fing ihren Sohn auf. „Hallo mein Schatz, war es schön?“ Jürgen griff den Gesprächsfaden nicht mehr auf. Mit der knappen Bemerkung, er müsse noch kurz bei Dan vorbeifahren, lenkte er den Wagen zur Kampfsportschule. Sinia wartete mit Andy und Sabine am Auto. Sabine erzählte von Andys Spielplatzabenteuern um die offensichtlich bedrückende Atmosphäre aufzulockern. Dans Frau kam mit einer Einkaufstasche vorbei. Erfreut kam sie auf Sinia zu. „Hallo ihr drei! Ich freu mich so, dich, euch wiederzusehen!“ Dabei sah sie Sinia an. Die Frauen wechselten ein paar belanglose Worte als Jürgen zurückkam. „Hallo Jürgen! Ihr wollt wieder weiter? Das war aber ein kurzer Besuch!“ stellte die Thailänderin fest und reichte Sabine und Andy die Hand, dann umfaßte sie mit beiden Händen Sinias Hand und drückte sie fest. „Ich wünsche dir alles Gute!“ Als ahnte sie, was auf Sinia zukommen würd. Mit einem angedeuteten Wangenkuss ließ sie Sinia wieder los. „Du wirst dein Glück finden“, fügte sie aufmunternd wie ein ‚auf Wiedersehen‘ hinzu. Man sagte von ihr, sie habe manchmal Ahnungen. Irritiert stieg Sinia in den Wagen. Beunruhigt schaute Dans Frau dem Auto nach. Sinia wiederholte im Geist die letzten Worte der Asiatin und brütete darüber, ob dies nur ein thailändischer Abschiedsgruß war, oder als ein günstiger Fingerzeig für ihr Schicksal gemeint sein könnte. Aber sie suchte doch kein Glück, so wie sie diese Wortwendung verstand. Ihr Glück war ihre Familie! Sie wollte nur noch einmal Glück haben! Warum hatte sie ihr kein Glück gewünscht oder gesagt, sie würde es haben? Sinia versuchte ihre im Kreis drehenden Gedanken abzuschütteln. Diese Ausländer mit ihrem Deutsch dachte sie verärgert und grübelte schon wieder über diese klare aber für sie so unverständliche Feststellung der geheimnisvollen exotischen Frau. Für Jürgen Ascher bot sich keine Gelegenheit mehr sich seine Fragen beantworten zu lassen. Verärgerung und Besorgnis lagen in seiner Stimme, als er sie mit ihrem Sohn vor ihrer Haustür absetzte. „Wenn ich was für dich tun kann, ich bin jederzeit erreichbar!“ „Ja, danke!“ Dann verabschiedeten sie sich. Schon ging die Haustür auf. Chris wartete bereits ungeduldig auf sie. Er hatte sich Urlaub genommen. Sinia haßte es, wieder eine plausible Ausrede finden zu müssen. Ein Glück, dass Sabine auf dem Beifahrersitz gesessen war!
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Kapitel V Der sonnige Morgen versprach einen schönen Tag. Doch das machte den Abschied von den Kindern und Chris kaum leichter, ebensowenig Sinias Versprechen, spätestens am nächsten Tag wieder zurückzufliegen. Von dem herrlichen Flug mit klarer Sicht auf die grünen Ebenen, dann die schroffen, teils mit Schnee bedeckten Gebirgszüge und die beständig zunehmende, für südliche Länder typische Kargheit, gespickt mit grünen Oasen, die an grün leuchtende Edelsteine erinnerte, bekam sie auch diesmal kaum mehr mit, als bei ihrem ersten Flug vor rund anderthalb Monaten. Ihre Gedanken weilten Zuhause. Schwermütig, sanft, wie ein schöner Traum, den man nicht aufgeben will und doch weiß, dass er nicht zu halten ist. Am Flughafen wurde sie von El Basans Fahrer abgeholt. Abdul EL Basan sei wegen dringender Amtsgeschäfte unterwegs, ließ der Fahrer im holprigen Englisch sie mit größtem Bedauern wissen, während er in einem Jaguar älteren Modells zur noblen Wohnung seines Dienstherrn fuhr. Hier machte sie sich frisch und zog sich um. Ein köstliches Mahl konnte sogar ihre Enttäuschung über Abduls Abwesenheit etwas besänftigen. Als der Fahrer sie dann in Abduls umsichtige Vorbereitungen einweihte, wich ihre Enttäuschung vollends einem Gefühl von tiefem Vertrauen und unerschütterlicher Kraft, dass auch diese, ihre letzte Mission gelingen würde. In einem eleganten weißen Hosenanzug mit modisch langer Jacke, dunklen Schuhen, königsblau glänzender Seidenbluse und einem breitkrempigen, weißen Hut unter dem ihre blonden Haare von einem langen graublau durchwirkten Chiffonschal keck zusammengehalten wurde, verließ Sinia mit dem Chauffeur die Wohnung. Sein anerkennender Blick tat ihr gut und bestätigte auch die gelungene Wahl ihres Outfits. In zügiger Fahrt lenkte der grauhaarige Syrer den schnittigen Wagen über teils bis zur Unkenntlichkeit verwehte und holprige Straßen zu einem weit außerhalb der Stadt in einer Senke gelegenen Wüstenlandeplatz. Kaum angekommen landete schon eine kleine Sportmaschine, die aus dem Nichts aufzutauchen schien. Der Chauffeur begleitet Sinia zum Flugzeug und half ihr auf den Sitz neben dem Piloten. Dann verabschiedete er sich, um das Auto wieder zurückzufahren. Der Pilot, ein noch sehr junger Mann, grinste Sinia aufmunternd zu. Er machte einen beruhigend professionellen und freundlichen Eindruck. Dann hob die Maschine ab und entschwand Richtung Osten. Sinia kannte noch die eintönige Wüstenlandschaft von ihrem ersten Flug mit Abdul El Basan. Die unwirtliche Ebene unter ihnen ging allmählich in leichte Hügel und diese wiederum alsbald in langgezogenen Berghöhen über. Der Pilot zeigte nach unten auf eine kurze verwilderte Landebahn und nickte ihr zuversichtlich zu. Er hat-
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te Sinia die meiste Zeit ihren Gedanken überlassen und nur wenig auf englisch gesagt. Aber daraus schloss sie, dass er in die Sache eingeweiht sein mußte. Wenig später stand der Flieger sicher auf dem Boden. Der Mann führte Sinia zu einem maroden Unterstand und zog mit Schwung ein darunter ausgeworfenes Tarnnetz weg. Zum Vorschein kam ein bulliger, dunkelgrüner Landrover, der, obwohl ziemlich verstaubt, ein recht neues Modell war. Der Pilot fuhr den Wagen heraus und fragte beim Aussteigen: „Sie wollen wirklich alleine weiter?“ Sinia nickte. „Ist besser!“ „Abdul hat schon gesagt, ich kann‘s mir sparen, Sie überreden zu wollen. Hier, nehmen Sie das Handy und rufen Sie mich an, wenn ich Sie wieder abholen kann. Meine Nummer ist eingespeichert.“ Er zeigte Sinia die Bedienung, dann ließ er sie in den Geländewagen einsteigen. Erstaunt sah sich Sinia im Innenraum um, der unerwartet elegant wirkte in seiner dezenten cognacfarbenen Ausstattung. „Sie kommen mit dem Auto klar?“ „Denk schon!“ antwortete Sinia munter und checkte die Instrumentenanzeigen und verschiedenen Schalter durch. „Na dann, viel Glück und - Sie passen auf!“ Damit es nicht zu besorgt um sie klang, fügte der Mann grinsend hinzu: „Ist nämlich nicht meiner!“ Dabei klopfte er auf das Blech, dann schlug er die Fahrertür schwungvoll zu. „Vielen Dank! —Danke, für alles!“ Sinia wollte noch mehr sagen, aber der Mann winkte ab. „Ist schon okay! Jetzt fahrn Sie schon. Ich warte auf Ihren Anruf!“ Sinia gab leicht Gas und der schwere Wagen setzte sich langsam in Bewegung. „Bis später!“ Er hob die geschossene Hand mit dem Daumen nach oben zum Zeichen, dass sie es schon schaffen würde – schaffen mußte! Die Straße wand sich in langen Serpentinen die Anhöhe hinauf. Bald war das Flugzeug in der Ferne verschwunden und das Handy war nun Sinias einzige Verbindung zu der Welt der Menschen, aber das war ihr im Moment egal. Der Rover ließ sich angenehm lenken und sie hatte Spaß an der Fahrerei und dem herrlichen Blick über die endlose Weite des eintönigen Landes. Ein Gefühl unendlicher Freiheit umfing sie und ließ keinen Platz für andere Gedanken. Sie genoß diese Unabhängigkeit, dieses Alleinsein, die ihr eine innere Stärke und ein längst verloren geglaubtes Glücksgefühl vermittelten. Zwischen dürrem Gestrüpp tat sich die Abzweigung auf, die sie laut Straßenkarte nehmen mußte. Die Fahrstrecke war auf dem Kartenausschnitt schwarz nachgezeichnet und der mit einem Kreuz markierte Treffpunkt bestimmt gut zu finden! Sie drückte den Tageskilometerzähler auf Null und bog bestens gelaunt in den unbefestigten, staubigen Weg ein, der aber schon bald von überwucherndem Gebüsch enger und auch schlechter befahrbar wurde und ihre ganze Aufmerksamkeit forderte. Der Wagen mußte sich manchmal regelrecht durch das Dickicht kämpfen und hinterließ dann eine breite Schneise, wie Sinia im Rückspiegel erkennen konnte. Schon kamen ihr Zweifel, ob dies auch der richtige Weg war. Wenn nicht, müßte sie die ganze Strecke rückwärts fahren, da es bisher keine Wendemöglichkeit gab. Sie schaute auf den Kilometerzähler. Wenn sie sich nicht verfahren hatte, mußte ihr Ziel ganz in der Nähe sein. Also fuhr sie erst einmal weiter. Sorgsam umkurvte Sinia wieder einen hinter Buschwerk gefährlich verdeckten Felsvorsprung und atmete erleichtert auf. Nur wenige Meter Gestrüpp trennten sie von einer weiten Lichtung, an deren Ende auf einer felsigen Anhöhe sich majestätisch ein gut erhaltener Teil einer Festung abhob, zu deren hochgelegenen Innenhof nur eine mäßig breite, aber sehr lange Treppe hoch zu führen schien. Ihr fielen auch gleich die Soldaten auf, die eben noch gelangweilt herumstanden oder auf den Stufen saßen und die nun das nahende Motorengeräusch des Rovers munter werden ließ. Abseits stand verlassen ein riesiger Transporthubschrauber. Sinias Nerven waren plötzlich angespannt. Sie hatte nicht erwartet, dass sie Rashid alleine treffen würde, aber dass er gleich eine ganze Armee dabei haben mußte! Doch jetzt gab es kein zurück mehr. Hoffentlich war er auch da! Sie atmete tief ein und ermahnte sich: ruhig, ganz ruhig! © S. Remida
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Sorgsam lenkte sie das Fahrzeug um niedrige Sträucher und kantige Fels- oder Mauersteine, die im Weg lagen, der jetzt nur noch aus zwei zu erahnenden Fahrrillen bestand. Dann ließ sie den Geländewagen ausrollen und wenige Meter vor den Stufen anhalten. Aus der Nähe wirkte die Treppe, mit ihren derb behauenen Stiegen noch mächtiger, steiler und höher und erinnerten Sinia irgendwie an altmexikanische Tempelanlagen. Aus einer Gruppe Uniformierter, die im Schatten eines Mauervorsprunges standen, löste sich ein Mann und ging auf den Landrover zu. Die anderen folgten im Abstand. Sinia stockte der Atem. Noch ehe der Mann aus dem Schatten getreten war, hatte sie ihn erkannte. Karim, den ungebändigten Sohn! Ausgerechnet der! „Hi, du hast dich wirklich hergewagt! Willst du nicht aussteigen?“, begrüßte er sie bestens gelaunt auf Englisch. "Marhaba“, grüßte Sinia abwartend kühl. „Wo ist dein Vater?“ „Nicht so hastig!“ Karim öffnete ihr die Wagentür. „Du wirst ihn noch früh genug sehen!“ Er streckte ihr seine Hand entgegen, als wolle er ihr beim Aussteigen helfen, aber Sinia beachtete sie nicht und hielt sich lieber am Türrahmen fest für den Sprung aus dem erhöhten Sitzraum. Karim zuckte die Achseln und trat einen Schritt zur Seite. Sinia stand direkt vor ihn und schaute ihn abschätzend an. „Und - bringst du mich jetzt zu Rashid Safar?“ Karims gute Laune war verflogen und mit altbekannter Überheblichkeit antwortete er: „Den Teufel werd ich tun! Ich entscheide, wann es so weit ist! - Ein schöner Wagen!“, lenkte er ab und tätschelte das Autodach. Nebenbei fragte er: „Hast du Waffen dabei?“ Sinia warf die Autotür zu und drückte durch das heruntergelassene Fenster die Türverriegelung herunter. „Natürlich! Darum laß deine Pfoten von dem Wagen, eh er dir um die Ohren fliegt. Ich habe das Dynamit soeben scharf gemacht!“, erklärte sie überzeugt und dachte dabei an das Handy in der verschlossenen Ablage, das auf keinen Fall in falsche Hände geraten durfte. Karim schien sich nicht entscheiden zu können, ob er ihr glauben sollte, aber Sinia verzog keine Miene. „Durchsucht sie!“, befahl er mit Blick auf zwei seiner Begleiter. Für den Bruchteil einer Sekunde entschwand ihre Selbstsicherheit, aber sie hatte sich gleich wieder gefangen. Das war ja nichts Neues! Von Karim wollte sie sich jetzt nicht schikanieren lassen! „Du tickst ja nicht richtig!“, platzte es aus ihr heraus und schnippisch fuhr sie fort, „Für deine Spiele hab ich bedauerlicherweise keine Zeit mitgebracht! Aber glaub mir, ein Wort mit dir gewechselt und schon fühlt man sich wieder richtig heimisch! – Da oben?“ Und ohne auf Antwort zu warten, ging Sinia an Karim vorbei zur Treppe. „Du mußt dich erst durchsuchen lassen!“, wiederholte Karim scharf. Sie winkte ab und er schnippte mit den Fingern, worauf gleich drei Männer ihr auf der vierten Stufe den Weg verstellten und ein weiterer hinter ihr sie abtasten wollte. Sinia wirbelte herum und fauchte: „Wage es nicht mich anzufassen!“ Erschrocken wich der Angesprochene zurück. Karim zog seinen Revolver und zielte auf Sinia. „Los!“, befahl er dem Mann. Sinia überlegte fieberhaft, wie sie die Kerle austricksen konnte. Es war wieder das alte Spiel! Da kam ihr eine Idee! „Ihr sollt die Waffen einer Frau kennen lernen!“, zischte sie, so dass es Karim noch verstehen mußte, griff nach ihrem Hut und stülpte ihn dem überraschten Soldaten vor ihr auf den Kopf. Dann drehte sie sich wieder zu den drei anderen um, schubste zwei rücksichtslos auseinander und ging mittendurch, während sie theatralisch ihre Jacke aufknöpfte. Lässig ließ sie sie von ihren Schultern gleiten und schlug sie im Weitergehen einem Uniformierten, der ihr den Weg versperren wollte, vor die Brust. Nun öffnete sie ihren Gürtel, zog ihn aus den Schlaufen des Hosenbundes und warf ihn ein paar Männern zu, die ihr eilig Platz machten, um ihr, wie schon die anderen, voller Neugier im gehörigen Abstand zu folgen. © S. Remida
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Obwohl Sinia gegen die Sonne schauen mußte, nahm sie am oberen Ende der Treppe eine große, stattliche Gestalt wahr. Ihr Herz fing an zu flattern. Rashid! Endlich! Jetzt nur nicht aus dem Konzept bringen lassen, ermahnte sie sich und steuerte auf einen jungen Kerl zu, dessen Messer leicht greifbar vor seinem Bauch im Gurt steckte. Er wich unsicher zurück. Sinia lächelte ihn beruhigend an und ehe er begriff, wie ihm geschah, hielt Sinia das Messer in ihrer Hand. Sie wußte, die Dinger waren immer bestens geschärft. Augenblicklich war es ganz still. Nur das Hallen ihre Absätze von Stufe zu Stufe trug der Wind weiter. Sinia setzte die Klinge unterhalb ihres Hosenbundes an und schlitzte die Seitennaht bis zum Knie auf. Das Messer zwischen den Zähnen riß sie das restliche Stück mit einem Ruck auf. Ein Raunen wabte von den Zuschauern zu ihr. Es folgte die andere Seitennaht, dann durchtrennte Sinia auf beiden Seiten den Bund und der Wind griff gierig nach dem weggleitenden Stoff. Sie warf das Messer seinem Besitzer zu, der mit offenem Mund dastand und erst im letzten Moment aufzuwachen schien und es gerade noch auffing. Sinia war auf dem Plateau angekommen. Diesmal hätte ihre Kleiderwahl nicht besser ausfallen können und sie war froh um ihre lange taillierte royalblaue Seidenbluse und die blickdichte dunkelblaue Strumpfhose, die sie nur gekauft hatte, weil sie so hübsch glänzte und toll zu den nachtblauen Sandalen paßte. Der Wind zerrte an der Bluse, unter der sich ihre schlanke Figur abzeichnete. Sinia zog den Seidenschal aus ihrem Haar und überließ ihn dem gierig zugreifenden Wind. Wenige Meter vor Rashid blieb sie stehen. „Traust du dich jetzt eher in meine Nähe?“, fragte sie spöttisch und hob zum Zeichen ihrer Harmlosigkeit die Hände auseinander. Rashid grinste. Er wirkte locker. Die oberen zwei Knöpfe seines Hemdes waren offen, wie auch seine ordenbehangene Militärjacke, unter der aber deutlich das Halfter mit seiner Magnum – Sinia kannte sich ja inzwischen aus - zu erkennen war. Er kam ganz nah. „Schön, dich wiederzusehen. Ich habe dich vermißt!“ Was die wenigen Worte nur andeuteten, war von seinen Augen um so deutlicher abzulesen. Er sah in die Männerrunde. „Ich glaube, die warten auf eine Zugabe!“, schmunzelte er. Sinia drehte sich um. Die unnötige Bewaffnung der Soldaten störte noch. „Auch wenn diese nicht mehr jugendfrei wäre?“ Gespannt warteten die Männer, was als nächstes folgen würde. „Wie ihr wollt, aber ich habe euch gewarnt!“ Sinia legte ihre linke Hand an Rashids Oberarm und er griff automatisch nach ihren Armen um sie zu stützen. Mit einer schnellen Bewegung zog Sinia seinen Revolver aus der Halterung und drückte sie schon entsichert auf seine Brust. Rashid war irritiert. „Jetzt seid ihr dran! Runter mit den Waffen!“, befahl sie laut. Die Männer waren starr vor Schreck. Rashid mahnte ernst: „Ihr habt es gehört!“ Die anschwellende Geräuschkulisse ließ darauf schließen, dass die Soldaten dies für eine bedrohliche Wendung des amüsanten Auftritts hielten. Rashid dagegen blickte Sinia verschwörerisch an, als er mit Nachdruck „Wird’s bald!“ befahl. Das Klirren von Metall auf Metall blieb für eine Weile das vorherrschende Geräusch. „Sie haben alles abgelegt!“, stellte Safar dann verschmitzt fest. „Gut!“ Sinia wollte ihm die Pistole zurückgeben. „Hältst du das für klug? Oder kannst du damit gar nicht umgehen?“ Sinia sah sich nach einem geeigneten Ziel um und während sie auf einen altersschwachen Ast in etwa fünfzehn Meter Entfernung zielte, meinte sie nebenbei „Mal sehn!“, und drückte gleich zwei Mal ab, in der Hoffnung wenigstens ein Mal zu treffen. Schon der erste Schuß riß den Ast ab und beim zweiten zerfetzte er völlig in der Luft. Am meisten war Sinia von ihrer Schießkunst überrascht. Das hätte Jürgen Ascher sehen sollen! „Du bist perfekt!“, sagte Rashid anerkennend. Sinia zuckte geringschätzig mit ihren Schultern. „Hier, ich brauche sie nicht. Außerdem ist mir lieber, mein Bodygard ist bewaffnet!“ Rashid lächelte, die Idee gefiel ihm. Sinia wäre am liebsten an seine Brust gesunken, aber sie durfte ihren Gefühlen nicht nachgeben. Im Gegenteil, es gab noch ein paar Dinge zu klären und sie mußte © S. Remida
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ihm klarmachen, dass sie wieder in ihr altes Leben zurück mußte. Ernst sagte sie: „Die Frau, auf die du wartest, gibt es nicht mehr!“ Rashid verstand nicht. „Ich meine die, die sich in dein Land geschmuggelt und dich erpreßt hat, die einen Flieger geklaut hatte ohne fliegen zu können und ihn verschrottet hat..“ Rashid fiel ihr ins Wort. „Na ja, nicht ganz. – Meinst du die, die ihren Mann befreien wollte und sich dabei gleich ein paar Mal fast selbst umgebracht hätte?“ „Nicht ganz, ich habe mich schon darauf verlassen, dass ihr mich noch rechtzeitig retten würdet“, warf sie verschmitzt ein und wandte sich ab, als sie nachdrücklich fortfuhr: „In Wirklichkeit bin ich nicht mutig und wahrscheinlich nicht noch mal in der Lage, so was Irres zu tun. - Ich bin alles andere als perfekt!“ „Ich habe immer nur auf dich gewartet, weißt du das?“, erklärte Rashid, ohne dass Sinia den Sinn der Worte begreifen konnte. „Ich hatte großes Glück, dass ich an dich geraten bin!“, versuchte Sinia es erneut. „Man nennt das Schicksal“, sagte Rashid. „Ich weiß nicht. Egal, es ist vorbei!“ Ihre Stimme klang irritiert und wurde kühl. „Du wirst dich wieder wichtigeren Dingen widmen und das hier schnell vergessen haben. Auch ich muß einen Schlußstrich ziehen. Ich habe eine Familie, Kinder! Sie hatten mit der Sache nichts zu tun und ich will keine Angst um sie haben müssen. - Deshalb bin ich zurückgekommen. Wenn es also noch etwas abzuklären gibt, dann hier und jetzt!“ Plötzlich fröstelte es sie. Seltsam, wie in der frühen Nachmittagshitze ein so kühler Wind wehen konnte. Rashid zog sein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern, als habe er ihre Gedanken gelesen. Seine Stimme klang versöhnlich. „Tut mir leid, du hast Recht, ich bin dir eine Erklärung schuldig! - - - Glaub mir, ich wußte nicht, dass Karim dir jemanden hinterher geschickt hatte.“ „Karim? Der? Immerhin war’s ein Killer!“ „So sollte es aussehen! Er hat sich wirklich mal Mühe gegeben!“, sagte er mit leisem Spott und fuhr freundlich fort: „Er erzählte mir erst davon, als du angeboten hattest, dich ein letztes Mal mit mir zu treffen. Da konnte ich nicht nein sagen! Ich musste dich noch einmal sehn und mit dir sprechen, deshalb gab ich meine Zustimmung. Karim wußte genau, wie sehr du mir gefehlt hast - aber auch, dass er es nicht überlebt hätte, wenn dir etwas zugestoßen wäre!“ Sie hatte ihm sehr gefehlt! Was empfand er für sie? Und sie? Hatte sie nicht auch das Gefühl gehabt, ihn unbedingt noch einmal wiedersehen zu müssen? Mehr zu sich sagte Rashid: „Mein Sohn ist nicht so schlecht. Er glaubte das für mich tun zu müssen und - - ich denke, er hat dich sogar auch vermisst.“ „Natürlich! Wenn sonst keiner da ist, mit dem er streiten kann!“ Sinia lächelte bei dem Gedanken, dass Karim zu freundschaftlichen Gefühlen für sie fähig sein sollte! Aber es gab da noch anderes zu besprechen. „Können wir hier irgendwo ungestört reden?“ Aber natürlich gab es in der Festungsanlage auch ein paar intakte Räume. Rashid legte seinen Arm um ihre Schultern und führte sie in das Innere der Jahrhunderte überdauerten Gemäuer. In einem großen Saal mit tief heruntergezogenen Spitzbogenfenstern und reich mit orientalischen Mustern verzierten Wänden begleitete er sie an einen mächtigen Tisch aus schwarzem Holz, um den viele Stühle standen, was an eine Rittertafel erinnerte. Das schmale Mauerwerk zwischen den hohen Fenstern, durch die sich die Sonne in den Raum ergoß, zeichnete bizarre Schatten auf den Mosaikboden und die gegenüberliegende Wandseite. Rashid rückte ihr einen Stuhl zurecht. „Bitte, setz dich. Möchtest du etwas trinken, essen?“ „Oh, sogar mit Service? Nur ein Wasser, bitte.“ Im gleichen Moment kam ein Uniformierter und brachte auf Rashids Anweisung sogleich ein Tablett mit einer Karaffe und zwei Gläsern. Rashid legte sein Schulterhalfter mit der Waffe auf den Tisch und schenkte das perlend frische Was© S. Remida
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ser in die Gläser ein. Sinia überlegte, wie sie beginnen sollte. „Ich hatte dir ja ganz schön Umstände bereitet...“ „Ich verstehe nicht? Wie meinst du das?“, erkundigte sich Rashid, setzte sich seitlich auf die Tischkante und nahm einen Schluck. Sinia fuhr fort: „Dabei war das alles völlig unnötig! Wenn ich mir das vorstelle! – Schließlich hat die CTA ohne fremde Hilfe ihre Leute dort herausgeholt. Aber das weißt du ja!“ „Ach ja? Und wer sagt das?“ Sinia schilderte ihr Zusammentreffen mit Gerber, dem zwielichtigen Personalchef der CTA und auch, dass ihr Mann sich hatte überzeugen lassen, sie habe seine Abwesenheit genutzt, um sich aus dem Staub zu machen. „Dein Mann ist schön dumm!“, stellte Rashid verärgert fest. „Schade, dann hätte ich dich ja gar nicht gehen lassen brauchen!“ „Hör auf“, wehrte Sinia leise ab. „Schon gut! - In dieser Darstellung fehlen nur ein paar entscheidende Details. Die Taktik mit dem Waffenhändler klappte nicht so richtig. Und der Kontakt zwischen den Entführern, dem Unternehmen und den Regierungsbeauftragten drohte wieder abzubrechen. Es stand sogar schon fest, wer als erster dran glauben sollte. Und doch zögerten die noch, sich an mich zu wenden. - Ja, und da kamst du. Aber nicht im Auftrag dieser Gesellschaft, das war mir sofort klar!“ Er fuhr fort, dass er von ihr und ihrer Vorgehensweise, die viel Mut bewies, beeindruckt war und sich deshalb als Vermittler angeboten und eingeschaltet habe. Dabei hatte er gleich vermutet, dass einer der Männer der Grund für ihre riskante Mission sein mußte. Er hatte dann die anfangs sehr überspitzten Forderungen der Geiselnehmer auf Lösegeld, Entschädigungszahlungen an die Opfer, ein öffentliches Schuldeingeständnis an dem Unglück und Schließung der Betriebsanlagen auf nur noch einen dafür recht ansehnlichen Geldbetrag festgelegt. „Du scheinst ja wirklich bestens informiert!“ Rashid machte eine Pause. Was er ihr erzählen wollte, würde nicht leicht für sie zu verstehen sein, deshalb wählte er seine Worte mit Bedacht. Er begann, dass die Explosion weit geringeren Schaden in der Produktionsanlage angerichtet habe, als die freigewordene Giftwolke, die der Wind über das somalische Dorf getrieben hatte. Die Beschäftigten konnten sich rechtzeitig in Schutzräume retten. Die Menschen im Freien wurden dagegen zu unfreiwilligen Versuchskaninchen, die plötzlich schwer erkrankten und teils starben. Natürlich forderte man Hilfe an, die auch kam. Aber die Ärzte und Helfer schienen sich mehr für den Krankheitsverlauf unter wissenschaftlichen als heilfördernden Aspekten zu interessieren. Isoliert von der Außenwelt, die von dem Drama nichts mitbekommen hatte, kam den Betroffenen alsbald der Gedanke, dass diese Chemiefabrik für ihr Leid verantwortlich sein mußte und es gar ein absichtlich herbeigeführter Unfall gewesen sein könnte. War der Ort als Unterschlupf für Rebellen doch längst anderen ein Dorn im Auge. Und einen als Unfall getarnten Versuch, die gefährliche Brut auszurotten, wobei auch noch die Wirksamkeit einer neuen Waffe erproben werden konnte, trauten die leidgeprüften Menschen ihrer ungeliebten Regierung durchaus zu. Die Dorfbewohner wollten nun ihrerseits etwas unternehmen. Sie berieten sich mit Agar, dem Anführer der Rebellen. Eine Pressemeldung, die in ein paar Tagen vergessen sein würde, Schadensersatzforderungen, die wegen der ungleichen Stellung der Parteien sich endlos hinziehen würden oder Anschläge auf den Betrieb, die das Leben von dort beschäftigten Landsleuten gefährden würden, war nicht was sie wollten. So wandte sich Agar, mit dem ihn seit Kindertagen eine lose Freundschaft verband, an ihn. Rashid stand auf und ging hin und her als er fortfuhr, dass die Entführung eigentlich seine Idee gewesen sei. Diese extra eingeflogenen Fachleuten als Faustpfand, unter denen sich gar ein amerikanischer Geheimagent befinden sollte, garantierten die schnellste Art, eine lohnenswerte finanzielle Entschädigung zu erhalten. Und dass nach vielen Bemühungen letztlich nur ein neutraler Dritter als ernsthafter Vermittler in Frage kommen würde, dem Agar vertraute und der auch von dem erpressten Unternehmen akzeptiert werden musste, lag auf der Hand! Und das war er! Agar war auf ihn angewiesen - den Geheimdiensten sind solche Verbindungen bekannt - und die erpresste Firma würde versuchen, durch geheime Absprachen mit ihm und einer großzügigen Honorierung, die überzogenen © S. Remida
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Forderungen der Kidnapper von ihm herunterhandeln zu lassen. Immerhin hatten deutsche Stellen schon zu Beginn der Entführung vorgefühlt, ob man mit seiner Hilfe rechnen dürfe, falls notwendig und er hatte sie wissen lassen, dass er sich zur gegebenen Zeit äußern werde. Er hatte ihre Anfrage nicht abgelehnt und somit blieb die Tür für die erpreßte Firma und ihre amerikanische Stammmutter geöffnet. Es lag nun an denen, den Zeitpunkt seines Eingreifens zu bestimmen. Es war letztlich ein Deal, mehr nicht! Bei dem sogar die Presse außen vor bleiben mußte! Die Entführten waren nur eine Handelssache, ohne Gesicht, ohne Schicksal! Beide Seiten spielten erst einmal auf Zeit, doch letztlich wäre man um seine Vermittlung nicht herumgekommen, spätestens nach dem oder den ersten Toten! Aber dann sei sie, Sinia, aufgetaucht und damit habe sich alles geändert. Rashid setzte sich wieder auf die Tischkante. Sinia hatte ihre Ellenbogen auf den Tisch gestützt und ihr Gesicht in ihre Hände vergraben. Erst konnte sie seine plötzliche Ehrlichkeit nicht fassen und dann noch weniger, was er ihr erzählte. Wenn sie auch nicht jedes englisches Wort verstanden hatte, so hatte sie doch den Sinn des Gesagten begriffen und war zutiefst bestürzt. Sie hätte sich das ganze gefahrvolle Unternehmen vielleicht sogar sparen können! Rashid umfasste vorsichtig ihre Handgelenke. „Durch dich sind die Geiseln wieder zu Menschen geworden. Du hast dich so sehr darauf verlassen, dass ich sie da heraushole. Ich wollte dich nicht enttäuschen. Es gab keine Pokerrunde mehr, sondern nur einen Vorschlag den beide Seiten zu akzeptieren hatten.“ Er sagte ihr nicht, dass er Agars Zustimmung mit der Drohung erzwungen hatte, dass es keine weitere Verhandlung geben werde und wenn er nicht annehme, auf seine Vermittlung verzichten müsse. Und damit wären die Geiseln wertlos geworden und das ganze Unternehmen geplatzt. Agar konnte natürlich den Sinneswandel seines irakischen Vertrauten nicht verstehen, stimmte aber aus Furcht, sonst gar nichts zu erreichen, dem Lösegeldvorschlag zu. Als er aber dann bei jener Gesellschaft Sinia getroffen und sie beide auch noch zusammen gesehen hatte, war ihm schlagartig der Zusammenhang klargeworden! Wegen dieser Frau also hatte Rashid ihn um seinen Triumph gebracht! Rashid war sich sehr wohl bewusst, dass er seitdem einen Feind mehr hatte, den er aber – da war er sich sicher – nicht zu fürchten brauchte! „Was war mit Hasan?“, erkundigte sich Sinia ohne aufzublicken. „Hasan? Der ist tot!“ „Wart ihr das?“, bohrte sie weiter. „Weißt du nicht, dass er dich hintergangen hatte?“ „Woher weißt du das?“, ließ Sinia nicht locker. Rashid wußte, dass sie ein Recht hatte, alles zu erfahren und es gab keinen Grund, irgend etwas zu verschweigen. So erzählte er, dass ihn ihr detailliertes Wissen über seine Person, seine Umgebung, und seine Geldgeschäfte sofort aufhorchen ließen. Er musste heraus bekommen, welcher seiner Gegner die Gelegenheit ihm zu schaden nutzen wollte. Dass sie irgendwie Kontakt nach außerhalb Iraks haben mußte, war für ihn auf der Hand gelegen. Deshalb sei ihm die Idee gekommen, sie zum Schein einkerkern und dies durchsickern zu lassen – mit Erfolg! Rashid nahm einen Schluck und beobachtete wie seine Ausführungen auf Sinia wirkten. „Ja richtig, zum Schein! Es hätte fast mein Leben gekostet!“, stellte sie bitter fest. „Hasan hat es nicht überlebt!“ „Mit Recht!“, fuhr Rashid ruhig fort. „Ich war ziemlich überrascht als sich sehr schnell dieser Ali El Basan meldete, der vergeblich auf dich gewartet hatte und inzwischen längst wusste, dass wir dich abgefangen hatten. Voller Sorge beschwor er mich, dein Leben zu schonen und dass du nichts mit den Anschlägen auf die amerikanischen Firmen zu tun hättest, ja, selbst hintergangen wurdest. Damit bestätigte er mir nur, was ich längst geahnt hatte. Er verlangte, dass ich für deine Sicherheit garantierte. Im Gegenzug nannte er mir den Namen `Hasan´. Der Feigling hatte nur auf so eine Gelegenheit gewartet. Er glaubte tatsächlich auch für diese Verbrechen wieder andere büßen lassen zu können. Du warst ihm ein willkommenes Opfer!“ „Ali? Ali hat mit dir gesprochen? Er hat mir nichts davon gesagt!“ © S. Remida
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„Vielleicht wollte er nur nicht dein Vertrauen erschüttern! Er ist sicher ein feiner Mensch!“ Sinia schüttelte den Kopf, warum hatte Ali ihr das verschwiegen? Sie waren doch Freunde! Er hätte es ihr erklären können! „Und du, du hast also alles gewußt und mich trotzdem gejagt und die ganze Zeit festgehalten!“ Wütend war sie aufgestanden. „Ich begreife das nicht. Du wolltest mich damit ärgern, ja? Das hat dir Spaß gemacht!“ Rashid blieb ruhig. „Ich habe dich weder gejagt noch festgehalten!“, widersprach er. „Du vergißt, dass ich für deine Sicherheit verantwortlich war. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du einen Selbstmordversuch unternehmen würdest, tut mir leid! Und hast du wirklich geglaubt, ich würde dich in der Wildnis umkommen lassen, so krank wie du warst? Oder dich in diesem kritischen Zustand zurückschicken? Wenn dir etwas geschehen wäre! Nein, du mußtest erst gesund werden!“ „Wie konnte mir nur entgehen, wie besorgt du um mich warst!“ „Aber das war ich wirklich. Hast du das nicht gemerkt?“, erklärte Rashid ernst. „Und unterdessen ist Hasan bei einem Unfall ums Leben gekommen, der aber keiner war, richtig!“ „Doch, leider“, griff Rashid den Faden wieder auf. „Wir wußten durch El Basan, wo er sich versteckt hielt, während sich seine Schergen mit Feuer- oder Sprengstofflegen systematisch die Betriebe auf dieser Liste vornahmen und auch Menschen gefährdeten, selbst als die Männer längst schon frei waren. Wir mussten das, – wir mussten ihn ein für alle mal stoppen. Wir hatten ihn schnell gefunden. Aber er entkam meinen Leuten, ehe sie ihn zur Rede stellen konnten. Offenbar war aber sein Herz der Verfolgungsjagd nicht gewachsen. Er hatte schon lange Herzproblemen. So wie es mir meine Männer schilderten, nehme ich an, war das der Grund, weshalb er von der geraden Straße abkam und in die Tiefe stürzte. Ein schöner schneller Tod! Ich hatte ihm einen anderen gewünscht.“ „Ohne mich würde er also noch leben und hätte es auch keine Anschläge gegeben,“ stellte Sinia fest. „Warum habe ich mich nicht um meine Kinder gekümmert, statt die viele, viele Zeit damit vergeudet zu haben, eure komplizierte Sprache lernen zu wollen, mich mit Judo zu quälen! Was für eine idiotische Idee das war, mich in dein Land zu schleichen und dich erpressen zu wollen! Wieviel Zeit ich sinnlos vertan habe! Und dabei war alles so unnötig! Und wie viele habe ich durch diesen Unsinn gefährdet!“ Rashid war zu ihr gegangen und stand nun vor ihr, unschlüssig, ob er sie in den Arm nehmen und trösten sollte. „Durch dich sind a l l e Geiseln gerettet worden, verstehst du? Hasan hätten wir auch ohne dich früher oder später erwischt! Er wollte es nicht anders! Außerdem hätte er dich nie davonkommen lassen. Du hast dir wirklich nichts vorzuwerfen! Wenn jemand Fehler gemacht hat, dann war das i c h ! Aber ich bedaure keinen einzigen, der dich zu mir gebracht hat!“ Sinia quälte die Frage: „Bist du noch hinter anderen her?“ „Weißt du noch jemanden?“, erkundigte er sich lächelnd.
Sinia zuckte die Schultern. „Mich!“ „Richtig! Darum wäre es das Beste, wenn du bleibt!“ Sinia starrte ihn verständnislos an. „Was soll das?“ Rashid umfasste ihre Schultern. „Mit dir wurde die Entführungsgeschichte und das, was für mich herausspringen sollte, bedeutungslos. Ich wollte es schnell hinter mich bringen und hoffte, das würde Eindruck auf dich machen. Und ich mußte wissen, wer alles dahinter steckt, ob vielleicht auch d u in Gefahr warst! Hasan hätte dich nicht am Leben gelassen, weil du zu viel wußtest. Ich kenne ihn! Auch deshalb ließ ich ihn suchen. Und außerdem hoffte ich immer irgendwie, du würdest bleiben, verstehst du nicht? Wir alle möchten..., ich möchte, dass du zurückkommst!“ Sinia war verwirrt. Weshalb war sie eigentlich hierher gekommen? Versuchte er nicht die ganze Zeit ihr klar zu machen, dass er sie vermißt hatte? Sie war darauf nicht gefaßt gewesen, wie sollte sie reagieren? Sie spürte, dass er es ehrlich meinte, doch ihr Verstand mahnte zu gehen. „Es geht nicht. Es ist zu spät. Ich habe eine Familie, hörst du!“ Sie sah in forschend an. Wie sehr sie ihn doch auch mochte, oder war es gar mehr? „Ohne sie würdest du mich vielleicht nicht mehr so schnell loswerden. Aber die Zeit läßt sich nicht zurückdrehen.“ „Das ist auch nicht nötig, es gibt so was wie Bestimmung. Ich vertraue der Zukunft!“ Er lächelte vielsagend und zog sie näher an sich. „Keine Angst, Sinia, ich lasse dich gehen, und niemand wird dich aufzuhalten versuchen! Ich weiß, dass sich unsere Wege wieder kreuzen. Irgendwie. Irgendwann. © S. Remida
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Aber überlassen wir das dem Schicksal.“ Nur widerwillig wand sich Sinia aus seinem Griff. Aber die Vernunft rief! „Ich muß gehen, tut mir leid. Oh, noch deine Jacke!“
„Nein, laß! Dann hast du vielleicht einen Grund, mich mal zu besuchen!“ Er zog sie noch einmal an sich und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. „In der Tasche ist noch etwas, damit du mich auch nicht vergisst!“, flüsterte er schelmisch und ließ sie los. „Allah beschütze dich!“ Sinia hauchte ihm einen Kuß auf die Wange, dann ging sie zu Tür. Sie drehte sich noch einmal um und sah Rashid an. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie diesen geheimnisvollen Mann, dessen bloßes Foto sie schon tief beeindruckt und immer eine leise Sehnsucht geweckt hatte, der stets zur Stelle war und Schutz bedeutete, wenn sie sich in höchster Bedrängnis befand, der ohne zudringlich zu werden ihr seine Sympathie zeigte, in dessen Gegenwart sie sich geborgen fühlte und der bei ihr oft das Gefühl geweckt hatte, als würden sie sich schon ewig kennen, dass sie diesen Mann wahrscheinlich nie mehr wiedersehen würde. Sie wußte, dass die Erinnerung dann das Einzige war, was ihr von ihm bleiben würde. Ein letztes Mal wollte sie ihm ganz nah sein. „Rashid“, begann sie zögernd, „bevor ich gehe, habe ich noch eine Bitte...“ Mit leiser Stimme sagte er: „Alles was du willst.“ „Ich, ich möchte.... Nimmst du mich noch einmal in deine Arme?“ „Komm!“ Mit einem leisen Lächeln hielt er seine Arme auf. Sinia rannte zu ihm, bleib aber weniger Schritte vor ihm unschlüssig stehen. Aufmunternd ging er auf sie zu und sie warf sich an seine Brust und schlang ihre Arme um seinen Hals. Sie fühlte seine kräftige Umarmung, seine Küsse auf ihrem Haar und sein Herz beruhigend schlagen. Und sie wünschte sich nur, die Zeit würde stehenbleiben. „Versprich mir, dass du gut auf dich aufpaßt und egal was ist, ich bin immer für dich da, vergiß das nicht, ja?“ Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und streichte mit seinen Daumen zart über ihre Wangen. „Ich möchte, dass ein paar Männer dich zurückbegleiten!“ „Nein, ich bin alleine gekommen und ich gehe alleine. Keine Angst, es ist alles organisiert. Außerdem, du vertraust doch dem Schicksal!“, wehrte Sinia seinen Wunsch ab. „Bitte! Ich werde keine Ruhe haben, bis ich weiß, dass du sicher zu Hause angekommen bist“, flüsterte er besorgt. Er beugte sich zu ihr bis seine Lippen die ihren berührten und dann küssten sie sich. Es war ein langer Abschiedskuß. Dann ließen sie sich los. Sinia sah ihn verlegen an, sie mußte ihm noch etwas sagen. „Ich denke, jetzt, wo ich geh, kannst ich es dir sagen, ich glaube, ich habe mich in dich verliebt!“ Rashids schwarzen Augen leuchteten auf. „Ich habe dich immer geliebt!“ „Also, ich, ich muss dann... Leb wohl!“ Sinia ging zögernd ein paar Schritte zurück, lächelte ihn an, dann wandte sie sich um und ging hinaus. „Bis später!“, hörte sie Rashid hinter sich sagen. Er ließ sie vorgehen. Er wußte, dass er sie nicht aufhalten konnte, nicht aufhalten brauchte. Das Schicksal würde nun seinen Lauf nehmen. Dennoch war er zutiefst beunruhigt. Am liebsten hätte er sie selbst bis nach Hause begleitet. Aber das ging ja nicht! Die Vorhalle war leer. Draußen kam Jaffar auf Sinia zu. „Hallo Sinia, ich freu mich so, dich zu sehen!“, rief er ihr auf deutsch entgegen. Freundschaftlich nahm er sie in die Arme und gab ihr einen angedeuteten Kuß auf die Wangen. „Ich hatte dich schon vermisst!“, freute sie sich ehrlich. „Oh, ich habe vorhin deinen starken Auftritt gesehen und wollte nicht stören! Du hast mit Rashid geredet. Und? Bleibst du, ja?“ Gemeinsam gingen sie weiter. „Nein.“ „Er läßt dich gehen, aber ich dachte...“ „Was?“ Sinia sah ihn belustigt an. Ach, ich glaubte immer, du wärst es!“ „Wer? Raus mit der Sprache!“, erkundigte sie sich gutgelaunt. „Ach nichts! Wahrscheinlich lachst du mich aus!“ © S. Remida
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„Nein, warum? Gibt es etwas, was ich nicht wissen sollte?“ „Ich weiß nicht. Aber warum soll ich es dir nicht sagen, vielleicht verstehst du dann manches besser, was dir seltsam erschien.“ Jaffar blickte prüfend zu Sinia. Und während sie die lange Treppe hinabgingen begann er: „Mein Vater hat es mir erzählt. Mein Großvater konnte manchmal Dinge voraussehen. Ich habe ihn leider nie kennengelernt, er ist vor meiner Geburt gestorben. Als Rashid noch ein Junge war, sind sie sich mal begegnet. Und Großvater sagte ihm voraus, dass er in die Politik gehen und ein reicher Mann werden und zwei Kinder haben würde. Das zweite würde von seiner großen Liebe sein. Aber auf die müsse er lange warten. Sie wird aus einem fernen Land sein und nur kommen, weil sie seine Hilfe brauche und er wird sich in sie verlieben. Sie wird sogar wieder zurückgehen. Aber bevor sie geht, wird sie ihm sagen, dass sie ihn liebt. Rashid solle sich nur gedulden, denn Kismeth werde sie wieder zusammenführen.“ Sinia fühlte eine heiße Welle in sich hochsteigen. „So ein Quatsch! Gib zu, das hast du gerade erfunden!“ Jaffar wehrte ernst ab: „So hat es mir mein Vater gesagt! Ist schon seltsam, nicht?“ „Was glaubst du, wie vielen Ausländerinnen Rashid schon begegnet ist und noch begegnen wird. Da hätte dein armer Minister ja ganz schön zu tun!“, gab Sinia zu bedenken. „Du glaubst mir nicht!“ Jaffar war ehrlich enttäuscht. „Ist ja auch ein ziemlicher Hammer! Hat er noch mehr prophezeit? Auch dir?“ Jaffar zögerte. „Nein. - Und ich würde ein Leben gleich dem großen Strom führen, der gemächlich dahinfließt. Was in der Art soll er Vater über sein jüngstes Kind gesagt haben“, tat er seine eigenen Vorsagen als unwichtig ab und erklärte: „Aber wegen Großvaters Vorahnungen wollte mich mein Vater immer in Safars Nähe wissen.“ Dass Großvater seinem Vater noch erzählt hatte, dass Rashid seine schönsten Jahre gemeinsam mit dieser Frau verleben und bei ihrem, durch fremde Hand verschuldeten Tod an gebrochenem Herzen sterben würde, behielt er besser für sich. Er wußte es und war deshalb da, um diese letzte düstere Vision abzuwenden, sollten sich die anderen Voraussagen noch erfüllen. Das Schicksal musste auch abzuändern sein! „Na, dann lass dich mal überraschen! Würde mich auch interessieren, ob er noch seine Traumfrau findet!“, witzelte Sinia. Sie waren unten angekommen. Karim wartete schon, im Arm die eingesammelten Kleidungsstücke von Sinia. „Soll, das heißen, du gehst?“, empfing er sie ungläubig diesmal in Englisch. Sinia nickte. „Und dafür habe ich mir so eine Mühe gegeben?“, fragte er aufgebracht. „Ach ja, der Killer! Was sollte der eigentlich tun?“, wollte Sinia wissen. „Was wohl? Dich natürlich zurückbringen! Aber dann hattest du ja die gleiche Idee!“ „Gott sei Dank! Sonst würde ich jetzt wohl tot vor euch hier rumliegen!“ „Das ist nicht wahr! Er hatte Auftrag, dich lebend zurückzuholen!“, wehrte sich Karim empört gegen ihre Unterstellung. „Musst übrigens einflussreiche Freunde haben, die sich um dich sorgen!“ „So? Nicht dass ich wüsste!“ „Doch, scheint jedenfalls paar Leute ganz schön aufgeschreckt zu haben. Mein Kurier ist ihnen gerade noch entwischt. Und jetzt willst du uns wirklich wieder verlassen?“ Karim sah Sinia unglücklich an. „Du weißt ja nicht! Seit du weg warst, ist mein Vater nicht auszuhalten!“, stöhnte er. „Oh, es gibt jemanden schlimmeres als dich?“, fragte Sinia mitleidig. „Gehst du wegen mir?“, meinte Karim daran schuld zu sein. „Nein, wegen mir!“, beruhigte ihn Sinia lächeln. Jaffar mischte sich ein. „Wir begleiten dich natürlich!“ „Nein, das habe ich schon Rashid gesagt. Keine Angst, von hier bis zum Flughafen ist alles bestens organisiert. Mir passiert schon nichts, wenn das eure Sorge ist!“ Sinia öffnete die Autotür. „Hätte ich mir ja denken können, dass da kein Sprengstoff drin ist“, stellte Karim mit Blick auf den Rover fest und hielt ihr die Kleider hin. Sinia nahm sie ihm ab und warf alles außer ihrer langen Jacke auf den Rücksitz. Dann wechselte sie ihre Jacke gegen Rashids Jackett, griff sich die keine in Goldpapier hübsch eingewickelte Schachtel aus der Tasche und gab das Jackett Jaffar zurück. „Sag ihm, ich brauche das nicht um ihn wiederzusehen!“ Sie sah nach oben. Auf dem Plateau stand Rashid und © S. Remida
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hob zum Abschied die Hand. Das Sonnenlicht fiel seitlich auf sein Gesicht und so konnte sie seine Züge deutlich sehen. Er lächelte. Sie wandte sich an Karim um Lebewohl zu sagen und stieg ein. Dann holte sie das Handy hervor und tippte die Kennnummer ein. „Ich fahre jetzt ab“, sagte sie und hörte die bekannte Stimme des Piloten. „Okay, ich werde pünktlich da sein und warten. Sonst alles klar?“ „Kein Problem!“ Jaffar gab ihr die Hand. „Allah, beschütze dich!“ Sinia zog ihn zu sich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Pass auf dich auf, mein Schutzengel und auf ihn, ja? Und grüße Samira von mir!“ Verstohlen wischte er sich über die Augen. Sie starte den Wagen. „Ach, Karim, fürs nächste Mal, eine einfache Einladung reicht völlig!“ Karim grinste breit. Sie fuhr den Geländewagen ein Stück zurück. Oben sah sie immer noch Rashid stehen. Dann lenkte sie das Fahrzeug langsam über dem holprigen Boden auf den Weg zurück. Bald war sie hinter den Büschen und Felsen verschwunden. Da sie die Straße schon kannte, brauchte sie sich nicht so sehr darauf zu konzentrieren wie bei der Herfahrt. Ihre Gedanken kreisten ohnehin um das, was Jaffar ihr mit viel Ernst gesagt hatte. Je länger sie darüber nachdachte, um so mehr kam sie zu der Überzeugung, dass Rashid tatsächlich in ihr die vorbestimmte Frau gesehen haben könnte. Und um so klarer erkannte sie, dass es alleine dieser seltsamen Voraussage zu verdanken war, dass sie dieses gefährliche Abenteuer so gut überstanden, ja, überlebt hatte. Was für ein unglaublicher Zufall, ausgerechnet dem Mann begegnet zu sein, der nicht nur tief in die Entführungsgeschichte verstrickt war, sondern der auch sein Schicksal zu kennen meinte und scheinbar immer noch an die Erfüllung einer unglaublichen Vision eines alten Mannes glaubte. Wie ähnlich sich doch die Menschen in ihren innersten Träumen und Wünschen sind – selbst über jede Kulturgrenze hinweg! Schicksal! Warum hatte sie sich nie ihre Zukunft deuten lassen? Und wieder war da Rashid - sie mußte die Sehnsucht nach ihm bekämpfen. In ihrem Leben durfte es dafür keinen Platz mehr geben! Der Stand der Sonne zeigte auf späten Nachmittag. Die Straße lag wie ein endloses Band vor ihr. Am Himmel entdeckte sie das Sportflugzeug, das von einem leisen, gleichmäßig tiefen Brummen begleitet, ihr entgegen flog. Im Gegenlicht wirkte es zerbrechlich wie Glas. Ein schöner Anblick! Ein schöner Tag! Das Leben war schön! Sinia fielen ihre Kinder ein, Andy, Nadine, Anja! Schon bald würde sie wieder bei ihrer kleinen Rasselbande sein und bei Chris! Wie nah sie sich ihnen auf einmal fühlte und in Gedanken war sie schon fast zu Hause. Über dreitausend Kilometer entfernt......
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