U N F E R T I G E S I T U A T I O N E N
Unfertige Situationen und Formen der Wiederaneignung
Autor: Daniel Springer Titel: Unfertige Situationen erstellt im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeit für die Master Thesis an der Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart Betreuung Prof. Dr.-Ing. Sokratis Georgiadis Architektur- und Designgeschichte, Architekturtheorie 2012/2013 Spezielles Dankeschön an: Chrissie Muhr FOR ACADEMIC PURPOSE ONLY.
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EINFÜHRUNG
POLITIK 1. Ökonomie & Krise
S. 13 - 24
2. Konflikt & Krieg
S. 25 - 36
3. Kontrolle & Anonymität 4. Zeltstädte & Lager
S. 37 - 48 S. 49 - 60
NATUR 4. Katastrophe & Post-Katastrophe
S. 61 - 68
KULTUR 6. Zeit & Ruine
S. 69 - 84
7. Ästhetik & Style
S. 85 - 96
ANHANG Literaturverzeichnis
„wir haben vor, hier Situationen zu schaffen – neue Situationen.“1 Constant Nieuwenhuys
Einf端hrung
un | fer | tig 1. noch nicht fertiggestellt, noch nicht im endgültigen Zustand befindlich 2. noch nicht vollkommen, noch nicht ausgereift Si | tu | a | ti | on 1. Verhältnisse, Umstände, in denen sich jemand [augenblicklich] befindet; jemandes augenblickliche Lage 2. Verhältnisse, Umstände, die einen allgemeinen Zustand kennzeichnen; allgemeine Lage
Der Begriff Situation ersetzt den der Architektur – set of circumstances, a state of affairs, location. – die Situation ist bestimmt durch den Zustand. Demnach ist die Situation weitaus mehr als die Architektur an sich. Die Architektur ist Teil der Situation, genauso wie Menschen und Orte. Um ein komplettes Bild einer Situation zu bekommen, muss man das Zusammenspiel von Orten, Architekturen, Menschen und deren Umstände betrachten. Das Adverb unfertig verstärkt den schon nicht materiellen Zustand der Situation im Sinne eines laufenden und offenen Prozess, welcher nicht fertig sein kann, da er im Begriff ist ständig zu werden. Die unfertigen Situationen werden teilweise produziert oder entstehen aus sich selbst heraus. Sie sind vielseitig in ihrer Ausprägung. Im Allgemeinen sind wir nicht gewöhnt, mit unfertigen Situationen umzugehen. Sie suggerieren uns Brüche, die eine eigene Ästhetik entwickeln.
a: Conical Intersect von Gordon Matta-Clark
Diese Situationen sind Bestandteil eines Prozesses, und entfalten erst dadurch eine gewisses Verständnis. Erst unsere Vorstellungskraft erweckt das Potential der unfertigen Situationen. Die Vorstellung darüber, was einmal war, und was einmal sein kann. Die unfertigen Situationen liegen zwischen Start und Ende, Abfahrt und Ankunft, Vergangenheit und Zukunft. Es wird kein klares Bild vermittelt, deswegen werden unendlich viele Assoziationen hervorgerufen. Es ist die Grauzone des Transits.
Die Wiederaneignung liegt im Auge des Betrach-
ters. Sie liegt in den Möglichkeiten seiner Fantasie. Die situationistische Internationale hat Ende der 1950er Jahre das Konzept der Situation zum allgegenwärtigen und namensgebenden Programm auserkoren. Constant Niewenhuys, ein Mitglied der Situationisten, drückt es deutlich aus: „wir haben vor, hier Situationen zu schaffen – neue Situationen.“1 Anhand Techniken wie Dérive (Umherschweifen) und Détournement (Zweckentfremdung) wurden Möglichkeiten definiert, um neue Situationen hervorzurufen. Daraus entstanden zugleich neue vielseitige Experimentierfelder in einer sonst gewohnten Umgebung. Lebbeus Woods beschreibt die Aufgabe von experimentellen Räumen - “an experimental space, that is, one that gives us the opportunity to experience a type of space we haven’t experienced before. Whether it will be a pleasant or unpleasant experience; exciting or dull; uplifting or merely frightening; inspiring or depressing; worthwhile or a waste of time, is not determined in advance by the fulfillment of our familiar expectations,
because we can have none, never having encountered such a space before. We shall simply have to go into the space and pass through it, perhaps more than once.”2 Das Experiment liegt in der Möglichkeit durch die Veränderung, Adaptierung und Nutzung neue Raumerfahrungen entstehen zu lassen. In diesem Sinne sind die Arbeiten von Gordon Matta-Clark erinnerungswürdig, der durch die Freilegung häuslicher Strukturen neue Perspektiven, Räume und letztendlich Situationen schaffte. “A simple cut or series of cuts acts as a powerful drawing device able to redefine spatial situations and structural components”3. Aus dieser Perspektive werden die Thematiken der folgenden Kapitel behandelt. Einerseits beschäftigen sie sich mit der Entstehung unfertiger Situationen; auf der anderen Seite mit dem Potential der Aneignung und Nutzung der vorgefundenen Situationen.
a: http://www.macba.cat/uploads/20111202/4136_MG_8962_770x543.jpg 1 Constant Nieuwenhuys, „Eine andere Stadt für ein anderes Leben“, in Constant’s new Babylon, ed. Mark Wigley (Rotterdam: 010 Publishers, 1998) 2 http://lebbeuswoods.wordpress.com/2011/02/15/a-space-of-light-2/ (accessed: 05.03.2013) 3 http://dprbcn.wordpress.com/2012/01/26/gordon-matta-clark/ (accessed: 05.03.2013)
1 Ă–konomie & Krise
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„Trend“ der Krise Der Begriff der Krise war in den letzten Jahren sehr präsent. In den Medien war die Rede von einer Generation Krise, die aufgrund von wirtschaftlichen Unsicherheiten um ihre Zukunft bangt. Gerade die Finanzkrise 2007/2008, ausgehend von der amerikanischen Immobilienkrise, zeigte die internationale ökonomische Abhängigkeit der einzelnen nationalen Staaten. Es verdeutlichte ein Geflecht, in dem die Politik immer öfter eine untergeordnete Rolle einnimmt. Als Reaktion formierte sich der Protest durch die Occupy-Bewegung. Sie kritisierte vehement die ohnmächtige Rolle der Politik gegenüber ökonomischen Strukturen und folglich auch deren Abhängigkeit. Zudem haben sich Länder wie Island oder Griechenland (Spanien, Portugal) jüngst als stark betroffene Krisenländer herauskristallisiert, und verbinden daher den Begriff der Krise mit ihrem nationalen ökonomischen Zustand. Die Krise als Prozess zeigt Folgen und Auswirkungen auf unterschiedlichen Ebenen: politisch, gesellschaftlich sowie auch kulturell. Die Architektur reflektiert dies direkt und deutlich in neuen Formen der Planung, anhand von alternativen Aneignungs- und Nutzungsstrukturen, sowie auch begriffliche Neuinterpretationen von Nachhaltigkeit und Ressourcenbewusstsein. In dem Zustand nach der Krise, wie gravierend die Auswirkungen auch sind, ergeben sich neue Möglichkeiten. Die auf der kapitalistischen Perspektive, dem Fokus auf Pro-
a: Occupy Wall Street Protest in New York 2011
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fit und Gewinnmaximierung basierende Krise offeriert auch eine neue Diskussion und Auseinandersetzung über die Architektur – die Im-mobilie wird mobil.
Formen des Protests Der Protest besitzt das kreative Potenzial Dinge neu und anders zu denken. Er reflektiert die Zukunftsträume, –wünsche und auch -ängste einer Nation. Zum Ausdruck kommen diese Ängste primär in Form von Protesten, die direkt auf den Unmut und die Perspektivlosigkeit der gegenwärtigen Situation aufmerksam machen. Dies ist vergleichbar mit einer psychoanalytischen Behandlung. Genau genommen mit dem Zeitpunkt, in dem der Psychiater den Nerv, die tiefsten Ängste des Patienten trifft. Davon getroffen löst sich die Blockade im Innersten und verschafft dem Patienten neu gewonnene Freiheit. In diesem Sinne befreit sich die Bevölkerung durch die öffentliche Kundgebung über den sozialen Zustand in den Zeiten der Krise. Dieser Zusammenhang geht einher mit der Aktivierung des öffentlichen Raumes und wird beispielsweise in Form von Straßenprotesten zum Ausdruck gebracht. Die Proteste der Occupy-Bewegung belagerten sowohl räumlich mit Zelten und Camps den lokalen öffentlichen Raum in der Nähe von Wirtschafts- und Bankenzentren, als auch medial über die neuen Kommunikationsmedien im In-
b: Zelt-Camp wührend des Occupy Protests 2012
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ternet wie Facebook, Twitter und Youtube. So konnten Nachrichten vom Ort des Geschehens live in Bild und Text international übermittelt werden. Die Möglichkeit dieser globalen Echtzeit-Vernetzung verbindet Aktion und Reaktion direkt und sorgt so weltweit für unterschiedliche Orte des Protests. Die entscheidende Rolle von sozialen Netzwerken während der Anfänge von Protesten, wurde viel diskutiert. Als aktuelles Beispiel zeigten dies die Proteste des arabischen Frühlings auf dem Tahrirplatz in Kairo. Nur stand hier weniger die wirtschaftliche Thematik der Occupy-Bewegung im Fokus, sondern vielmehr der politische Unmut gegenüber Machtstrukturen und der Fokus auf gesellschaftliche und soziale Umbrüche. Analog zu den sich häufenden Protesten hat das Time Magazin direkt reagiert und den „Protester“ 2011 zur Person of the year gekürt – der Protestierende wurde durch seine Aktivität zu einer medialen Figur. Jedoch ist hierbei die aktive Medienberichterstattung der Protestierenden auf der einen Seite mit der wachsenden Aufmerksamkeit der Medien am Protest auf der anderen Seite in einem Wechselspiel. c: Cover des Time
In der Essaysammlung „Occupy Everything – Reflections on why it’s kicking off everywhere“ von 2012 begeben sich die Editoren Alessio Lunghi & Seth Wheeler auf die Suche nach dem gemeinsamen Ursprung der internationalen Unruhen. Im Essay „Ideology Fail“ von 500 Hammers werden die medialen Zu-
Magazines 2011
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sammenhänge hervorgehoben. „In the past, when the large national news companies were the major outlets of information for what was going on in the world, it was difficult to find alternative commentaries on current events. The mainstream media has always implicitly supported the status quo: there may be scores of articles critical of a government or its policy, but the suggestion that representative democracy is a bad system is virtually non-existent [...] Today the critical analysis often comes to you. The habit of linking articles on social media sites has created a situation where selected pieces of information, from a wide range of sources are presented in a feed that is not only as wide-ranging as your own interests but as broad as those of your friends and contacts as well.”1 Eine Basis für die Zunahme des öffentlichen Protests bildet die Zunahme der Informationsquellen und deren mediale Vernetzung untereinander – jeder einzelne Mensch bildet im Netzwerk eine alternative individuelle Informationsquelle zu den weltweit operierenden meinungsbildenden Institutionen. Unmut, Ängste und Sorgen können einfach im Netz vervielfältigt, „geliked“ und geteilt werden. Die Verräumlichung findet akupunkturgemäß an vereinbarten Orten statt, denn die reale öffentliche Aufmerksamkeit ist noch immer ein wichtiger Bestandteil für den Diskurs. Im Falle der Occupy-Bewegung sind es die Plätze von Wirtschaftszentren und im Falle des arabischen Frühlings in Kairo ist es der öffentlichste Platz der Stadt.
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d: Industrieruine in Detroit. Foto: Marchand & Meffre.
e: verlassenes Geb채ude in Detroit. Foto: Marchand & Meffre
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f: Der Torre David in Caracas ist ein Sinnbild des informellen Protests. Foto: Iwan Baan
g: Torre David - im Selbstbau ausgestatte Wohnungen. Foto: Iwan Baan
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Ökonomische Krisen als Potential Gerade wie anfänglich erwähnt, haben ökonomische Krisen Auswirkungen auf die bauliche Substanz – dies verdeutlicht sich im konkreten Sinne durch leerstehende Gebäude, alte Industriebrachen oder Rohbauten, die funktionslos im städtischen Kontext verortet sind. Durch das angesprochene Wechselspiel von Krise und Protest zeigen sich städtische Räume und Gebäude als nicht unbetroffen. Zum einen im Falle des Protests als Austragungsort und zum anderen im Falle der Krise als Produkt vernachlässigter Architektur. Ursache für verlassene Stadtlandschaften kann ein Strukturwandel im wirtschaftlichen Sektor sein. Am Beispiel von Detroit spiegelt sich der Niedergang der Automobilbranche in den leerstehenden Häusern und Industrieruinen der Stadt wieder. „Detroit, Industrial capital of the XXth century, played a fundamental role shaping the modern world. The logic that created the city also destroyed it. Nowadays, unlike anywhere else, the city’s ruins are not isolated details in the urban environment. They have become a natural component of the landscape.“2 Yves Marchand & Romain Meffre zeigen in ihren dokumentarischen Fotografien direkt, wie dem Niedergang der Industrie die Abwanderung der städtischen Bevölkerung folgte. Das Ergebnis dieser Abwanderung sind ruinöse Gebäudehüllen,. In kleinerem Ausmaß zeigen dies Insolvenzen von Bauträgern oder Investoren. Exemplarisch dafür sind Rohbauten oder Betonstrukturen, die als wirtschaftliche Ruinen durch ihre unfertige Präsenz und völlig ohne Nutzung den städtischen Raum besetzen. Ein bekanntes Bei-
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spiel ist der Torre David in Caracas. Das nur zur Hälfte mit Fassadenplatten bedeckte Betonskelett war ursprünglich geplant als Bild für eine wirtschaftspotente Stadt. Im Gegensatz dazu wurde das halbfertig gebaute Hochhaus zu einem Sinnbild des informellen Protests. Aus heutiger Perspektive lassen sich Detroit und Caracas auch als Brutstätten für alternative Nutzungsstrategien erkennen. Die Krise für die einen kann Potential für die anderen sein. In Detroit formiert sich eine junge kreative Schicht, um das Ideal einer grünen und nachhaltigen Stadtentwicklung zu bereiten. Während in Caracas die Armut und Wohnungsnot der Besetzer als Ventil für die Aneignung der Investorenruine auftritt.
Das Paradox der Ökonomie Homo oeconomicus und homo urbanus. Unfertige städtische Bauten und Situationen nehmen im Kontext des Protests eine entscheidende Rolle ein. Der Protest formiert sich in urbanen Aneignungen oder Umnutzungen der im Verfall befindlichen Stadtarchitektur. Je nachdem aus welchem Milieu der sanfte Protest heraus entsteht, äußert sich die Form der Aneignung. Informell als Besetzung am Beispiel des Torre Davids oder formell privat investiert als Umnutzung in Detroit. Die Ursachen sind unterschiedlich, aber gemein ist im Kontext der unfertigen Situationen das Interesse der Wiederaneignung und produktiven Adaption der verloren geglaubten Zustände. Der öknonomische Niedergang offeriert in seinen resultierenden städtischen Ruinen und sozialer Kritik die potentielle Basis neuer kreativer Produktion und Investition – Top-down versus Bottom-up.
a http://spaceandpolitics.blogspot.de/2011/11/occupy-wall-street-as-node-of-resonance_14.html b http://static.guim.co.uk/sys-images/Guardian/Pix/pictures/2012/1/18/1326910551253/Protesters-at-theOccupy--007.jpg c http://www.highsnobiety.com/news/wp-content/uploads/2011/12/shepard-fairey-time-magazine-of-theyear-cover-1.jpg d http://www.marchandmeffre.com/detroit/index.html e http://www.marchandmeffre.com/detroit/index.html f http://blogs.gsd.harvard.edu/loeb-fellows/files/2012/09/Baan-Torre-David-2.jpg g http://www.aryse.org/wp-content/gallery/torre-david/torre_confinanzas_torre_david_07.jpg 1 500 Hammers, „Ideology fail“, in „Occupy Everything“ ed. von Alessio Lunghi & Seth Wheeler (Wivenhoe / New York / Port Watson: Minor Compositions), 21 & 22. 2 http://www.marchandmeffre.com/detroit/index.html (accessed: 05.03.2013).
2 Konflikt & Krieg
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Formen des Wiederaufbaus Der bewaffnete Konflikt und der Krieg zeigen die radikalsten unfertigen Situationen im städtebaulichen Kontext. Für die Architektur bedeutet das der Ausnahmezustand: Gebäude liegen in Trümmern, zerstörte Infrastrukturen und negiertes soziales Leben. Dieser Zustand hinterlässt Wunden die lange Zeit sichtbar und sogar fühlbar sind. Städtische Zerstörungen oder die daraus resultierenden Ruinen bieten kaum oder nur in seltenen Fällen Möglichkeiten der Aneignung in der Periode nach dem Krieg. Die Rekonstruktion und die Revitalisierung in solchen Fällen sind generell viel thematisiert, aber nur im speziellen Kontext zu lösen und zu entwickeln. Es gibt keine allgemeingültigen Lösungskonzepte. Politisch, ökonomisch und kulturell bedingt, muss sich eine Stadt individuell mit ihrer kriegsbedingten Vergangenheit auseinandersetzen und die geeignetsten Lösungen für die Nachkriegszeit finden. Objektiv betrachtet lassen sich drei mögliche Formen des Eingreifens bzw. Umgangs feststellen. Tabula Rasa steht für einen Neuanfang. Der Abriss von ungenutzten und zerstörten Stadtstrukturen wird durch den Wiederaufbau kompensiert. Diese Entscheidung tilgt die Geschichte, besonders die Spuren des Krieges. Somit handelt es sich nicht um Pragmatismus, vielmehr verbirgt sich dahinter eine starke Symbolik. Der Neuanfang ist oft ein Symbol des Vergessens. Die gemäßigtere Variante ist die Rekonstruktion der vom Krieg zerstörten Gebäude. Der original getreue
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Wiederaufbau verweist auf den historischen Zustand vor dem Krieg und symbolisiert somit die Friedenszeit vor dem Kriegsausbruch (verdrängt die Traumata des Krieges). Im Grunde genommen entspricht dies auch einer Tilgung wie bei der Tabula Rasa, nur eben von einem Teil der Geschichte. Das Geschehene wird als ungeschehen vorgestellt. Der Rückgriff auf den Vorkriegszustand löscht die Erinnerung an den Krieg aus. Zuletzt ist die schwierige Möglichkeit der Nachnutzung der gebrochenen Gebäude zu nennen. Neben dem unklaren physischen Zustand der Gebäudestruktur steht vor allem die psychische Aufarbeitung und Erinnerung im Vordergrund – beispielsweise die Freilegungen von Kriegsnarben an Gebäudefassaden oder die Monumentalisierung zerstörter Gebäude zu funktionslosen Hüllen. In dem Essay „The reality of theory“ bezeichnet Lebbeus Woods die Nachkriegssituation in dem vom Bürgerkrieg betroffenen Ex-Jugoslawien:„I had hypothesized that 90% of the damaged buildings would be restored to their normal pre-war forms and uses, as most people want to return their old ways of living [...] But 10% should be freespaces, for those who did not want to go back, but forwards.“1 Woods beschreibt sehr deutlich den mentalen Leidenszustand der Menschen in einer Nachkriegsphase. Die meisten Menschen, er spricht von 90%, wollen sich nicht erinnert fühlen, und am schnellsten in ihren gewohnten Zustand der Vorkriegssituation zurückkehren. Daraus resultiert vermutlich auch der Drang zu einem schnellen Wiederaufbau.
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Jedoch spricht Woods auch von den wenigen Menschen, die nicht in die Vergangenheit blicken wollen, sondern den Krieg als Teil der Geschichte betrachten und dieses Trauma auf andere Art und Weise verarbeiten. Bei den von Woods formulierten „Freespaces“ handelt es sich um alternative Räume, die Teil der zerstörten Gebäude sind. Dabei steht somit nicht die Re-konstruktion im Vordergrund, sondern eine direkte und situative Konstruktion. Die aus dem Krieg entstandenen unfertigen Situationen enthalten „Freie Räume“ für neue Ideen und deren Umsetzungen. Dieser alternative Wiederaufbau bezeichnet eine neue Perspektive und Orientierung.
a: Entwurf von Lebbeus Woods für ein kriegszerstörtes Gebäude in Sarajevo
Formen der Zerstörung Zunächst hängt der Wiederaufbau allerdings von der Art der Zerstörung ab. Verschiedene Arten der Kriegsführung resultieren in unterschiedlichen Graden der Zerstörung. Die Schlacht auf dem freien Feld ist passé; die Linien einer symmetrischen Kriegsführung sind unkenntlich geworden. Universale Flächenzerstörungen durch Bombardements, wie man sie aus dem zweiten Weltkrieg oder dem Vietnamkrieg kennt, finden in der globalisierten Kriegsstrategie jenseits von klassischen Staatenkriegen und Territorien wenig Bedeutung. Die Stadt als Agglomeration und Zentrum der Politik, Wirtschaft und Information wird direkt zum Kriegsschauplatz im so genannten urban warfare.
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Der urban warfare bedingt eine besondere strategische Komponente, nämlich eine intelligente und angepasste Nutzung der städtischen Syntax, das heißt der Straßen, Gebäude und Plätze einer Stadt. Aus der Kenntnis des Ortes und der jeweiligen Anpassung entwickelt sich eine besondere Asymmetrie der Konfliktaustragung. Die Gegner stehen sich nicht direkt gegenüber, sondern verschwinden in der Topographie der Stadt. Der Terrorismus oder der Guerillakampf ist in diesem Sinne eine der reinsten Formen der asymmetrischen Konfliktaustragung. Der israelische Architekt und Professor Eyal Weizman analysierte in seiner Publikation „Sperrzonen” unter anderem wie die israelische Armee in der Guerillataktik ausgebildet wurde, um auf den städtischen Häuserkampf in den palästinensischen Siedlungen adequat und zu ihren Gunsten reagieren zu können. Zuerst entscheidet nicht unbedingt die bessere Waffe, sondern das geeignetere Lesen der topographischen Syntax. Die subversiven Zerstörungen des urban warfare beeinflussen und erreichen also direkt und intimdie zivile städtische Bevölkerung. Wie es aus der Beschreibung von Weizman deutlich wird, haben diese Interventionen einen erheblichen Einfluss auf die Privatsphäre: „During the battle soldiers moved within the city across hundreds of metres of ‘overground tunnels’ carved out through a dense and contiguous urban structure [...] they were so ‘saturated’ into the urban fabric that very few would have been visible from the air. Furthermore,
c: israelische Soldaten bewegen sich durch palästinensische Wohnhäuser
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b: urban warfare in Beirut während des Bürgerkriegs 1975-1990
d: durchlöcherter Weg
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they used none of the city’s streets, roads, alleys or courtyards, or any of the external doors, internal stairwells and windows, but moved horizontally through walls and vertically through holes blasted in ceilings and floors.“2 Durch Kampbewegungen, die die konventionellen Verkehrsnetze der Stadt ignorieren, werden private Wohnungen zu Schauplätzen bewaffneter Auseinandersetzungen. Die Rückstände am Gebäude sind Einschusslöscher sowie zusätzliche Bodenund Wanddurchbrüche.
Formen der Aneignung Die moderne Kriegsführung ist gekennzeichnet durch Asymmetrie. Daraus zeichnen sich zwei Seiten – der direkte urbane Krieg, und der indirekte Drohnen- und Cyberkrieg, welcher aufgrund von Internet und technologischer Entwicklung an Bedeutung gewinnt. Auf der einen Seite wird die Verlagerung hin zum unsichtbaren Gegner und zu punktueller Zerstörung immer aktueller, auf der anderen Seite sind jedoch die Auseinandersetzungen und Zerstörungen ,wie aktuell an den Beispielen Syrien und Mali deutlich wurde, immer noch verheerend. Ganze Städte und Dörfer sind nach wie vor betroffen und leiden unter andauernder Zerstörung. Andere Städte wie Beirut verarbeiten noch immer die Wunden des Krieges. Deshalb ist im Falle des Wiederaufbaus die Haltung gegenüber städtebaulichen Konzepten bedeutend, die die Geschichte integrieren und gleichzeitig auch eine Zukunftsperspektive ermöglichen.
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Die Bedeutung des öffentlichen Raumes ist hierbei vermutlich eine zentrale Komponente. Wie Lieven de Cauter in seinem Essay „Hobbes in Beirut“ beschreibt, befinden sich die Beiruter 15 Jahre nach dem offiziellen Ende des Bürgerkriegs noch immer in einem latenten Kriegszustand. Dieses schlummernde Gefühl des ständigen Bürgerkriegs hat tiefe psychische Auswirkungen auf die städtische Öffentlichkeit und überhaupt auf die Regulierung des Zugangs zum öffentlichen Raum. „The effects of ever-latent civil war in Beirut are farreaching: the fragmentation of urban space and the disappearance of public space.“3 Das sich in den öffentlichen Räumen abspielende soziale Leben wird durch Angst und Trauma gehemmt. „In the collective imagination and in the arts, Beirut appears as a ghost town, a spectral city with a spectral civility. What we discover is a city, its inhabitants, its social behaviour, but also its art and literature, in the grip of post-traumatic stress syndrome.“4 Die Situation verlangt zur Wiederherstellung des städtischen Raumes eine Re-Publicness. Durch die Schaffung geeigneter Infrastruktur für öffentliche Belange wird eine essentielle Grundlage neuer gemeinsamer Identität gebildet. Der bewusste Umgang und die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen urbanen Raum stehen dabei repräsentativ für die aus dem Krieg resultierende Angst und Trauma. Nach Lebbeus Woods könnte abgesehen von ignoranter Tabula rasa und billiger Rekonstruktion in einer neuen Adaption
e: Kriegsruine in Beirut
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der unfertigen Situation das Potenzial des รถffentlichen Raumes als Ort der Gemeinsamkeit und Erinnerung genutzt werden. Die Integrierung geschichtlicher Ereignisse und die Idee der Nachnutzung ermรถglichen individuelle und alternative Auseinandersetzungen. Diese kรถnnen sowohl architektonisch als auch psychologisch von Bedeutung sein.
a http://historyofourworld.files.wordpress.com/2009/11/lw-ii_0001.jpg?w=720&h=426 b http://www.militaryphotos.net/forums/showthread.php?109321-Lebanese-civil-war c http://bldgblog.blogspot.de/2010/01/nakatomi-space.html d http://itwonlast.tumblr.com/post/3648992763/walking-through-walls e Autor 1 Lebbeus Woods, „The Reality of Theory“, http://lebbeuswoods.wordpress.com/2008/02/06/the-reality-oftheory/ (accessed: 05.03.2013). 2 Eyal Weizman, „The Art of War“, http://www.frieze.com/issue/article/the_art_of_war/ (accessed: 05.03.2013). 3 LIeven De Cauter, „Torwards a Phenomenology of Civil War: Hobbes in Beirut“, in „Entropic Empire“ von Lieben de Cauter (Rotterdam: nai010 publishers, 2012), 119. 4 LIeven De Cauter, „Torwards a Phenomenology of Civil War: Hobbes in Beirut“, in „Entropic Empire“ von Lieben de Cauter (Rotterdam: nai010 publishers, 2012), 119.
3 Kontrolle & Anonymit채t
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Chaos versus Kontrolle Im Netz werden ununterbrochen digitale Informationen produziert und konsumiert. Tagtäglich werden unzählige Bilder, Texte und Nachrichten verbreitet. Dieses Wuchern entspricht einem multimedialen Rhizom, welches sekundlich wächst und auch schrumpft. Das Internet ist als digitaler Raum keinen physischen Kräften, Transformationen oder Barrieren unterworfen. Es ist ein Geflecht aus scheinbar unkontrollierten Linien und Kristallisationspunkten, ohne Hierarchie und Planung; es gleicht sozusagen einem deleuze’schen Rhizom. “Anders als zentrierte (auch polyzentrische) Systeme mit hierarchischer Kommunikation und feststehenden Beziehungen, ist das Rhizom ein azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General. Es hat kein organisierendes Gedächtnis und keinen zentralen Automaten und wird einzig und allein durch eine Zirkulation von Zuständen definiert.”1 Das Internet in seiner aktuellen Form, gibt es seit ca. 20 Jahren. Die Digitalisierung und die daraus resultierende Verbreitung von vormals physischen Speichermedien, wie bspw. Kassette, CD oder DVD, ließ das Netz anfänglich zu einer chaotischen Grauzone werden; zu einem Raum ohne obrigkeitliche Kontrolle. Die normalen Distributionsketten von geistigem Eigentum wurde um-gangen und durch das Teilen im Netz zum Eigentum aller erklärt.
a: Beispiel einer Wurzel bzw. eines Rhizomes
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Anhand der andauernden Debatte um die Vorratsdatenspeicherung sollen Daten des Surfers nachträglich gespeichert werden – besuchte Webseiten, erzielte Downloads oder gesendete Nachrichten werden ausgewertet und kontrolliert. Im Falle eines Verdachts, kann die Polizei auf die Daten des Nutzers zurückgreifen. Lässt sich dies als ein Bentham’sches Prinzip im digitalen Zeitalter beschreiben? Die individuelle IP-Adresse des Internetnutzers offeriert die Nachverfolgung des Surfers, ohne dessen konträren Einsicht und Kontrolle. Dabei eröffnet sich die Möglichkeit des Vergleichs mit dem Panoptikum von Jeremy Bentham, wobei es durch die Kontrolle im digitalen Raum einem Post-Bentham‘schen Prinzip gleicht. Die digitale Form der Überwachung ist durch das Aufhalten im digitalen Raum völlig frei gewählt. Die Forderung nach nationalstaatlicher Kontrolle des Internets steigt; viele Länder stehen unter Entscheidungszwang. Die Anonymität, die bislang quasi ein Grundrecht eines jeden Surfers war, wird ihnen anhand der Kontrolle entzogen. Wer zu welchem Zeitpunkt welchen Fehler gemacht hat, ist dann jederzeit rekonstruierbar. Das Netz wird sich resultierend aus diesen neuen Kontrollmechanismen entsprechend der Nutzung und seiner Infrastruktur verändern.
b: das von Jeremy Bentham entworfene Panoptikum
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Stadt und Kontrolle Das Internet zeigt beispielhaft den Wandel von persönlicher Anonymität zu kontrollierter Öffentlichkeit. Von einem autogenen und adaptiven System, zu einem kommerzialisierten und kontrollierten digitalen Territorium. Bezüglich des Territoriums haben Deleuze & Guattari die Eigenschaften des geglätteten und gekerbten Raumes definiert. Das geglättete Modell ist „wirbelförmig, es bezieht sich auf einen offenen Raum, in dem die Dinge und Strömungen sich verteilen,“2 während das gekerbte Modell dazu neigt „einen geschlossenen Raum für lineare und feste Dinge aufzuteilen.“3 Allein die Beschreibung geschlossener Raum, deutet darauf hin, dass es sich um einen kontrollierten Raum handelt. Etwas Abgeschlossenes bzw. Begrenztes erhält die Möglichkeit zur Kontrolle allein durch das Wissen der Begrenzungen und folglich dessen Inhalts. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“4 wie der Philosoph und Architekt Ludwig Wittgenstein am Beispiel der Sprache verdeutlicht. Territorien können sowohl als begrenzte und kontrollierte Räume beschrieben werden, als auch dem entgegengesetzt als grenzenlos und unkontrolliert. „Territory, as the word finds its most fertile usages in common parlance, describes both domains and unknowns, fixed geometric areas and indeterminate spaces or places as yet unexplored. It is a term saturated with desire, propriety, and conquest of the unknown, a term that transposes organizational logics to include political logics and political milieu.“5
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Gerade westliche Nationen ordnen Territorien nach einem hierarchischen Prinzip. Landschaftliche Flächen werden dadurch einem regelrechten Kontrollnetzwerk unterzogen. Folglich ist ein Territorium in verschiedene Partionierungen gegliedert. Jeder Abschnitt enthält eine eigene Kontrollinstanz – Bund, Länder, Städte, Gemeinden, Nachbarschaften etc. Entsprechend jeder Einheit ist der verfügbare Hoheitsbereich räumlich begrenzt, jedoch auch einer übergeordneten Kontrollinstanz unterlegen. Generell hat eine Stadt einen klar definierten Stadtkern, deren Grenzen konzentrisch in die Landschaft expandieren, bis sie in die Natur ausfransen. Im Detail betrachtet besitzen Städte in modernen Industrienationen jedoch eine präzise geplante und entwickelte Flächenstruktur. Die Zonierungen reichen von Frei- und Grünflächen bis hin zu Bebauungsflächen. Letztere werden wiederum nach Bebauungsklasse, Bebauungshöhe und Funktion unterteilt. Ob nun Industriegebiet, Wohngebiet oder Mischnutzung, auch hier finden sich klar abgegrenzte Einteilungen. Daraus resultierend bleibt wenig Spielraum für alternative Entwicklungen. Die wenigen ungeplanten Lücken resultieren aus städtischen Leerräumen, die anhand von Zwischennutzungen solange bespielt werden, bis sich neue Investoren für das Gründstück finden.
c: Google Maps Aufnahme einer Kleinstadt nahe Münchens
d: Vorgaben eines Bebauungsplans für das zu bebauende Grundstück
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Das Resultat sind gehemmte Innovationen, da alternativen Ideen aufgrund von Gesetzen und Bürokratien wenig Entwicklungspotential entgegengebracht wird.
Räume der Anonymität Im Gegensatz zu Industrienationen zeigen Städte in Entwicklungs- oder Schwellennationen entsprechend vermehrt stadträumliche Piraterie, alternative Methodiken des Selbstbaus und zentral unkontrollierte Raumaneignung – vor allem in der informellen Siedlung, bezogen auf den asiatischen und lateinamerikanischen Raum. Diese Siedlungen basieren auf der unzureichenden Versorgung und wachsenden wirtschaftlichen Not und Perspektivlosigkeit auf dem Land. Daraufhin treibt es die Menschen in die Städte. Jedoch nicht in die wirtschaftlich florierenden Zentren, sondern als erste Ansiedlungsflächen entpuppen sich die städtischen Randzonen – die unkontrollierten Zwischenräume, oder die so genannten Nicht-Orte, die keiner klaren Definition unterliegen. Dort im Schatten des Stadtkerns entstehen enorme stadtähnliche Formationen, die anhand einfachster Materialien und Techniken aufgebaut werden. Doug Sanders bezeichnet diese Agglomerationen als Arrival Cities, Mike Davis betitelt diese Tendenz als Planet of Slums und „in der Sprache der Stadtplaner und Regierungen werden diese Enklaven oft als statische Anhängsel definiert, als krebsartige Wucherungen einer ansonsten gesunden Stadt.“6 Alle diese Siedlungs-
e: Foto eines Zustands in einem asiatischen Slum von Peter Bialobrzeski aus der Serie „The Raw and the Cooked“
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f: Informelle Siedlung in Mumbai mit Stadtzentrum am Horizont
g: rhizomartige Struktur in einem lateinamerikanischen Slum
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formen haben gemein, dass sie auf unkontrolliertem Boden und informell entstehen.
Situationen im Transit Diese Orte reflektieren in ihrem Transitstadium das eingangs beschriebene Rhizom. Solche rhizomartige Strukturen deuten auf Orte des Übergangs hin, die ein breites Experimentierfeld und neue Formen von Urbanität und sozialen Gefügen bieten. „Die Übergangszeit ist – mit ihren Unsicherheiten, dem Bedarf an engen menschlichen Bindungen und hilfreichen Institutionen, ihren Bedrohungen für den Zusammenhalt der Familie und die Einzelperson – oft der Zeitraum, in dem neue, hybride, beschützende Kulturen entwickelt werden.“7 Gelingt das Experiment, verfestigen sich die Strukturen. Es entstehen Kontroll- und Machtmechanismen, die wiederum von wirtschaftlichen und politischen Interessen gestützt werden. „Inzwischen gibt es auch in Rio de Janeiro, Istanbul und anderen gefragten Hauptstädten in den Entwicklungsländern Ankunftsstädte, die in jeder Hinsicht von der Mittelschicht geprägt werden.“8 So beschreibt es Doug Saunders. Bis es jedoch zu diesen vom Kapital kontrollierten Mechanismen kommt, sind es Transitorte. Die Unfertigkeit zeigt sich architektonisch im Einsatz von günstigen Baumaterialien und Produktionsweisen, sowie sozial durch die ständige Orientierung in neuen Netzwerken und Verknüpfungen. An dieser Stelle taucht die Frage auf, ob die schleichende Entwicklung von informeller Selbstorganisation hin zur kapitalträchtigen Etablierung gewisse architektonische
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oder soziale Potentiale aufweist, die genutzt werden sollten? Wäre es sinnvoll unfertige Situationen alternativ zu programmieren, um so Tendenzen der Kontrolle und wirtschaftlichen Abhängigkeit zu unterlaufen? Mike Davis schreibt über John Turner, einem britischen Architekten, der sich in den 70er Jahren intensiv für Selbstbauprojekte und der Legalisierung spontaner Urbanisierung in Slums einsetzte: „Turner war, zusammen mit dem Soziologen William Mangin [...] der Auffassung, Slums seien weniger das Problem als die Lösung.“9 Worauf Turner mit dieser Aussage anspielte, hat Davis nicht weiter erläutert. Vermutlich sah Turner aber nicht die Slums als das zu lösende Problem, wie es zu der Zeit andere betrachteten, sondern genau genommen umgekehrt als Lösung des Problems. Die Lösung die Turner anhand der Slums feststellte, projizierte er auf die Probleme der wohlhabenden Industriestädte, die sich aufgrund von strikten Planungsstrukturen und Kontrollen einer natürlichen städtischen Entwicklung und gesunden Selbstregulierung entziehen.
a http://candidcandidacy.files.wordpress.com/2008/07/rhizome.jpg b http://foucault.info/documents/img/panopticon/bentham_panopticon.jpg c Google Maps H旦henkirchen - Siegertsbrunn d http://www.fertighaus.de/f_haus/images/bebauungsplan.jpg e http://www.bialobrzeski.de/work/the_raw_and_the_cooked/Raw_02.html f http://www.guardian.co.uk/artanddesign/2011/oct/25/urbanized-documentary-design-7-billion g http://www.urbanrealm.com/blogs/media/blogs/pauls/JAN10/HU/slum.jpg 1 Gilles Deleuze & Felix Guattari, Tausend Plateaus (Berlin: Merve Verlag, 1992), 468. 2 Gilles Deleuze & Felix Guattari, Tausend Plateaus (Berlin: Merve Verlag, 1992), 472. 3 Gilles Deleuze & Felix Guattari, Tausend Plateaus (Berlin: Merve Verlag, 1992), 458. 4 Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus (USA: Barnes & Noble Books, 2003), http://books. google.de (accessed: 05.03.2013), Satz 5.6, 118. 5 Keller Easterling, Enduring Innocence (Cambridge, Massachusetts: MIT Press, 2005), 63. 6 Doug Saunders, Arrival City (M端nchen: Karl Blessing Verlag, 2011), 35-36. 7 Doug Saunders, Arrival City (M端nchen: Karl Blessing Verlag, 2011), 44. 8 Doug Saunders, Arrival City (M端nchen: Karl Blessing Verlag, 2011), 46. 9 Mike Davis, Planet der Slums (Berlin: Assoziation A, 2007), 78.
4 Zeltst채dte & Lager
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Formen des (Aus-)Lagerns Zeltstädte und Flüchtlingslager sind ein territoriales und architektonisches Resultat von katastrophen-, kriegs- und konfliktbedingten Situationen. Die architektonische Ausformulierung der Lager ist sehr unterschiedlich. Mehrere Faktoren bestimmen deren Größe, Lage und Organisation. Im Prinzip entsprechen Lager einem konkreten Ort, der nicht mit einer eigenständigen Identität versehen ist. Sie bilden vielmehr einen temporären Ort, der zu einem bestimmten Zweck errichtet wird. Ist die Mission oder der Auftrag beendet, wird das Lager demontiert und der Ort nimmt wieder seine ursprüngliche Gestalt an. Der Begriff der Zeit ist allerdings undefiniert. Das Lager und dessen Zustand können dadurch zu einer semi-permanenten Situation werden und im weiteren Verlauf eigene Identitäten entwickeln. Charlie Hailey, Professor an der University of Florida School of Architecture, hat in seinem Buch Camps – a guide to 21st century space verschiedene Formen des Lagers analysiert. Anhand seiner Untersuchung formuliert er drei verschiedene Kategorien: Autonomy, Control und Necessity. Die Autonomy bezieht sich zum größten Teil auf Freizeit- und Protestlager. Exemplarisch dafür ist die Selbstorganisation von diversen sozialen Gruppierungen. Das Protestlager der Occupy-Bewegung ist ein entsprechendes Beispiel, dass auf Grund autonomer
a: temporär errichtetes Zeltlager für Flüchtlinge
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Organisation entstanden ist. Weitere Beispiele, die Haley hier erwähnt wären u.a. Peace Camps, Holiday Camps oder Philosophers Camps. In der Kategorie Control werden Lager zusammengefasst, die aus mitlitärischen oder paramilitärischen Interessen errichtet werden – Mititärbasen oder Trainingcamps zählen darunter. Meistens sind dies geheime und hochkontrollierte Zonen, deren Zugang stark reglementiert ist. In diesen Bereich fallen auch Autonomiezonen oder politische Exklaven, wie die spanische Stadt Ceuta in Marokko. Das Prinzip des Ausschlusses und Zugangs ist von entscheidender Bedeutung in der Kategorie Control. Als Beispiele dieser Kategorie nennt Hailey u.a. auch Terrorist Camps, Boot Camps oder Overseas Military Camps.
Necessity beschreibt nach Haley eine Grauzone: „Camps of need occur neither by choice nor, for the most part, by force. Camps of necessity certainly fall into a gray area between autonomy and control.“1 Grundlegend geht es um Menschen, die durch Konflikte, Krisen oder Katastrophen nicht oder nicht mehr ihre ursprüngliche Umgebung bewohnen können. Haley benutzt den politischen Begriff der displaced person. Die Menschen in diesen Lagern befinden sich politisch oder rechtlich in einem Ausnahmezustand. Dieser Zustand kann beispielsweise durch Staats- oder Identitätslosigkeit ausgelöst werden. Charlie Haley ordnet dieser Definition Lager wie Refugee Camps, Gypsy Camps oder Homeless Camps zu.
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Im weiteren Verlauf wird der Fokus auf die Lager der Necessity gelegt. Unfertige Situationen beziehen sich zwar fast auf alle von Haley kategorisierten Lager, jedoch ist der Grat zwischen temporär und permanent, formell und informell am Beispiel der Necessity am intensivsten. Die rechtlichen Bedingungen sind unklar, genauso wie die architektonische Ausformulierung des temporären Ortes. Ist hierbei nicht nur der Ort des Lagers als unfertig zu betrachten sondern auch selbst die Identität?
Die unfertigen Situationen des Ausnahmezustands Der Ausnahmezustand gilt als Zustand bei “dem die Existenz des Staates oder die Erfüllung von staatlichen Grundfunktionen von einer maßgeblichen Instanz als akut bedroht erachtet werden.”2 Wie sieht ein Raum im Ausnahmezustand aus, dessen existentielle Bedürfnisse bedroht sind? Auf welchen zeitlichen und planerischen Aspekten beruht das Konzept des Lagers im Ausnahmezustand? Giorgio Agamben, italienischer Philosoph, auch bekannt für seine Kritik an den Zuständen in Lagern, beschreibt das Konzept des Ausnahmezustands in Räumen bedrohter gesetzlicher Kontrolle. „Man muss den paradoxen Status des Lagers von seiner Eigenschaft als Ausnahmeraum her denken: Es ist ein Stück Land, das außerhalb der normalen Rechtsordnung
b: Illustration des Leviathans von Abraham Bosse für das gleichnamige Buch von Thomas Hobbes. Daraus geht die Vorstellung eines Souveräns hervor.
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gesetzt wird, deswegen jedoch nicht einfach Außenraum ist. Was in ihm ausgeschlossen wird, ist nach der etymologischen Bedeutung von exceptio herausgenommen (ex-capere), eingeschlossen mittels seiner eigenen Ausschließung. Was aber auf diese Weise vor allem in die Ordnung hineingenommen wird, ist der Ausnahmezustand selbst [...] Das Lager, heißt das, ist die Struktur, in welcher der Ausnahmezustand – die Möglichkeit der Entscheidung, auf die sich die souveräne Macht gründet – normal realisiert wird.“3 Agamben beschreibt das Lager als Raum jenseits von allgemein festgeschriebenen Gesetzen. Der Souverän entscheidet in diesem Extra-Raum, völlig unabhängig vom zivilen abgegrenzten Rechtsraum. Ein aktuelles Beispiel aus jüngster Geschichte ist Guantanamo Bay. Die amerikanische Enklave auf Kuba ist zwar politisch unter der Herrschaft der USA, bildet jedoch per Gesetz einen eigenständigen Rechtsraum außerhalb der international geltende Zivil- und Menschenrechte. Folglich wird dadurch eine Situation geschaffen, alles möglich zu machen. Aus diesem Sachverhalt folgert Agamben :„[Demnach] ist jede Frage nach der Legalität oder Illegalität dessen, was dort geschieht, schlicht sinnlos.“4 Das Verhältnis von Herrschaft und Raum in den Lagern ist ambivalent. Diese Ambivalenz bildet das räumliche Produkt des Ausnahmezustands. In diesen Räumen ist somit die unfertige Situation zu einer permanenten Artikulation geworden, im Gegensatz zu der allgemeinen Natur von Lagern. „From the outset,
c: Die Häftlinge von Guatanamo Bay.
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d: Fl체chtlingslager aus Lehmbauten in der West-Sahara.
e: Unhcr Zeltst채dte in Ostafrika
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camps are understood as having a limited, although sometimes indeterminate, duration.“5 Zudem führt Hailey an: „camps exist between the temporary and the permanent.“6 In diesem Zwischenzustand verliert Planung weitgehend ihre Grundlage. Die tägliche Improvisation rückt an die Stelle der Planung. Folglich befinden sich die darin lebenden Menschen in einem Zustand ständiger Veränderung, ohne eine klare Aussicht auf eine stabile Situation. Die unfertige Situation wird Teil ihrer Lebenssituation und ihrer Identität.
Von temporär zu permanent Der Lagerzustand ist für gewöhnlich zeitlich begrenzt. In diesem Kontext steht die Verwendung von primitiver und roher Architektur. Der entsprechende Vorteil ist das direkte und einfache Auflösen der temporären Lagersituation. Zeltstrukturen, einfache Lehmbauten oder sonstige lokale Materialien finden daher beim Bau von Lagern häufige Verwendung. Im humanitären NGO-Bereich werden dagegen auch oft Zelte eingesetzt, da sie im Fall der akuten Hilfe sehr schnell einsatzbereit und benutzbar sind. Im Gegensatz dazu gibt es auch Lager die über einen längeren Zeitraum eine permanente Struktur ausgebildet haben. Besonders vielschichtig und politisch brisant zeigt sich dies am Beispiel des noch immer latent existierenden israelisch-palästinensischen Konflikts. Die Palästinenser haben sich ausdrücklich auf einen temporären Zustand berufen, als ihnen nach der Besetzung von israelischer Seite dauerhafte Wohnsied-
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lungen angeboten wurden. “Vorstöße, auf Dauer angelegte Wohnungen für Flüchtlinge einzuführen, wurden von vielen Palästinensern als Infragestellung der temporären Natur der Flüchtlingslager aufgefasst, somit des physischen Beweises der Dringlichkeit der palästinensischen Forderung nach Rückkehr an die Orte, von denen sie 1948 deportiert worden waren.“7 In den palästinensischen Lagern wurde zu Beginn jegliches „Design“ abgelehnt. Das Rohe und Unfertige ist der Ausdruck dafür, keine permanente Beziehung und Identität zu dem Lager und der vorherrschenden Situation aufzubauen. „Die Abwässer werden meist offen und überirdisch geführt, es werden keine Bäume gepflanzt und auch andere Zeichen von Dauerhaftigkeit vermieden. Man lässt so das Flüchtlingslager in einer Orwell’schen unendlichen Gegenwart, ohne Vergangenheit und Zukunft, verharren.“8 Eyal Weizman beschreibt den gewählten unfertigen Zustand noch drastischer mit der französischen Formel des politique du pire, der fordert „die Bedingungen möglichst zu verschlechtern: je schlimmer die Verhältnisse, je tiefer die Krise, desto schneller wird es zu einer politischen Veränderung kommen.“9
Unfreiwillige Aneignung Am Beispiel der Lager geht es nicht um die direkte und selbst gewählte Aneignung. Die Situation
f: ein permanentes Lager in Gaza‘s zweitgrößten Stadt Khan Yunis.
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erfordert oft eine gezwungene Form der Aneignung – zu Beginn in abhängiger Annahme und folglich durch resignierende Akzeptanz bei einer zeitlichen Ausweitung des Zustandes. Dieses passive Einverständnis ist politisch sowie gesellschaftlich diktiert und nicht eigenwillig motiviert. Gerade im Fall der Flüchtlingslager, bewegt sich dieses Einverständnis auf einem sehr schmalen Grat zwischen Legalität bzw. Illegalität.
a http://www.fluechtlingshilfe.ch/statistik_unhcr_e.hockstein.jpg/image_preview b http://www.gornahoor.net/images/leviathan.jpg c http://www.guardian.co.uk/world/2012/nov/07/guantanamo-bay-obama-elections-2012 d http://news.bbc.co.uk/2/hi/in_pictures/7410354.stm e http://www.business-on.de/resizeimg.php?img=dateien/bilder/unhcr_ostafrika_2011.png f http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/jan/26/palestine-papers-gaza-west-bank 1 Charlie Haley, Camps (Cambridge, Massachusetts: MIT Press, 2009), 322. 2 Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Ausnahmezustand (accessed: 05.03.2013) 3 Giorgio Agamben, Homo sacer (Frankfurt: Suhrkamp, 2002), 179. 4 Giorgio Agamben, Homo sacer (Frankfurt: Suhrkamp, 2002), 179. 5 Charlie Haley, Camps (Cambridge, Massachusetts: MIT Press, 2009), 4. 6 Charlie Haley, Camps (Cambridge, Massachusetts: MIT Press, 2009), 4. 7 Eyal Weizman, Sperrzonen (Hamburg: Nautilus, 2008), 244. 8 Eyal Weizman, Sperrzonen (Hamburg: Nautilus, 2008), 244. 9 Eyal Weizman, Sperrzonen (Hamburg: Nautilus, 2008), 244-245.
5 Katastrophe & Post-Katastrophe
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Formen der Katastrophe Ähnlich wie bei Kriegen und Konflikten, verhält es sich bei Katastrophen. Naturkatastrophen, wie Hurrikane, Erdbeben, Tsunamis oder Überschwemmungen haben zerstörerische Kräfte, die ganze Infrastrukturen und Städte zum Erliegen bringen können. Je nach Ausmaß resultieren Landschaften, deren Bewohnbarkeit nach der Katastrophe nicht mehr direkt möglich ist. Diese post-katastrophalen Zustände beinhalten zumeist nicht aneignungsfähige Situationen. Katastrophen waren in der jüngsten Geschichte sehr präsent – 2004 löste ein Erdbeben einen Tsunami vor der Insel Sumatra aus; 2005 verwüstete Hurrikan Kathrina die Stadt New Orleans und sorgte flächendeckend für starke Überschwemmungen; 2010 ein schweres Erdbeben auf Haiti; 2011 löste der Tsunami in Japan eine nukleare Katastrophe aus. Zurückzuführen ist die Gewalt solcher Naturkatastrophen auf vielschichtige und teilweise unergründliche Verkettungen. Manche Regionen sind aufgrund ihrer ungünstigen Lage stärker betroffen – beispielsweise die Lage über kritischen Kontinentalplatten, am Meer oder in der Nähe von Vulkanen. Die Natur ist in diesem Sinne nicht berechenbar.
a: Verwüstungen des Tsunamis in Japan 2011.
b: Verwüstungen von Kathirna in New Orleans 2005.
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Jedoch leistet der Mensch zusätzlich einen erheblichen Beitrag an der Zunahme von Naturkatastrophen. Durch Umweltverschmutzungen und flächendeckende technische Vereinnahmung der Landschaft wird stark in das natürliche Gleichgewicht eingegriffen. Die Folgen sind nicht direkt ablesbar. Dennoch tragen sie zu einem erheblichen Maß an der Verursachung von Naturka-tastrohpen bei.
Zustände der Post-Katastrophe Katastrophen und deren Erfahrung beeinflussen unsere Wahrnehmung und zukünftiges Denken nachhaltig. Letztlich entsteht daraus auch ein Umdenken bezüglich Umweltbewusstsein und planerischen Strategien. Am Beispiel der Katastrophe von 2011 in Japan zeigten sich direkte Reaktionen und neue Orientierungen – sowohl politisch als auch sozial. Auf politischer Ebene wurde eine Partei abgewählt, die seit mehr als 50 Jahren Japan regierte. Und im Hinblick sozialer Entwicklungen entstanden neue Ideen und Formen der Gemeinschaft. „[A] newfound emphasis on local autonomy and mutual support is characteristic of the contemporary atmosphere in Japan [...] the conversations among architects, designers, and urbanists are filled with sto-ries of ‚community building‘, ‚facilitation‘, and ‚local identity‘.“1 Dieser Tendenz folgend wurden viele Initiativen gegründet, wie zum Beispiel das Projekt Home-for-All von KISYN, dessen Name für die berühmten Architekten Kuma, Ito, Sejima, Yamamoto und Naito steht. „The
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project involves the creation of small collective spaces for conversation and meals in temporary housing sites that are home to tens of thousands of displaced residents.“2 Solche Projekte und Ideen berufen sich auf einfache direkte Formen des Designs und der Begegnung, um eine neue soziale Nähe zu generieren. „By infusing the emblem of the domestic („Home“) to the sense of the collective („All“), the Home-for-All seems to respond to a widespread anxiety about the fragmentation of community and the atomisation of social life.“3 Das Wenige oder Rustikale im Design ist Ausdruck des Mehr. Mehr bedeutet in diesem Sinne einen Aufruf zu mehr Mut für die Zukunft, bzw. in manchen Fällen den Neubeginn.
Aneignung kontraproduktiv Bei Katastrophen dieses Ausmaßes ist eine Wiederaneignung der zerstörten Gebäudestrukturen fraglich. Wirtschaftlich bedarf es immenser Investitionen um die gebrochenen städtischen Strukturen zu sichern und wiederherzustellen. Zusätzlich befindet sich die Bevölkerung in einem mittel- und obdachlosen Zustand. Und eine städtische Öffentlichkeit existiert nur auf eine gespaltene Art und Weise. Das Design kommt erst, wenn die Grundbedürfnisse wieder gedeckt sind. Im Fall von Kriegswunden ist die Bedeutung vielschichtiger. Es findet in manchen Fällen auf psychologischer Ebene eine andere, positivere Interpreta-
c: Ein Haus aus dem Projekt Home-for-All.
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tion des Geschehenen statt. Der überstandene Kampf hinterlässt seine Spuren im kollektiven Gedächtnis. Die Erinnerung und Auseinandersetzung ist die Basis, um das Trauma zu überstehen und den Fortschritt in eine eigene Richtung möglich zu machen. Konträr dazu verhält es sich nach einer Katastrophe. Sie wird begleitet von einem tiefen Schock, der überwunden werden will. Die Katastrophe bedeutet einen schlagartigen Bruch in der Kontinuität der Geschichte. Nicht die Erinnerung, sondern die Überwindung steht im Vordergrund. Vielmehr erkennt man eine Form der Besinnung. Grundlegende Bedürfnisse des Menschen und der Gesellschaft werden zentrale Bezugspunkte in der Zeit nach der Katastrophe. Projekte, die in solchen Zeiten entstehen, zeigen einen direkten und pragmatischen Umgang mit einfachen Materialien. Bei anderen Lösungen wird das Potential des Recyclings der zerstörten Gebäude-strukturen genützt. Material-Recycling bedeutet hier aber nicht nur Pragmatismus oder Not, sondern zu einem erheblichen Teil hat es auch symbolischen Wert. Das Design und die Architektur beinhalten im Fall der Katastrophe revolutionäre Kräfte. Die unfertigen und für viele Menschen zum Teil auch auswegslosen Situationen können, positiv gewendet, den Anreiz bieten, Dinge neu zu denken; das bedeutet Zusammenhalt vermitteln und Zukunftsperspektiven eröffnen. „A situation in which a post-growth economy combines with the urgent need for reconstruction to produce a sense of freedom in which old ideas, expectations, rules can be questioned and cast aside.“4
a http://i.telegraph.co.uk/multimedia/archive/00793/looters-new-orleans_793512c.jpg b http://www.latimes.com/includes/projects/before-after/japan-tsunami/japan_tsunami.01.before.jpg c http://archrecord.construction.com/features/snapshot/2013/images/03/1303-Home-For-All-1.jpg 1 Julian Worrall, „Post-disaster Japan“, Icon, Ausgabe: Februar, 2013, 58. 2 Julian Worrall, „Post-disaster Japan“, Icon, Ausgabe: Februar, 2013, 59. 3 Julian Worrall, „Post-disaster Japan“, Icon, Ausgabe: Februar, 2013, 59. 4 Julian Worrall, „Post-disaster Japan“, Icon, Ausgabe: Februar, 2013, 64.
6 Zeit & Ruine
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Massentourismus und Ruinen Alte gewachsene Städte haben eine starke touristische Anziehungskraft – beispielsweise die antiken Bauten von Rom oder Athen, die schmalen Gassen von Venedig oder die Pyramiden von Gizeh. Allein die Stadt Venedig verzeichnet jedes Jahr ca. 20 Millionen Besucher bei ca. 80.000 Einwohnern. Während viele Fluglinien Städtetrips zu Billigstpreisen in die beliebten alten Metropolen anbieten, werben zudem die Reiseagenturen mit den immer gleichen Bildern – für Rom das Kolloseum, für Athen die Akropolis und für Istanbul die Hagia Sophia. Aufgrund des stetig wachsenden Besucherandrangs werden die alten Sehenswürdigkeiten regelrecht überkonsumiert. Jean Baudrillard beschreibt es emphatisch am Beispiel des von Renzo Piano und Richard Rogers entworfenen Beaubourgs (Centre Pompidou):„ Die Massen stürzen zum Beaubourg, wie sie zu den Schauplätzen von Katastrophen stürzen, mit dem gleichen unwiderstehlichen Drang. Noch besser: sie sind die Katastrophe des Beaubourg. Ihre Zahl, ihr Getrampel, ihre Faszination, dass es sie juckt, alles zu sehen, alles zu befingern, ist für das ganze Unternehmen ein objektiv tödliches und katastrophales Verhalten.... Es ist also die Masse, die in dieser Katastrophenstruktur den Katastrophenagenten
a: Besuchersensation - Ruine des Kolloseum in Rom.
b: Touristenattraktion - Das Centre Pompidou in Paris
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spielt, es ist die Masse selbst, die der Massen-Kultur ein Ende setzt.“1 Diese Kritik von Jean Baudrillard drückt deutlich eine Aversion gegenüber Massenkultur und –tourismus aus. Repräsentativ für das „Getrampel“ im Centre Pompidou könnte auch die Besucherflut an anderen touristischen Orten stehen – beispielsweise die Akropolis, der Turm von Pisa oder die Stadt Venedig. Man würde mit Sicherheit denselben Effekt feststellen. Diese zunehmende Aneignung alter Denkmäler und Städte dient dem Fotografen Martin Parr als Inspirationsquelle. Er dokumentiert und analysiert seit den 1970er Jahren wie Menschen ihre Freizeit und ihren Urlaub verbringen. Für seine Serie „Small World“ hat Parr die Orte berühmter Sehenswürdigkeiten aufgesucht. Dabei steht nicht das berühmte Bauwerk im Vordergrund, sondern der Tourist oder die Reisegruppe innerhalb der antike Kulisse. Nicht die Architektur wird dadurch thematisiert, sondern die örtliche Besetzung, die der Massentourismus hervorruft. Man sieht, wie sich Menschen in Gruppen oder einzeln vor Sehenswürdigkeiten fotografieren lassen; sie versuchen mit Landkarten und Architekturführern die kryptischen Ruinen zu entziffern; oder sie treten selbst als Akteure auf und fotografieren die begehrten Objekte. Betrachtet man diese Serie genauer, wirken die Menschen völlig deplaziert. Es hat sogar den Anschein, als ob die touristische Aneignung eine Form von Hilflosigkeit hervorruft. Einzig die Kameraausstattung des Reisenden ist ein Hinweis dafür, nicht ganz unbeholfen zu wirken und eine Aufgabe zu haben.
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c: Fotographie aus der Serie „Small World“ von Martin Parr.
d: Fotographie aus der Serie „Small World“ von Martin Parr.
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Man fragt sich, worin die Attraktivität der touristischen Konsumption geschichtlicher Orte liegt? Besteht ein emotionaler Zusammenhang zwischen der ruinösen Architektur und dem Betrachter oder Nutzer?
Ruinenästhetik Der zeitliche Aspekt erscheint hierbei zentral. Zeit bedeutet Geschichte und Geschichte bedeutet Erinnerung. In den Schriften von Arata Isozaki über Ruinen bezieht er sich auf die Fantasie des Menschen. „Es sind unsere Projektionen auf der imaginativen Zeitachse zurück in die Vergangenheit, die uns in ihnen Fragmente idealer Dinge erkennen lassen, die uns trotz der zerstörerischen Kraft der Zeit überliefert sind. Selbst die Tatsache, dass sie uns kein vollständiges Bild ihrer ehemaligen Gestalt geben können, kann die Faszination und die Spekulationen nicht mindern. So gehen geheimnisvolle Kräfte von ihnen aus, die unsere Fantasie stimulieren [...] Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass wir in unendlich vielen Fantasien leben.“2 Viele Gebäudestrukturen haben Kriege, Brände und Katastrophen überstanden. Sie wurden über die Jahrhunderte unterschiedlich genutzt; es wurde adaptiert und rekonstruiert. Je nach Zustand, Lage und Ideologie gab es unterschiedliche Anforderungen an die bestehende Gebäudesubstanz und ihre Performanz. Es ist ein andauernder Zustand der Unvollkom-
e: Ruinenästhetik bei Caspar David Friedrich
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menheit, welcher im Falle der Ruinen durch die „zerstörerische Kraft der Zeit“ spürbar wird. Durch Ihre Geschichte und ihr Fortbestehen sind sie ein integraler Auslöser unserer Fantasie und unserer Vorstellung über die Vergangenheit. Durch den Vergangenheitsbezug erscheinen uns die Ruinen archaisch und fremd, aus einer fernen und vergessenen Zeit. Oftmals sind keine Autoren oder Architekten, Aufzeichnungen oder Skizzen überliefert. Einzig und allein durch ihre Existenz vermitteln sie ein Wissen, das längst vergangen scheint. „There is much to learn from architecture before it became an expert‘s art. The untutored builders in space and time [...] demonstrate an admirable talent for fitting their buildings into the natural surroundings. Instead of trying to „conquer“ nature, as we do, they welcome the vagaries of climate and the challenge of fotopography.“3 Diese archaischen Behausungen sind keiner Mode unterworfen. Vielmehr verfolgen sie das Ziel sich ideal an topologische und klimatische Naturbedingungen anzupassen. Dabei spricht man von vernakulären Baumethoden, die in ihrer direkten Verbindung mit der Natur eine eigene ästhetische Rohheit aufweisen. Folglich ruft es die Frage nach dem ästhetischen und pittoresken Wert dieser Architektur hervor. David Leatherbarrow arbeitete in seinem Buch „Archtiecture Oriented Otherwise“ unter anderem die Bedeutung von Primitivität und Rohheit heraus. „The word „primitive,“
f: vernakuläre Architektur der Dogon.
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for example, does not mean for Shaftesbury non-Western or exotic, but rather what is unfinished in its development [...] „Unwrought“ figures are not lacking in shape or profile, only final form, because they are still being shaped, still becoming something other than they have been, quite possibly something other than what was expected. „Rough“ means not yet fully formed, approximately finished. Forms of this kind, or at this stage of their formation, are genuine, because each has arisen out of an intrinsic law of development [...] Roughness is prized because it bears witness to creative energy.“4 Leatherbarrow unterstreicht das Moment des Prozessualen in der Architektur. Der Ausdruck des Prozesses steckt im rohen oder primitiven Zustand eines Objekts. Innerhalb dieses noch unfertigen Zustands verfügen Objekte über immenses Potenzial an kreativer Energie. Isozaki spricht von Fantasie im fragmentalen Objekt und Heatherbarrow von kreativer Energie; was bedeutet das nun für die Schönheit der Architektur? Auguste Perret formuliert es emphatisch mit Bezug auf den Palace of Versailles; “This is not architecture; architecture is what leaves beautiful ruins.”5 Anthony Ashley-Cooper, ein Earl of Shaftsbury, formuliert es im Allgemeinen vergleichbar: „The beautifying, not the beautified, is really the beautiful.“6 Beide Aussagen beschreiben, dass im Prozessualen eine verborgene, vielleicht sogar eine wahre Kraft des Schönen existiert. Daraus lässt sich spekulativ schließen, dass im Unferti-
g: Der Palace of Versailles, der nach Auguste Perret keine Architektur ist.
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gen bzw. in der Rohheit ein kreatives Potenzial vorhanden ist, das als schön empfunden werden kann.
Ruinen des 20. Jahrhunderts Was bedeutet das für die modernen Ruinen des 20. Jahrhunderts? Beim Entwurf eines Gebäudes wird alles bis in das kleinste Detail geplant. Das Projekt Architektur endet oftmals mit der Bauabnahme. Dieses Denken entspricht vermutlich wirtschaftlichen Motiven, ob es jedoch architektonischen Motiven entspricht ist fraglich. Nach Roger Behrens mangelt es den Ruinen des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen an Atmosphäre. „In den alten Burg- und Schlossruinen konnte man wandern, sie standen in Wäldern und Parks, hatten Atmosphäre. Die Ruinen des 20. Jahrhunderts sind unwirtlich, unbewohnbar; es sind Trümmer, in denen man nach Überlebenden sucht. Die moderne Ruine ist eine Grabstätte.“7 Die Fotografien von Bas Princen bringen diese Unwirtlichkeit zum Ausdruck – keine pittoreske Atmosphäre sondern unfertige Situationen, die ein Gefühl von Identitätsverlust und Beklemmung hervorrufen. Die Situationen zeigen ständige Brüche – unterschiedliche Architekturen aus verschiedenen Zeiten werden überlagert; zum Teil ohne Rücksicht auf den jeweiligen geschichtlichen Kontext. Jede baulich hinzugefügte Ebene entspricht dabei einer Anpassung an die aktuelle Notwendigkeit. Paul Virilio bringt das
h: Fotografie von Bas Princen
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i: Die Bunkerfotografien von Paul Virilio an der Atlantikk端ste Frankreichs
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Verhältnis von Bedürfnis und architektonischer Funktion anhand der Untersuchung von Bunkeranlagen an der französischen Atlantikküste zum Ausdruck: „Das Ziel des Monoliths ist es nicht, den Jahrhunderten zu widerstehen, die Dicke seiner Wände deutet lediglich auf die zu erwartende Gewalt des Einschlags im Augenblick des Angriffs hin.“8 Am Beispiel des Monoliths beschreibt Virilio die Bedeutung der Architektur als direkte Nutzung, bestimmt für den Moment. Jedoch hat die Architektur, durch ihre statische Anforderung, die Eigenschaft den Moment zu überdauern. Sofern Momentarchitekturen keine direkte Nachnutzung zulassen, ist der Übergang in den ruinösen Zustand das natürliche Resultat. Die moderne Ruine ist gekennzeichnet durch ihre kurze Nutzungsperiode. Bedarf die Ruine des 20. Jahrhunderts daher einer neuen Definition von Schönheit? Einer Ästhetik des Fraktalen? Die architektonische Collage und Überlagerung von geschichtlichen Ebenen offeriert eine eigene verquere Ästhetik, die man auch in den Fotografien von Princen wahrnimmt. Vermutlich liegt das Potenzial der unfertigen Situationen im ständigen Weiterdenken und -entwickeln. Die Perspektive auf das Fertige ist das Potenzial des Unfertigen.
Ruinen und Aneignung Antike Tempelanlagen, mittelalterliche Burgen oder vernakuläre Architekturen – diese ruinenhaften und archaischen Architekturen haben durch die Erschließung als touristisches Ziel ihre ursprüngliche Nutzung und Funk-
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j: Touristische Aneignung. Fotografie von Martin Parr.
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tion verloren. Der Tourismus als Nachnutzung bildet keinen entsprechenden Inhalt. Vielmehr handelt es sich um inhaltslose Hüllen, die das Ergebnis dieser Form der Nachnutzung sind. Der Tourismus als architektonischer Konsum benötigt nur eine Bühne und ein Bild, kommuniziert auf Postkarten, Postern und Werbungen. Bereist man diese Architekturen, bereist man oft das Bild und nicht die Architektur. Doch abgesehen vom touristischen Fokus und wie schon im Vorfeld angeführt, enthalten Ruinen im Grunde genommen ein enormes Potenzial für neue Interpretationen und Formen der Aneignung oder Nachnutzung. Sie enthalten ein verborgenes inhärentes Potential neue Verknüpfungen und Fantasien hervorzurufen.
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k: Fotografie von Bas Princen
„Le temps détruit tout.“1 Gaspar Noe
a http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Panorama_Kolosseum_in_Rom_%28komprimiert%29.jpg b http://usefulparisguide.blogspot.de/2012/09/tourist-attractions-in-paris-centre.html c www.newyorker.com/online/blogs/photobooth/2010/04/martin-parr-small-world.html d www.newyorker.com/online/blogs/photobooth/2010/04/martin-parr-small-world.html e http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/90/Caspar_David_Friedrich_Eldena_Ruin.jpg f http://rodrigoenok.blogspot.de/2008/11/dogons.html g http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/40/Palace_of_versailles,_part.jpg h http://butdoesitfloat.com/Too-abandoned-to-be-nature i http://www.labkultur.tv/sites/default/files/textimages/bunker_dw.jpg j www.newyorker.com/online/blogs/photobooth/2010/04/martin-parr-small-world.html k http://welcometohr.com/2009/06/28/bas-princen/ 1 Jean Baudrillard, Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen (Berlin: Merve, 1978), 68. 2 Arata Isozaki, Welten und Gegenwelten (Bielefeld: Transcript Verlag, 2011), 26. 3 Bernard Rudofsky, Architecture without Architects, http://designtheory.fiu.edu/readings/rudolfksy_awa.pdf (accessed: 05.03.2013) 4 David Leatherbarrow, Architecture Oriented Otherwise (New York: Princton Architectural Press, 2008), 101. 5 David Leatherbarrow, Architecture Oriented Otherwise (New York: Princton Architectural Press, 2008), 111. 6 David Leatherbarrow, Architecture Oriented Otherwise (New York: Princton Architectural Press, 2008), 99. 7 Roger Behrens, Krise und Illusion, Google Books, http://books.google.de/books/about/Krise_und_Illusion. html?id=KsWF-o7KJ68C&redir_esc=y (accessed: 05.03.2013). 8 Paul Virilio, Bunkerarch채ologie (Wien: Passagen Verlag, 2007), 65.
7 Ă„sthetik & Stil
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Die beschriebenen unfertigen Situationen der bisherigen Kapitel sind Grundlage für den Diskurs über eine aktuelle Tendenz in der gegenwärtigen Architekturbetrachtung. Die globalen Bilder von Krisen, Kriegen und Katastrophen, die wir tagtäglich durch die Nachrichten konsumieren, beeinflussen stark die Wahrnehmung unserer Umwelt. Sind die wirtschaftlichen Krisen in den westlichen Ländern noch vermeintlich unsichtbar, wächst die Skepsis der Menschen gegenüber stetiger Prosperität und Fortschritt im Allgemeinen.
Simplicity In den 70er Jahren verfasste die avantgardistische Architektengruppe Haus-Rucker-Co einen Essay zum Thema provisorische Architektur. Aus diesem Text geht eine ähnliche Skepsis hervor, die die aktuelle Situation adäquat widerspiegelt. „Die primären Bedürfnisse nach einem Dach überm Kopf, entsprechenden Verkehrsverbindungen und notwendigen Folgeeinrichtungen sind weitgehend gedeckt. Nach dem Krieg wurde so rasch als möglich Zerstörtes ersetzt und Notwendiges neu geschaffen. Ganze Stadtteile wurden aus dem Boden gestampft und Verkehrsbänder rigoros dem immer stärkeren Verkehr angepasst. In allen Bereichen waren Fortschritt und Wachstum Ziele, die es um jeden Preis zu erreichen galt.”1 Im Detail jedoch sind die Unterschiede sogar gravierender. Zum einen werden aktuell zusätzlich keine weiteren Stadtteile aus dem Boden gestampft und zum anderen gilt es nicht den Fortschritt und das Wachstum zu erreichen, sondern vielmehr um jeden Preis zu erhalten. Nach nun
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fast 40 Jahren latenter Skepsis hat sich in den westlichen Ländern ein Gefühl des Überdrusses verbreitet. Die daraus entstandene Lethargie fängt an zu bröckeln. Während die Lage der Schwellenländer prekär ist, während Flüchtlinge aus Afrika vor den Toren Europas zurückgedrängt werden, und selbst während die Plätze der Hauptstädte wieder zum Zentrum des kollektiven Protests werden, zeigt sich dies in Form einer veränderten Wahrnehmung. Daraus folgert sich eine fragwürdige Selbsterkenntnis, inwieweit die Sicherheit des aktuellen Wohlstands der Industrienationen noch zu rechtfertigen ist.
a: Grenze der spanischen Enklave Ceuta in Marokko
Diese zunehmend verbreitete Skepsis führt zu einer neu erlernten Ästhetik und Bewertung. Eine Form der Simplicity, eine gewisse Einfachheit und Ehrlichkeit der Dinge ist die natürliche Folge; das Reduzieren auf das Nötigste und die grundlegendsten Bedürfnisse. Der kapitalistische Überfluss, das Wachstum ohne Grenze und Ziel ist auf Dauer nicht befriedigend. Folglich wird die Sehnsucht nach Einfachheit wiederentdeckt, sowie auch die Schriften von Henry David Thoreau: „When I wrote the following pages, or rather the bulk of them, I lived alone, in the woods, a mile from any neighbor, in a house which I had built myself, on the shore of Walden Pond, in Concord, Massa-chusetts, and earned my living by the labor of my hands only. I lived there two years and two months.”2 Dieses Experiment b: Eine Replica der von Henry David Thoreau bewohnten Hütte in Walden Pont
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der selbst gewählten Isolation von Thoreau bedeutet eine radikale Abwendung von der Gesellschaft und ihren Zwängen. Jedoch bedeuten ein Rückzug und die Besinnung auf die Natur auch eine Reduzierung auf grundlegende Bedürfnisse. Der Rückgriff zum bewussten Ich und zum sozialeren Leben wird dadurch wiederum ermöglicht. Gerade im Zeitalter des Computers wird diese Forderung immer bedeutender. Die zeitgenössische Digitalisierung der eigenen Person und deren Vervielfältigung im Internet erschweren diesen Rückzug zunehmend. Diese Tendenzen zeigen sich auch, neben der Musik oder der Mode, direkt in der Architektur – eine junge Architektengeneration bezieht sich manifestisch auf Einfachheit, Rohheit und minimale Baukosten. Die Auseinandersetzung mit unfertigen Situationen ist nicht zufällig, vielmehr wird danach gesucht. „Sie grenzen sich ab von den Allüren der Stararchitekten, besonders derjenigen, die mit großer Geste immer neue Fußballstadien, Museen und Opernhäuser für Diktaturen entwerfen,“3 so wie der Zeit-Redakteur Tobias Timm es beschreibt. Der Bruch mit der opulenten Schönheit und das Spiel der Gegensätze ist für sie eine neue Herausforderung. Sie haben gelernt in Gegensätzen zu denken. Daraufhin erscheint es vielleicht grotesk, wenn die Organisation der informellen Wohnsiedlungen in Lateinamerika, Afrika oder Asien favorisiert wird; wenn die brutale Architektur der Bunkeranlagen an der Atlantikküste Architekten zum Entwurf eines Einfamilien-
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hauses inspiriert; oder wenn sich Situationen improvisierter Flüchtlingslager im Interieur eines Fashion Stores wieder finden. Durch das Spiel mit derartigen Gegensätzen wird aber auch gleichzeitig eine bestimmte öffentliche Aufmerksamkeit thematisiert und in vielen Fällen sogar provoziert.
c: Guerilla Store von Comme des Garcons
Aktivierung der Öffentlichkeit Noch ist es eine Gegentendenz, die versucht alternative Ästhetiken zu lokalisieren und zu verwenden. Es ist ein Experiment für die westliche Gesellschaft, die zunehmend mit den Problemen vielschichtiger Segregation zu kämpfen hat. Angesichts der sozialen Unruhen 2004 in Paris, 2008 in Griechenland, und 2010 in Grenoble, schreibt der Theoretiker Erik Swyngedouw in seinem Text Designing the Post-Political City and the Insurgent Polis, „Urban revolts and passionate outbursts of discontent have indeed marked the urban scene over the past decade or so […] these signs of urban violence are nevertheless telltale symptoms of the contemporary urban order, an order that began to implode, both physically and socially.”4 Diese Proteste sind zudem ein Aufruf zu einer direkteren, roheren eventuell auch primitiveren Form der Privatheit und Öffentlichkeit. Die aktuelle Stadt erzeugt eine schizophre-
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ne Öffentlichkeit, deren Resultat eine passive Form der (Stadt-)Nutzung ist. Folglich kann sich der Bürger nicht mehr klar mit seiner Stadt identifizieren und zugehörig fühlen. Ein Banner mit dem Statement „Die Stadt gehört allen!“, nach Henri Lefebvre‘s „Recht auf Stadt“Konzept, prägte erneut das Bild der Straßenproteste in den letzten Jahren. Appelliert wird dabei an das Bewusstsein im Bürger nach aktiver und eigenständiger Veränderung der Stadt. Entfremdete Arbeit ist in der modernen Gesellschaft zwischenzeitlich ein allgemeiner Begriff und Zustand, jedoch nicht der ent-fremdete Stadtbewohner. Hans Boesch beschreibt in seinem Essay „Die sinnliche Stadt“ den Stadtmensch als einen von der Natur entfremdeten Nomaden; „Auch im Städtebau und im Verkehr sind die Ablösungen auffällig. In Hochhäusern rückt der Mensch vom Boden ab. Der Verkehrsteilnehmer ist von der Erde abisoliert durch Asphaltflächen und Beton. Das Rad hebt ihn hoch und trennt ihn noch zusätzlich vom gewachsenen Boden. Die heutige Menschheit lebt auf Kugellagern. Wir sind ein Heer von Nomaden geworden.“5 Durch den aktuellen Diskurs um die Aktivierung des öffentlichen Raumes erhält das Thema auch eine theoretische und akademische Annahme im Gegensatz zum emotionalen Protest und den Ausschreitungen, wie sie von Swyngedouw beschrieben wurden. Während die westlichen Städte von kontrollierten Situationen geprägt sind, verliert die Fantasie zunehmend an Bedeutung und Einfluss. Es sei denn die Kontrollsituation wird selbst zum Objekt der Fantasie. Pop-up-Aktionen, Zwischennutzungen und temporäre Installationen thematisieren anhand ihrer kurzen
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Interventionsdauer direkt die Kontrollsituation, subversiv und suggestiv. Der städtische Spielraum wird dabei spontan angeeignet, bevor die eingreifende Kontrolle einsetzt, sprich mit den Mitteln der Guerilla-Taktik. Am Beispiel des 72 Hour Urban Action Festivals, das sich mit der Thematisierung des öffentlichen Raumes auf spielerische Art und Weise auseinandersetzt, zeigten sich positive, wie auch negative Reaktionen der Bürger. Anhand solch initiierter Projekte werden die Bewohner offensiv aus ihrer entfremdeten Situation gerissen. Egal wie die Reaktionen ausfallen, das entscheidende ist die Aufhebung der Passivität. Problematisch wird es nur, wenn solche Aktionen als Kooperations- und Marketingwerkzeuge in die Programme von Stadtämtern oder globalen Konzernen integriert und folglich medialisiert werden. Sie erhalten dadurch einen gewissen Showcharakter und verlieren stark an Authentizität. Jedoch kann es im Gegenteil auch dazu beitragen, die Debatte einem größeren Publikum zu eröffnen und somit für einen breiteren und öffentlicheren Diskurs zu sorgen.
Unfertige Situationen und Simplicity Aktuell wird in der Architektur vermehrt auf Rohbau, Baustellenästhetik und informellen Chic gesetzt. Das Recycling von Produkten aus der industriellen Fertigung findet direkt Verwendung im Bau von tempo-
d: Instant-Urbanismus. Ein Projekt im Rahmen des 72 Hour Urban Action Festivals in Stuttgart 2012.
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rären Strukturen. „Dazu kommen Materialien, die man normalerweise nicht in Wohn- und Bürohäusern findet, sondern höchstens auf deren Baustellen: gelbe Betonschalungsbretter werden zu Wohnungsdecken und Gerüststangen zu tragenden Säulen.“6 Die Wiederentdeckung dieser Ästhetiken ist verbunden mit einer inhärenten Kritik und Skepsis an einem grenzenlosen Wachstum. Wie Reyner Banham 1955 bezüglich der Architektur von Alison und Peter Smithsons den Neuen Brutalismus beschreibt, so könnte heute auch wieder darauf verwiesen werden. „1. formale Lesbarkeit des Grundrisses; 2. klare Zurschaustellung der Konstruktion; und 3. Wertschätzung der Materialien „as found“ [als gegebene].“7 Nur der Faktor Zeit und die Aktualität der Krise spielen heute zudem eine wichtige Rolle, die das Aufkommen roher Ästhetiken begünstigt. Zeit, Aneignung und Umnutzung sind Elemente während des Arbeitsprozesses, die nun Teil des Produktes werden. Zum Thema Krise formuliert das niederländische Architekturbüro ZUS (Zones Urbaines Sensibles) gegenüber der Zeitung de Volksgrant kürzlich treffend: „Today’s crisis is our blessing.“8 Die Sparpolitik der Städte ermöglicht es, dass die Konzepte des alternativen Designs salonfähig werden.
e: Baustellenarchitektur in Wien am Wallensteinplatz 2005 von Peter Fattinger und Michael Rieper mit TU-Studenten.
f: Ein Crowdfunding Projekt des Architekturbüros ZUS in Rotterdam 2012.
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„Was den Neuen Brutalismus in letzter Konsequenz in der Architektur wie in der Malerei auszeichnet, ist gerade seine Brutalität, sein ‚je-m‘en-foutisme‘, seine Gewalttätigkeit.“9 Diese Form der Gewalttätigkeit oder wie Banham salopp formuliert, der je-m’enfoutisme, kennzeichnet die unfertigen Situationen. Das inhärente Potenzial und der zeitlich undeterminierte Prozess lassen Raum für Fantasie, Alternativen und Neues offen. Diese Einstellung spiegelt sich in den Projekten zeitgenössischer junger Architekten wieder, während unfertigen Situationen einen erheblichen inspirativen Teil dazu beitragen. David Leatherbarrow, Architekturprofessor an der University of Pennsylvania School of Design, zitiert Ari Konstantinidis bezüglich der Schönheit der Rohheit: „A true work of architecture will become more effective ... the less finished it is, in other words more easily shaped and converted, not completed once and for all.“10 Es ist fast so, als ob dieses Zitat von Konstantinidis zum aktuellen Programm geworden ist.
„A true work of architecture will become more effective ... the less finished it is, in other words more easily shaped and converted, not completed once and for all.“ Aris Konstantinidis
a http://cdn2.spiegel.de/images/image-243809-galleryV9-abcd.jpg b http://www.mass.gov/dcr/parks/walden/images/replica-2.jpg c http://www.wallpaper.com/images/98_270407_crac_f.jpg d http://www.bauwelt.de/sixcms/media.php/797/thumbnails/BW_2012_33_wett_7.jpg.823937.jpg e http://www.acfny.org/fileadmin/useruploads/fdfx_image/Press_Images/Vienna_Model/HIRES/05_FATTIN GER-ORSO-RIEPER.jpg f http://www.archdaily.com/tag/zones-urbaines-sensibles/ 1 Haus-Rucker-Co, „Provisorische Architektur“, Kunstforum, Ausgabe: Januar, 1977, 170. 2 Henry David Thoreau, Walden, http://www2.hn.psu.edu/faculty/jmanis/thoreau/thoreau-walden6x9.pdf 3 Tobias Timm, „Nichts ist für immer, alles ist möglich!“, die Zeit, Januar 2013 Nr. 6. 4 Erik Swyngedouw, Designing the Post-Political City and the Insurgent Polis (London: BedfordPress, 2011) 5 Hans Boesch, Die sinnliche Stadt (München: Verlag Nagel & Kimche, 2001), 58-59. 6 Tobias Timm, „Nichts ist für immer, alles ist möglich!“, die Zeit, Januar 2013 Nr. 6. 7 Reyner Banham, „Der Neue Brutalismus“, Candide - Journal for Architectural Knowledge, Ausg. Nr. 5, 112 8 https://www.facebook.com/ZUS.Rotterdam?fref=ts (accessed:13.05.2013) 9 Reyner Banham, „Der Neue Brutalismus“, Candide - Journal for Architectural Knowledge, Ausg. Nr. 5, 112 10 David Leatherbarrow, Architecture Oriented Otherwise (Princton Architectural Press, 2008), 101.
Anhang
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Erik Swyngedouw: Designing the Post-Political City and the Insurgent Polis. Bedford Press, London 2011. Tobias Timm: Nichts ist für immer, alles ist möglich. Die ZEIT, Ausgabe Nr. 8, 2013. Henry David Thoreau: Walden or Life in the Woods. Pennsylvania State University, Pennsylvania 2006. Online Portal, http://www2.hn.psu. edu/faculty/jmanis/thoreau/thoreau-walden6x9.pdf (05.03.2013) Paul Virilio: Bunkerarchäologie. Passagen Verlag, Wien 2007. Eyal Weizman: Sperrzonen - Israels Architektur der Besatzung. Edition Nautilus, Hamburg 2009. Eyal Weizman: The Art of War. Frieze Magazine, Ausgabe Nr. 99, 2006. Mark Wigley: Constant‘s New Babylon - The Hyper-Architecture of Desire. 010 Publisher, Rotterdam 1998. Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus. Barnes & Noble Books, USA 2003. http://books.google.de (05.03.2013) Julian Worrall: Post-Disaster Japan. Icon Magazine, Ausgabe Februar, 2013.
U N F E R T I G E S I T U A T I O N E N
Unfertige Situationen und Formen der Wiederaneignung
FOR ACADEMIC PURPOSE ONLY. STUTTGART, 2013.
Dies ist eine wissenschaftlichen Arbeit im Rahmen der Vorbereitung zur Master Arbeit im Fach Architektur an der Staatlichen Akademie der bildenden KĂźnste in Stuttgart. Das Thema im vorliegenden Buch sind unfertige Situationen. Untersucht werden ungeplante EinflĂźsse aus der Politik, der Natur und der Kultur, die auf die Architektur einwirken. Die Fragestellung nach der MĂśglichkeit der (Um-) Nutzung spielt dabei eine zentrale Rolle.