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JUGEND OHNE GOTT ÖDÖN von HORVÁTH
Kommentierte Ausgabe mit Vokabelhilfe, zahlreichen Anmerkungen & Illustrationen
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dbVerlag Wien 2015 ©2015 Daniel Bauer Verlag ISBN - 9-783-95037104-8 1. Auflage des Textes „Jugend ohne Gott“ von Ödön von Horváth Allert de Lange, Amsterdam, 1937
Jugend ohne Gott
Mit Hilfe dieses QR-Codes, oder unter dem unten stehenden Link, haben Sie als Leser Zugriff auf das vollständige HÜrbuch Jugend ohne Gott, aufgenommen von Maximilian Weigl. [www.longwayhome.de] www.dbverlag.at/jugend-ohne-gott_hoerbuch/
ÂŤWenns auch weh tut, was vermag der einzelne gegen alle?Âť
→Ödön (Edmund) von Horváth wird am 9. Dezember in der Hafenstadt Fiume (heute Rijeka) an der Adria geboren. Vater, Dr. Ödön Josef von Horváth, stammte aus dem ungarischen Kleinadel und gehörte zum Stab des ungarischen Gouverneurs in Fiume. Die H.s ziehen nach Budapest, wo Ödön von einem Hauslehrer auf Ungarisch unterrichtet wird.
Der erste veröffentlichte literarische Text: Das Buch der Tänze
1901 1902
1908 1913
1920 1923
Austritt aus der katholischen Kirche
Berlin, Salzburg, Murnau am Staffelsee
Erster großer Erfolg als Bühnenautor mit Geschichten aus dem Wiener Wald
1933
1933 Rückkehr nach Deutschland. Versuch in den Reichsverband deutscher Schriftsteller einzutreten.
H. zieht seinen Eltern nach München nach, wo er erstmals mit der deutschen Sprache in Kontakt kommt. Umzüge nach Pressburg (Bratislava), Budapest und Wien.
1929 1931
Die Villa der Eltern in Murnau wird von der SA durchsucht; Umzug nach Wien und Henndorf am Wallersee.
Umzug nach Belgrad
1934
Heirat mit der jüdischen Sängerin Marie Elsner -- Scheidung nach einem Jahr.
H. wird aus Deutschand verwiesen.
1936 1937
H.s Stücke dürfen in Deutschland nicht mehr aufgeführt werden & seine finanzielle Situation verschlechtert sich zusehends.
Jugend ohne Gott wird zum großen Verkaufserfolg; übersetzt in acht Sprachen
1938
1. Juni Treffen mit Robert SioJUNI dmak bzgl. der Filmrechte für JoG. H. plant Flucht aus Europa. 1938 Arbeit an einem Manuskript mit dem Titel Adieu, Europa!
Der Roman wird auf die Liste des „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt.
Horváth beabsichtigt, am nächsten Morgen nach Zürich weiterzureisen. Gegen 19:30 Uhr wird er von einem herabstürzenden Ast gegenüber dem Théâtre Marigny auf den Champs-Élysées erschlagen.
In seiner Tasche soll man auf einer Zigarettenschachtel folgende Zeilen gefunden haben:
ÂťUnd die Leute werden sagen In fernen blauen Tagen Wird es einmal recht Was falsch ist und was echt Was falsch ist, wird verkommen Obwohl es heut regiert. Was echt ist, das soll kommen Obwohl es heut krepiertÂŤ .
Die Neger 25. März. Auf meinem Tische stehen Blumen. Lieblich. Ein Geschenk meiner braven Hausfrau, denn heute ist mein Geburtstag. Aber ich brauche den Tisch und rücke die Blumen beiseite und auch den Brief meiner alten Eltern. Meine Mutter schrieb: »Zu Deinem vierunddreißigsten Geburtstage wünsche ich Dir, mein liebes Kind, das Allerbeste. Gott, der Allmächtige, gebe Dir Gesundheit, Glück und Zufriedenheit!« Und mein Vater schrieb: »Zu Deinem vierunddreißigsten Geburtstage, mein lieber Sohn, wünsche ich Dir alles Gute. Gott, der Allmächtige, gebe Dir Glück, Zufriedenheit und Gesundheit!« Glück kann man immer brauchen, denke ich mir, und gesund bist du auch, gottlob! Ich klopfe auf Holz. Aber zufrieden? Nein, zufrieden bin ich eigentlich nicht. Doch das ist ja schließlich niemand. Ich setze mich an den Tisch, entkorke eine rote Tinte, mach mir dabei die Finger tintig und ärgere mich darüber. Man sollt endlich mal eine Tinte erfinden, mit der man sich unmöglich tintig machen kann! Nein, zufrieden bin ich wahrlich nicht. Denk nicht so dumm, herrsch ich mich an. Du hast doch eine sichere Stellung mit Pensionsberechtigung, und das ist in der heutigen Zeit, wo niemand weiß, ob sich morgen die Erde noch drehen wird, allerhand! Wie viele würden sich sämtliche Finger ablecken, wenn sie an deiner Stelle wären?! Wie 1
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entkorken von: der Korken; etwa auf Weinflaschen; einen Korken entfernen. jmdn. (od. sich) anherrschen: in herrischem, heftigem Ton zurechtweisen sich die Finger (ab)lecken: begierig, hungrig sein auf etw.; sich nach etw. sehnen
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gering ist doch der Prozentsatz der Lehramtskandidaten, die wirklich Lehrer werden können! Danke Gott, daß du zum Lehrkörper eines Städtischen Gymnasiums gehörst und daß du also ohne große wirtschaftliche Sorgen alt und blöd werden darfst! Du kannst doch auch hundert Jahre alt werden, vielleicht wirst du sogar mal der älteste Einwohner des → Vaterlandes! Dann kommst du an deinem Geburtstag in die Illustrierte, und darunter wird stehen: »Er ist noch bei regem Geiste.« Und das alles mit Pension! Bedenk und versündig dich nicht! Ich versündige mich nicht und beginne zu arbeiten. Sechsundzwanzig blaue Hefte liegen neben mir, sechsundzwanzig Buben, so um das vierzehnte Jahr herum, hatten gestern in der Geographiestunde einen Aufsatz zu schreiben, ich unterrichte nämlich Geschichte und Geographie. Draußen scheint noch die Sonne, fein muß es sein im Park! Doch Beruf ist Pflicht, ich korrigiere die Hefte und schreibe in mein Büchlein hinein, wer etwas taugt oder nicht. Das von der Aufsichtsbehörde vorgeschriebene Thema der Aufsätze lautet: »Warum müssen wir Kolonien haben?« Ja, warum? Nun, lasset uns hören! Der erste Schüler beginnt mit einem B: er heißt Bauer, mit dem Vornamen Franz. In dieser Klasse gibt‘s keinen, der mit A beginnt, dafür haben wir aber gleich fünf mit B. Eine Seltenheit, so viele B‘s bei insgesamt sechsundzwanzig Schülern! Aber zwei B‘s sind Zwillinge, daher das Ungewöhnliche. Automatisch überfliege ich die Namensliste in meinem Büchlein und stelle fest, daß B nur von S fast erreicht wird – stimmt, vier beginnen mit S, drei mit M, je zwei mit E, G, 1
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Vaterland, das: Geburtsland; Heimatland Aufsichtsbehörde, die: Behörde od. Institution, die die Staatsaufsicht durchführt lasset: die veraltete Verbform (statt „lassen“) spielt auf die katholische Gottesdienstformel „Lasset uns beten!“ an
L und R, je einer mit F, H, N, T, W, Z, während keiner der Buben mit A, C, D, I, O, P, Q, U, V, X, Y beginnt. Nun, Franz Bauer, warum brauchen wir Kolonien? »Wir brauchen die Kolonien«, schreibt er, »weil wir zahlreiche Rohstoffe benötigen, denn ohne Rohstoffe könnten wir unsere hochstehende Industrie nicht ihrem innersten Wesen und Werte nach beschäftigen, was zur unleidlichen Folge hätte, daß der → heimische Arbeitsmann wieder arbeitslos werden würde.« Sehr richtig, lieber Bauer! »Es dreht sich zwar nicht um die Arbeiter« – sondern, Bauer? –, »es dreht sich vielmehr um das → Volksganze, denn auch der Arbeiter gehört letzten Endes zum Volk.« Das ist ohne Zweifel letzten Endes eine großartige Entdeckung, geht es mir durch den Sinn, und plötzlich fällt es mir wieder auf, wie häufig in unserer Zeit uralte Weisheiten als erstmalig formulierte Schlagworte serviert werden. Oder war das immer schon so? Ich weiß es nicht. Jetzt weiß ich nur, daß ich wieder mal sechsundzwanzig Aufsätze durchlesen muß, Aufsätze, die mit schiefen Voraussetzungen falsche Schlußfolgerungen ziehen. Wie schön wärs, wenn sich »schief« und »falsch« aufheben würden, aber sie tuns nicht. Sie wandeln Arm in Arm daher und singen hohle Phrasen. Ich werde mich hüten, als städtischer Beamter, an diesem lieblichen Gesange auch nur die leiseste Kritik zu üben! Wenns auch weh tut, was vermag der einzelne gegen alle? Er kann sich nur heimlich ärgern. Und ich will mich nicht mehr ärgern! Korrigier rasch, du willst noch ins Kino! Was schreibt denn da der N? »Alle Neger sind hinterlistig, feig und faul.« – Zu dumm! Also das streich ich durch! Und ich will schon mit roter Tinte an den Rand schreiben:
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unleidlich: übel gelaunt; untragbar; schwer erträglich hohle Phrase: (abwertend: Floskel); nichtssagende Redensart; auch: abgedroschen
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»Sinnlose Verallgemeinerung!« – da stocke ich. Aufgepaßt, habe ich denn diesen Satz über die Neger in letzter Zeit nicht schon mal gehört? Wo denn nur? Richtig: er tönte aus dem Lautsprecher im Restaurant und verdarb mir fast den Appetit. Ich lasse den Satz also stehen, denn was einer im Radio redet, darf kein Lehrer im Schulheft streichen. Und während ich weiterlese, höre ich immer das Radio: es lispelt, es heult, es bellt, es girrt, es droht – und die Zeitungen drucken es nach, und die Kindlein, sie schreiben es ab. Nun hab ich den Buchstaben T verlassen, und schon kommt Z. Wo bleibt W? Habe ich das Heft verlegt? Nein, der W war ja gestern krank – er hatte sich am Sonntag im Stadion eine Lungenentzündung geholt, stimmt, der Vater hats mir ja schriftlich korrekt mitgeteilt. Armer W! Warum gehst du auch ins Stadion, wenns eisig in Strömen regnet? Diese Frage könntest du eigentlich auch an dich selbst stellen, fällt es mir ein, denn du warst ja am Sonntag ebenfalls im Stadion und harrtest treu bis zum Schlußpfiff aus, obwohl der Fußball, den die beiden Mannschaften boten, keineswegs hochklassig war. Ja, das Spiel war sogar ausgesprochen langweilig – also: warum bliebst du? Und mit dir dreißigtausend zahlende Zuschauer? Warum? Wenn der Rechtsaußen den linken Half überspielt und zentert, wenn der Mittelstürmer den Ball in den leeren Raum 1
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stocken: im Sprechen od. in einer Bewegung kurz anhalten, aussetzen verderben: lispeln: der „s-Fehler“ beim Sprechen girren: meist: Laut der Taube; auch: schmeichelnd, verführerisch, kokettierend sprechend ausharren: geduldig warten, bis zum Ende bleiben Half, der: (veraltet) Mittelfeldspieler
vorlegt und der Tormann sich wirft, wenn der Halblinke seine Verteidigung entlastet und ein Flügelspiel forciert, wenn der Verteidiger auf der Torlinie rettet, wenn einer unfair rempelt oder eine ritterliche Geste macht, wenn der Schiedsrichter gut ist oder schwach, parteiisch oder parteilos, dann existiert für den Zuschauer nichts auf der Welt außer dem Fußball, ob die Sonne scheint, obs regnet oder schneit. Dann hat er alles vergessen. Was »alles«? Ich muß lächeln: die Neger, wahrscheinlich – 78
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Es regnet Als ich am nächsten Morgen in das Gymnasium kam und die Treppe zum Lehrerzimmer emporstieg, hörte ich auf dem zweiten Stock einen wüsten Lärm. Ich eilte empor und sah, daß fünf Jungen, und zwar E, G, R, H, T, einen verprügelten, nämlich den F. »Was fällt euch denn ein?« schrie ich sie an. »Wenn ihr schon glaubt, noch raufen zu müssen wie die Volksschüler, dann rauft doch gefälligst einer gegen einen, aber fünf gegen einen, also das ist eine Feigheit!« Sie sahen mich verständnislos an, auch der F, über den die fünf hergefallen waren. Sein Kragen war zerrissen. »Was hat er euch denn getan?« fragte ich weiter, doch die Helden wollten nicht recht heraus mit der Sprache und auch der Verprügelte nicht. Erst allmählich brachte ich es heraus, daß der F den fünfen nichts angetan hatte, sondern im Gegenteil: die 9
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forcieren: verstärken; steigern rempeln: (Sport, besonders Fußball) einen gegnerischen Spieler bzw. eine gegnerische Spielerin mit dem Körper, besonders mit angelegtem Arm wegstoßen emporsteigen: hinauf steigen/gehen wüst: hier: wild; ungezügelt; schlimm
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Anmerkungen 6 -- Bereits auf den beiden ersten Seiten Traugott Krischkes vielgelesener und -zitierter Biographie Ödön von Horváths „Ein Kind seiner Zeit“ taucht implizit die Frage aus, was für ein Landsmann Horváth gewesen sei. Charakteristisch daran ist auch, dass es implizit geschieht, denn liest man Stefan Zweigs „Widmung“, nach dem Tod des Autors, so stößt man auf die letzten Zeilen, die da lauten: „Doch das Werk, das dieser 36-jährige Autor uns hinterlassen hat, ist bedeutungsvoll genug, um seinen Namen auch außerhalb seines Vaterlandes berühmt zumachen…“ Welches Vaterland dies nun sei, verschweigt Zweig. In der Morgenausgabe des Figaro stand am Folgetag des Unglücks zu lesen: „Ein Sturm der gestern abend über Paris niederging, verursachte mehrere Unglücksfälle. In den Champs-Éllysés warf er eine Platane um. Sieben Personen, die unter ihr waren, konnte sich retten, bis auf einen Ungarn, den sie erschlug.“ [p.14] Der Autor macht sich dann auf Spurensuche und versucht Augenzeugen zu finden, etwa unter den Straßenkehrern und Parkbesorgern. Tatsächlich trifft er auf einen „Monsieur Maurice“, der ihm beteuert 1938 schon hier gearbeitet zu haben und sich an jenen schicksalhaften 1. Juni erinnern zu können. Und er weiß zu berichten, dass es sich bei dem Opfer unter dem Kastanienbaum um einen großen, kräftigen Mann gehandet hatte, der Schutz unter eben jenem Baum gesucht hatte, der ihn später erschlagen sollte. Ein poète, weiß er zu berichten. Ein „poète aus der Tschechei“. STAMMBAUM: Vater: Vukovar im ehemaligen Slawonien (Kroaten, größte Minderheit: Serben) Vukovar heute an der östlichen Grenze Kroatiens mit Serbien. Mutter aus Broos in Siebenbürgen: Broost heißt heute Orăștie und liegt im siebenbürgischen Rumänien. (Damals hauptsächlich Rumänen, Ungarn und Deutsche.) Dr. Edmund von Horváth ist als „Ministerial-Concepts-Adjunct“ am „Kön.ung. Goubernium“ tätig und zwar in Fiume, jener Behör-
Anmerkungen de also, die für die Verwaltung des zu Ungarn gehörenden, großteils aber autonom verwalteten Gebietes des Königreiches Kroatien und Slawonien vernatwortlich war. Die Volkszählung in Fiume aus dem Jahr 1901 kommt zu folgendenm Ergebnis: 38 955 Einwohner 17 354 5136 7497 2842 2251 1945
Italiener Illyrer (Südslawen der österr.-ungar. Monarchie) Kroaten Magyaren Winden (slowenisch-deutsche Minderheit) Deutsche
Die erste Sprache mit der Ödön von Horváth durch seinen Vater in Berührung kommt, ist Ungarisch. Der Junge wird nach dem Vater auf Edmund Josíp getauft; Edmund ist die deutsche Variante des ungaischen Ödön. Horváth wiederum ist ungarisch für „Kroate“. 12/7 -- Vaterland, das: als Begriff für Heimat seit dem 11. Jahrhundert üblich. Seit der Zeit des Nationalsozialismus oftmals kritisch diskutiert. Aus dieser Zeit ist auch die Formel „Für Führer, Volk und Vaterland“. 16/12 -- Sündflut, die: eigentlich: Sintflut. Mythologische Flut, die als Strafe Gottes alles Leben auf der Erde zerstört. Zu finden im 1. Buch Mose im Alten Testament, im Gilgamesch-Epos, als auch im Koran. „Sint“ kommt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet soviel wie immer(während). H. betont hier die Sünde, die zur Strafe führt. 20/25 -- geheimes Rundschreiben: das Rundschreiben hat so nicht existiert, jedoch könnte hier auf den 10. Mai 1933 angespielt werden, an dem beschlossen wurde, dass geländesportliche Übungen und der Gedanke des „Schullandheimes“ eine wichtige Rolle bei der Erziehung der deutschen Jugend spielen sollte. Dr. Rudolf Nicolai etwa spielte eine tragende Rolle bei dieser Entwicklung.
Anmerkungen 6 -- Bereits auf den beiden ersten Seiten Traugott Krischkes vielgelesener und -zitierter Biographie Ödön von Horváths „Ein Kind seiner Zeit“ taucht implizit die Frage aus, was für ein Landsmann Horváth gewesen sei. Charakteristisch daran ist auch, dass es implizit geschieht, denn liest man Stefan Zweigs „Widmung“, nach dem Tod des Autors, so stößt man auf die letzten Zeilen, die da lauten: „Doch das Werk, das dieser 36-jährige Autor uns hinterlassen hat, ist bedeutungsvoll genug, um seinen Namen auch außerhalb seines Vaterlandes berühmt zumachen…“ Welches Vaterland dies nun sei, verschweigt Zweig. In der Morgenausgabe des Figaro stand am Folgetag des Unglücks zu lesen: „Ein Sturm der gestern abend über Paris niederging, verursachte mehrere Unglücksfälle. In den Champs-Éllysés warf er eine Platane um. Sieben Personen, die unter ihr waren, konnte sich retten, bis auf einen Ungarn, den sie erschlug.“ [p.14] Der Autor macht sich dann auf Spurensuche und versucht Augenzeugen zu finden, etwa unter den Straßenkehrern und Parkbesorgern. Tatsächlich trifft er auf einen „Monsieur Maurice“, der ihm beteuert 1938 schon hier gearbeitet zu haben und sich an jenen schicksalhaften 1. Juni erinnern zu können. Und er weiß zu berichten, dass es sich bei dem Opfer unter dem Kastanienbaum um einen großen, kräftigen Mann gehandet hatte, der Schutz unter eben jenem Baum gesucht hatte, der ihn später erschlagen sollte. Ein poète, weiß er zu berichten. Ein „poète aus der Tschechei“. STAMMBAUM: Vater: Vukovar im ehemaligen Slawonien (Kroaten, größte Minderheit: Serben) Vukovar heute an der östlichen Grenze Kroatiens mit Serbien. Mutter aus Broos in Siebenbürgen: Broost heißt heute Orăștie und liegt im siebenbürgischen Rumänien. (Damals hauptsächlich Rumänen, Ungarn und Deutsche.) Dr. Edmund von Horváth ist als „Ministerial-Concepts-Adjunct“ am „Kön.ung. Goubernium“ tätig und zwar in Fiume, jener Behör-
Anmerkungen de also, die für die Verwaltung des zu Ungarn gehörenden, großteils aber autonom verwalteten Gebietes des Königreiches Kroatien und Slawonien vernatwortlich war. Die Volkszählung in Fiume aus dem Jahr 1901 kommt zu folgendenm Ergebnis: 38 955 Einwohner 17 354 5136 7497 2842 2251 1945
Italiener Illyrer (Südslawen der österr.-ungar. Monarchie) Kroaten Magyaren Winden (slowenisch-deutsche Minderheit) Deutsche
Die erste Sprache mit der Ödön von Horváth durch seinen Vater in Berührung kommt, ist Ungarisch. Der Junge wird nach dem Vater auf Edmund Josíp getauft; Edmund ist die deutsche Variante des ungaischen Ödön. Horváth wiederum ist ungarisch für „Kroate“. 12/7 -- Vaterland, das: als Begriff für Heimat seit dem 11. Jahrhundert üblich. Seit der Zeit des Nationalsozialismus oftmals kritisch diskutiert. Aus dieser Zeit ist auch die Formel „Für Führer, Volk und Vaterland“. 16/12 -- Sündflut, die: eigentlich: Sintflut. Mythologische Flut, die als Strafe Gottes alles Leben auf der Erde zerstört. Zu finden im 1. Buch Mose im Alten Testament, im Gilgamesch-Epos, als auch im Koran. „Sint“ kommt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet soviel wie immer(während). H. betont hier die Sünde, die zur Strafe führt. 20/25 -- geheimes Rundschreiben: das Rundschreiben hat so nicht existiert, jedoch könnte hier auf den 10. Mai 1933 angespielt werden, an dem beschlossen wurde, dass geländesportliche Übungen und der Gedanke des „Schullandheimes“ eine wichtige Rolle bei der Erziehung der deutschen Jugend spielen sollte. Dr. Rudolf Nicolai etwa spielte eine tragende Rolle bei dieser Entwicklung.
[Wenns auch weh tut, was vermag der einzelne gegen alle? Er kann sich nur heimlich ärgern. Und ich will mich nicht mehr ärgern!]
Von Ödön von Horváth erscheint ein bemerkenswertes Buch[…]. Es heißt Jugend ohne Gott und nennt sich Roman. Aber es könnte auch heißen Jugend im Diktaturstaat und dann wäre es eine Reportage. Man könnte es auch Frühlingserwachen im Schülerlager nennen, und dann wäre es das, was bei den Engländern und Amerikanern „thriller“ heißt, ein Sensationsbuch.
Carl Misch, Pariser Tageszeitung, 12. November 1937
Es gibt für mich ein Gesetz und das ist die Wahrheit. Ödön von Horváth