Wahrnehmungskräfte - Kräfte wahrnehmen

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Herausgegeben

Cornelia Zumbusch Band VII

Wahrnehmungskräfte –Kräfte wahrnehmen

Dynamiken der Sinne in Wissenschaft, Kunst und Literatur

Herausgegeben von Frank Fehrenbach, Laura Isengard, Gerd Mathias Micheluzzi und Cornelia Zumbusch

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer FOR 2767

ISBN 978-3-11-105987-7

e-ISBN (PDF) 978-3-11-106038-5

ISSN 2698-7899

Library of Congress Control Number: 2024930111

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Einbandabbildung: H. A. Lawrence und C. Ray Woods: Solar Eclipse from Caroline Island, 1883, Silbergelatineabzug, New York, Metropolitan Museum of Art, Inv. Nr. 2018.382 (CC0).

Reihengestaltung: P. Florath, Stralsund

Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Frank Fehrenbach, Laura Isengard, Gerd Mathias Micheluzzi und Cornelia Zumbusch

9 Wahrnehmungskräfte – Kräfte wahrnehmen

Zur Einführung

Wahrnehmungskräfte

Dennis Borghardt

39 Aristoteles’ Wahrnehmungsbegriff im Spannungsfeld von aísthesis, dýnamis und epistéme

Robert Jütte

57 Judentum und die Sinne

Aisthesis und jüdischer Ritus von der Bibel bis heute

Anatol Heller

85 Zerstreuungskräfte bei Karl Philipp Moritz

Adrian Renner

105 Sinneskräfte

Naturimaginationen und Wahrnehmungspoetiken in der deutschsprachigen Lyrik um 1900

K. Lee Chichester

129 Kräfte, Felder und Gestalten

Gestalt(ungs)prozesse des Organischen in der Biologie und Kunst der Britischen Moderne

Ksenia Fedorova

167 Aesthetics of the ‘homunculus’ of science

Artistic Approach to Physiological Research in New Anthropology

Kräfte wahrnehmen

Gerd Mathias Micheluzzi

197 Palpate et videte

Taktilität als Mittel visueller Bekräftigung in Pietro Lorenzettis

Tarlati-Polyptychon

Johanna Schumm

237 Pfeile des Geistes

Über den barocken Scharfsinn als Wahrnehmungs- und Schöpfungskraft

Yashar Mohagheghi

253 Die Kraft der Ode

Paragone der Sinne in Herders Odenpoetik

Thomas Moser

275 Rodin’s Working Hands

Caressing Plaster, Carved in Marble

Alexander H. Schwan

303 Kraft in Schwachheit

Tanz und Religion bei Charlotte Bara

Iris Laner

327 Einsam rezipieren oder gemeinsam betrachten?

Über die Kräfte der Bildwahrnehmung aus (post-)phänomenologischer Perspektive

Wahrnehmungsgrenzen

Racha Kirakosian

349 Daz inner ouge der sêle

Vision und Erkenntnis bei Meister Eckhart

Laura Isengard

373 (Ent-)Figuration der Wahrnehmungskraft

Theodor Fontane: Die Brück’ am Tay (1880)

Clemens Finkelstein

391 Vibration als Phänomenotechnik in den Umweltkonzeptionen der Moderne

Wolfgang Welsch

421 Grenzphänomene der Wahrnehmung

Christoph Hoffmann

433 Fische, Bienen, Farben

Die Sinnesempfindungen von Tieren und die Grenzen ihrer Erforschung

447 Abstracts

453 Bildnachweise

Wahrnehmungskräfte –Kräfte wahrnehmen

Zur Einführung

Wahrnehmung (gr. aísth¯esis, lat. sensatio, perceptio etc.) wird seit der Antike als Kraft (gr. dýnamis, lat. potentia, vis etc.) bestimmt.1 Umgekehrt entziehen sich die Kräfte selbst der sinnlichen Wahrnehmung. Das Nachdenken über Wahrnehmung tariert die Spannung zwischen Wahrheitsfähigkeit und Täuschungsanfälligkeit, passiver Impression und aktiver Imagination, verborgener Ursache und wahrnehmbarer Wirkung, Latenz und Manifestation aus. Zwangsläufig geraten dabei immer wieder Grenzbereiche der Wahrnehmung in den Blick. Diese haben sich spätestens seit Aristoteles als entscheidend erwiesen, wenn es um die Frage danach geht, wie und unter welchen Voraussetzungen beseelte Lebewesen in der Lage sind, mit einer von Dynamiken und Kräften geprägten Umwelt zu interagieren, sie sinnlich zu erfassen, ggf. kognitiv zu verarbeiten, zu memorieren und produktiv wiederhervorzurufen – sei es imaginär oder durch technische Hilfsmittel.

1 Zur Auffassung der dýnamis einerseits als Kraftursache, die imstande ist, Veränderungen bzw. Bewegungen hervorzurufen, und andererseits als passives (Wahrnehmungs-)Vermögen, welches die Wirkungen von Kräften als Veränderungen erleiden kann, vgl. H. Weidemann: Art. „dynamis / Vermögen, Möglichkeit“, in: Otfried Höffe (Hg.): Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 139–144; Hubertus Busche: Art. „aisthêsis / Wahrnehmung“, in: Otfried Höffe (Hg.): Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 10–14; sowie Max Jammer u. a.: Art. „Kraft“, in: Joachim Ritter u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie (in der Folge kurz HWdP), Bd. 4, Basel 1976, Sp. 1177–1184, hier besonders Sp. 1177–1178. Zur dýnamis im Rahmen der aristotelischen Modallehre vgl. hingegen die Erläuterung in Aristoteles: Über die Seele. De anima, griech.-dt. Ausgabe, hg. von Klaus Corcilius, Hamburg 2017, hier S. LXXX–LXXXI; und Christian Vogel: Von der Naturanlage zur Spitzenleistung. Eine Studie zu Pindars Menschenbild, Berlin u. a. 2019, S. 18–31 (Kapitel Dynamis und energeia bei Aristoteles). Zur deutschen Begriffsgeschichte der aus dem mhd. war (für Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit) und nehmen abgeleiteten Wahrnehmung, die etymologisch nicht mit dem Begriff der ‚Wahrheit‘ in Verbindung steht, sondern „der Sache Aufmerksamkeit schenken“ meint, vgl. Georg Toepfer: Art. „Wahrnehmung“, in: ders. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, 3 Bde., Stuttgart u. a. 2011, hier Bd. 3: Parasitismus – Zweckmäßigkeit, S. 717–737, S. 717.

Der Diskurs um die Wahrnehmungskräfte, das Wahrnehmen von Kräften sowie ihrer Grenzbereiche ist aus historischer Perspektive ein ebenso wirkmächtiger wie komplexer.2 Zunächst vor allem auf Grundlage von logischen Postulaten, zunehmend aber auch unter Miteinbeziehung anatomischer, physiologischer und psychologischer Spezifika, wurden die Wahrnehmungskräfte immer wieder hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeiten befragt. Das gilt insbesondere für das mitunter fragile Verhältnis von äußerer Gegebenheit (aisth¯etá ) und innerer Repräsentation ( phantasmata), mit dem die Verlässlichkeit der Wahrnehmung und das daraus ableitbare Wissen um ein Wahrnehmungsobjekt zur Debatte steht. Es betrifft aber ebenso die Vermögen der mitunter hierarchisch aufgefassten Einzelsinne: die ihnen je zugeschriebene Kraft, erfasste bzw. erlittene Sinneswahrnehmungen den höheren Seelenkräften wie dem Verstand oder Erinnerungsvermögen stärker oder schwächer zu vermitteln, Wahrnehmungen mehr oder weniger nachhaltig zu konservieren. Dabei fällt auf, dass die unter wechselnden Voraussetzungen tradierten, adaptierten und ergänzten oder teilweise neu formierten Wahrnehmungstheorien sich nicht nur für ontologische oder epistemologische, sondern insbesondere auch für künstlerische Konzepte und Verfahren als maßgeblich erwiesen haben.

Die im vorliegenden Band VII der Reihe Imaginarien der Kraft versammelten Beiträge fragen aus unterschiedlichen fachlichen und historischen Perspektiven, wie sich Konzeptualisierungen der Sinneskräfte zur problematischen Wahrnehmbarkeit von Kräften verhalten, wie künstlerische Verfahren an Perzeptionsmodelle angepasst werden oder welche Rolle diese bei der Ausbildung und Veränderung von Wahrnehmungskonventionen spielen.

2 Einen Überblick zu den grundlegenden Entwicklungslinien der Wahrnehmungstheorie, jeweils mit weiteren Literaturhinweisen, bieten Toepfer 2011 (wie Anm. 1); Robert Jütte: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München 2000; Hubertus Busche u. a.: Art. „Wahrnehmung“, in: Joachim Ritter u. a. (Hg.): HWdP, Bd. 12, Basel 2004, Sp. 190–250; Eckhart Scheerer: Art. „Sinne, die“, in: Joachim Ritter u. a. (Hg.): HWdP, Bd. 9, Basel 1995, Sp. 824–869; ferner Richard L. Gregory: Art. „Perception“, in: ders. (Hg.): The Oxford Companion to the Mind, Oxford u. a. 1987, S. 598–601. Zu kulturell bedingten Unterschieden von Wahrnehmungstheorien vgl. zudem J. B. Derg ¸ gwoski: Art. „Perception. Cultural Differences“, in: ebd., S. 601–603. Grundlegend für das Verhältnis von Wahrnehmungstheorie und Kunst bzw. Kunsttheorie sind David Summers: The Judgment of Sense. Renaissance Naturalism and the Rise of Aesthetics [1987], Cambridge 2007; sowie Tanja Klemm: Bildphysiologie. Wahrnehmung und Körper in Mittelalter und Renaissance, Berlin 2013.

Frank Fehrenbach,
Isengard, Gerd Mathias Micheluzzi, Cornelia Zumbusch 10
Laura

I. Dynamiken der Sinnesleistung

Um einleitend auf einige grundlegende Konzepte bezüglich der Wahrnehmungskräfte sowie die im Untertitel ausgewiesenen Dynamiken der Sinne in Wissenschaft, Kunst und Literatur einzugehen, sei zunächst auf einen paradigmatischen Passus aus der epochalen, zwischen 1306/07 und 1321 geschaffenen, später mit dem Zusatz göttliche versehenen Komödie des Dante Alighieri hingewiesen. Nachdem der Autor Dante sein alter ego, den Jenseitspilger Dante als Ich-Erzähler, das Inferno mit seinem Führer Vergil hat durchschreiten lassen und die sieben Terrassen des konzentrischen Läuterungsbergs erklommen sind, eröffnet sich im irdischen Paradies eine von zunächst noch unbestimmbarem Klang beherrschte Szenerie. Ferne Gegenstände ziehen dort den Blick des Jenseitspilgers in den Bann (Purg. XXIX, 43–51):

„Ein wenig weiter und trügerisch in der Erscheinung ( falsava nel parere) durch die Ausdehnung des Mediums (mezzo), das noch zwischen uns [i. e. Dante, Vergil, Statius sowie Matelda] und ihnen lag, nahm es sich wie sieben goldene Bäume aus. Doch als ich ihnen so nahe war, dass das gemeinsame, den einzelnen Sinn täuschende Objekt (l’obietto comun) der Wahrnehmung (senso) keine Aktualisierung (atto) mehr durch die Entfernung einbüßte, da erfasste die Kraft (la virtù), die dem Verstand (ragion) das Wahrgenommene aufbereitet, diese so, dass sie sich als goldene Kandelaber erwiesen und in dem Gesang ein Hosianna zu vernehmen war.“3

Weite Teile der hier von Dante auch als rhetorische Mittel4 in Anschlag gebrachten Wahrnehmungstheorien sind als Synkretismus älterer sowie zeitgenös-

3 Eigene Übersetzung von Dante Alighieri: La commedia. Die göttliche Komödie, hg. von Hartmut Köhler, 3 Bde., Stuttgart 2013–2015, hier Bd. 2: Purgatorio / Läuterungsberg, S. 570/572 (in Anlehnung an die dt. Übers. ebd., S. 571/573): „Poco più oltre, sette alberi d’oro / falsava nel parere il lungo tratto / del mezzo ch’era ancor tra noi e loro; / ma quand’ i’ fui sì presso di lor fatto, / che l’obietto comun, che ’l senso inganna, / non perdea per distanza alcun suo atto, / la virtù ch’a ragion discorso ammanna, / sì com’elli eran candelabri apprese, / e nelle voci del cantare ‚Osanna‘.“

4 Abseits des oben erwähnten Passus ist mit dem „bildhaften Sprechen“ (visibile parlare) aus Purg. X, 94–95 zweifellos das prominenteste Beispiel für die Verwendung des rhetorischen, auf die Wahrnehmungskräfte bezogene Mittel der enargeia bzw. evidentia im Sinne eines lebendig und bildhaften ‚Vor-Augen-Führens‘ innerhalb der Commedia gegeben. Zur energeia/ enargeia bzw. evidentia vgl. Cornelia Zumbusch: „es rollt fort“. Energie und Kraft bei Herder, in: Poetica 49 (2017/2018), Heft 3–4, S. 337–358, hier vor allem S. 343–347; A. Kemmann: Art. „Evidentia, Evidenz“, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3: Eup–Hör, Thüringen 1996, Sp. 39–45; zur sinnlichen Dimension der Begrifflichkeiten vgl. ferner Jakob Moser: Manifest gegen die Evidenz. Tastsinn und Gewissheit bei Lukrez, in: Helmut Lethen, Ludwig Jäger und Albrecht Koschorke (Hg.): Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem

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sischer Standpunkte zu bezeichnen.5 Größtenteils ruhen sie aristotelischen Konzeptionen um das Wahrnehmungsvermögen auf. Diese hatten im Laufe des 13. Jahrhunderts autoritativen Status erlangt und waren vielfach kommentiert worden.6 Das gilt auch für die verwendete, von Dante aus dem Lateinischen in die Vulgärsprache übertragene Terminologie.

der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Ein Reader, Frankfurt/M. u. a. 2015, S. 85–103; unter besonderer Berücksichtigung der bildenden Künste vgl. Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des „Ut-pictura-poesis“ und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171–208.

5 Vgl. Simon Gilson: Art. „Doctrine“, in: ders. und Zygmunt G. Baranski (Hg.): The Cambridge Companion to Dante’s Commedia, Cambridge 2019, S. 173–191; Willi Hirdt: Wie Dante das Jenseits erfährt. Zur Erkenntnistheorie des Dichters der Göttlichen Komödie, Bonn 1989, insbesondere S. 37–75; unter Miteinbeziehung von Purg. XXIX im Hinblick auf die Optik vgl. auch Akbari: Seeing Through the Veil. Optical Theory and Medieval Allegory, Toronto u. a. 2004, S. 114–177, hier insbesondere S. 162; Patrick Boyde: Perception and Passion in Dante’s Comedy, Cambridge 1993, S. 61–118, vor allem aber S. 96–98; sowie Simon A. Gilson: Medieval Optics and Theories of Light in the Works of Dante, Lewiston u. a. 2000, S. 100–102, zu Dantes wahrscheinlichen Quellen hingegen S. 257–260; vgl. ferner die klassische Studie von Alessandro Parronchi: La perspettiva dantesca [1959], in: ders. (Hg.): Studi sulla dolce perspettiva, Mailand 1964, S. 3–90. Auf eine (wie auch immer geartete) Vertrautheit mit philosophischen Positionen jener Zeit weist der Autor Dante selber hin, der in seinem um 1306 verfassten Convivio (II, 12, 7) davon berichtet, dass er damit begonnen habe, in den Schulen der „religiosi“ den Disputationen der Philosophen zu lauschen. (Dante Alighieri: Convivio. A Dual-Language Critical Edition, hg. und übers. von Andrew Frisardi, Cambridge 2018, hier S. 98/102: „E da questo imaginare [der Philosophie als donna gentile] cominciai ad andare là dov’ella si dimostrava veracemente, cioè nelle scuole delli religiosi e alle disputazioni delli filosofanti; sì che in picciolo tempo, forse di trenta mesi, cominciai tanto a sentire della sua dolcezza, che lo suo amore cacciava e distruggeva ogni altro pensiero.“)

6 Von den aristotelischen Werken waren im lateinischen Christentum bis in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts nur die Categoriae und De interpretatione bekannt. Vgl. Charles Burnett: Translation and Transmission of Greek and Islamic Science to Latin Christendom, in: Michael H. Shank und David C. Lindberg (Hg.): The Cambridge History of Science, Bd. 2: Medieval Science, Cambridge 2013, S. 341–364, hier S. 341–345; sowie David C. Lindberg: Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler, Frankfurt/M. 1987, S. 188–191 bzw. S. 361–368. Dies änderte sich seit ca. 1150 stetig, zunächst vor allem durch die Übersetzungen des Dominicus Gundissalinus (um 1115–nach 1190) und Gerhard von Cremona (1114–1187). So stand zur Mitte des 13. Jahrhunderts nicht nur bereits beinahe das gesamte Corpus Aristotelicum im Lateinischen zur Verfügung – inkl. De anima und De sensu et sensibilibus, flankiert durch die enorm einflussreichen De anima-Kommentare des Avicenna (eigentl. Ibn Sina; 980–1037) und Averroes (eigentl. Ibn Rushd; 1126–1198). Das Corpus Aristotelicum wurde auch mehr und mehr zum Kern der Curricula an den frühen Universitäten – wenn auch anfänglich nicht ohne Widerstand. Vgl. Hastings Rashdall: The Universities of Europe in the Middle Ages [1895], 3 Bde., New York 2010, hier Bd. 1, S. 433–437; David C. Lindberg: Science and the Medieval Church, in: ders. und Michael H. Shank (Hg.): The Cambridge History of Science, Bd. 2:

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Frank Fehrenbach, Laura Isengard, Gerd Mathias Micheluzzi,

Das trügerische Moment der sinnlichen Wahrnehmung hat u. a. bereits Platon betont.7 In seinem Theaitetos lässt er Sokrates argumentieren, dass Wahrnehmung angesichts der veränderlichen Wahrnehmungsobjekte und der individuellen Sinnesvermögen weder Wissen um eine wahrgenommene Sache hervorbringt noch als Grundlage eines Wissens um dieselbe dienen kann.8

Anders stellt sich dies bei Aristoteles dar (Met. I, 1, 980a21):

„Alle Menschen streben von Natur nach Wissen. Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen; denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen. Nicht nämlich nur zum Zweck des Handelns, sondern auch, wenn wir nicht zu handeln beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allen andern [Sinnen] vor. Ursache davon ist, daß dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt.“9

Die Feststellung, dass die Wahrnehmung (aísth¯esis) – anders als etwa noch bei Platon – Grundlage für Erkenntnis sowie das Vermögen ist, Unterschiede aufzudecken, ruht ihrerseits selbst auf mehreren Differenzierungen auf. Nach Aristoteles ist die Wahrnehmungsfähigkeit (aisth¯etikón) zwar eine angeborene,10 kommt jedoch nicht allen beseelten, das heißt zu Selbsternährung, Wachstum bzw. Schwinden sowie Fortpflanzung fähigen, im aristotelischen Sinne lebendigen Wesen zu.11 Das sind hier Pflanzen, Tiere sowie der Mensch. Wahrnehmungsfähigkeit als Modifikation der Seele ist nur den letzten beiden, von Aristoteles als Lebewesen bezeichneten gegeben, wobei der Mensch eine weitere Abgrenzung durch das alleine ihm beschiedene Überlegungsvermögen (diano¯etikón) erfährt. Grundsätzlich wird Wahrnehmung bei Aristoteles an die wahrzunehmenden Objekte sowie die subjektseitige, von ihm geprägte

Medieval Science, Cambridge 2013, S. 268–285, hier S. 278–279; sowie Mark A. Smith: From Sight to Light. The Passage from Ancient to Modern Optics, Chicago u. a. 2015, hier S. 14, Anm. 33.

7 Zu Platons sowie zu vorsokratischen Positionen hinsichtlich der Sinnesvermögen vgl. Busche u. a. 2004 (wie Anm. 2), Sp. 190–193.

8 Vgl. Platon: Theaitetos, 163A–C sowie 182A–E.

9 Aristoteles: Metaphysik, nach der Übersetzung von Hermann Bonitz, bearbeitet von Horst Seidl, Hamburg 2019, S. [9].

10 Vgl. Aristoteles: De anima, II, 5 [417b15–17].

11 So bereits in Aristoteles: Metaphysik, I, 1 [980a21–980b21]; insbesondere aber auch in De anima, II, 1–3 [412a1–415a13], wobei dort zusätzlich auf Lust und Leid als mit der Wahrnehmungsfähigkeit verbundene Gegenstände, das Strebevermögen (Begierde, Mut und Wunsch) sowie das Vermögen zur Ortsbewegung hingewiesen wird. Zur Wahrnehmung bei Aristoteles vgl. Wolfgang Welsch: Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles, Paderborn 2018a, S. [173]–205, hier S. 189–191; ders.: Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987; sowie Jütte 2000 (wie Anm. 2), S. 46–53.

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Fünfzahl der äußeren Sinne gekoppelt:12 Sehsinn, Geruchsinn, Hörsinn, Geschmackssinn sowie Tastsinn (wenngleich nicht jedes Lebewesen auch zwangsläufig mit jedem der fünf Sinne ausgestattet ist13).

Konzeptionell unterliegen die Sinne dem aristotelischen Prinzip der natürlichen Veränderung, mithin der Dynamik zwischen Aktualität und Potentialität.14 Diesem Prinzip entsprechend werden die Sinne als passive Kräfte oder Vermögen (dýnameis) definiert. Ihnen ist es der Möglichkeit nach gegeben, etwas zu erleiden, eine qualitative Verwirklichung bzw. Erfüllung (entelécheia) zu erfahren, oder – wie Dante später in der Commedia schreiben sollte – aktualisiert zu werden.15 Die „energetische“ wie auch sachliche „Priorität“ liegt dabei, wie u. a. Wolfgang Welsch bemerkt, auf Seiten der Objekte,16 sprich: Die Aktualisierung der goldenen Farbigkeit im Sehvermögen des Jenseitspilgers ist deshalb möglich, weil dieses aktiv durch die bereits aktualisierten goldenen Kandelaber angegangen wird.17 Damit ein solcher sinnlicher Angang zustande kommen kann, müssen nach Aristoteles Wahrnehmungsobjekt und Sinnesvermögen dem Modus nach in einem kongruenten Verhältnis zueinander stehen:18 Das, was das Wahrnehmungsobjekt bereits ist, muss das entsprechende Wahrnehmungsvermögen der Möglichkeit nach ebenfalls sein können. So ist es etwa (um bei Dantes Beispiel zu bleiben) nur dem potenziell ‚Gold-seienden‘ Sehsinn des Jenseitspilgers bzw. dessen Augen als Werkzeug (organon) des Sehsinns möglich, im dynamischen Akt der Wahrnehmung (enérgeia) die Farbe

12 Zu der von Aristoteles in De anima (III, 1 [424b22–23]) festgelegten, bis heute weitestgehend anerkannten Fünfzahl der Sinne vgl. insbesondere Jütte 2000 (wie Anm. 2), hier S. 48; zur Verschränkung von Wahrnehmungsorgan und Wahrnehmungsgegenstand vgl. Welsch 2018a (wie Anm. 11), S. 193. Eine genauere Bestimmung der fünf Einzelsinne und ihrer jeweiligen Vermögen findet sich bei Aristoteles: De anima, II, 7–11 [418a26–424a16].

13 Vgl. Aristoteles: De anima, II, 3 [415a3–6].

14 Vgl. ebd., II, 5 [416b32–418a6]; sowie Welsch 2018a (wie Anm. 11), S. 196–199.

15 Den von Dante verwendeten Begriff „atto“ beschreibt auch einer der frühen Kommentatoren der Commedia, Francesco da Buti (1324–1406), als Verwirklichung des subjektseitigen Wahrnehmungspotenzials: „[A]lcun suo atto; cioè alcuna sua operazione; e questo dice secondo l’opinione di coloro che tegnano che ’l vedere adoperi, ricevendo impressione da l’obietto, e non operi mettendo fuora li suoi raggi.“ (Hervorhebung im Original) Vgl. Francesco da Buti: Commento di Francesco da Buti sopra la Divina Commedia di Dante Alighieri, hg. von Crescentino Giannini, 3 Bde., Pisa 1858–1862, hier Bd. 2, S. 703 (zu Purg. XXIX, 43–57). Anders hat dies in jüngerer Zeit Charles S. Singleton beurteilt, wenn er davon ausgeht, dass „atto“ von der Bewegung („motion“) der Kandelaber herrührt, räumt aber ein, „[…] but it can refer to other features as well.“ Charles S. Singleton: Dante Alighieri. The Divine Comedy [1970–75], übers. und komm. von Charles S. Singleton, 6 Bde., Princeton 1975–1992, hier Purgatorio Bd. 2: Commentary, S. 704 [48].

16 Vgl. Welsch 2018a (wie Anm. 11), S. 193.

17 Bezüglich des Sehvermögens vgl. Aristoteles: De anima, II, 7 [418a26–31].

18 Vgl. ebd., II, 5 [417b2–5]; sowie Welsch 2018a (wie Anm. 11), S. 196–197.

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Gold der Kandelaber zu aktualisieren – der goldenen Farbigkeit derselben gleich zu werden.19

Dieser Logik folgend schreibt Aristoteles jedem der fünf Sinnesvermögen ihnen eigene, jeweils diametrale Wahrnehmungsqualitäten bzw. -gattungen zu (De anima, II, 11, [422b23–27]): „Denn es scheint jede Wahrnehmung für ein einziges Gegensatzpaar zuständig zu sein, z. B. das Sehen für Helles und Dunkles, das Gehör für Hohes und Tiefes und der Geschmack für Bitteres und Süßes, im Tastbaren dagegen sind viele Gegensatzpaare enthalten: warm–kalt, trocken–feucht, hart–weich und alles andere Derartige.“20 Diese, den jeweiligen Sinnesvermögen eigentlichen Wahrnehmungsgegenstände (ídia aisth¯etá ) sind für Aristoteles nun jenes, „[…] worüber man sich nicht täuschen kann, z. B. das Sehen einer Farbe, das Hören eines Schalls und das Schmecken eines Geschmacks; der Tastsinn dagegen umfasst mehrere Unterschiede.“21 Ja mehr noch (De anima, III, 3 [428b18–22): „Die Wahrnehmung von den eigentümlichen (Wahrnehmungsgegenständen) ist wahr oder hat den geringsten Anteil am Falschen. […] denn darin, dass es weiß ist, täuscht sie sich nicht, aber ob dieses oder ein anderes das Weiße ist, darin täuscht sie sich.“22 Das mag erklären, weshalb Dante sein alter ego die goldene Farbigkeit der Objekte auf Anhieb korrekt erkennen lässt (bzw. sie am wenigsten falsch beurteilt). Was aber, so

19 Vgl. ebd., II, 5 [418a3–6]. Wie Welsch betont, erlangt im Akt der Wahrnehmung „[n]icht nur das Wahrnehmen, sondern auch der Gegenstand […] in der Wahrnehmung seine eigentliche Erfüllung.“ Welsch 2018a (wie Anm. 11), S. 197; dort unter Berufung auf De anima, III, 2, 425b26–27, 426a15–16; sowie De sensu, III, 439a13–16. Insofern dabei nun „eine einzige Wirklichkeit eintritt“, ein „Präsentwerden des Gegenstandes in der Wahrnehmung“ stattfindet, handle es sich bei der Verwirklichung von Sinn und Sinnlichem um ein „Identitätsphänomen“. Ebd., S. 198. 20 Aristoteles 2017 (wie Anm. 1), S. 137. Vgl. hierzu auch Busche 2005 (wie Anm. 1), S. 12–13. Der Verweis auf die den Sinnesvermögen je eigenen propria findet sich unter Rekurs auf Aristoteles im 13. Jahrhundert auch bei Thomas von Aquin (z. B. in den Sentencia De anima, lib. 3, l. 3, n. 2; Sentencia De sensu, tract. 1, l. 11, n. 11), dessen Schriften, neben jenen des Aristoteles, nach Willi Hirdt ein wichtiger Bezugspunkt für Dante waren. Vgl. Hirdt 1989 (wie Anm. 5), S. 37–38. Übrigens waren um 1300 in Florenz, der Heimat Dantes, sowohl Aristoteles’ De anima als auch der hierzu entstandene Kommentar des Thomas von Aquin im Bestand des studium von Santa Croce (heute beide in der Florentiner Biblioteca Medicea Laurenziana, enthalten in Plut. XIII, sin. 8 sowie Plut. XXIX, dex. 3). Vgl. Giuseppina Brunetti und Sonia Gentili: Una biblioteca nella Firenze di Dante. I manoscritti di Santa Croce, in: Emilio Russo (Hg.): Testimoni del vero. Su alcuni libri in biblioteche d’autore, Rom 2000, S. 21–55, hier insbesondere S. 32–35.

21 Aristoteles 2017 (wie Anm. 1), S. 107 (De anima, II, 6, [418a11–14]). Vgl. hierzu auch Hubertus Busche: Die interpretierende Kraft der Aisthesis. Wahrheit und Irrtum der Wahrnehmung bei Aristoteles, in: Günter Figal (Hg ): Interpretationen der Wahrheit, T übingen 2002, S. [112]–142, hier S. 118.

22 Aristoteles 2017 (wie Anm. 1), S. 175; selbiges bei Thomas von Aquin: Sentencia De anima, lib. 2, l. 13, n. 4.

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könnte man fragen, führt dazu, dass der Jenseitspilger sich bezüglich der Form der Gegenstände irrt?

Entsprechend der Dante-Passage kommen hierfür zwei in ihrer räumlichen Abmessung identische, nach Aristoteles jedoch zu unterscheidende Kandidaten in Frage: die Ausdehnung des Mediums (mezzo) sowie die Entfernung des den Sinnen gemeinsamen Objekts (l’obietto comun).

Was Ersteres betrifft, muss man zunächst wissen, dass nach aristotelischer Auffassung die passiven Sinnesvermögen von den aktiven Wahrnehmungsobjekten nicht unmittelbar affiziert werden. Die physische Vermittlungsleistung wird vielmehr von einem Medium (metaxý ) geleistet 23 – jenes, das Dante später als „mezzo“24 bezeichnen sollte.25 Im Falle des Sehsinns sind das vor allem (aber nicht nur) die Medien Luft und Wasser.26 Das Licht nimmt dabei die Rolle eines ‚Aktivators‘ ein, d. h.: Es aktualisiert das Medium und macht es zu einem Durchscheinenden (diaphanés). Durch Lichteinwirkung in einen transparenten Zustand versetzt, ist das Medium nun in der Lage, die Farbe als dem Sehvermögen eigentlichen Wahrnehmungsgegenstand an das (im Inneren aus Flüssigkeiten bestehende und folglich gleichsam transparente27) Auge zu vermitteln – und zwar im Sinne einer physischen Bewegung. Diese physisch-dynamische Übermittlungsleistung kann wiederum nur gelingen, wenn die Bedingungen in der gesamten „Kette der Wahrnehmung“28, also zwischen dem Wahrnehmungsobjekt, dem Medium und dem Wahrnehmungsvermögen, einem zwischen den Extremen liegenden Mittelmaß entsprechen.29

23 Zum Medium als Teil der aristotelischen Wahrnehmungstheorie vgl. Welsch 2018a (wie Anm. 11), S. 195; Jütte 2000 (wie Anm. 2), S. 48–49; Busche 2005 (wie Anm. 1), S. 11; sowie Stephan Herzberg: Art. „metaxy / dazwischen, (das) Mittlere“, in: Otfried Höffe (Hg.): Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 352–353.

24 Vgl. Anm. 3.

25 Die Notwendigkeit eines Mediums im Bereich des Sehsinns (teilweise auch in jenem des Gehör- und Geruchssinns) exemplifiziert Aristoteles in De anima (II, 7 [418b1–419b3]) sowie in De sensu et sensibilibus (II [438b4–7]).

26 Neben Seh- und Gehörsinn zählt zu den sogenannten Fernsinnen auch der hier nicht weiter behandelte Geruchssinn. Das Medium der Nahsinne, d. h. des Geschmacks- sowie des Tastsinns, ist das Fleisch des Körpers. Zur aristotelischen Konzeption des Tastsinns und seiner Bedeutung für die Kunst des frühen 14. Jahrhunderts vgl. den Beitrag von Gerd Mathias Micheluzzi: Palpate et videte: Taktilität als Mittel visueller Bekräftigung in Pietro Lorenzettis Tarlati-Polyptychon, in diesem Band S. 197–236; zum Tastsinn bzw. zur Haptik im späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert hingegen Thomas Moser: Rodin’s Working Hands. Caressing Plaster, Carved in Marble, ebenfalls in diesem Band S. 275–301.

27 Aristoteles: De anima, III, 1 [425a3–4].

28 Welsch 2018a (wie Anm. 11), S. 195.

29 Zur Notwendigkeit von Normalbedingungen bzw. proportionaler Verhältnisse in der gesamten Wahrnehmungskette sowie der Gesundheit des Wahrnehmungssubjekts und seiner Organe (es darf etwa keine Blindheit oder Farbenblindheit vorliegen) vgl. Aristoteles: De anima, II, 10 [422a20–29]; II, 11 [424a1–16; II, 12 [424a21–32]; III, 4 [428b27–30]; vgl. ferner

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Exzessive oder defizitäre Bedingungen (zu hell oder zu dunkel, Objekte zu nah oder zu fern, Medium zu ausgedehnt etc.) verhindern hingegen eine korrekte Wahrnehmung.30 Wenn sich die Bedingungen jedoch in einem moderaten Bereich befinden, ist es der Wahrnehmung möglich, diverse, zwischen den diametralen Gegensatzpaaren liegende Qualitäten zu unterscheiden: z. B. Graduierungen zwischen hell und dunkel, laut und leise, schrill und dumpf, bitter und süß oder hart und weich.31 Den Passus der Commedia betreffend scheint die exzessive, vom Autor erwähnte Ausdehnung des Mediums (il lungo tratto del mezzo) eine korrekte Farbwahrnehmung nicht zu stören, wohl aber jene der Form der goldenen Objekte: Dem Jenseitspilger erscheinen die Kandelaber aus der Ferne noch wie Bäume – eine Täuschung, die sich auch in einer Illustration des Codex Altonensis wiederfindet (Abb. 1). Da nun die Bedingungen für die Farb- wie auch die Formwahrnehmung identisch sind, muss ein anderer Grund hierfür den Ausschlag geben.

Eine mögliche Begründung für die formale Täuschung könnte mit der in Buch III von De anima vorgenommenen Skalierung von Wahrheitsgehalten nach eigentlichen, akzidentiellen und gemeinsamen Wahrnehmungsgegenständen gegeben sein, wobei die Entfernung wiederum eine zentrale Rolle spielt.32 Während Aristoteles von den eigentlichen Wahrnehmungsgegenständen (Farbe, Klang etc.) behauptet, sie seien immer wahr bzw. am wenigsten falsch, könne man sich umso stärker täuschen, wenn es um die Wahrnehmung

Wolfgang Welsch: Wahrnehmung und Welt. Warum unsere Wahrnehmungen weltrichtig sein können, Berlin 2018b, S. 22–25. Ähnliches findet sich unter geänderten Vorzeichen auch im 13. Jahrhundert; u. a. in der weitverbreiteten Perspectiva communis (um 1277–1279) des John Pecham. Vgl. David C. Lindberg: John Pecham and the science of optics. Perspectiva communis, Madison u. a. 1970, zu exzessiver Lichteinwirkung S. 84–87 (Prop. 8–10). In Dantes Commedia ist es vor allem das Übermaß an Licht in Form des Blendens (abbarbaglio, soverchio), das Wahrnehmung immer wieder verhindert, ihn der Schau des göttlichen aber näherbringt (dort freilich auch unter Rekurs auf die Blendung Pauli nach Apg. 9,3–29): u. a. in Purg. II, 13–36; XV, 10–33; XXVII, 58–60 oder in Par. IV, 139–141; XIV, 76–78; XVIII, 19–21; XXIII, 28–39; XXVIII, 13–18 oder XXX, 46–51. Vgl. hierzu Gilson 2000 (wie Anm. 5), S. 79–89. Für weitere Begründungen, etwa einen Defekt der Augen oder eine mögliche Trübung der Luft, was Dante etwa über Albertus Magnus’ De homine erfahren hätte können, vgl. Akbari 2004 (wie Anm. 5), hier S. 132; dort wiederum mit Verweis Convivio III, 9, 7–12, wo Dante unmittelbar zuvor (III, 9, 6) Aristoteles’ De anima und De sensu et sensibilibus erwähnt.

30 Als Beleg hierfür wird Folgendes vorgebracht (De anima, II, 7 [419a11–12]): „Wenn man nämlich das, was Farbe hat, direkt auf das Auge legt, wird man es nicht sehen […].“ Aristoteles 2017 (wie Anm. 1), S. 113.

31 Vgl. Aristoteles: De anima, II, 11 [424a1–6]; – außer, wie Aristoteles ergänzt, wenn Wahrnehmungsobjekt und Wahrnehmungsvermögen in ihren jeweils aktualisierten Modi identisch sind (gleich warm, gleich hart etc.). Dann ist keine Unterscheidung bezüglich der Qualitäten möglich.

32 Vgl. Aristoteles: De anima, III, 3 [428b18–429a2].

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1 | Hamburg, Bibliotheca Christianei, Codex Altonensis (Sign. R 7/2), Divina Commedia, fol. 87v: Vorzeichnungen der Illustrationen zu Purg. XXIX, 16–36 (links: Dante und Matelda) sowie 37–57 (rechts: Statius, Vergil und Dante vor den sieben goldenen Bäumen); letztes Viertel 14. Jahrhundert.

der auf die Akzidenzien („ob dieses oder ein anderes das Weiße ist“33) folgenden gemeinsamen Gegenstände der Wahrnehmung (koiná aisth¯etá ) geht.34

33 Wie Anm. 22.

34 Vgl. Aristoteles: De anima, III, 3 [428b18–25]. Thomas von Aquin hat selbiges in einer etwas verkürzten, das hier betreffende Argument aber dennoch stichhaltigen Weise wiederholt: „Unusquisque autem horum sensuum iudicat de propriis sensibilibus, et non decipitur

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Diese gemeinsamen, von Dante als obietto comun (im lat. sensibilia communia) bezeichneten Wahrnehmungsgegenstände sind für Aristoteles ebenso wie für den Autor der Commedia die von allen bzw. von mehreren der fünf Sinnesvermögen erfassbaren: Bewegung, Stillstand, Anzahl, Größe sowie – für das Beispiel Dantes von besonderem Interesse – die Form.35 Es ist also durchaus möglich, dass Dante hier eine abgestufte Täuschungsanfälligkeit der Wahrnehmung in Anschlag bringt. Diese Skalierung beruht offenbar weniger auf der Entfernung zwischen Wahrnehmungsobjekt sowie -organ bzw. der damit identischen Ausdehnung des Mediums – ansonsten müsste sich der Jenseitspilger bei Farb- und Formwahrnehmung im selben Maße irren. Sie scheint vielmehr von einer Differenzierung zwischen eigentlichen und gemeinsamen Wahrnehmungsgegenständen herzurühren.36 Denn während die vorherrschenden Bedingungen es sehr wohl zulassen, die goldene Farbe korrekt als solche wahrzunehmen, sind dieselben Bedingungen hinsichtlich der den Sinnen gemeinsamen Form defizitär. Erst im dynamischen Prozess der physischen Annäherung des Jenseitspilgers an die gesehenen Objekte – an jenen Punkt, wo sich keine Aktualisierung mehr verliert (non perdea per distanza alcun suo atto) – formieren sich die goldenen Bäume als jenes, was sie sowohl in Farbe als auch Form in Wahrheit sind: goldene Kandelaber (unterstrichen von dem zugleich formierten Klang des Hosianna).

II. Intensität und Eindruck

Es ist wohl kaum übertrieben, wenn man die Zeit um 1300 als einen epochalen Einschnitt in der Geschichte der Sinne und ihrer Dynamiken wertet. Mehr und mehr geraten nun Konzepte in den Blick, die über die aristotelischen Theorien zur Wahrnehmung hinausgehen. Das gilt auch für den Dichter-Philosophen Dante Alighieri, der in seinem enzyklopädischen Werk Convivio (um 1306) die visuelle Wahrnehmung von Gegenstandsformen mit dem Aufschlagen eines Wurfgegenstands, eines Balles auf einer Wand verglichen hat (a modo d’una in eis; sicut visus non decipitur quod sit talis color, neque auditus decipitur de sono. Sed circa sensibilia per accidens vel communia, decipiuntur sensus.“ Thomas von Aquin: Sentencia De anima, lib. 2, l. 13, n. 2–3, hier zit. n. https://www.corpusthomisticum.org/can2.html, (10. 09. 2023).

35 Vgl. Aristoteles: De anima, II, 6 [418a17–18]; sowie Dante: Convivio, III, 9, 6–7. Vgl. hierzu insbesondere auch Busche 2002 (wie Anm. 21), S. 119–125. Dieselbe Auflistung findet sich auch bei Thomas von Aquin: Sentencia De anima, lib. 2, l. 13, n. 4.

36 Wenngleich dies die ebenfalls zu den communia zählende Anzahl (im Lat. numerus) nicht zu tangieren scheint, denn unabhängig davon, ob es sich um Bäume oder Kandelaber handelt, dem Passus entsprechend sind es jeweils sieben an der Zahl.

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