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Macht euch keine Sorgen!?

Christliche Seel-Sorge als Antwort auf die vielfältigen Sorgen der Menschen. Von

• „Macht euch keine Sorgen“?!

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Wie mag diese Aufforderung Jesu für Mesut Hançer klingen, dessen Foto nach dem verheerenden Erdbeben am 6. Februar 2023 in der Südtürkei und in Syrien um die Welt geht, wie er inmitten der Trümmer eines eingestürzten Hauses kauert und die Hand seiner von den Betonmassen erdrückten 15-jährigen Tochter hält und sie nicht mehr loslassen will?

„Macht euch keine Sorgen“?!

Wie mag diese Aufforderung Jesu für Constanze Falkenberg klingen, die an einem grauen Herbsttag im Jahr 2012 von einer Sekunde auf die andere ihren Ehemann und ihre drei Kinder im Alter von 7, 11 und 13 Jahren verliert, als ein Lastwagen die Leitplanke durchbricht und frontal ihr Auto rammt?

„Macht euch keine Sorgen“?!

Wie mag diese Aufforderung Jesu für Viktor Kolesnik klingen, dessen Frau Natalja an einem sommerlich warmen Nachmittag im Hinterhof ihres Hauses in Charkiw nur die Katzen füttern will, als russische Soldaten das ukrainische Wohnviertel unter Beschuss nehmen und Natalja tödlich treffen?

Diese Litanei ließe sich unendlich lange fortsetzen. Wie viele Menschenleben gab und gibt es überall auf der Welt, die erschüttert werden von Krankheiten, Unfällen, Verfolgung, Krieg, Vertreibung, Hunger, Naturkatastrophen und vielem anderen Schrecklichen mehr? Wie mögen auf sie wohl die Worte Jesu wirken: „Macht euch keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Denn um all das geht es den Heiden. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben. Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage“ (Mt. 6,31–34). Für manche, die vom Schicksal besonders hart getroffen sind und denen alles genommen wurde, was ihnen lieb und teuer war, klingen diese Worte vielleicht entsetzlich zynisch. Und doch wollen sie schlicht und einfach einladen, gerade in solchen Situationen, in denen Menschen von Gott am allerwenigsten erfahren und ihn am allerschmerzlichsten vermissen, sich ganz ihm anzuvertrauen. Was Jesus von Nazareth bei seinem Leiden und Sterben selbst erleben musste – „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mk. 15,34) – hindert ihn nicht daran, sich genau diesem Gott zu überlassen: „Vater, in Deine Hände lege ich meinen Geist!“ (Lk. 23,46) Das eine muss das andere also nicht ausschließen. Ganz im Gegenteil. Das eine, die Erfahrung, von Gott ganz verlassen zu sein, kann durchaus Türöffner sein zum anderen: zur Bereitschaft, sich Gott ganz zu überlassen. Das ist das Paradoxe des christlichen Glaubens, das Gläubige in all seiner Tiefe auch nur vage erahnen können: Im Tod ist das Leben, im Kreuz ist Auferstehung, im Leid ist Hoffnung!

Dieser Grunderfahrung christlicher Existenz folgt die Seelsorge, die die Kirchen den Menschen in ihren unterschiedlichsten Lebenssituationen anbieten. Am 8. März 2022 wurde ein Wort der katholischen Bischöfe in Deutschland zur Seelsorge veröffentlicht unter dem Titel „In der Seelsorge schlägt das Herz der Kirche“. Im Vorwort dazu heißt es: „Seelsorge geschieht in unterschiedlichen Situationen, an kirchlichen wie säkularen Orten. Sie kann sich an einzelne Personen wenden oder einer ganzen Gruppe von Menschen gelten. Seelsorge wird inner- wie außerkirchlich hoch geschätzt; und gleichzeitig ist die kirchliche Seelsorge durch den sexuellen Missbrauch auch in eine Vertrauenskrise geraten. Seelsorge wird durch Frauen und Männer, Priester und Laien, im Ehrenamt oder als Beruf ausgeübt, im Team oder auch durch Einzelne. Seelsorge kann sich eher beiläufig oder sehr ausdrücklich vollziehen; ihre Methoden und Wege sind unendlich vielfältig. Seelsorge gehört so selbstverständlich ins Herz der Kirche, dass sie bislang kaum einer Erklärung bedurfte. Seelsorge ist zugleich so ausdifferenziert und komplex, dass sie in kein System passt. Es gibt kein Urheberrecht auf den Begriff Seelsorge; er ist nicht geschützt oder kirchliches Eigentum.“

Auch wenn das Wort Seelsorge (cura animarum) in der Bibel gar nicht vorkommt, so ist doch Jesus Christus der erste und zugleich beste Seelsorger schlechthin, indem er sich den Blinden, Lahmen, Hungernden, Sündern und Niedergedrückten zuwendet und sie heilt und sättigt, ihnen vergibt und sie aufrichtet und sie dadurch die barmherzige Liebe Gottes am eigenen Leib und in der eigenen Seele erfahren lässt. Indem die Kirchen den Menschen vielfältige und ausdifferenzierte Seelsorge-Angebote machen, stehen sie in der Tradition Jesu Christi und führen fort, was ihm im Hinblick auf die Leidenden und Bedürftigen immer so wichtig gewesen ist: „Die Kirche gibt es, weil und damit Seelsorge gelebt und verwirklicht werden kann. Zugleich ist das ihr Anspruch, an dem sie sich messen lassen muss: eine seelsorgerliche Kirche für die Menschen zu sein“, heißt es in dem erwähnten Wort der Bischöfe.

Und dieses Sorgen der Kirche als Antwort auf die Sorgen der Menschen kann sich in Mitsorge, Fürsorge und Vorsorge ausdrücken. Auf die ganz konkreten Sorgen der Menschen will die Seelsorge der Kirchen so konkret wie möglich Antworten geben: auf die Sorgen der Menschen in der Arbeitswelt antwortet die Betriebsseelsorge, auf die Sorgen der Menschen in den Krankenhäusern antwortet die Krankenhausseelsorge, auf die Sorgen der Schwangeren in Konfliktsituationen antwortet das Beratungs- und Hilfsangebot der Caritas und Diakonie, auf die Sorgen der seelisch Belasteten antwortet die psychologische Beratungsstelle und die Telefonseelsorge, auf die Sorgen der Menschen, die auf der Straße leben, antwortet die Citypastoral, auf die Sorgen der Trauernden antwortet die Trauerpastoral, auf die Sorgen der Schuldbeladenen antwortet die Einzelseelsorge mit der Möglichkeit zur Beichte. Diese Aufzählung könnte man beliebig lange fortführen. So viele Nöte und Sorgen Menschen beschäftigen und quälen, so viele Angebote der Seelsorge müssen die christlichen Kirchen ihnen anbieten können. Das ist ein hoher Anspruch, der aber dem Anspruch und Auftrag des Herrn entspricht, dem die Christgläubigen nachfolgen: „Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen“ (Mt. 25,35–36).

Weil es Jesus Christus letztlich immer „nur“ darum ging, den Menschen das Reich Gottes zu verkünden und erfahrbar zu machen als ein Reich des Friedens, der Gerechtigkeit, der Liebe, der Freiheit und der Barmherzigkeit, können die christlichen Kirchen keine andere Agenda verfolgen als genau diese. Das Reich Gottes sollen und müssen wir bei all unserem Tun immer „zuerst“ suchen und dann dürfen wir darauf vertrauen, dass uns Gott alles andere dazugeben wird. Gerät diese Prioritätensetzung aus dem Lot und in eine Schieflage, geraten die Kirchen selbst aus dem Lot und in Schieflage. Das gilt es bei den verschiedenen Prioritätensetzungen in unseren Kirchen immer im Blick zu behalten.

Die Kirchen führen durch ihre vielfältigen Seelsorgeangebote im Grunde heute fort, was Jesus damals getan hat: „Blinde sehen wieder und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet“ (Mt. 11,5). Und dabei sind nicht die in der Kirche Tätigen die eigentlich Handelnden, sondern Jesus Christus bedient sich sozusagen der Kirchen als sein verlängerter Arm, um den Menschen unserer Zeit, denen das Wasser bis zum Hals steht und die unterzugehen drohen in einem Meer aus Sorgen, Nöten und Bedrängnissen, seine rettende Hand entgegenzustrecken, so wie er damals Petrus vor dem Untergang und Ertrinken gerettet hat (vgl. Mt. 14,31).

Es bleibt zu hoffen, dass die Seelsorgeangebote der christlichen Kirchen auch in einer Zeit, in der diese Kirchen massiv an Bedeutung, Relevanz und Vertrauen in der Gesellschaft verloren haben, bei den Menschen, die sie brauchen, ankommen, sodass diese vom Dienst der konkreten Nächstenliebe profitieren können. Constanze Falkenberg edenfalls hat unmittelbar nach dem Verlust ihrer vier Familienmitglieder die Notfallseelsorge als trost- und hilfreich erfahren: „Der erste Lichtmoment war bereits in der Unfallnacht der Besuch des Notfallseelsorgers, mit dem ich zum Abschluss des Gespräches ein mir sehr tiefgehendes, tröstendes Vaterunser beten konnte“. Sie hat ihren Glauben durch dieses traumatische und verlustreiche Ereignis zum Glück nicht verloren und sagt heute: „Mein Gott ist ein liebender, liebevoller Gott, der alles zulässt, der uns aber die Möglichkeit gibt, alles Geschehene mit ihm zusammen zu ertragen. Ich glaube fest daran und dieser Glaube ist gewachsen“. In diesem Glauben und Vertrauen auf den liebenden Gott, der am Ende alles zum Guten und zur Vollendung führen wird, kann Paulus uns ermahnen: „Werft alle eure Sorge auf ihn, denn er kümmert sich um euch!“ (1. Petr. 5,7).

Autor

Thomas Maria Renz ist Weihbischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Renz wurde 1984 in Rom für die Diözese Rottenburg-Stuttgart zum Priester geweiht. Am 29. April 1997 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Titularbischof von Rucuma und zum Weihbischof in Rottenburg-Stuttgart. Er war bis zu seiner Ernennung zum Weihbischof 1997 in Bad Saulgau tätig. Mit 39 Jahren war er das jüngste Mitglied der Deutschen Bischofskonferenz. Aufgrund seiner unkomplizierten Art gilt er als Bischof der Jugend. Er ist als Leiter der Hauptabteilung Jugend des bischöflichen Ordinariats in Rottenburg Vorstand der Jugendstiftung just. Seit 2005 ist er Familiare im Deutschen Orden. Thomas Maria Renz ist Teil des theologischen Beirats von de’ignis.

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