8 minute read
Selbst(für)sorge statt Sorgen.
by de’ignis
Eine bibelorientierte Kontemplation
•Rund um die Sorge – verschiedene Stimmen
Advertisement
Jede:r von uns hat im Leben Fürsorge von anderen erfahren, von Mutterleib an. Auch uns selbst ist die Sorge um andere Menschen vertraut. Fürsorglich kümmert man sich in der Pflege um Kranke, schwache und alte Menschen. Auch Gott, unser liebevoll zugewandter Vater im Himmel, kümmert sich um seine „Kinder“. Er lädt zum Abgeben ihrer (Selbst-)Sorgen an ihn ein; so formuliert es der Petrusbrief: „Überlasst all eure Sorgen Gott, denn er sorgt sich um alles, was euch betrifft!“ 1 „Sorgen oder sich sorgen um …“ meint alltagssprachlich im menschlichen Horizont das ängstliche Besorgtsein, in Furcht, Kummer und Unruhe. Sorge oder Fürsorge besitzt also vom Wortfeld aus betrachtet unterschiedliche Konnotationen. Im neutestamentlichen Griechisch wird Fürsorge, Sorgfalt und Aufmerksamkeit durch epiméleia (Pflege) oder die Verbform (epi)meléomai (sorgen für) wiedergegeben; Sorge, Angst und Kummer dagegen durch mérimna. 2
Der Neutestamentler Klaus Berger 3 erweitert das Verständnis für das Wortfeld Sorge um einen psychologischen Aspekt: „Sorge um …“ oder „sich sorgen um …“ bezieht sich umgangssprachlich auf ein diffuses Potential von nicht spezifischen Befürchtungen“. Diese „tauchen“ immer wieder auf; man macht sich Sorgen, inhaltlich auf die Zukunft bezogen und deshalb (?) unbestimmt.4
Im Neuen Testament finden wir ein Verständnis von Sorge, das sich um zentrale Lebensbedürfnisse dreht: Kleidung und Nahrung, ein Dach über dem Kopf, Sicherheit in einer unruhigen religiösen und politischen Epoche. In der Bergpredigt verweist Jesus darum auf unseren Vater im Himmel, einen menschenliebenden zugewandten, fürsorglichen Gott. Ihm sollen wir anvertrauen, was die Sorge um die Erfüllung unserer zentralen Bedürfnisse betrifft. 5 Interessant ist die Einleitung dieses Passus durch Jesus. Er stellt diametral gegenüber, Gott zu dienen oder dem Geld (Mammon). Gleichzeitig zwei Herrschaftsbereichen zu dienen kann niemand. Jesus spricht hier die menschliche Gesinnung an, die zu Sorgen beiträgt: eine anthropozentrisch-säkulare Grundorientierung mit einseitigem Zukunfts-Kontrollbedürfnis.6
Auf der anderen Seite des Lebens verortet Jesus die Sphäre Gottes (Shalom) mit Geborgenheit in Gott und Vertrauen auf seine gerechte Versorgung. Psychotherapeutisch wertvoll ist sein Verweis auf die Lebensbewältigung in der Gegenwart, im alltäglichen Milieu und den Mühen: „Wer von euch kann dadurch, dass er sich Sorgen macht, sein Leben nur um eine Stunde verlängern? […] Deshalb sorgt euch nicht um morgen, denn jeder Tag bringt seine eigenen Belastungen. Die Sorgen von heute sind für heute genug“ (Vers 34, Basis Bibel/NLB).
„Sich sorgen nimmt dem Morgen nichts von seinem Leid, aber es raubt dem Heute die Kraft!“, so würde Corrie ten Boom nach ihren Erfahrungen im KZ urteilen.
Leidvolle Konsequenzen eines Lebens in Sorge
Übermäßige Besorgtheit ist die Leitsymptomatik bei der Erkrankung an einer Angstneurose oder generalisierten Angststörung. Vom derart geplagten Menschen wird das gedankliche Vorwegnehmen negativer Outcomes wiederholt, oft in angstbesetzten Fantasien über zukünftige Situationen. Es wird als Problemlöseversuch verstanden, als versuchte Immunisierung gegenüber der Unbill des Lebens. Patient:innen mit dieser Problematik sorgen sich häufiger und länger als die Normalbevölkerung, erleben diesen Sorgenprozess weniger kontrollierbar; er scheint automatisiert in Gang zu kommen. Die zeitliche Begrenzung des „Sich-Sorgens“ liegt in der Verantwortung des „gesunden“ Menschen. Corrie ten Boom bemerkte dazu:7 „Wenn sie die Welt anschauen, verzweifeln sie. Wenn sie auf sich selbst schauen, werden sie depressiv, aber wenn sie auf Jesus Christus schauen, werden sie Ruhe finden. Denn unsere Blickrichtung beeinflusst unsere Gefühle.“
Die Vergeblichkeit eines harten Ringens um die materielle Existenz, wenn man getrieben ist und gefangen in Sorge um das tägliche Brot, ist den biblischen Psalmisten nicht fremd: „Es ist vergeblich, vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hart zu arbeiten, immer in Sorge, ob ihr genug zu essen habt; denn denen, die Gott lieben, gibt er es im Schlaf“ (Psalm 127,2/NLB). Das angesprochene Vertrauen in die Versorgung Gottes und die Bedeutung der Blickrichtung finden wir auch im Gebetsimpuls Jesu, im Vater Unser Gebet der Christenheit. Hier spricht die kollektive Bitte: „Unser existenznotwendiges Brot gib’ uns heute für morgen“ (wörtliche Übersetzung aus dem Griechischen) für sich selbst. Also mach’ dir keine Sorgen, wende dich mit deinen konkreten Bitten um das jetzt Notwendige an deinen Vater im Himmel!
In den Gleichnissen Jesu begegnet uns das Narrativ vom Säen (siehe Mt. 13,7–22) auf verschiedene Böden. Beim Säen gerät die Aussaat gelegentlich auf einen mit Disteln bedeckten Boden; das Unkraut schießt schnell hoch und erstickt die Saat. Die Metapher von den Disteln bezieht Jesus im Gleichnis auf Menschen, die mit Gottes Wort vertraut geworden sind. Doch dann kommen „die alltäglichen Sorgen und Verlockungen des Reichtums“, so Jesus zu seinen Jüngern. Die Ernte bleibt aus, die schädliche Fokussierung fördert Unzufriedenheit und Sorge, zu kurz zu kommen. Der menschliche Garten verwildert, die spirituelle Dimension verliert an Kraft.
Sorgen bereiten regelrechte Qualen, wie der Psalmist (Ps. 13,3) beklagt. Über eine längere Dauer gesehen verzweifeln die Sorgenvollen, der Tag für Tag erlebte Kummer nagt an ihnen. Das Zustandsbild im Psalm erinnert sehr an depressives Erleben, an das „Wie lange noch …?“. Auch der negative Gottesbezug „Wie lange wirst du mich noch vergessen, wie lange hältst du dich vor mir verborgen?“ (Vers 2) scheint in dieses pathologische Bild einer spirituellen Krise zu passen. Allerdings können wir hier nicht zwischen Ursache und Wirkung für das psychospirituelle Befinden unterscheiden. Die Blickrichtung auf die Frage „Wo bist du, Gott?“ hat die Sorge als Faktor im Gepäck et vice versa.
Auch das Buch der Sprüche bzw. der Weisheit (Salomos) spricht von der Wuchtder Sorgen8 : „Sorgen drücken einen Menschen nieder, aber freundliche Worte richten ihn wieder auf.“ Thomas Huth9 unterstreicht: „Sorgen können einen fertig machen und das Fatale an ihnen ist: Sie gehen nicht einfach so weg und der Druck lässt nach. Nein, sie lösen sich nicht einfach auf. Sie begleiten einen auf Schritt und Tritt, gerade auch dann, wenn man sehr viel darüber nachdenkt.“
Die psychospirituelle Dynamik des Sorgens
Psalm 42 beschreibt uns die psychospirituelle Dynamik in einer von Sorgen gequälten Seele. Die innere, sorgenvolle Unruhe lässt den Psalmisten in ein fragendes Zwiegespräch verfallen: „Warum bist du so bedrückt meine Seele? Warum stöhnst du so verzweifelt? Warte nur zuversichtlich auf Gott! Denn ganz gewiss werde ich ihm noch dafür danken, dass er mir sein Angesicht wieder zuwendet und mir hilft“ (Vers 6;12, NGÜ).
Der Beginn des Psalms und der Kontext des Monologs weist auf die unerfüllte Sehnsucht10 des Betenden hin, nach Erfahrung mit der erfrischenden Gegenwart Gottes mitten im Leben. Zusätzlich macht dem Psalmisten zu schaffen, dass andere seine Krise bemerken: „… ständig fragt man mich, wo ist denn nun dein Gott?“. Kontrastierend erlebt er in Gedanken und Gefühlen seine zurückliegende priesterliche Rolle, das Volk zur Anbetung ins Heiligtum führen zu dürfen.11
Aus psychologischer Sicht ist hier anzumerken, dass Erinnerungen – auch wohltuende, schöne – niederdrücken können, wenn die jetzige sorgenbeladene Realität allzu sehr im Kontrast zu früher steht.12
Hoffnungslosigkeit
Mangelnde spürbare Erfahrung der transzendenten Präsenz Gottes im Leben führt in die psychospirituelle Sorgenkrise. Dies beschreibt auch Psalm 13 sehr anschaulich: das Gefühl, schon lange vergessen zu sein, Gott hält sich verborgen vor mir, ich bin meinen Sorgen und meinem Kummer ausgeliefert, Freudlosigkeit und Mutlosigkeit herrschen über mich, ich sehe keinen Ausweg (Verse 2–5). Mit den Worten des Predigers13 : „Es ist alles sinnlos und bedeutungslos …, unnütz und bedeutungslos – ja, es ist alles völlig sinnlos“ könnte das Gebet schließen.
Welches Fazit ziehen wir nun aus der Sorgen-Dynamik?
Die reine Selbstzuwendung mit dem Ziel einer Selbstfürsorge bleibt auf der Strecke. Wenn die angewandte Selbstfürsorge im inneren Zirkel des Selbstkonzepts bleibt, gleicht es einem Münchhausen-Versuch, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen zu wollen. Die Analyse führt noch nicht zur Therapie. Die Psalmengebete belassen es zum Glück aber nicht bei einer Zustandsbeschreibung.
Der psychospirituelle Raum: spirituell kompetente Selbstfürsorge muss von Gott ausgehen Die Blickwendung von sich selbst als einer mit Sorgen beladenen und niedergedrückten Seele zu einer zuversichtlichen Neuausrichtung wird im Psalm eindrucksvoll demonstriert. Der Betende lässt sich zwar auf seine Seele im Zwiegespräch ein, er betreibt eine Art empathisch-konfrontative Selbstfürsorge Der Psalmist verkündet gegenüber sich selbst die Zuversicht und hoffnungsvolles Erwarten, von seinem Gott angeschaut zu werden. Er beteuert, „Ganz gewiss werde ich ihm noch dafür und für die erfahrene Hilfe danken“. Er weiß aber in seinem Herzen, dass er diese Hilfe von außen braucht, um wieder zu Lebensfreude befreit zu werden. Diese Wahrheit spricht er auch seiner Seele zu. Neben Gott schaut der Betende sicher auch auf empfangene Hilfe zurück, gemäß „Sorgen drücken einen Menschen nieder, aber freundliche Worte richten ihn wieder auf“ (Sprüche 12,25). Thomas Huth14 beschreibt es lautmalerisch: „Der Nebel lichtet sich, wenn mir jemand Mut zuspricht. Die Farben werden wieder etwas deutlicher, wenn sich jemand die Zeit nimmt, mich und meine Sorgen zu verstehen und sie ernst zu nehmen“.
In den Psalmen 13, 42 und 43 wird mehrmals der spirituelle Weg bekannt, wie die sorgenvolle Seele wieder in Frieden mit sich selbst kommt. Ein großes Vertrauen wird trotz allem Klagen über die Mühen des Lebens deutlich und demütiges Beten: „Ich aber vertraue auf deine Liebe und juble darüber, dass du mich retten wirst 15 Mit meinem Lied will ich dich loben, denn du hast mir Gutes getan … Und dennoch: Am Tag wird der Herr mir seine Gnade schenken16 , und in der Nacht begleitet mich sein Lied, ein Gebet zu dem Gott meines Lebens … Ja er ist mein Gott, er wird mir beistehen.“ 17
Betende Selbstfürsorge beinhaltet Selbsttranszendenz mit Blick auf das Wirken des Heiligen Geistes: „Sende mir dein Licht und deine Treue, damit sie mich leiten und mich zurückbringen zu deinem heiligen Berg, zu deiner Wohnung. Dann werde ich vor Gottes Altar treten.“ 18 Im Neuen Testament ist unser Leib ein Tempel des Heiligen Geistes; wir schauen in einer spirituellen Blickwendung nach innen, in den verborgenen psychospirituellen Raum unseres Herzens. Paulus nennt das ein „Geheimnis“: „Christus in euch – die Hoffnung auf Gottes Herrlichkeit!“ 19 Abbildung 1 beschreibt noch einmal den Weg aus Sorgen über die Selbstzuwendung und die Veränderung der Blickrichtung auf Gott: „Sende dein Licht und deine Wahrheit! Sie sollen mich sicher führen. Sie sollen mich zu dem Berg bringen, wo dein Heiligtum ist – deine Wohnung.“ Noch einmal erinnert Corrie ten Boom: „Wenn sie die Welt anschauen, verzweifeln sie. Wenn sie auf sich selbst schauen, werden sie depressiv, aber wenn sie auf Jesus Christus schauen, werden sie Ruhe finden. Denn unsere Blickrichtung beeinflusst unsere Gefühle.“ Möchte ich in den psychospirituellen Raum – wo Jesus zu finden ist –geführt werden und im Angesicht Gottes einen Anker finden, statt in Sorgenwellen umgetrieben zu werden?
Fußnoten
1 1. Petrus 5,7: Die Verbform im Neuen Testament mélei für Gottes Fürsorge bedeutet auch „es ist ihm ein Anliegen“, „ihm liegt viel an uns“ im wertschätzenden Sinn. Im vorhergehenden Vers wird eine wichtige Bedingung für das Kümmern Gottes um uns genannt: Sorgen ablegen bei Gott bedeutet auch, „sich beugen unter die starke Hand Gottes“.
2 Klessmann, M. (2022): Seelsorge: Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens – Ein Lehrbuch. V&R. S. 32.
3 Berger, K. (1995): Historische Psychologie des Neuen Testaments. Stuttgarter Bibelstudien 146/147. Verlag Katholisches Bibelwerk. Stuttgart.
4 Berger, S. 185/86.
5 Siehe: Matthäusevangelium, Kap. 6,24–34.
6 Corrie ten Boom war niederländische Christin und KZ-Überlebende. Ihr wird der Aphorismus „Wer sorgt, nimmt die Verantwortung Gottes auf die eigenen Schultern“ zugeschrieben.
7 Aus dem Newsletter „Stunde des Höchsten“ vom März 2023 (Heiko Bräuning).
8 Die Spruchsammlung enthält viele kostbare Beobachtungen der menschlichen Natur, hier in Spr. 12,25/HfA.
9 Huth, Thomas (2020): Ein kostbarer Schatz. Die Sprüche Salomos – 77 Weisheiten für heute. Haiterbach: Cap Books.
10 Psalm 42,2–4.
11 Ebd. Vers 5.
12 Ps. 42,5.7–11: Aus dem Textzusammenhang ersehen wir die tiefe Verzweiflung, Not und gleichzeitig das Ringen des Psalmisten um Gottesfurcht und Vertrauen.
13 Kohelet / Prediger Salomo, Kap. 1,2 (siehe auch die Kapitel 1–6): Das Leben bekommt Sinn mit dem Blick auf Gottes Zuwendung zum Menschen.
14 Huth, Thomas: s.o., S. 81.
15 Psalm 13,5 (HfA).
16 Psalm 42,9 (NGÜ).
17 Psalm 43,5b (HfA).
18 Psalm 43,3.4a (NGÜ). Anmerkung: Im Alten Testament ist das Heiligtum und der Altar Gottes in Jerusalem im Tempel lokalisiert, der Blick der Betenden geht zum Tempelberg.
19 Kol. 1,27 (NGÜ).
Licht und Wahrheit Gottes
Autor
Rainer Oberbillig ist Diplom-Psychologe, approbierter Psychotherapeut, ehemals langjähriger Mitarbeiter in der de’ignisFachklinik und Mitgründer, jetzt i. R., sowie auf Honorarbasis in freier Praxis tätig und am de’ignis-Institut engagiert. Er absolvierte ein Doktorat-Studium am Institut für Empirische Religionsforschung (IER) an der Universität Bern.