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Sorgen und Probleme unter diagnostischtherapeutischem Aspekt

Zusammenfassung

• Ein qualitativ höheres Niveau des Denkens eröffnet Möglichkeiten zur Lösung bislang unlösbarer Probleme.

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Prolog

Bestimme die Anzahl der Punkte in der folgenden Abb. 1 :

Abb. 1

Definitorische Aspekte Problem

Wer das Resultat aus oben genannter Aufgabe benötigt, nicht aber bestimmen kann, hat ein Problem – es besteht eine Diskrepanz zwischen „Soll“ und „Ist“. Etymologisch hat das Problem seine Wurzel im Griechischen pro-ballein (werfen) und bedeutet demnach „eine zur Lösung vorgeworfene Aufgabe“ (Wittstock, 1979, S. 19).

Sorgen

Sorgen sind charakterisiert durch die Unterstellung potenzieller Gefahren einer Situation mit Katastrophisierung ihres Ausgangs und es erfolgt eine Generalisierung auf alltägliche Banalitäten. Sorgendes Verhalten verhindert eine sachliche Auseinandersetzung mit der Situation (Bassler, 2020, S. 456–457).

Prinzipien psychischen Funktionierens Konstruktion

„Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben?“ besagt, dass wir Wirklichkeit nicht einfach vorfinden, sondern konstruieren. Dabei entscheidend ist der Vorgang des Erkennens, das „Wie“ Wahrgenommenes verarbeitet wird (Watzlawick, 1981, S. 9). Das Phänomen „Konstruktion“ gilt grundsätzlich und somit gleichsam für Sorgen und Probleme.

Entwicklung

Die Entwicklung kognitiver Strukturen besteht in einer Interaktion zwischen Mensch und Umwelt. Unbekanntes wird versucht, in vorhandene Strukturen zu

Souverän

• dominierendem Defizit: „Ich kann noch nicht …“

• dominierender Ressource: „Ich kann schon …“

Institutionell

… mich über Regeln hinwegsetzen … emotional Abstand von Bezugsperson nehmen

Entwicklungsniveau mit Überindividuell Zwischenmenschlich

• kein Defizit … ohne äußere Regel Beziehung gestalten

… empathisch sein … Bezugsperson in meinem Sinne steuern

Impulsiv Einverleibend

… mich aus inniger Beziehung lösen … empathisch sein

… Bezugsperson in meinem Sinne steuern … holen, was ich brauche … nehmen … aufnehmen

Abb. 2 integrieren (Assimilation). Gelingt dies nicht, sollten sich mittels Akkomodation die kognitiven Strukturen der Realität anpassen (Piaget, 2010, S. 41–83).

Organisation des Selbst

Die Organisation des Selbst gilt als Modell, welches die beiden Leitgedanken „Konstruktion“ und „Entwicklung“ integriert – es werden die in Abb. 2 präsentierten Entwicklungsniveaus beschrieben, welche durch jeweilige Ressourcen (bspw. Bezugsperson für eigene Interessen steuern können) und Defizite (noch nicht empathisch sein können) charakterisiert sind (Kegan, 2008, S. 28–124). Daraus sind Möglichkeiten und Grenzen im Umgang mit Sorgen und Problemen ableitbar.

Klinische Relevanz

Studieren krankhafter Phänomene

Das studieren krankhafter Phänomene wird nutzbar gemacht als Vergrößerungsglas zum Verstehen psychischen Funktionierens (Cicchetti, 1984, S. 1–2). Die Idee der Mikroskopierung erhielt mit der pandemischen Situation 2020 eine weitere Dimension: die „Symptoms of Anxiety Disorder“ zeigten bei den Untersuchten einen abnehmenden Trend von der dritten zur neunten Lebensdekade (NCHS, 2023). Für die Interpretation sind folgende Argumente zu diskutieren: gegenüber Jüngeren haben Ältere im Umgang mit Problemen einen reicheren Fundus, sie verfügen über eine differenziertere und damit realistischere Sicht und konsumieren weniger wechselnde und widersprechende Informationen.

Symptombildung

Symptombildung wird verstanden als Notlösung der Psyche. Sie basiert auf einer auslösenden Situation und dysfunktionalen Faktoren der Persönlichkeit, welche eine adäquate Problemlösung nicht erlaubt (Sulz, 1994, S. 177–193).

Persönlichkeit

Persönlichkeit ist definiert als das relativ überdauernde Muster sozialen Interagierens (Sullivan, 1980, S. 136–137). Je niedriger das Entwicklungsniveau, umso mehr dysfunktionale Persönlichkeitscharakteristika –wie z. B. Selbstunsicherheit, Dependenz,

Narzissmus – sind zu finden mit der daraus resultierenden Konstruktion problematisch sozialer Interaktionen (Sulz & Theßen, 1999, S. 32–45). Der unter Anankasmus (Zwanghaftigkeit) beschriebene Perfektionismus ist die zum Persönlichkeitscharakteristikum gewordene Antwort auf Sorgen um Fehler.

Entwicklungsniveau bedeutsam für Problemlösung

Optionen, die für das Lösen von Problemen – sozialen und non-sozialen – verfügbar sind, werden durch das erreichte beziehungsweise noch nicht erreichte Entwicklungsniveau bestimmt. Eine Illustration in Hinblick auf die Aufgabe zu Abb. 1 : Wer nicht zählen kann, vermag die Anzahl der Punkte nicht zu bestimmen. Die Fähigkeit „Addition“ entschärft das Problem. In Anbetracht von fast 40 Millionen Varianten der Addition erhöht sich die Wahrscheinlichkeit auf ein korrektes Resultat bei strukturiertem Vorgehen. Die Entdeckung der Kongruenz zweier Zeilen und dreier Spalten eröffnet unter Kombination von Addition und Multiplikation die Option „3×3+2“.

„In entwicklungspsychologischer Logik weitergedacht: Wer sich die Ressourcen ‚Addition‘ und ‚Multiplikation‘ bewahren konnte und zusätzlich über die Fähigkeit ‚Subtraktion‘ verfügt, dem eröffnet sich via ‚4×3-1‘ eine weitere effiziente Option für die Lösung der Aufgabe. So wie Arithmetik auf qualitativ unterschiedlichen Niveaus erfolgen kann, so zeigt es sich gleichsam mit der Regulation von Emotionen und sozialen Interaktionen“ (Hoy, 2022, S. 63–64).

„Entwicklung“ in Diagnostik und Therapie

• Die Integration des entwicklungspsychologischen Aspekts in Diagnostik und Therapie wird als erforderlich bewertet (Seiffge-Krenke, 2004, S. VII). Sie findet sich bislang lediglich in den Konzepten von Sulz und McCullough (Sulz, pc, 2013). Die Begründung beruht auf der verblüffend einfachen Feststellung, dass das Denken von Menschen mit Depression in wichtigen Aspekten auf einem naiven Stadium fixiert ist, woraus eine ebenso einfache Idee der

Therapie entwickelt wurde: der Qualität des Denkens auf das nächst höhere Entwicklungsniveau zu verhelfen und damit Lösungsmöglichkeiten für bislang unlösbare Probleme zu eröffnen (Sulz, 2007, S. VII). Ziel ist primär die Förderung der Fähigkeit, Probleme in sozialen Beziehungen formal operatorisch lösen zu können, was bedeutet, die „Konsequenz des Handelns kalkulieren [zu] können“. Die zentrale therapeutische Aufgabe besteht in der Vermittlung des kausalen Zusammenhangs „Wenn dies, dann das“ (McCullough, 2006, S. 77) sowie, sekundär, in sozialen Interaktionen empathisch sein zu können, also „verstehen und verstanden werden“ (Sulz, 2008).

• Daten einer Studie belegen zu Beginn psychologischer Konsultationen eine Dominanz des Entwicklungsniveaus „einverleibend“, charakterisiert durch die Ressource „aufnehmen können“ und das Defizit „Emotionen nicht in Impulse umsetzen können“, gefolgt vom nächst höheren Niveau „impulsiv“, charakterisiert durch die Ressource „Bedürfnis unmittelbar befriedigen können“ und das Defizit „Konsequenz des Handelns nicht kalkulieren können“ (Hoy, 2014).

• Charakteristisch für das Syndrom „Depression“ sind Bewertungen wie „unüberwindbaren Problemen ausgeliefert“, „das Leben ist nur voller Sorgen“ und „im Grübeln gefangen“.

• Therapeutisches Agieren spielt sich ab im Spannungsfeld zwischen dem Respektieren vorgetragener Sorgen (Bassler, 2020, S. 458) und der Forderung nach Attackierung automatisiert dysfunktionaler Denkmuster, welche eine für die Generierung eines höheren – realitätsnäheren – Entwicklungsniveaus notwendige Maßnahme ist (McCullough, 2007, S. 137–138). Nur so lässt sich ein „Reverberatorischer Kreisverband“ lockern. Er ist ein geschlossener Erregungskreis, in dem erregte Neuronen stärker als umgebende miteinander verbunden sind und damit „anhaltende strukturelle synaptische und zelluläre Änderungen“ bilden (Birbaumer et al., 2010, S. 629–632); er ist das anatomischphysische Korrelat der Metapher „sich mit Sorgen und Problemen im Kreise drehen“.

• Die Generalisierte Angsterkrankung ist synonym bekannt als „Sorgenkrankheit“

(Unterecker, 2022). Daten einer Studie belegen, dass mittels entwicklungstherapeutischer Strategie nicht nur eine Reduktion des Syndroms „Depression“ erreichbar war, sondern auch Angst-Syndrome sich um 73 Prozent reduzieren ließen (Hoy, 2014, S. 331).

• Relativierung aller Sorgen und Probleme darf der Mensch erfahren, dessen Blick über irdische Bezüge reicht: Es säuern Sorg wie Plag des Menschen Sein und drängen zu Verdrießlichkeit; doch heb den Blick ich auf zu Jesu mein, erscheint all irdisch Pein in göttlich Tröstlichkeit.

Literatur

• Bassler, M. et al. (2020): Angstkrankheiten Generalisierte Angststörung. In: Senf, Broda et al. (Hg.) (2020): Praxis der Psychotherapie. Ein integratives Lehrbuch. 6. Auflage. New York: Georg Thieme Stuttgart.

• Birbaumer et al. (2010): Biologische Psychologie (7th ed.). Heidelberg: Springer.

• Cicchetti, D. (1984): The emergence of developmental psychopathology. Child Development, 55(1), 1–7.

• Hoy, V.-U. (2014): Evaluation des strategischbehavioralen Therapiemoduls „Entwicklung als Therapie“: Spezifikation des Psychotherapie-Konzepts der Strategischen Kurzzeittherapie (SKT) zur Optimierung individueller Therapieprozesse und -ergebnisse. BoD – Books on Demand.

• Hoy, V.-U. (2022): Erfassung der Entwicklungsstufe eines Patienten mit dem VDS31 Entwicklungsfragebogen. Psychotherapie, 27, 63–84. Abgerufen unter https://www.psychosozial-verlag.de/catalog/ product_info.php/ cPath/4000/products_id/8393.

• Kegan, R. (2008): Die Entwicklungsstufen des Selbst: Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben (5. unveränderte Auflage). München: Kindt.

• McCullough, J. P. (2006): Psychotherapie der chronischen Depression: Cognitive behavioral analysis system of psychotherapy; CBASP. München u.a.: Elsevier, Urban & Fischer.

• McCullough, J. P. (2007): Behandlung von Depressionen mit dem Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP). Therapiemanual (Skills-Training-Manual) (1. Auflage, S. VII–XXVI). München: CIP-Medien.

• NCHS, National Center for Health Statistics (2023). Abgerufen unter https://www.cdc.gov/nchs/ covid19/pulse/mental-health.htm.

• Piaget, J. (2010): Meine Theorie der geistigen Entwicklung (2. Auflage). Weinheim, Basel, Berlin: Beltz PVU.

• Seiffge-Krenke, I. (2004): Psychotherapie und Entwicklungspsychologie: Beziehungen: Herausforderungen Ressourcen Risiken (2. Auflage). Berlin, Heidelberg: Springer.

• Sullivan, H. S. (1980): Die interpersonale Theorie der Psychiatrie. Frankfurt a. M: S. Fischer.

• Sulz, S. K. D. (1994): Strategische Kurzzeittherapie: Wege zur effizienten Psychotherapie. München: CIP-Medien.

• Sulz, S. K. D., & Theßen, L. (1999): Entwicklung und Persönlichkeit: Die VDS-Entwicklungsskalen zur Diagnose der emotionalen und Beziehungsentwicklung. Psychotherapie in Psychiatrie, Psychotherapeutischer Medizin und Klinischer Psychologie, 4(1), 32–45.

• Sulz, S. K. D. (2007): Einführung und Exkurs: Von Piagets Entwicklungstheorie zu Mc Culloughs CBASP. In: Behandlung von Depressionen mit dem Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP). Therapiemanual (Skills-Training-Manual) (1. Auflage, S. VII–XXVI). München: CIP-Medien.

• Sulz, S. K. D. (2008): SBT-Modul: Entwicklung als Therapie. München.

• Sulz, S. K. D. (2013): Entwicklung in Diagnostik und Therapie pc: personal communication. Unterecker, S. et al. (2022): Generalisierte Angststörung. Abgerufen unter https://eref.thieme.de/ cockpits/clPsych001/ 0/coPsych0222/0?context=search #cs5482_15534925159402744359.

• Watzlawick, P. (Ed.). (1981): Die erfundene Wirklichkeit: Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München: Piper.

• Wittstock, O. (1979): Latein und Griechisch im deutschen Wortschatz. Berlin: Volk und Wissen.

Autor

Dr. phil. Veit-Uwe Hoy ist Diplom-Psychologe und arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut für Verhaltenstherapie mit eigener Praxis. Zudem ist er wissenschaftlicher Beirat im de’ignis-Institut.

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