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Von der Konfrontation zur Kooperation im interkonfessionellen Dialog
by de’ignis
Psychologische und anthropologische Reflexion
Vorwort von Winfried Hahn: Unsere Einrichtungen von de’ignis arbeiten auf überkonfessioneller Basis. Das bedeutet, dass wir entsprechend unserem Claim „Kompetenz und Gottvertrauen“ nicht nur eine breite und wissenschaftlich fundierte Fachlichkeit zur Anwendung bringen. Es geht uns auch darum, dass die Menschen, die zu uns kommen, geistlich gut versorgt und begleitet werden, unabhängig ihres konfessionellen oder religiösen Hintergrunds. Das bedeutet, wir pflegen eine Spiritualität, die heilend und befreiend, nicht aber bedrückend wirkt. Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen Kränkungs- oder Ablehnungserfahrungen durchlitten haben, sich als Versager fühlen oder an Schuldgefühlen leiden etc., sollen unabhängig von irgendwelchen religiösen Streitfragen die Erfahrung machen dürfen, dass Gott voller Gnade, voller Erbarmen, voll Liebe und Geduld immer wieder die
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Möglichkeit gibt, nicht nur neu anzufangen, sondern auch neue Hoffnung und Perspektiven entdecken zu dürfen. Diese ermutigende Gottesbeziehung kann wirklich ein „Gamechanger“ (siehe Artikel auf Seite 06 von Marika Rimkus) im Zusammenwirken mit unseren pädagogischen und psychotherapeutischen Angeboten werden. Dazu braucht es jedoch eine Atmosphäre der Offenheit und des gegenseitigen Vertrauens. Nicht dogmatische Enge und Diskussion um den richtigen Standpunkt, sondern aufeinander hören trotz unterschiedlicher Standpunkte. Einheit im Glauben entsteht nicht durch Streitgespräche, bei denen jede:r auf den eigenen Standpunkt beharrt. Einheit entsteht in der Gemeinschaft mit Christus über die Differenzen verschiedener Anschauungen hinweg. Denn die Wahrheit ist eine Person, nämlich Jesus Christus (Joh. 14,6). Je tiefer wir vom Glauben und der
Beziehung zu Jesus durchdrungen sind, desto kleiner werden die Hürden unterschiedlicher Ansichten. Das bedeutet nicht die Preisgabe von Überzeugungen, aber in ihm können wir tiefe geistliche Gemeinschaft haben auch über die Gräben unterschiedlicher Lehrmeinungen hinweg (vgl. Predigt von Benedikt XVI vom 23.09.2011 im Augustinerkloster zu Erfurt). Dieses Anliegen verbindet uns mit Professor Romuald Jaworski, mit dem wir im Rahmen unserer polnischen Stiftung schon viele Jahre zusammenarbeiten, und der uns ein guter Freund geworden ist.
• Trotz der Tatsache, dass Vielfalt ein weit verbreitetes Phänomen in der Welt ist, verletzen und behindern Unterschiede häufiger, wenn es darum geht, in zwischenmenschlichen Beziehungen Übereinstimmung zu finden, und seltener helfen oder bereichern sie die Begegnung einzelner Menschen, Gemeinschaften, Institutionen und Kirchen. Kritik an einer anderen als unserer eigenen Position ist eine natürliche Reaktion auf Inkompatibilität, die Dissonanz, die wir zwischen unseren Überzeugungen und der Position des Gegners wahrnehmen. Diese Kritik kann zu Widerstand, Kampf, Zurückhaltung, Hass führen. Die Lehre Jesu enthält auch konfrontative Inhalte. Jesus sagt: „Ich habe ein Schwert auf die Erde gebracht“ (Mt. 10,34–11,6).
In diesem Zusammenhang möchte ich auf konfessionelle Differenzen und den ökumenischen Dialog über einige theologische und anthropologische Thesen eingehen, die Widerwillen und sogar Feindseligkeit hervorrufen. Die Wahrheit über Gott und die Welt ist absolut und unfehlbar, aber ihre Lesart ist geprägt von einem menschlichen Leiden, das mit der Möglichkeit des Irrtums oder der Heuchelei verbunden ist. Daher sind Manifestationen der Verabsolutierung des eigenen Standpunkts und der eigenen Interpretation der Realität gefährlich und können sich als falsch herausstellen. Daher müssen sich auch einzelne Kirchen oder theologische Schulen respektvoll vor dem Reichtum des Geheimnisses beugen, der in Gott und seinen Absichten gegenüber der Welt verborgen ist. Die Entdeckung des unendlichen Mysteriums Gottes ist faszinierend und wird nie vollständig verwirklicht. Trotz der Tatsache, dass „Gott durch die Jahrhunderte auf verschiedene Weise zu den Menschen gesprochen hat“ (Hebr. 1,1–6) und sich ihm offenbart hat, können wir aufgrund unserer Wahrnehmungsbeschränkungen sowie Mängel im Bereich der emotionalen oder spirituellen Intelligenz nicht behaupten, das Recht auf das alleinige Verständnis und die Interpretation der Wahrheit zu besitzen. Es gibt viele Thesen, die sich scheinbar widersprechen. Psycholog:innen und Anthropolog:innen betonen den quälenden Riss zwischen Geist und Materie, Freiheit und Versklavung, Böse und Gut in der menschlichen Natur. Bestehende Unterschiede in Ansichten, Bräuchen und
Traditionen können Menschen entzweien, aber auch einander näher bringen. Ein wichtiger Aspekt ist eine positive Einstellung zur Umwelt und die Bereitschaft, Verständnis und Zusammenarbeit zu pflegen. Kirchen und Religionsgemeinschaften auf der ganzen Welt pflegen spezifische spirituelle Traditionen, Rituale, Bildung und Organisationen, um ihre Anhänger:innen zu stärken. Dies definiert und stärkt ihre Identität, die ihnen nicht genommen werden kann. Kirchliche Gemeinschaften formen ihre eigene Identität auf der Grundlage akzeptierter theologischer, philosophischer oder religiöser Inhalte. Aber Identität wird auch durch Getrenntheit definiert, durch das, was einzelne Kirchen unterscheidet. Unterschiede können stören oder interessieren. Offenheit und eine positive Einstellung gegenüber der Tatsache bestehender Unterschiede können Feindseligkeiten minimieren und die Mauern einreißen, die einzelne Kirchen voneinander trennen. Gegensätze zu berücksichtigen, um die negativen Auswirkungen von Konflikten zu minimieren und Harmonie aufzubauen, kann in folgenden Bereichen angewendet werden: Psychotherapie, Beratung, Bildung, Prävention, Seelsorge.
Coincidentia oppositorum
Bei der Suche nach einem Weg, getrennte Positionen zusammenzubringen, kann ein wichtiges und inspirierendes Element die Idee von Harmonie, Dialog und Kompatibilität von Gegensätzen sein. Harmonie (griech. Ἁρμονία harmonía, lat. concordia) bedeutet die Harmonie zweier oder mehrerer Klänge, das (meist) harmonische Nebeneinander getrennter Elemente1. Die folgenden Begriffe wurden verwendet, um diese Realität zu beschreiben: compositio oppositorum oder coincidentia oppositorum
Die Wurzeln und wissenschaftliche Begründung des Konzepts der Harmonie der Gegensätze finden sich sowohl in der Beobachtung der Realität, in der wir leben, als auch in der Bibel, insbesondere in den Lehren von Jesus Christus und St. Paul. Philosophische Wurzeln finden sich in den Ansichten Platons (427–347). Einen wesentlichen Beitrag zur
Interpretation dieser Theorie leistete im Frühmittelalter der Kardinal, Theologe, Philosoph und Mathematiker Nikolaus von Kues, auch bekannt unter dem Namen Nikolaus Cusanus (1401–1464). In der modernen und gegenwärtigen Zeit lohnt sich eine Beschäftigung mit den Beiträgen von G.W. Hegel (1770–1831), C.G. Jung (1875–1961), M. Buber (1878–1965), M. Eliade (1907–1986), L. Szondi (1893–1986) und Johannes Paul II. (1920–2005). Biblische Inspirationen für ein harmonisches Leben sind zahlreich und gehaltvoll. Die Texte der Heiligen Schrift weisen auf die wichtige Rolle der Harmonie in der Welt hin. Das Paradies ist ein Bild des Lebens in Harmonie mit sich selbst, der Freundschaft mit Gott, mit anderen Menschen, mit der Welt der Natur. Die Sünde, die diese Harmonie zerstört hat, muss überwunden werden, weshalb der Sohn Gottes die Mission der Versöhnung übernimmt und die Mauern der Feindschaft niederreißt (vgl. Eph. 2,14; Kol. 1,20). Der Himmel ist das Bild der Harmonie, nach der sich der Mensch sehnt. Diese Sehnsucht nach Harmonie liegt in der Natur des Menschen und gibt die Richtung der Entwicklung vor. Nikolaus von Kues – Jurist und Mystiker, Konziliarist und päpstlicher Agent, Autor unter anderem von De concordantia catholica (Über die allgemeine Zustimmung, 1433) und De docta ignorantia (Über die aufgeklärte Unwissenheit, 1940), Gründer des Krankenhauses und der Bibliothek in Bernkastel – zeigte in seinen Werken und in seinem Leben, wie man gegensätzliche Realitäten verbindet: er verband aktives Leben (via activa) und kontemplatives Leben (via contemplativa). Die Hauptgedanken dieses Denkens nahm er in seine Werke Idiota de sapientia (Laie über die Weisheit) und Idiota de mente (Laie über den Verstand) auf. In seinen Schriften erscheint Gott als „coincidentia oppositorum“ (Einheit der Gegensätze). Das kann auch ein Laie nachvollziehen, der keinen akademischen Hintergrund hat, aber reich an Lebensweisheiten ist. Gott ist das höchste Vorbild, die absolute Form der Dinge. Gottes Einheit „rollt sich in sich zusammen“, fasst alle Mannigfaltigkeit zusammen. Die Aufgabe des menschlichen Geistes ist es, die von den Sinnen und der Vorstellungskraft gelieferten Daten zu unterscheiden (discretio), das heißt zu ordnen, zu vereinen und zu interpretieren.
Mircea Eliade (1907–1976) leitete seine philosophischen und theologischen Untersuchungen aus existenziellen Erfahrungen ab, die durch die Notwendigkeit gekennzeichnet sind, Gegensätze zu überwinden. Die Formel „coincidentia oppositorum“ ist seiner Meinung nach der beste Weg, um Gott zu verstehen, weil sie zeigt, dass Gott nur als ein Paradoxon fassbar ist, das sich jedem Verständnis entzieht und letztlich ein Mysterium darstellt.2 Da die „coincidentia oppositorum“ ein rationales Konzept definiert und das Mysterium respektiert, ist die Einheit der Gegensätze eine symbolische Art, sich auf Gott zu beziehen. Die Vorstellung von der Bedeutung der Versöhnung von Gegensätzen ist auch in der
Psychologie präsent. Zum Beispiel behauptet Leopold Szondi (1893–1986), dass der Mensch als pontifex oppositorum zwischen dem realen Selbst und dem idealen Selbst3 , zwischen den bewussten und unbewussten Teilen der Persönlichkeit, zwischen den persönlichen und institutionellen Teilen des idealen Selbst wahrgenommen wird. Der Wert der „coincidentia oppositorum“ betrifft zunächst die Entdeckung des Konzepts von Gott und Mensch. Die Annäherung an die Wahrheit, an Gott und an Jesus Christus ermöglicht es uns, Räume zu entdecken, in denen einzelne Kirchen einander ergänzen und bereichern können. Die Welt ist voll von Antagonismen, die sich gegensätzlich gewissermaßen ergänzen: Freude und Traurigkeit, Akzeptanz und Verneinung, Analyse und Synthese, Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht, Wahrheit und Falschheit, Schönheit und Hässlichkeit, Weisheit und Dummheit, Geist und Materie, Leben und Tod, Gut und Böse, Freiheit und Notwendigkeit, Egozentrismus und Allozentrismus, Extraversion und Introversion, Vergangenheit und Zukunft, Subjektivität und Objektivität, Akzeptanz und Negation, Geben und Nehmen, Sender und Empfänger.
Die akzeptierte Polarität von Positionen und Dualität von Positionen mit der Nutzung von Synergie und Dialog führt zu Wahrheit und Gut. Gegensätzliche Elemente bekommen eine neue Bedeutung: Analyse und Synthese, Materie und Geist, Bewusstsein und Unterbewusstsein, status quo (Sünde) und status ad quem (Paradies, Himmel, Harmonie).
Als Gott die Welt erschuf, trennte er: Licht und Finsternis, die Wasser oben und unten, Wasser und Land. Dies war der Beginn der „coincidentia oppositorum“. Auch Jesus Christus sagt, er habe ein Schwert mitgebracht, damit Vater und Sohn, Schwiegermutter und Schwiegertochter gegeneinander ankämen. Und gleichzeitig ruft er zur Überwindung der Feindschaft im Namen der Feindesliebe auf. Als Christus kam, um eine durch Sünde verderbte Welt wieder in Ordnung zu bringen, machte er es sich zum Ziel, die Mauer in sich einzureißen, indem er die Feindschaft tötete (Eph. 2,14).
Diskussion und Dialog
Gegner, die ihre Unterschiede bemerken, können auf zwei Arten miteinander kommunizieren: durch Diskussion oder Dialog 4 . Diskussion ist eine Form des Kampfes, die darauf abzielt, die eigene Position zu verteidigen und den Gegner zu besiegen oder zu eliminieren. Es ist eine Form des Wettbewerbs. Die Gegner bringen ihre eigenen Gründe und Argumente vor, um zu beweisen, dass die andere Seite falsch liegt. Ziel der Diskussion ist es, eine der Seiten zu gewinnen, den Gegner zu dominieren. Wenn der Debattierer auf den Gegner hört, dann vor allem, weil er seine Schwachstellen finden und seinen eigenen Argumenten entgegentreten will. In der Diskussion wird vor allem auf Meinungsverschiedenheiten geachtet, Argumente des Gegners kritisiert, andere ignoriert, lächerlich gemacht, kritisiert und bewertet. Dies ist nicht der Weg zur Einheit, sondern zur Auflösung, Spaltung. Die Diskussion verwandelt sich allmählich in einen Streit, einen Kampf, einen Krieg, eine Revolution. Der Dialog geht davon aus, dass viele Menschen Zugang zu unterschiedlichen Wissens- und Erfahrungswerten haben. Er regt zum Nachdenken über die eigene Position an. Er ist eine Verständigung zwischen den Menschen, die zuhören, und den Menschen, die sprechen. Im Dialog suchen wir nach Kompatibilität. Der Dialog fördert einen offenen Geist und die Bereitschaft, zuzugeben, dass ich falsch liegen könnte, und sogar die Bereitschaft, meine Meinung zu ändern. Synergie ist eine gemeinsame Suche nach einem umfassenderen Verständnis, sie neigt dazu, die Bindungen zwischen den Sprechenden zu vertiefen; es ist eine Form der Zusammenarbeit für ein besseres gegenseitiges Verständnis und eine bessere Zusammenarbeit. Die beiden Seiten stehen sich nicht gegenüber, um gegeneinander zu kämpfen, sondern stehen Seite an Seite, um sich miteinander bei der Suche nach Konfliktlösungen zu unterstützen. Ihr Durst nach Wahrheit bringt sie näher zusammen. Sie berücksichtigen beide Seiten der Medaille: Vorder- und Rückseite. Anstelle des disjunktiven Denkens („entweder–oder“) übernehmen sie das konjunktive oder alternative Denken („so oder so“ aber auch „so und so“). Auf der Verhaltensebene ist es dann einfach, Kooperation aufzubauen. In dieser Situation wird eine coincidentia oppositorum möglich.
Vertrauen kultivieren
Ein weiterer wichtiger Aspekt beim Aufbau einer ökumenischen Arbeitsweise von Kirchen und Religionsgemeinschaften ist die Haltung des Vertrauens5
Erik H. Erikson analysiert die menschliche Entwicklung und macht auf die Grundfunktion des Vertrauens aufmerksam, wenn er vom Urvertrauen als der ersten Tugend spricht, die sich in der Kindheit durch den Konflikt zwischen Vertrauen und Misstrauen entwickelt. Dieses Urvertrauen spielt eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Persönlichkeit und Religiosität. Es trägt zum Aufbau korrekter, tiefer und offener sozialer Beziehungen bei. Auf diese Weise wird sie auch zu einer starken Stütze für wirksame ökumenische Aktivitäten. Ein wichtiges Element hierbei ist das Vertrauen auf Gott und seine Gegenwart in den kognitiven und verhaltensbezogenen Aktivitäten, die wir unternehmen. Das KoinzidenzOppositorum über die Rolle von Intellekt und Glaube (JPII, Fides et ratio) und ihre Funktion bei der Suche nach der Wahrheit findet seine Stärkung gerade in der vertrauensvollen Haltung gegenüber Gott und den Menschen. Religiosität ist ein entwicklungsfördernder Faktor im Prozess der Bewältigung von Konflikten, die die menschliche Existenz prägen.
Martin Buber stellt in einem bekannten Buch6 über die Glaubensproblematik (Zwei Arten von Glauben, Kraków 1995) fest, dass wir den Glauben selbst – trotz der großen Vielfalt der Glaubensinhalte – nur in zwei Formen kennen: Die eine ist mit der Tatsache verbunden, jemandem zu vertrauen, die andere mit der Anerkennung eines bestimmten Sachverhalts als wahr. Für das Religionsleben ist diese erste Art des Glaubens wesentlich. Trotzdem hat sich mehr psychosoziale Forschung dem zweiten Glaubenstyp gewidmet – der Kohärenz religiöser Einstellungen, des Glaubenssystems, ihrer Akzeptanz, Vorurteile usw. Währenddessen erfordert die eher psychologische Dimension des Vertrauens noch neue Erkenntnisse, tiefe theoretische Analysen und empirische Überprüfung.
In einem Klima des gegenseitigen Vertrauens ist es möglich, Unterschiede gelassen wahrzunehmen – inakzeptable Inhalte, die eine erhöhte Sensibilität und eingehende Reflexion erfordern, um das Wesen der Unterschiede zu verstehen und Versöhnungen zu suchen. Auftretende Konflikte nehmen einen positiven und kreativen Charakter an, weil sie das Verständnis für wahrgenommene Unterschiede und Widersprüche stärken und vertiefen. Um Konflikte kreativ zu nutzen, müssen Sie deren Arten, Erscheinungsformen, Ursachen und Wirkungen kennen. Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen religiösem Vertrauen und den Ergebnissen psychologischer Tests weisen auf eine wichtige Funktion des religiösen Vertrauens bei der Gestaltung einer reifen, offenen Persönlichkeit hin. Dann wird eine neue, vertiefte Interpretation der Funktion von Religion (und ihrer Komponenten) im psychosozialen Leben möglich. Religiöses Vertrauen ist dabei nicht nur die Grundlage für Wohlbefinden und Gesundheit, sondern auch ein wichtiges Element der Heilsentwicklung und -pädagogik. Vertrauensvolle Menschen erleben weniger Konflikte, haben ein höheres Sinngefühl und investieren mehr Zeit und Energie in das, was sie für heilig halten. Menschen, die auf Gott vertrauen, erfahren erhebliche Vorteile in Bezug auf ihre Entwicklung und ihr Wohlbefinden. Sie sind gekennzeichnet durch geringere Depressionen, höheres Selbstwertgefühl, weniger Einsamkeitsgefühle (Kikpatrick, Kellas & Shillito, 1993), größere Reife in zwischenmenschlichen Beziehungen (Hall & Edwards, 2002) sowie größere psychosoziale Kompetenzen (Pargament et al., 2000). Das Gefühl der Gottesnähe und das Gottvertrauen sind für Menschen in
Stresssituationen besonders wertvoll. Die psychologische Forschung hat gezeigt, dass religiöses Vertrauen im Kontext existenzieller Konflikte von besonderer Bedeutung ist (vgl. Płużek, 2002).
Coincidentia oppositorum als Kriterium der Religionsreife Wird die „coincidentia oppositorum“ zur Beurteilung der Religiosität herangezogen, so lässt sich sagen, dass sich die Reife des Glaubens in der Versöhnung von Gegensätzen nach dem Bilde Gottes offenbart. In der religiösen Gotteserfahrung begegnen sich sacrum und profanum (Eliade), tremendum und fascinosum (R. Otto), Transzendenz und Immanenz, Subjektivität und Objektivität (Allport), Freiheit und Abhängigkeit, Vertrauen und Angst, Hoffnung (Sinn) und Absurdität, Dauer (Ewigkeit) und Vergänglichkeit, Mysterium (Undurchdringlichkeit) und Offensichtlichkeit (Transparenz), Gehorsam und Eigenständigkeit sowie „irdische“ und „himmlische“ Liebe. Die Betrachtung der „Einheit der Gegensätze“, um die negativen Auswirkungen von Konflikten zu minimieren und Harmonie aufzubauen, kann in Psychotherapie, Beratung, Pädagogik, Seelsorge und allen anderen Bereichen des interkonfessionellen Dialogs Anwendung finden.
In einem Klima des Vertrauens auf Gott und aufeinander werden auch kontroverse, doktrinäre oder rituelle Unvereinbarkeiten zum Thema des Dialogs. Viele schwierig zu akzeptierende Themen aus einer anderen kritischen und zugleich wohlwollenden Perspektive zu betrachten, kann den theologischen und existenziellen Inhalt vertiefen und bereichern. Beispielsweise kann das Interesse der Protestanten an der katholischen Mariologie beiden Seiten des Dialogs zugutekommen. Es ermöglicht eine vertiefte Analyse aus der Perspektive der biblischen Figur, die die Mutter Jesu Christi ist. Ebenso ermöglicht die Interpretation des Wirkens des Heiligen Geistes in der zeitgenössischen Kirche, die sowohl in evangelischen als auch in katholischen Gemeinden praktiziert wird, den Erfahrungsaustausch und die theologische Vertiefung dieser Tatsache. Ebenso verdienen die mystischen Erfahrungen der
Orthodoxie, des Katholizismus und der evangelischen Kirchen einen multilateralen offenen Austausch über Inhalte und Praktiken der Annäherung an Gott. Zur Vertiefung der in einer bestimmten Kirche vorherrschenden theologischen Thesen und religiösen Praktiken kann sich daher der dialogische Austausch mit Schwesterkirchen und deren Wahrnehmung dieser kritisierten und abgelehnten Inhalte und Praktiken als förderlich und inspirierend erweisen. Dies gilt z. B. für die Ausübung von Glossolalia und Exorzismen, Ruhe im Heiligen Geist, charismatische Heilungen, Marien- und Heiligenkult. Wenn anstelle von Vorurteilen gegenüber Schwesterkirchen Offenheit, Interesse, gegenseitige Fürsorge und Kooperation zu dominieren beginnen, wenn Vertrauen Misstrauen ersetzt, dann kann das Gebet Jesu „Mögen alle eins sein“ (Joh. 17,21–23) Wirklichkeit werden und nicht nur ein Postulat.
Die Entwicklung des theologischen Denkens vollzog sich über Jahrhunderte und war nicht ohne Schwierigkeiten und Konflikte. Die bestehenden Unterschiede sollten jedoch eher als Chance für die Entwicklung und Vertiefung des christlichen Lebens denn als Hindernis und Erniedrigung wahrgenommen werden. Diese Richtung scheint schwierig umzusetzen, aber sie ist nicht unmöglich.
Literatur
• Black, D. M. (2006): Psychoanalysis and Religion in the 21st Century. Competitors or Collaborators? Routledge.
• Buber, M. (1995): Dwa typy wiary (Zwei Arten von Glauben). Kraków.
• Eliade, M. (1998): Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Insel Taschenbuch.
• Gillespie, C. K. SJ (2007): Patterns of conversation between Catholicism and Psychology in the United States. In: Catholic Social Science Review, 12. S. 173–183.
• Jan Paweł II (1998): Fides et Ratio. L’Osservatore Romano.
• Jaworski, R. (2007): Jak zbadać dojrzałość religijną?. Studia Gdańskie XX. S. 167–181.
• Jaworski, R. (2006): Drogi do harmonii – Wege zur Harmonie. „Keryks” V. S. 95–132.
• Jaworski, R. (2020): Religijny rozwój osoby ludzkiej. Interpretacja psychologiczna (Die religiöse Entwicklung der menschlichen Person. Psychologische Deutung). Płock.
• Jaworski, R.: The Role of Religious Trust in Overcoming Conflicts. Empirical Verification of the Pastoral Psychology Paradigm. Christian Psychology Around The World. EMCAPP Journal Nr 1. S. 34–42. Angerufen unter: http://www.1kserver. com/4edc67760a87b/.
• Szondi, L. (2012): Dialektische Trieblehre und dialektische Methodik der Testanalyse.
• Szondi, L. (2012): Ich-Analyse. Die Grundlage zur Vereinigung der Tiefenpsychologie.
• Wulff, D. M. (1997): The Psychology of Religion. Classic and Contemporary.
• Cencini, A. (2022): Inny. Wywiad o Bogu. W rozmowie z Anetą Kanią. Kraków: Salwator.
Fussnoten
1 Jaworski, R. (2006): Drogi do harmonii – Wege zur Harmonie. „Keryks” V. S. 95–132.
2 Eliade, M. (1998): Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Insel Taschenbuch.
3 Szondi, L. (1952): Dialektische Trieblehre und dialektische Methodik der Testanalyse. Szondi, L. (2012): Ich-Analyse. Die Grundlage zur Vereinigung der Tiefenpsychologie.
4 Jaworski, R. (2020): Religijny rozwój osoby ludzkiej. Interpretacja psychologiczna (Die religiöse Entwicklung der menschlichen Person. Psychologische Deutung). Płock.
5 Jaworski, R.: The Role of Religious Trust in Overcoming Conflicts. Empirical Verification of the Pastoral Psychology Paradigm. Christian Psychology Around The World. EMCAPP Journal Nr 1. S. 34–42. Abgerufen unter http://www.1kserver.com/4edc67760a87b.
6 Buber M. (1995): Dwa typy wiary (Zwei Arten von Glauben), Kraków.
Autor
Romuald Jaworski ist katholischer Pfarrer, Professor, Psychologe und Psychotherapeut sowie Gründer und Supervisor der Gesellschaft für Christliche Psychologen in Warschau. Er ist außerdem Leiter des Lehrstuhls für Religionspsychologie an der KardinalWyszyński-Universität in Warschau, Priester der Diözese Plock in Polen, langjähriger Leiter eines Priesterseminares sowie Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen im Bereich von Psychologie und Glaube. Jaworski ist wissenschaftlicher Beirat am de’ignis-Institut.
Autor
Winfried Hahn ist Pastor und Pädagoge. Der Vater von zwei erwachsenen Kindern studierte Pädagogik, war Pastor in mehreren freikirchlichen Gemeinden und absolvierte eine Ausbildung zum christlichen Therapeuten. Er ist Geschäftsführer des de’ignis-Wohnheims – Haus Tabor zur außerklinischen psychiatrischen Betreuung und Vorsitzender der de’ignis-Stiftung Polen. Er ist verantwortlich für den Fachbereich Theologie am de’ignis-Institut. Als Pastor im übergemeindlichen Dienst und Buchautor hält er Predigten, Vorträge und Seminare im In- und Ausland.
In der de’ignis-Fachklinik erhalten Menschen bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, wie zum Beispiel Depressionen, Ängsten, Zwängen und Burn-out, sowohl stationär als auch ambulant oder tagesklinisch eine individuell auf sie ausgerichtete Behandlung. Zusätzlich bietet sie Nachsorge- und Sonderprogramme mit einzelnen Sozialversicherungsträgern sowie verschiedene Präventionsangebote an. ↗ Ab Seite 43
Das de’ignis-Wohnheim nimmt Menschen mit psychischen Erkrankungen und Lebenskrisen auf, die vorübergehend oder langfristig nicht in der Lage sind, selbstständig zu leben. Es deckt die Bereiche des intensiven und teilstationären Heimbereichs, den Wohntrainingsbereich sowie den ambulanten Bereich ab. Dabei bietet es ein umfangreiches sozialtherapeutisches Programm an. ↗ Ab Seite 52
Das de’ignis -Institut bietet seit über 30 Jahren erfolgreich Fortbildung, Schulung, Supervision und Beratung für Erwachsene sowie Kinder und Jugendliche an, hierbei insbesondere die Fortbildung für Christlich-integrative Therapie. Das Institut bildet eine Schnittstelle zwischen Medizin, Psychologie und Theologie. ↗ Ab Seite 48
Die de’ignis -Stiftung in Polen bietet bereits seit einigen Jahren Seelsorgekurse an und unterstützt den Aufbau eines Netzwerks von Seelsorge-Beratungsstellen. Des Weiteren erhalten Menschen mit psychischen Erkrankungen in der de’ignis-Beratungsstelle in Warschau ambulante Psychotherapie. ↗ Seite 51