Leutzsch MONIKA KIRST
erlebt | erkundet | zugehört
W ERBEAGENTUR K OLB in Zusammenarbeit mit dem Bürgerverein Leutzsch e.V.
2. Band
BÖHLITZER HEFTE
Kurs 1: 116 S., über 160 Abb., 11 Karten, 11,90 @ ISBN 978-3-944992-11-2
Kurs 2: 116 S., über 180 Abb., 10 Karten, 11,90 @ ISBN 978-3-944992-24-2
Kurs 7: 104 S., über 150 Abb., 8 Karten, 9,90 @ ISBN 978-3-944992-20-4
100 S., über 140 Abb., 5 Karten, 9,90 @ ISBN 978-3-944992-08-2
96 S., über 170 Abb., 5 Karten, 8,90 @ ISBN 978-3-944992-10-5
100 S., über 200 Abb., 7 Karten, 9,90 @ ISBN 978-3-944992-05-1
100 S., über 140 Abb., Pläne+Grafiken, 9,90 @ ISBN 978-3-944992-03-7
100 S., über 190 Abb., 5 Karten, 9,90 @ ISBN 978-3-944992-07-5
64 S., über 120 Abb., 8,90 @ ISBN 978-3-944992-26-6
Creativ WERBEAGENTUR KOLB GmbH Leipziger Straße 71 04178 Leipzig (B.-Ehrenberg)
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Inhaltsverzeichnis Vorwort Zugehört … 5
In der »Prieße« Verstört … 13 Vergnügt … 16
Es hat sich in Leutzsch zugetragen Heimatfest 1936 … 21 Es stand nicht in der Zeitung … 30 Späte Nachricht … 33 »Sprechen Sie mich nicht an …« … 36 Das Rätsel im Hortgarten … 40 Die Fabrikfeuerwehr wird alarmiert … 42 »Dem Oberbürgermeister vorzulegen« … 47 Carl Goerdeler in Leutzsch (Bernhard Richter) … 49
Es ist Krieg Luftschutzkeller, Klavierkonzert und Löschwasserteich … 57
Der Krieg ist aus Hitlerdolch, Munition und Lindenblütentee … 65 In der Schulchronik gefunden … 77
Uns kriegt hier keiner weg »Da gehörst du nicht hin.« … 83 Wilde Zeiten … 87 Die »Süße Ecke« – Straße der Kindheit … 93 Die Rabensänger … 98 Aufgewühlt – zwei Leutzscher Mütter … 101 Wundersames Leutzsch … 105 Ich bleibe stehen … 110 »Uns kriegt hier keiner mehr weg.« … 114
Anhang Quellenverzeichnisse … 124
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In der »Prieße«
In der »Prieße«
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Verstört Es reißt mich aus dem Schlaf, ich greife nach dem ersten besten Stift und versuche, es mir von der Seele zu schreiben. Es ist erst Stunden her. Wochen sind seitdem vergangen. Der Stift ist kurz geworden. 11. August 2016 Nachmittag, die Sonne beißt vom Himmel, 34 Grad, Badewetter. Schwacher Chlorgeruch dringt in meine Nase. Inmitten einer tobenden und vergnügten Kindermeute spüre ich Wasser in meinen Augen. Das mochte ich nie. Ich bin auf der Spielwiese im heutigen Kleingartenverein Prießnitz-Morgenröte, schaue auf den Zaun mit der Tür aus angerostetem Metallgitter. Hier müsste der Eingang zur Prieße gewesen sein, wo jetzt der Wald lebt. Er hat das Bad erobert. Als Kind war ich hier schwimmen. Ein Fremder setzt sich zu mir an einen der Gartentische. Auch er sucht, wie ich bald erfahre, einen alten Kindheitsort auf. »Dort war der Eingang, hinter der Blechtür, wo jetzt zwei kräftige Bäume stehen und rechts vorn die Umkleidekabinen.« Er kennt sich aus, wohnte in der Kindheit gleich um die Ecke. Beim Bademeister habe er das Schwimmen gelernt, an der »Angel«. »Wenn’s Wasser sauber war, war’s saukalt, wenn’s warm war, dann war’s trüb, und in den Ecken alles, was von Wiese und Wald an den Füßen hing.« So war's! Wir sind uns einig.
Er kommt von weit her, ist für vier Tage in Leipzig, Hotelbewohner in Leipzigs Innenstadt, hat nach einer Irrfahrt mit einer Straßenbahnnummer aus der Kindheit doch noch das PrießnitzSchwimmbad erreicht. Er erinnert sich: »Früh, vor der Schule, ging’s erst mal in den Gartenverein der Prieße, schauen, ob’s was Essbares gibt.« Es war die Hungerzeit, muss 1947 gewesen sein. Ich erinnere mich an meinen Schulweg, der über unseren Leutzscher Innenhof führte, um die noch unreifen Tomaten von den Beeten der Bewohner zu klauen. Im Ranzen war kein Schulbrot. Wir sind uns einig. Wir schweigen. In mir laufen Bilder der Kindheit weiter. Urplötzlich, wie aus einer anderen Welt: »Mit dem redet niemand. Sein Vater ist ein Kriegsverbrecher.« Nur diese zwei Sätze, dann schweigt der Fremde. Es ist die Stimme dieses Mannes, der neben mir sitzt, und es ist zugleich nicht
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Es hat sich in
LEUTZSCH zugetragen
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Heimatfest 1936 Es ist das Fenster an meinem heutigen Arbeitsplatz. Genau darunter ein Hakenkreuz im Großformat, weithin sichtbar. Das war im Jahr 1936 zum 1. Heimatfest in Leutzsch. Ein Foto jenes Tages ist erhalten geblieben, nur als Kopie (siehe Heft 1, S. 56). Ich sehe es das erste Mal am 10. März 2015. Akkurat gesetzt sind die großen Kreuze mit den Haken in allen Etagen und unter allen Fenstern. Girlanden schmücken, sorgfältig gezogen, das ganze Haus. Es sieht amtlich aus, perfekter Einheitsschmuck, offensichtlich keine privaten Fahnen. Dazu eine extralange Fahne am Fahnenmast vor dem Haus. Die Pappeln sind noch niedrig, heute sind es Himmelsstürmer. Die Weide schon mit großem Kopf, wie heute. Ich war noch nicht geboren. März 2015 Die Festschrift zum 1. Heimatfest 1936 in Leutzsch liegt vor mir. Sie stammt aus Privathand. Die Ortsangaben im Heft mit den Straßennamen dieser Zeit treiben mich zur Suche. Ich stehe vor einem Altbau, ein Haus mit geschundener Fassade. Es ist die Georg-Schwarz-Straße 184. Das Tor zur Einfahrt verwahrlost, das Nummernschild uralt, es könnte mich zum Sammeln verleiten. Direkt über der Toreinfahrt der 184, von Rost zerfressen, ein Fahnenhalter. Er muss einmal eine schwere Fahne gehalten haben. Links und rechts davon die Reste zweier kleinerer Halter. Von wem wurde hier einst geflaggt?
Georg-Schwarz-Straße 184, 1933 bis 1945 Schlageterstraße, war Sitz der Leutzscher Ortsgruppe der NSDAP
Es war der Sitz der Leutzscher Ortsgruppe der NSDAP in der damaligen Schlageterstraße. 1936 befand sich hier in der heutigen Georg-Schwarz-Straße die Kreisleitung Leipzig, Ortsgruppe Westen E der NSDAP. Weiter waren im Haus: der Geschäftsstellendienst der Deutschen Arbeitsfront (DAF), Ortsverwaltung Westen 5: die DAF war nach der Zerschlagung der Gewerkschaften 1933 die offizielle Vertretung der deutschen Arbeiter und des »schaffenden Kapitals«, eine Gliederung der NSDAP. Außerdem waren im Haus: die Geschäftsstelle der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, Ortsgruppe Westen E,
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Vom Widerstand des Reichsbanners, von »Hetzschriften« gegen das erste SAHeim und weiteren Auseinandersetzungen wird in der Festschrift berichtet. Zur Stadtverordnetenwahl am 13. November 1932 hätten bei einer Wahlbeteiligung von durchschnittlich 82 % von ungefähr 10.000 Wahlberechtigten in Leutzsch für die Liste der NSDAP 1.584 Volksgenossen gestimmt, wird rückblickend 1936 vom Ortsgruppenleiter Schoppe in der Selbstdarstellung der Leutzscher NSDAP für die Festschrift notiert. Das Wörtchen »nur« würde ich einfügen wollen, doch für das »Kampfjahr« 1932 wird es als Erfolg vermeldet. Für den Eröffnungsabend des Leutzscher Heimatfestes am Sonnabend, Festschrift anlässlich des 1. Leutzscher Heimatfestes 1936 – mit einer Selbstdarstellung der Leutzscher NSDAP
Hoffest 1937 in der Graf-Spee-Straße, die heutige Hans-Driesch-Straße
Richtfest und Festzug 1938 für Wohnhäuser in der Pfingstweide 18 bis 22
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Angetreten zum »Sommerfest« vor dem Vereinshaus des Gartenvereins »Morgenröte« (links) und Umzug (rechts) durch die Theodor-Fritzsch-Straße (heute William-Zipperer-Straße). Bereits Anfang 1933 sind auf Anordnung des Kommissars für Wohn-, Siedlungsund Kleingartenwesen alle Gruppen und Vereine »gleichzuschalten«. Erster und zweiter Vorsitzender, Schatzmeister und Schriftführer sollen fortan der NSDAP angehören
dem 4. Juli 1936, wird ein Liedtext für den gemeinsamen Gesang der Teilnehmer in die Festschrift aufgenommen. »Volk ans Gewehr« ist der Titel, der Liedschluss lautet: »Juda den Tod«. Es ist drei Jahre vor Kriegsbeginn. Ich würde mir wünschen, wenn Nachfahren ehemaliger Unternehmen in Leutzsch heute über ihre Familiengeschichte nachdenken, auch jene Jahre nicht auszulassen. Zur über 250-jährigen Geschichte der Müllers in Leutzsch – Generationen von Gutsbesitzern – gehörte auch die Baufirma Müller. Sie baute Wohnanlagen und Wohnhäuser in Leutzsch, die Aufträge für Heeresbauten vom Reich ließen die Firma kräftig wachsen. Thorer und Holländer fertigten Ausrüstung, Fellbekleidung und Felltornister für die Wehrmacht. Körting und Mathiesen’s Scheinwerfer waren für die Flak tauglich.
Springer & Möllers Farben und Lacke fanden Verwendung für die Kriegsrüstung. Hitler brauchte die Leutzscher Produkte der Eisen- und Stahlindustrie. Max Jahn, Stahl- und Eisengießerei stellt sich 1936 zum Heimatfest so vor: »Der Nationalsozialismus hat sich in den Jahren schwerster wirtschaftlicher Not für das Werk geradezu als lebensnotwendig erwiesen. Wir können daher unsern Bericht nicht schließen, bevor wir nicht unserem unvergleichlichen Führer und Reichskanzler unseres lieben deutschen Vaterlandes, dem großen Staatsmann Adolf Hitler an dieser Stelle unsern Dank ausgesprochen haben. Möge er unserem Volke noch recht lange erhalten bleiben. – Das walte Gott!« (Aus Festschrift zum Heimatfest 1936) Kriegsdienstpflicht Mein Großvater war als Maurer bei Jahns kriegsdienstverpflichtet. Schon aus
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LEUTZSCH »Sprechen Sie mich nicht an ...« Pausenkarten
Nur eine Pausenkarte vom Jugendklubhaus »Schwarzer Jäger«, William-Zipperer-Straße 111, aus den 1970er Jahren, hat ein Leutzscher sorgsam aufgehoben. Keine Eintrittskarte ist dabei, obwohl zwingend dazu gehörig. War er mit der Tanzpartnerin vor die Tür gegangen? Die Geschichte zur Pausenkarte fehlt. Barnet Licht, Zeichnung von Max Schwimmer
Einer weiteren hörte ich zu: »Es war in der Straßenbahn, schon Nazizeit. Da erkenne ich den Dirigenten Barnet Licht. Ehe meinem Blick Worte folgen können: ›Sprechen Sie mich nicht an‹. Ganz leise sprach er vor sich hin, ohne den Kopf zu bewegen«, erinnert sich die Sängerin in den Lichtschen Chören, Marie Heyne. Sie nimmt dabei selbst die Stimme zurück. »Das vergesse ich nie. Er wollte nicht erkannt werden, er, der noch vor kurzem in den größten Sälen der Stadt Konzerte dirigiert hatte, Initiator der Aufführungen der 9. Sinfonie am Silvesterabend war: ›Alle Menschen werden Brüder‹. Im Volkshaus musste er bei den Nazis Toiletten Initiator Barnet Licht: Aufführungen der 9. Sinfonie in der Silvesternacht 1918
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»Das dezente Ballhaus im Westen« mit »nur erstklassigen Kapellen«, so wirbt der »Schwarze Jäger« im Adressbuch von 1949
schrubben.« (Gespräch M. K. mit der Sängerin im November 1988) Barnet Licht gehört zur Geschichte des »Schwarzen Jäger«. Einst ein Ballhaus in der heutigen William-Zipperer-Straße, wurde es 1944 –1947 Auffanglager für Flüchtlinge. »Seit Anfang Mai 1947 trafen weitere 1.600 Umsiedler aus Gdansk und Schlesien in Leipzig ein. Sie wurden zunächst in den Auffanglagern ›Park Meuselwitz‹, ›Weißes Ross‹, ›Elstertal‹ und ›Schwarzer Jäger‹ untergebracht. Außerdem kamen zwei Transporte mit ehemaligen Rumäniendeutschen an.« (Chronik der Stadt Leipzig) Für Flüchtlinge und Ausgebombte wurden Kleidung, Decken, Betten, Liegestätten, Möbelstücke und Hausrat gesammelt. Später war das Gebäude Klubhaus und Jugendklubhaus. Nach 2000 wurde der »Schwarze Jäger« – Saalgebäude und das Haus der Gaststätte – abgerissen, da er völlig heruntergekommen war.
Im »Schwarzen Jäger« probte bis 1933 der Männerchor und der Gemischte Chor von Leipzig-Leutzsch unter dem Dirigenten Barnet Licht. Sie waren ein Teil der Lichtschen Chöre in Leipzig. Barnet Licht, 1874 in New York geboren, hatte am Konservatorium in Leipzig studiert, wirkte als Musiker, Orchesterund Chordirigent. Die Geschichte des Ballhauses und späteren Jugendklubhauses »Schwarzer Jäger« endet mit Stilllegung und Abriss ab 2005
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Die Fabrikfeuerwehr wird alarmiert Sie gehört zu Springer & Möller AG Lackund Farbenwerke Leutzsch in der FranzFlemming-Straße. Sie kommt nicht weit. Löschen ist untersagt. Die Synagoge brennt, dort wo heute symbolisch die bronzenen Stühle unbehaust in der Gottschedstraße stehen. Überall in Deutschland stehen 1938 jüdische Gotteshäuser in Flammen. Auf der Fabrik weht die Naziflagge. 13. Februar 2017 Die Nichte von Dr. Rudolf HerrmannMöller empfängt mich in ihrem Haus. Es ist das erste Mal, dass ich diese Feuerwehr-Geschichte höre. Die Namen der Fabrikgründer und -besitzer sind auf dem Leutzscher Friedhof auf einem prächtigen Grabmal wie für die Ewigkeit fest eingeschrieben. In der Sprache der älteren Einwohner ist der Fabrikname noch lebendiger als der spätere Name VEB Lacke und Oben: Neues Leben für das alte Verwaltungshaus Das Grabmal von Springer & Möller auf dem Leutzscher Friedhof
Farben. Die Produktion ist längst stillgelegt. Nur das alte Verwaltungshaus bemüht sich um neues Leben. Am 1. Oktober 1895 wird die Firma vom Drogisten Fritz Springer und von Christian Möller als Geschäft für Malerartikel auf dem Brühl Nr. 6 gegründet. Bald kommt die Produktion von Malerfarben, Lacken und Druckfarben hinzu. Das älteste Fabrikgebäude stand in der Gerberstraße. In Leutzsch entstanden in den 1920er Jahren die Werke I, II, III und IV. (siehe Band 1, Seite 97) In den 1930er Jahren hat die Firma 700 Mitarbeiter. Sie ist ein wichtiger Faktor im Wirtschaftsleben Deutschlands und prägt Leutzsch. Die Firma ist welt-
Es hat sich in Leutzsch zugetragen
Ältestes Fabrikgebäude von Springer & Möller in der Gerberstraße in Leipzig
weit aufgestellt, hat Werke in Buenos Aires, Zagreb und Amsterdam. Ihr Wasserturm im Stil des Art deco, erbaut als Symbol der deutschen Farbenindustrie, gehört noch heute zur Silhouette von Leutzsch. Anstrichstoffe für alle Zweige der Industrie werden hergestellt, für Automobil- und Flugzeugindustrie, Maschinenbau, Bahn und Post. Speziallacke für das Malerhandwerk, Trockenfarben für die Buntpapier-Industrie, Druckfarben aller Art gehören dazu. 1933 bis 1945 werden die Farben der Firma für Flugzeuge, Panzer und Autos gebraucht. »Rohstoffe für die Farbenherstellung während des Krieges zu bekommen, den Betrieb
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am Laufen zu halten, die Löhne zu zahlen, verlangte, sich anzupassen.« Der Ort unseres Gesprächs liegt am Anfang des Villenviertels. »Die Grenze – das ist die Hellerstraße«. Die Nachfahrin der Möllers zieht sie mit der Hand exakt über den Tisch. »Wir hatten in Leutzsch alles: Das ›Schlossviertel‹, das Arbeiterund Fabrikviertel um die Georg-SchwarzStraße und die Seebiebe«, erklärt sie. Ich stimme zu. Dann schaue ich in Familienschätze: Eine Gedenkschrift für Fritz Springer, den Mitbegründer und Seniorchef der Lack- und Farbenwerke Springer & Möller AG Leipzig, der am 18. August 1930 starb. Eine aufwändig und meisterlich gestaltete Schrift, eine Gemein schafts wer bung »Farbiger Alltag« ist mit den Farben von Springer & Möller, Druckfarbenwerke Leipzig, gedruckt. In ihr werben mehrere Firmen für Klischee- und Feinpapierherstellung, für die Schriftgießerei, den Farbchemiker und den Buchdrucker der damaligen Zeit. Sie alle bestätigen: »Die Vivaphot-NormalDer 35 m hohe Turm mit Wasserbehälter und Enteisungsanlage in farbenprächtiger Ausführung (blau-gelb-grün-schwarz) wird »weithin sichtbarer Turm der Farbe« genannt – die Firmierung am Turm gibt es heute nicht mehr
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1945. Es ist die Aufzeichnung eines Gesprächs, handschriftlich unterzeichnet vom Betriebsratsvorsitzenden Däbritz, in Erwartung der Richtlinien für die Entnazifizierung. (Schon in den ersten Tagen nach der Befreiung durch die Alliierten entstanden in vielen Industriebetrieben Deutschlands provisorische Betriebsräte auf der Grundlage des Betriebsrätegesetzes von 1920.) Möller hat seinen Rücktritt als Vorstand angeboten. »Als Kind und als Schülerin in Leutzsch gehörte ich zu einer Familie der Kriegsgewinner, Kriegsverbrecher, Kapitalisten, Ausbeuter, der Enteigneten. Mein Vater sollte 1947 interniert werden, er flüchtete zeitweilig.« 1948 wird die Firma enteignet. »Als ich später beim Thema Widerstand Goerdeler nenne und auf die Erfahrung meiner Familie verweise, schlägt mir großes Befremden entgegen.« Anzeigen im Leipziger Adressbuch 1949
Mein Geschichtslehrbuch für die 12. Klasse von 1955 sieht in Goerdeler, der als Reichskanzler nach dem Sturz Hitlers vorgesehen war, einen Mann, der eine »volksfeindliche, reaktionäre Militärdiktatur« habe errichten wollen. Er stehe »für die Angst der Verschwörer vor einem Volksaufstand, der nicht nur Hitler, sondern das kapitalistische System beseitigt hätte.« Meine Gesprächspartnerin studiert später in Leutzsch im gewaltigen »Thorerschloss« in der Rathenaustraße im Villenviertel. Sie wird Bibliothekarin, trägt danach Verantwortung für die Bibliotheken im Landkreis Leipzig bis zu ihrem Ruhestand 2007. Die Festschrift anlässlich des 1. Leutzscher Heimatfestes 1936 enthält auch eine Werbung für die Firma Springer & Möller. In ihr gibt es keine Verbeugung für den großen Führer mit der Vorsehung, wie bei Max Jahn, Stahl- und Eisengießerei G.m.b.H, Leipzig-Leutzsch. Auch die Begriffe »Führer« und »Gefolgschaft«, wie in anderen Betriebswerbungen zu finden, fehlen. Das fiel mir schon vor Jahren bei einem ersten Blick auf die Inserate von 1936 auf. Ich begann das Gespräch mit meinem Eindruck. Ob mir das den Weg zu den Möllers öffnen half? Im Hinterkopf habe ich immer auch Kriegsproduktion und dadurch erzielte Gewinne Leutzscher Firmen im Krieg. Ich verlasse das Möller-Haus mit viel Stoff zum Nachdenken.
Es hat sich in Leutzsch zugetragen
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»Dem Oberbürgermeister vorzulegen«
Ein Aktenfund Im Juli 2004 wird am Haus in der Rathenaustraße 23 eine Gedenktafel für Carl Friedrich Goerdeler enthüllt. Die späte Ehrung in Leutzsch ist nur zu entdecken, wenn man im Gelände bis zum ehemaligen Wohnhaus von Goerdeler läuft. Jahre später, das Haus ist wieder bewohnt, entdecke ich die Tafel, endlich für alle Vorbeigehenden sichtbar, an einer Eingangssäule des Tores auf der Straße. Doch plötzlich ist sie zerstört. Was ist passiert? Unruhige Gedanken überfallen mich. »Ein LKW war es, hat sie bei der Einfahrt beschädigt«, beruhigen mich die heutigen Bewohner. Ich hoffe, dass es so geschah. Sie wird erneuert. Bis zum heutigen Tag kamen nur kundige Fahrer.
Ausschnitt aus der Texttafel in der Rathenaustraße 23: »In diesem Haus wohnte Carl Friedrich Goerdeler mit seiner Familie in den Jahren 1930 bis 1944. Der bedeutende deutsche Politiker wurde nach mehrjähriger kommunalpolitischer Tätigkeit im April 1930 zum Oberbürgermeister von Leipzig gewählt. Nach zunehmenden Diskrepanzen mit dem NS-Regime erklärte Goerdeler Ende November 1936 aus Protest gegen die Entfernung des Denkmals für Felix Mendelssohn Bartholdy vor dem damaligen Gewandhaus seinen Rücktritt und wurde zu einer der maßgeblichen Persönlichkeiten des zivilen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus…«
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Das letzte Haus vor dem Straßenbahndepot – hier wohnte Carl Goerdeler mit seiner Familie als Oberbürgermeister von Leipzig zur Miete von 1930 bis 1944. Seine Tochter Marianne besuchte die Leutzscher Volksschule. Am 21. Juli 1944 dringt die Gestapo in dieses Haus, bringt die Ehefrau, alle Kinder und weitere Verwandte in ihre Gewalt
Der persönliche Wohnbereich mit mehreren Schlafzimmern, einem Bad und dem Wohnzimmer als Mittelpunkt des Familienlebens lag im 1. Stock. So bot das Haus genügend Platz für die große Familie mit 5 Kindern. Verständlich ist, dass 2 Hausangestellte nötig waren; denn die Hausfrau allein hätte den ganzen ›Betrieb‹ nicht bewältigen können. Im ausgebauten Dachgeschoss befand sich eine 3-ZimmerWohnung, die vermietet war, und die Zimmer für die Hausangestellten. Heute ist das Haus ein Mietshaus. Zeitweilig wohnten 6 Familien darin. In der Nachkriegszeit waren Wände eingezogen worden, denn die Wohnungsnot überall zwang dazu. Als die Familie Goerdeler 1930 hierher zog, hieß die Straße schon Rathenaustraße. In der Nazizeit wurde sie umbenannt in Kapitän-Haun-Straße, nach dem Kapitän des im 1. Weltkrieg untergegangenen U-Bootes ›Leipzig‹. Carl Goerdeler kam nach Leipzig mit reichen Erfahrungen als Verwaltungsfach-
mann, der sich neben seiner Arbeit auch über theoretische Fragen der städtischen Verwaltung Gedanken gemacht und Denkschriften darüber verfasst hatte (…). Sein Wirken in Leipzig begann in einer sehr schwierigen Zeit. Das ganze Land hatte sich noch nicht von den Kriegslasten erholt und es kamen neue Probleme: die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise mit den vielen Arbeitslosen und einer hohen Verschuldung der Kommunen. In der Stadt standen viele Aufgaben an: zum Beispiel war erst ein kleiner Teil der Stadt kanalisiert; also musste die Stadtentwässerung ausgebaut werden. Auch für die Leipziger Messe setzte er sich ein. Dann begann der Aufstieg der Nationalsozialisten mit ihrer Macht- und Gleichschaltungspolitik im Gefolge. Wie viele Bürgerliche damals glaubte auch Goerdeler, im Laufe der Zeit würden die Übergriffe und Gewalttätigkeiten verschwinden und ein normales Leben in Deutschland einsetzen. Darin täuschte er
Es hat sich in Leutzsch zugetragen sich aber – was ihm später manche Kritik einbrachte (…). Am Haus Rathenaustraße 23 erinnert nichts daran, dass hier Carl Goerdeler mit seiner Familie von 1930 bis 1944 gewohnt hat. Die Stadt Leipzig gab für ihren ehemaligen Oberbürgermeister ein großes Denkmal in Auftrag, das am 8. September 1999 in den Grünanlagen vor dem Neuen Rathaus eingeweiht wurde. In einmaliger Art ist es nicht als Monument, in die Höhe strebend, sondern in die Tiefe, ins Erdreich weisend, gebaut. Leipzig ehrt damit die Arbeit Goerdelers in schwerer Zeit. Forderten schon die komplizierten wirtschaftlichen Verhältnisse der Jahre 1930 bis 1932 seine Erfahrung und sein Geschick in Verwaltungsfragen, so begann mit der ›Machtergreifung‹ durch die Nationalsozialisten 1933 eine bis dahin in Deutschland noch nie dagewesene Epoche erst versteckter, dann immer deutlicher werdender Gleichschaltung, Gewalttätigkeit und Rechtlosigkeit. Ihm wurde unterstellt, er hätte sich den Nazis angepasst. Klar ist: Er hatte keine
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Besetzung Volkshaus am 9.3.1933 in Leipzig
Sympathie für die Nazis, aber er bemühte sich um sachliche Zusammenarbeit. Er wollte ›auf seinem Posten bleiben‹. In die Partei einzutreten, hatte er geschickt ablehnen können. Der Schweizer Nationalökonom Somary, der im März 1933 einen Vortrag in Leipzig halten wollte, was aber die Nazis verhinderten, berichtete von dem Ausspruch Goerdelers, als der ihn zum Bahnhof begleitete: ›Ich bleibe im Amt, ich lasse mein Land nicht Verbrechern in die Hand fallen.‹ Das ist wohl deutlich genug. Trotzdem musste er als Oberbürgermeister die Besetzung des gewerkschaftlichen
In einmaliger Art – das 1999 eingeweihte Goerdeler-Denkmal vor dem Neuen Rathaus in Leipzig. Tief in der Mitte läutet eine Glocke täglich fünfmal, an besonderen Tagen stündlich
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Es ist Krieg
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Luftschutzkeller, Klavierkonzert und Löschwasserteich 1944 – meine Mutter wurde sehr krank, und wir waren allein in Leutzsch. Wie immer, wenn Not war, liefen wir nach Lindenau zu meinen Großeltern. Auch diesmal nahmen wir den kürzesten Weg über die Franz-FlemmingStraße zur Merseburger Straße. Sie hatte Scharlach und wir blieben in Lindenau. Immer wieder war Fliegeralarm. Die Sirenen heulten. Alle Hausbewohner stiegen in den Luftschutzkeller. Die Angst der Leute vor meiner kranken Mutter war riesengroß. Sie musste allein in den Keller meiner Großeltern. Ich war nicht bereit, mich auch nur einen Schritt von meiner Mutter zu entfernen und hockte mich während des Alarms vor die Kellertür am Ende des langen, dunklen Kellerganges. Es war mir immer, als wäre meine Mutter hinter Gittern gefangen, sie war im Lattenverschlag. Kaum wieder oben, die Angriffe waren meistens nachts, schlich ich mich zu ihr ins Bett. Niemand bekam diese Krankheit, auch ich nicht. Meine Mutter schälte sich ganz schlimm und bekam Gelenkrheuma. Medikamente gab es nicht mehr. Das Rheuma blieb für immer. Im Wäschekorb 1943 und bis zum April 1945 besaß ich ein Bett im Keller. Eine dicke Decke im großen Wäschekorb, Kissen, Zudecke. Fast jede Nacht und auch oftmals am Tage heulten die Sirenen. Es gab verschiedene Heultöne, Voralarm, Alarm, Entwarnung. Die Unterschiede habe ich
vergessen, nur der Heulton ist noch immer in mir. Wenn die Sirenen heute zur Probe laufen oder eine Scheune in Böhlitz-Ehrenberg brennt und die Freiwillige Feuerwehr beim Sirenenton ausrückt, dann sind die Bilder und Töne von damals wieder da. Bei einem Alarm schlief ich ganz fest oben in der Wohnung und meine Mutter brachte mich einfach nicht auf die Beine. Es war dunkel im Zimmer, nur Notbeleuchtung. Schwarze Rollos vor den Fenstern waren Pflicht. Kein Schimmer durfte aus den Häusern nach außen dringen, das wurde kontrolliert. Der Luftschutzwart hatte scharfe Augen. Die Bomber setzten »Christbäume« über der Stadt, markierten damit das Zielgebiet. Ich erinnere mich, wie mich meine Mutter aus dem Bett trug, in den Sessel im Wohnzimmer setzte und mich anziehen wollte. Ich machte mich steif. Als die Schuhe an die Reihe kamen, streikte ich ganz und verbog meine Füße. Die furchtbare Angst meiner Mutter sah ich, aber sie übertrug sich nicht auf mich. Da hat mich meine Mutter in ihrer Angst hergenommen und »verwackelt«. Ich bin furchtbar erschrocken. Ich hatte noch nie so etwas erlebt. Meine Mutter hat mich niemals wieder verhauen. Klavierkonzert Meine Erinnerung ist noch ganz lebendig, der Klang noch immer im Ohr. Sonaten von Beethoven, Kompositionen für Klavier von Chopin, Brahms, Schu-
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Oben: Luftschutz-Schule in der Graf-Spee-Straße 46 im Hofgebäude (heute Hans-Driesch-Straße) Aufforderung für Männer und Frauen zur Teilnahme am Lehrgang für Hausfeuerwehr und AusbildungsLehrgang der Selbstschutzkräfte für den Luftschutz in »Schäfers Ballhaus«. Wer ohne triftigen Grund und ohne genügende Entschuldigung den Aufforderungen nicht Folge leistet, muss mit Bestrafung rechnen
Es ist Krieg zerstörten Dächern als zusätzlicher Schutz. Als Kind sah ich auch den Nutzen. Meine Spielgefährten konnten auf dem Schuttberg in mein Kinderzimmer hinauf laufen. Doch das »LSR« für die Bombenangriffe lebt noch immer für mich. Auch wenn es nicht mehr sichtbar ist. Es fällt mir erst heute auf, dass ich die offizielle Bezeichnung »LSR – Luftschutzraum« eigentlich nie gehört habe, Luftschutzkeller hieß es, und das stimmte. »Nie wieder in den Keller!« Im Alten Rathaus auf dem Leipziger Markt gibt es seit 2012 eine Tür auf den Rathausboden. Dort heulen die Sirenen im Rhythmus der einzelnen Alarmstufen, Flugzeuge lärmen, die Abwehrflak meldet sich, Scheinwerfer dringen in den Himmel, Christbäume fallen leuchtend vom Himmel zur Orientierung der Bomberstaffeln. Dieser Ort ist authentisch. Das Alte Rathaus verlor im Krieg seinen Dachstuhl und das darunter liegende Geschoss. Es wurde von Brandund Sprengbomben getroffen, hier hat es gebrannt. Ich konnte den Aufstieg nur einmal aushalten. Die TV-Bilder laufen ununterbrochen. Heimteichstraße – der Spielplatz erinnert niemand mehr an das Löschwasserbecken in den Kriegsjahren
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Der Löschwasserteich Dort, wo sich meine Enkel heute auf dem Spielplatz an der Heimteichstraße tummeln, wurde in den Kriegsjahren ein großes, tiefes Löschwasserbecken gebaut mit schrecklich steilen Betonwänden, nur notdürftig mit Draht umzäunt. Davor, übereinander getürmt, große Betonringe für die kantigen Stabbrandbomben, die nicht losgegangen waren. Metallisch glänzend, schlank, kantig, mit einem bunten Auge, schrecklich und doch auch faszinierend für mich. Ein kleiner Leutzscher Junge stürzte in das Wasserbecken. Er ertrank. Sein Holzsarg, hell wie aus Kistenbrettern, stand einen Tag und eine Nacht bis zum nächsten Morgen am Rand des Beckens. Warum holt die Mutter ihr Kind nicht nach Hause? Ich konnte nicht einschlafen. Es ist doch so allein. Es ist so kalt und dunkel. Das Becken wurde nach dem Krieg zugeschüttet, Häuser wurden gebaut. Sie stehen heute deshalb zurückgesetzt am Spielplatz und abendlichen Treff Jugendlicher. Der Spielplatz an der Heimteichstraße bleibt für mich auch noch heute ein schrecklicher Erinnerungsort. Das Betonbecken muss noch immer tief unten sein.
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Der Krieg ist aus
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Hitlerdolch, Munitionsfund und Lindenblütentee Wir rennen unsere Straße hoch zu »Jahns«, ich an der Hand meiner Mutter. »Mein Mädchen, der Krieg ist aus!« Ich habe es noch im Ohr. Es ist auf der König-Georg-Straße und die »Jahns« sind der Stahlguss. Weiße Betttücher hängen in unserer Straße zu den Fenstern heraus. Die Amerikaner kommen über die Böhlitzer Brücke heruntergefahren. Wir stehen an der Straßenecke. Lässig schauen die Soldaten aus den Panzern. Ob das letzte stimmt, dass es lässig war, will ich heute nicht beschwören, das wurde später immer wieder erzählt. Aber rausgeschaut haben sie. Der Hitlerdolch Der fette Herr S. im Luftschutzkeller, in brauner Uniform mit triefendem Fett um den Mund, Kartoffelpuffer verschlingend, so habe ich ihn in Erinnerung. Nach dem Bombenangriff, auf dem Weg nach oben, sagte meine Mutter mehr zu sich selbst: »Hoffentlich ist der Krieg bald zu Ende«. Barsch fuhr er sie an. Wir standen dann vor unserer Haustür. Herr Kabisch, wie ich viel später erfuhr, Sozialdemokrat, (es war lange nach dem Kriege, als er mir zwei sehr alte Protokollbände der frühen Parteitage der Sozialdemokraten von 1863–1910 schenkte, die er im Keller in einer Kiste aufbewahrt hatte) beschwor meine Mutter. Sie solle still sein, sonst werde sie abgeholt. Sie habe doch ein Kind. Auch ich begriff, dass ich Angst haben musste. 1945: Nun hatte die Frau des Herrn S. eine Heidenangst, nachdem die Amis
über die Brücke von Böhlitz nach Leipzig gerollt waren. Sie kam zu meiner Mutter und erzählte, dass sie Waffen zu Hause gehabt und diese schnell in der Aschengrube hinter der großen Waschküche vergraben hätte. Doch sie befürchtete, andere Bewohner könnten sie doch finden und vermuten, von wem sie seien. Meine Mutter ging mit zur Grube. Ich sah zu, wie sie die in Tücher eingewickelte Waffe aus Asche und Müll herausholten, und meine Mutter begleitete die Frau S. zur Leutzscher Schule. Dort konnte die Pistole abgegeben werden. Frau S. und meine Mutter gaben sie zusammen ab. Auch einen Hitlerdolch sah ich. So nannte meine Mutter den Ehrendolch. Die Annahme war in einem Klassenzimmer. In den nächsten Tagen gab es eine furchtbare Aufregung. Unser Block, ein Karree mit großen eisernen Toren, sollte sich sehr gut eignen als Einfahrt für schwere Technik, und im Inneren sei Raum genug dafür. Die Amis würden den Block beschlagnahmen und beziehen. Wir bangten tagelang und hatten Glück. Wir konnten wohnen bleiben. Meine Mutter sprach später immer davon, dass Herr S. ein hoher Nazi war und auch in Paris gewesen sei. Sie holten ihn nach Kriegsende sofort ab. Er kam erst spät aus der Sowjetunion zurück. Sein Sohn verkrachte sich später mit seinem Vater und haute ab nach dem Westen, das war der sicherste Ort vor den Eltern. Wenn ich an den Luftschutzkeller in unserem Haus denke, dann sehe ich den
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Uns kriegt hier keiner weg
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»Da gehörst du nicht hin.« 2007: Mein Sohn ruft an: »Wir ziehen nach Leutzsch, keine 200 Meter von meinem Kindergarten entfernt!« Der Möbelwagen hält im Villenviertel. Und was erblicke ich in der neuen Wohnung im Wohnzimmer meines Sohnes? Den Wohnzimmerschrank seiner Großmutter. Also ist auch meine Mutter im Villenviertel angelangt. Eigenartige Gefühle. Die Unsicherheit muss mir anzusehen sein. 1950: Ich bin 11 Jahre alt. Dagmar, die Tochter eines Leutzscher Arztes, lädt mich zur Geburtstagsfeier ins Villenviertel ein, wenige Meter von der jetzigen Wohnung meines Sohnes. Dabei sind noch weitere Villenkinder. Ich komme vom Kindergeburtstag zurück, bringe mehr mit, als meine Mutter mir mitgegeben hatte. Ihre Worte bei meiner Rückkehr: »Da gehörst du nicht hin. Das ist nicht uns’re Welt.« Es gibt eine uralte Geschichte aus der Kindheit meiner Mutter, die hat sie niemals losgelassen. »Alice, du bist nur die Tochter des Maurers Reinhold Schmidt.« Und sie verliert ihre beste Freundin, deren Vater selbstständiger Maler ist, vom Bilder malen aber nicht leben kann und anstreichen geht, an die Tochter
eines selbstständigen Fleischermeisters. Meine Mutter hatte das immer im Hinterkopf und gab die Geschichte weiter. Viele Jahrzehnte später bekommt sie ein Angebot einer ehemaligen Klassenkameradin, die in Leutzsch in der Laurentiusstraße Villenbewohnerin geworden war. Ob sie nicht saubermachen wolle in ihrer Villa. Da war meine Mutter schon über 60. Und ich? Auf meine alten Tage? Was bewegt mich jetzt? Die Leutzscher Industrie der Schmelzöfen wurde seit 2000 zu grobem Schutt zermahlen. Im Leutzscher Wald wurde ein Weg damit aufgeschüttet. Doch die
Franz-Flemming-Straße: Leutzscher Industriegeschichte …
… recycelt für andere Verwendung
Leutzscher Villenviertel
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jekt, ein eisiger Existenzgründer für den Förderzeitraum und die Statistik – er ist nicht mehr. Vor der Tür fehlt nun den Leutzschern der gewaltige, dicke, aufgeblasene Schneemann von doppelter Menschengröße, eine unheimlich freundlich schauende Luftblase. Jeden Lufthauch auf der Georg-Schwarz-Straße hat er nachempfunden. Oftmals fast schwebend, mal zärtlich, mal stürmisch und doch immer geerdet. Nun ist die Luft raus, abgelassen. Seit Tagen liegt er auf den Granitpflastersteinen. Ein trauerndes Häufchen Schlabberhaut. »Zu vermieten« steht an der Tür hinter dem Unglück. Besser wäre es, die
Losung der Baugenossenschaft zu übernehmen: »Ich bin verrückt nach Dir!« So steht es an den Fenstern leerstehender Wohnungen in Leutzsch. Unfassbar, dass es einmal Wohnungen geben würde, einfach so, ohne Kämpfe und ohne Beziehungen zum Wohnungsamt. Ohne dass mein Junge verlangt, mit seinem kleinen Plastehammer auf das Wohnungsamt des Stadtbezirkes am Lindenauer Markt mitgenommen zu werden, um Wohnraum zu erkämpfen. Ob ich die »Villa« oben auf der Brücke kennen würde, werde ich von einer jungen Frau gefragt. Auf dem Dach wird sonntags gefrühstückt, werden Würste
Georg-Schwarz-Straße – viel befahren, ohne Radwege, ohne Straßenbäume – es wird gebaut, Bäume sollen wachsen und sichere Radwege entstehen
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»Metallfadenlampenfabrik« Körting & Mathiesen, danach Hoh & Hahne und später Exportbetrieb der DDR »VEB Polygraph Reprotechnik« mit der Fabrikarchitektur von 1910
gebraten und Decken ausgebreitet. Es sei eine herrliche Aussicht da oben. Halb ausgebrannt, halb ausgeschlachtet, das Dach nur noch zur Hälfte erhalten, schaut das imposante Gemäuer auf Leutzsch, das letzte an der Grenze zu Böhlitz-Ehrenberg. Der Eingang zu diesem ehemaligen »VEB Polygraph Reprotechnik« ist zugemauert. Einst Gebäude der »Leipziger Metallfadenlampenfabrik«, galt es um 1910 als eines der gelungensten neuen Beispiele der Fabrikarchitektur von Schmidt & Johlige. Das halbkreisförmige Treppenhaus mit eingebauten Garderoben ist noch zu erkennen, die hellen Arbeitssäle und Kontorräume sind zu erahnen. »Und das Ganze wirkt an seinem erhöhten Platze an der Eisenbahnbrücke wie ein hochragendes Denkmal fortschreitender Technik und wachsenden, in sich gefestigten Unternehmungsgeistes.« (Leipziger Kalender 1911). 1929 zog Hoh & Hahne ein, eine Fabrik für Reproduktionstechnik und eine Che-
mikaliengroßhandlung. Der Boden um das Gemäuer hat sich voll Gift gesogen. Sanierung des Geländes? Noch heute heben alle die Hände. Körting & Mathiesen, einst hier oben, breitete sich nun in der Franz-Flemming-Straße aus, das Bürogebäude begann in der Hauptstraße.
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Kinder aus der Georg-Schwarz-Straße an der Grenze Leutzsch-Lindenau zum Tauchscher 1952 und (rechts) Kinder zum Tauchscher 1950 an der Liebesinsel (Georg-Schwarz-Straße/Ecke William-Zipperer-Straße)
In meiner Kindheit gehörte es einfach dazu. Da kurvten die »Eidechsen« mit Gussteilen über die Straße und mittags eilte meine Mutter mit mir »hoch zu Jahns« um meinen Großvater zu treffen, wenn er von einem Werkteil zum anderen über die Straße ging. Das war Reinhold Schmidt, der Maurer mit dem Klavier, den vielen Büchern, dem Schreibtisch mit dem herrlichen großen Zauberkasten voller Zeichenutensilien, er hatte Architekt werden wollen. Im Ersten Weltkrieg war er schwer erkrankt und wurde trotz streikender Nieren im Zweiten Weltkrieg zum Kriegsdienst verpflichtet, um bei Jahns Schmelzöfen auszumauern bei sengender Hitze und Durchzug. Er hat die Straße nur bis Kriegsende überquert, starb kurz danach an Nierenversagen. Im Fischladen, an der Ecke gegenüber »Jahns«, gab es das Fischbrötchen mit
einer dicken Schicht Sauerkraut, Nachschlag nach der Schule für 30 Pfennige. Das war schon Luxus in den 1960er Jahren. Da habe ich doch fast den Hutladen vergessen. Die Putzmacherin Ursula Böhme hat dort gelernt, ein Mädchen aus unserem Hause in der König-GeorgStraße, später Karl-Schurz-Straße. Einen grünen Kinderhut bekam ich zum grünen Lodenmantel, umgearbeitet und umgepresst aus einem alten. Oktober 2008: Die Putzmacherin Ursula steht in der LVZ. Es ist die Todesanzeige… und ich denke an meinen grünen Hut. Habe ich in der Georg-Schwarz-Straße gewohnt? Ich kann mich nicht erinnern. Aber sie gehört zu mir. Nichts geht über den Schokoladenduft …
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Die Suche 21. August 2017: »Fast11 Jahre habe ich sie gehütet, habe alles versucht, damit sie an ihren eigentlichen Ort zurückkommt. Ich hatte sie im Garten, die Bruchstücke von hinten verklebt, das Fehlende mit Blumen überdeckt. Eine Betonplatte gab ich ihr als Rücken.« Noch heute steht das Rückgrat am Garteneingang einer Leutzscher Gaststätte. »Ein Verantwortlicher vom Amt meinte am Telefon, ich mache mich strafbar, hätte ein offiziell geschütztes Denkmal zu Hause. Er kam, sah sich die Bruchstücke an und kam nie wieder.« Hans-Joachim Wenning, Gastwirt der »Leutzscher Bierstube« im beginnenden Villenviertel in der Rathenaustraße, gibt nicht auf. Er erzählt mir, wie ein Berliner nach 1990 kam und beschloss: »Alles, was aus dem alten Chemie-Stadion stammt: Raus! Dem Hammer wollte Georg Schwarz nicht weichen, ein Presslufthammer musste ran. Und dann wurden die Bruchstücke in den Wald geworfen«. Herr Wenning suchte und fand sie. Nicht alle. Er zeigt mir mit den Händen die Form der fehlenden Teile. Sie sind verschollen bis heute. 2013 kommt die denkmalgeschützte Gedenktafel zurück ins Stadion. Die BSG Chemie und die Leipziger Gruppe »Gedenkmarsch« halfen. Die Verletzungen der Gedenktafel sind sichtbar – zur »doppelten Erinnerung«. Wilhelmine Schwarz wohnte als Witwe Am langen Felde 17 (Adressbuch 1949). Zuvor hatte die Familie in der früheren Gundorfer Straße 24, heute Georg-Schwarz-Straße, ihr Zuhause, im Dachgeschoss. Die Tochter Sonja ist neun Jahre alt (1924–2013), als ihr Vater, Georg Schwarz, 1933 in die Konzentrationslager Hohnstein und Sachsenburg (»Schutzhaft«) verschleppt wird. Er war Landtagsabgeordneter der KPD seit 1929, Betriebsrat in der Eisengießerei Jahn seit 1921, vorher Metallarbeiter bei Schumann & Co., dort entlassen nach einem Streik. Im November 1944 wird Georg Schwarz zusammen mit dem Maler Alfred Frank, mit Arthur Hoffmann, Karl Jungbluth und William Zipperer zum Tode verurteilt und am 12. Januar 1945 in Dresden hingerichtet. Erst im Buch der Tochter Sonja erfahre ich, dass ihre Mutter Wilhelmine Schwarz im Jahr 1944 verhaftet wurde, am selben Tage wie ihr erneut verhafteter Mann. 1945 befreit, erfährt sie erst jetzt vom Tod ihres Mannes. Die letzte Nachricht über ihren Sohn Martin erhält sie aus dem KZ Neuengamme. Er kommt nie wieder… Tochter Sonja wird Neulehrerin nach dem Krieg, schreibt später das Buch »Im Zwielicht der Erinnerung, Kindheit und Jugend. Briefe für meine Familie und Freunde« (2003), ein berührendes Buch auch über die Kindheit im Lindenauer Alltag. Sie ist bestürzt, als die Gedenktafel für ihren Vater 1992 scheinbar für immer aus dem Georg-Schwarz-Sportpark, dem heutigen Alfred-Kunze-Sportplatz, verschwindet. Georg Schwarz hatte sich hier beim Fußball oft mit Gleichgesinnten getroffen. (Alter Leutzscher Gemeindesportplatz, später Sportplatz Tura, seit 1992 nach dem Namen des verdienstvollen Trainers von Chemie benannt.)
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rilla an, ist Che Guevara verbunden und befreundet mit Ernesto Cardenal. »Im März 1967 wird er im Kampf verwundet, gefangengenommen, gefoltert, verstümmelt. In der Militärbasis von Zacapa bei lebendigem Leibe verbrannt.« So steht es in der »Zeit«. (Die Zeit, 22. Oktober 1982) Sein Landsmann Arturo Anos, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, würdigt ihn hier: »Im Volk spricht man von ihm wie von einem Mythos, und viele Leute kennen seine Gedichte auswendig. Zweifellos ist er der geliebteste Schriftsteller des guatemaltekischen Volkes.« Aus dem sicheren Exil sei er nach Guatemala zurückgekehrt aus »Angst davor, sich an die Zustände zu gewöhnen, abzustumpfen angesichts der furchtbaren Wirklichkeit seines Landes.« Es muss Ende der 1970er Jahre gewesen sein, als ich Bärbel begegne, am Ende der Petersstraße, nahe der Haltestelle Neues Rathaus. Ich erkannte sie kaum wieder. Unsere lebenslustige, sensible, beliebte Mitschülerin, unser »Zauberlehrling«… »Ich hab in meinem Leben zu viel Schreckliches erlebt. Ohne meine Schwester würde ich nicht mehr leben.« So Bärbels Worte bei unserem jetzigen Treffen im Juni 2017. Der Vater des zweiten Jungen war in den 1970er Jahren zur Facharztausbildung an der Berliner Charité. In seiner Heimat Sansibar war er zum Tode verurteilt wegen Teilnahme an der marxistischen Befreiungsbewegung (Der Spiegel,
vom 9.4.1984.) Die DDR gewährte ihm zeitweilig Zuflucht. 9. November 1989: In der Nacht fällt die Mauer. Alles was in Berlin Beine hat, überrennt die Grenze und ihre Grenzsoldaten, läuft von Ost gen West. Zwei kommen von West nach Ost. »In der Nacht, früh halb fünf, stehen die Jungs vor der Tür in Leutzsch«, erzählt Gudrun, aufgeregt noch heute. »Während mein Sohn mich umarmt, beißt mich sein Hund ins Ohr, er kennt mich nicht. Er beißt durch. Es blutet stark. Wir müssen ins Krankenhaus, ins St. Georg, dort soll ich 11 Tage bleiben. Tollwutgefahr. Dass der Hund alle Impfungen haben könnte, ein Westhund? Gudrun begegne ich am Tag der ersten Wahl nach 1989, im März 1990 vor der Leutzscher Schule in der Hans-DrieschStraße. Sie gehört zur Wahlkommission, selbstbewusst schaut sie aus. Bärbel wird 2011 zur Ehrung ihres Mannes mit Kindern und Enkeln nach Guatemala eingeladen. Straßen, Schulen und ein Theater (New York City) tragen den Namen des Dichters. Die beiden Jungs vom Protest 1983 vor dem Capitol sind heute Rechtsanwalt und Diplomingenieur. Ich bin aufgewühlt von unserer Begegnung an diesem 19. Mai 2017 und sehe Bärbel auch jetzt noch auf dem Podium unserer Schule stehen. Sie bleibt mein »Zauberlehrling«.
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Wundersames Leutzsch Auf Leutzscher Dächern – alle waren oben – Männer und Frauen. Pfingsten 1909 – die Blicke Hunderttausender sind zum Himmel gerichtet, um den Zeppelin »Z II« bei seiner Deutschlandreise über Nürnberg und Leipzig nach Bitterfeld zu beobachten.
Straße eine Idee. Das »Turn- und Sportfest« war angesagt, die ganze große Republik sollte in Leipzig anrücken. Es war in den 1970er Jahren (1977: Turnund Sportfest der DDR und Kinder- und Jugendspartakiade). So meldeten sie sich mit ihrem Dachboden, den sie als großes Schlafgemach ausstatten und gute
Auf den Dächern der Georg-SchwarzStraße – das besondere Dach Es regnet durchs Dach – und das seit Jahren. Eimer, Schüsseln, Wannen stehen auf dem Dachboden. Die meisten altehrwürdiges Blechgeschirr. Sogar eine alte hölzerne Waschwanne, die nur dicht ist, wenn sie ständig Wasser saufen kann, ist in der Auffanggesellschaft. In allen Tonlagen, vielstimmiger als in Händels »Wassermusik«, erklingt es bei jedem Regenguss. Die Schöpfkolonne muss auf der Hut sein. Das Reservoir ist immer wieder endlich. Hilfe ist nicht in Sicht, wie auch für viele weitere Häuser der Straße. Da kam den Hausbewohnern dieses Hauses auf der Georg-Schwarz-
Gastgeber als Hausgemeinschaft sein wollten. Die Leipziger Volkszeitung berichtete über die großartige Initiative dieser Leutzscher Hausgemeinschaft und löste eine Kampagne in der ganzen Stadt aus. Und dann schickten die Hausbewohner an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, den Ersten Sekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, eine Eingabe. Es war neu, dass Eingaben an die Institution »Staatsratseingaben« wirklich bestätigt wurden, dass in einer bestimmten Frist eine erste Antwort kam und dann die Eingaben auch bearbeitet wurden.
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LEUTZSCH Ich bleibe stehen
Immer wieder brannte das Haus. Seit 2017 ist das denkmalgeschützte Haus eine Schönheit und wieder bewohnt. Eine Fotogalerie im Treppenhaus erinnert an diese Ereignisse
Am 5. April 2016 gegen drei Uhr nachts rast als erste die Freiwillige Feuerwehr von Böhlitz-Ehrenberg nach Leutzsch. Das Haus in der Georg-Schwarz-Straße/Ecke Blüthnerstraße brennt wieder. Sie ist hier in den letzten drei Jahren schon viermal im Einsatz gewesen. Einmal war ein Kamerad bei der Brandbekämpfung in der dritten Etage durchgebrochen und in die zweite Etage gestürzt, er wurde zum Glück nur leicht verletzt.
Uns kriegt hier keiner weg Leutzsch hatte bis zur Eingemeindung 1922 eine eigene Freiwillige Feuerwehr, 1886 im Restaurant »Zur Wartburg«, mit 21 Mann gegründet. Das alte Spritzenhaus stand gegenüber der Kirche an der Ecke des Gartens der Grabaus in der Kirchgasse am Stramsteich/SturmfassFestschrift von 1906 mit Hilfeleistungen der Wehr (Ausschnitt)
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teich. Hier wurden die Sturmfässer bei Bränden im Dorf gefüllt und zum Brand transportiert. Ein späteres Spritzen- und Steigerhaus befand sich danach auf dem Schulhof, musste dem Bau der Turnhalle weichen. 1907 wurde das neue Feuerwehrdepot mit Steigerturm in der Schönauer Straße (heutige Rückmarsdorfer Straße) bezogen und ist heute nach Umbau ein Wohnhaus. Die Freiwillige Feuerwehr Leutzsch half auch der Umgebung, BöhlitzEhrenberg ist auch dabei. In der Festschrift von 1906 steht es geschrieben. Die Leutzscher Familien Gerth und Sauer, Klempner- und Installationsmeister über mehrere Generationen, hüten bis heute Schätze zur Leutzscher Feuerwehrgeschichte als Teil ihrer Familiengeschichte.
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LEUTZSCH
Im Leutzscher Gedächtnis – Wasserturm in der Hans-Driesch-Straße (Leipziger Straße) Für die Jungen der Umgebung war er Spiel- und Tobeplatz. Wer klettert am höchsten? 1903 als Wasserturm der Gemeinde Leutzsch bei Leipzig in Betrieb genommen, wurde er in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts abgerissen – auf dem Gelände ist nun die Leutzscher Schwimmhalle (Einweihung 1969). Sein Zwillingsbruder steht seit 1904 bis heute in Groitzsch, ist technisches Denkmal und in Betrieb. 45 m hoch! Eine Schönheit! Beide wurden von der Firma August Klönne Stahlbau, Dortmund, erbaut.
Postkarten: oben 1905, unten 1903
Uns kriegt hier keiner weg Franz Flemming
H. F. Flemming, Flügel- und Pianomechaniken-Fabrik in der Franz-Flemming-Straße 41
1874 hat Hermann Franz Flemming die Firma »H. F. Flemming Flügel- und Pianomechaniken-Fabrik« gegründet, die Straße trägt seinen Namen. Die Firma gilt als ältester Fabrikbetrieb in Leutzsch, zuerst in der Hauptstraße (heute Georg-Schwarz-Straße) ansässig, 1895 Übersiedlung in die Franz-Flemming-Straße 41. Eine Firma von Weltruf – heute eine Ruine. Der Blüthner-Flügel an Bord des Luftschiffes »Hindenburg« war mit Flemming-Mechanik gebaut. So steht es in einer der alten Firmenanzeigen von 1936, ein Jahr vor dem grässlichen Ende des Luftschiffes samt Leutzscher Schatz. Das Haus 115 in der William-Zipperer-Straße lädt uns heute ein in eine der Werkstätten der Flemmings für Flügel- und Pianohämmer. An den Pianohammergarnierer, der einst in der Leipziger Straße Nr. 3 wohnte, erinnert nur noch ein altes Adressbuch von 1905.
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LEUTZSCH DIE AUTOREN
Monika Kirst ist Leutzscherin seit ihrer Kindheit, saß auf Schulbänken in Leutzsch und Lindenau (Helmholtz-Oberschule), stand nach dem Studium (Musikerziehung und Geschichte an der Leipziger Universität) vor Schülern und Studenten. Als promovierte Kulturwissenschaftlerin verschrieb sie sich der Kultur- und Alltagsgeschichte, entschied sich für das Spannungsfeld von »höheren« Quellen und mündlicher Geschichte (oral history). Bekannt sind von ihr Veröffentlichungen, Ausstellungen, Führungen, Zeitzeugenprojekte, Veranstaltungen sowie die Arbeit mit Schülern und Studenten. Bis heute geht sie auf die Suche nach vergessener, vergrabener und verdrängter Geschichte und versucht vor Ort die grünen Lungen in Leutzsch vor Säge und Schredder zu bewahren. Auf der Gründungsversammlung des Leutzscher Bürgervereins 1994 wurde sie dessen Mitglied.
Peter Hartmann ist WahlLeutzscher. Nach Abschluss des Studiums 1980 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig arbeitete er für Verlage als Layouter und Illustrator im Buch- und Zeitschriftensektor. Nach der Wende bestimmten Computer und Termine sein Tun als Freiberufler, nunmehr erweitert im grafischen Bereich für die Industrie. Neben Zeitschriften, Prospekten, Flyern, Messewänden blieb die Liebe zum Buch. Seine Illustrationstechniken (Federzeichnung und Holzstich) wurden mehr und mehr durch Computerprogramme abgelöst. Mit den »Böhlitzer Heften« und der »Edition Leipziger Westen« der Creativ Werbeagentur Kolb ergab sich eine völlig neue Sehweise auf die Umsetzung von Historie und Gegenwart in Wort und Bild. Peter Hartmann suchte, wie schon in anderen Bänden benannter Reihen, Historisches und Gegenwärtiges mit dem Fotoapparat festzuhalten.
Band 1 »Leutzsch« Im Dezember 2016 erschien der erste Band über Leutzsch von Frau Monika Kirst. Erfrischend, lebendig und spannend geschrieben, zugleich mit ordentlich recherchiertem Hintergrund und Suche nach vergrabenen Akten, erfährt der Leser, wie mit kleinen Begebenheiten auch große Geschichte, mit privaten auch öffentliche, mit Leutzscher Erlebnissen auch Leipziger Geschehen und manchmal auch mehr verwoben ist. Dieser Band erhielt viel Anerkennung. M. Kirst: »Leutzsch«, 1. Band, 124 Seiten, über 230 Abb., Faltkarte Leutzsch; 11,90 2. ISBN 978-3-944992-27-3
Creativ WERBEAGENTUR KOLB GmbH Leipziger Straße 71, 04178 Leipzig, Tel. 03 41/4 41 85 05, Fax 03 41/4 41 85 02, info@werbeagenturkolb.de, www.kolb-verlag.de
Anhang
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LITERATURVERZEICHNIS 100 Jahre Kleingärtnerverein Prießnitz-Morgenröte e. V., Festschrift 2008; Alltag in Ruinen, Leipzig 1945–1949, hrsg. von Ursula Oehme, Leipzig 1995; Blickpunkt Leutzsch, Stadtteilzeitung Bürgerverein Leutzsch e. V.; Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror; mit einem Vorwort von Lord Marley, Universum-Bücherei Basel 1933, Nachdruck der Originalausgabe, Frkf./Main 1978, S. 158, (Liste der Hugenbergschen »Nachtausgabe« vom 26. April 1933); Brunner, Falk und Fries, Fritz Rudolf: Leutzsch. Ein Foto-Lesebuch, Connewitz, Reihe Fotografie 4, Leipzig 1995; Chronik der Stadt Leipzig 1945–1949, II. Teil 1947–1949, Stadtarchiv Leipzig 1967, S. 46/47; Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945. hrsg. und kommentiert von Walther Hofer, Frkf./Main 1957; Deutschland in der Zeit der faschistischen Diktatur (1933–1945), Berlin 1955, (Schullehrbuch), Seiten 194 bis 196; Eschner, Max: Leipzigs Denkmäler, Leipzig 1910; Farbiger Alltag: F. Guhl & Co, Klischeefabrik, Frkf. /Main; G.W. Zanders, Feinpapierfabrik, Bergisch-Gladbach; B. Stempel AG, Schriftgießerei, Frkf./Main; A. Wohlfeld, Buchdruckerei, Magdeburg; Springer & Möller AG, Druckfarbenwerke, Leipzig, (o. J.); Festschrift anlässlich des 1. Leutzscher Heimatfestes am 4. und 5. Juli 1936: hrsg. von der Festleitung unter Mitarbeit von Paul Kröber und Alfred Wittber; Festschrift zum 20-jährigen Bestehen der Freiwilligen Feuerwehr Leutzsch. hrsg. von Paul Gurenkoff, Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Leutzsch, am 22. und 23. September 1906; Fries, Fritz Rudolf: Alles eines Irrsinns Spiel, Roman, Leipzig 2010, S. 69; Fuge, Jens: Der gütige Träumer, Pfarrer Lösche bot Jugendlichen einen Ort des Unterschlupfes und der Offenheit, LVZ-Beilage vom 8.10.2009; Görtz, Armin: Von Berlin bis Dresden dröhnten die Trauertrommeln, LVZ 4. Juni 1999; Hennig, Eleonore; Katsch, Günter: 100 Jahre Verband von Garten- und Schrebervereinen e. V., Sitz Leipzig. Eine Chronik in Wort und Bild zur Geschichte des Leipziger Kleingartenwesens. Hrsg. vom Stadtverband Leipzig der Kleingärtner e. V., Leipzig 2007, S. 115 (Faksimile Mitteilungsblatt VII Jg. Nr.5, Kreisverband Leipzig) Herrmann, Eckhard: 135 Jahre organisierte Naturheilbewegung in Leipzig und im Einzugsgebiet seit 1864, KGV Prießnitz-Morgenröte e. V, Jubiläums-Festschrift, Leipzig 1991; Heß, Ulrich: Unternehmer in Sachsen, Leipzig 2006; In Memoriam Fritz Springer 1862/1930, Mitbegründer und Seniorchef der Lack- und Farbenwerke Springer & Möller AG Leipzig, 1930; Industriegeschichte von Böhlitz-Ehrenberg, hrsg. vom Förderverein Ortsgeschichte Böhlitz-Ehrenberg e. V., 2002, Inventar der Vorstadt, Fritz Rudolf Fries in Leutzsch, hrsg. von Buchhandlung Seitenblick, Leipzig 2016; Kaleidoskop Georg-Schwarz-Straße, hrsg. Stadt Leipzig 2014/2015; Klank, Gina; Griebsch, Gernot: Lexikon Leipziger Straßennamen, hrsg. Stadtarchiv Leipzig, 1995; Knaus, Hermann, Architekt Leipzig 1928, Monatsheft für Deutsche Architektur, Heft 1, Charlottenburg, Sonderheft 1/1928; Kulturwille, Monatsblätter für Kultur der Arbeiterschaft, Leipzig, 3/1932; S.71; Kurella-Schwarz, Sonja: Im Zwielicht der Erinnerung, Kindheit und Jugend, Briefe für meine Familie und Freunde, Berlin 2003; Leipziger Adreßbuch 1949; Leipziger Denkmale. Bd. 1 und Bd. 2, hrsg. Leipziger Geschichtsverein, Beucha, 1998 und 2009; Leipziger Kalender, Illustriertes Jahrbuch u. Chronik. Hrsg. von Georg Merseburger, Leipzig, 1911, S. 148, S.154; Lorz, Andrea: Suchet der Stadt Bestes, Lebensbilder jüdischer Unternehmer aus Leipzig, Leipzig 1996; Meyer-Krahmer, Marianne: Carl Goerdeler, Mut zum Widerstand. Eine Tochter erinnert sich, Leipzig 1998; Milert, Werner und Tschirbe, Rudolf: Zerschlagung der Mitbestimmung 1933. Das Ende der ersten deutschen Betriebsdemokratie, hrsg. von der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, 2013; Naumann, Christoph: Ein hundertjähriges Haus im Wechsel seiner Funktionen. In: Zehn Jahre Verwaltungsgericht Leipzig 1992–2002, Festschrift. Hrsg: Die Präsidentin des Verwaltungsgerichts Leipzig 2003. Redaktion: Dr. Dirk Tolkmitt und Jan Weiß, S. 68; Neuere Arbeiten von Alfred Liebig. Mit einer Einleitung von Dr. Egbert Delpy, Neue Werkkunst, Berlin/Leipzig/Wien (1929); Rassow, Peter: Deutsche Geschichte, hrsg. von Martin Vogt, Stuttgart 1987; Rüdiger, Bernd; Nabert, Thomas, König, Ulrike: Leutzsch. Eine historische und städtebauliche Studie. Pro Leipzig 1994 und 2009;
12,90 Euro
»Aus dem Schwatz über den Ladentisch im Leutzscher Buchladen wurde der ›Renner‹ (Marina Remmler, Buchhändlerin). Ermutigt habe ich weitere Geschichten unter den Arm geklemmt, die den Umfang des ersten Bandes ›Leutzsch‹ sprengten und sie über die zwei Brücken zu den ›Büchermachern‹ nach Böhlitz-Ehrenberg getragen. Es ist auch diesmal ein ganz persönlicher Blick auf meinen Lebensort Leutzsch.« (Monika Kirst) Peter Hartmann, Diplomgrafiker, Buchgestalter und Fotograf gibt auch dem neuen Böhlitzer Heft »Leutzsch«, Band 2, Gestalt und Gesicht. Zu entdecken ist, was sich ab 1933 in Leutzsch zugetragen hat, in keiner Zeitung stand und in keinem Geschichtsbuch zu finden ist. Was die Schulchronik über den Hunger im Nachkrieg erzählt, wie Schokoladenduft und Gießerstaub zusammen gehörten, wie das mit dem »Oben« und »Unten« bis heute in Leutzsch so ist und wie in unseren Tagen der Stadtteil für die jüngeren Bewohner ein »Zuhause« werden kann. Dank allen, die im Gedächtnis und in Schätzen gekramt haben. Herzlichen Dank den Sponsoren dieses Bandes: Ihre energiegeladene Verbindung
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Inh. Annett Findeisen
ISBN 978-3-944992-28-0