Pandemie / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 80 (3/2020)

Page 1

Zeitschrift für Stadtforschung

dérive

dérive

PANDEMIE ISSN 1608-8131 9 euro

dérive

Jul — Sept 2020

derive-No.80_Umschlag.indd 1

PANDEMIE

Covid-19, Lockdown, Flächengerechtigkeit, Alltagsökonomie, Infrastruktur, Austeritätspolitik, Raumtheorie, Solidarität, Segregation, Wohnen, Ciclovía, Donauwiese

No 80

N o 80

Richard Bärnthaler, Sigrid Kroismayr, Andreas Novy, Leonhard Plank und Alexandra Strickner, S. 06

dérive – Zeitschrift für Stadtforschung

»Covid-19 demaskiert die neoliberale Be­haup­ tung, es gäbe nur eine Ökonomie, nur einen großen, globalen Markt, als das, was sie wirklich ist: Eine Illusion.«

Jul — Sept 2020

02.07.20 19:11


Editorial Ursprünglich war geplant, den Schwerpunkt dieser Ausgabe dem Thema Mobilität zu widmen. In zahlreichen Städten ist in den letzten Jahren das Bewusstsein dafür gestiegen, dass urbane Lebensqualität erfordert, die jahrzehntelange Bevorzugung des motorisierten Individualverkehrs zu beenden und den öffentlichen Verkehr und nicht-motorisierte Mobilitätsformen wie Zufußgehen oder Radfahren zu stärken. Doch die beharrenden Kräfte sind stark und einflussreich und stemmen sich mit all ihrer gesellschaftlichen Macht gegen diese Entwicklungen. Um jeden Parkplatz wird gekämpft, jeder neue Radweg ist Anlass für medial geführte Kampagnen. Während der Redaktionsarbeit für diesen Schwerpunkt änderte sich mit Covid-19 und den damit verbundenen Maßnahmen scheinbar plötzlich alles und es war uns klar, dass Covid-19 bzw. Pandemien im Allgemeinen ein Thema für eine Stadtforschungszeitschrift sein müssen. Der Eindruck, es hätte sich alles geändert, erwies sich rasch als oberflächlich. Covid-19 hat einfach vieles, was latent ohnehin schon lange vorhanden war, für alle offensichtlich gemacht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse wurden nicht auf den Kopf gestellt, sondern zeigen sich uns durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wie unter einer Lupe. Das betrifft auch das Thema Mobilität. Noch nie war es so sicht- und spürbar, wie viel Platz auf den Straßen vorhanden ist, wenn der Verkehr von einem Tag auf den anderen fast gänzlich verschwindet, wie das mit Verkündung der Ausgangsbeschränkungen der Fall war. Viel freier Platz wäre notwendig gewesen, um ausreichend räumlichen Abstand halten zu können. Eine verantwortungsvolle Politik hätte zu diesem Zeitpunkt Straßen für Fußgeher*innen geöffnet und Open Streets, Shared Spaces, Begegnungszonen etc. daraus gemacht. Doch davon war – von Ausnahmestädten abgesehen – nichts zu hören oder die Maßnahmen kamen erst sehr spät. Das Thema Flächengerechtigkeit, der zentrale Aspekt unseres geplanten Mobilitätsschwerpunkts, war mit Covid-19 also plötzlich noch zentraler als zuvor. Somit ist das Thema Mobilität nun auch Teil unseres Schwerpunkts zu Pandemien: Rainer Stummer, aktuell Aktivist der wichtigen und unbedingt unterstützenswerten Kampagne Platz für Wien, schreibt – ausgehend von einer Analyse des Volksentscheids Fahrrad in Berlin – über Raumverteilung und Protest und knüpft damit auch ein wenig an den letzten dérive-Schwerpunkt zu Protest an. Florian Lorenz hat für uns einen Text über das Konzept der Open Streets verfasst, das mit der seit 1976 (!) jeden Sonntag stattfindenden Ciclovía in Bogotá, Kolumbien, auf eine lange Geschichte zurückblicken kann. Frank Eckardt verweist in seinem Beitrag die Vertiefung der Gräben auf die Zunahme gesellschaftlicher Ausschlüsse, sozialer und ökonomischer Diskriminierung und der Segregation zwischen Arm und Reich. Er tritt für eine Stadtplanung ein, »die sich nicht auf infrastrukturelle und städtebauliche Zielstellungen reduziert,« um die Voraussetzung für solidarische Strukturen eines urbanen Zusammenlebens zu schaffen.

Die Notwendigkeit einer sozialen urbanen Infrastruktur, die allen unabhängig von Herkunft und Klasse zur Verfügung steht und unabhängig von der neoliberalen Marktordnung geschaffen und aufrecht erhalten wird, betonen auch die Autor*innen des Beitrags Die Alltagsökonomie als Fundament zukunftsfähiger Stadtentwicklung. Der Ansatz der Alltagsökonomie (foundational economy) findet seit einigen Jahren verstärkte Aufmerksamkeit, und das, wie sich nun während Covid-19 wieder zeigt, völlig zurecht. Ein schlagendes Beispiel dafür, was passiert, wenn genau diese basale soziale Infrastruktur in Städten nicht vorhanden ist oder nicht allen zur Verfügung steht, bringt Ayona Datta mit ihrem Bericht über die Verhältnisse in indischen Städten. Millionen Arbeiter*innen mussten ihre Städte verlassen und zu Fuß oft über hunderte Kilometer in ihre Herkunfts-Dörfer zurückkehren, weil ein Überleben mit Verhängung der Ausgangssperren und somit ohne Einkommen für sie nicht mehr möglich war. Einen Überblick über die Situation am Wohnungsmarkt, eine kritische Analyse der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen und Beispiele für selbstorganisierte solidarische Hilfsaktionen gibt das Redaktionskollektiv der Zeitschrift Radical Housing in ihrem Beitrag Covid-19 and housing struggles, den wir in einer gekürzten Version für diesen Schwerpunkt übersetzt haben. Felix Stalder schließlich konstatiert eine Beschleunigung bestehender Digitalisierungsdynamiken, die sich durch die massive Stärkung digitaler Infrastrukturen ebenso zeigt wie durch den Ausbau der Marktmacht von Händler*innen wie Amazon, die sich anschicken, sich als kritischer Teil der Grundversorgung zu etablieren oder dem noch tieferen Eindringen von Sozialen Medien in unseren Alltag. Als überraschende und positive Entwicklung sieht Stalder die Entwicklung eines neuen Standards für Kontaktnachverfolgung (DP3T), »bei dem weder kommerzielle noch sicherheitspolitische, sondern zivilgesellschaftliche Akteur*innen federführend sind.« Für unsere lose Serie an Beiträgen zur Wiener Stadtgeschichte stehen ein weiteres Mal die Donau und ihr räumliches Umfeld im Mittelpunkt. Die kleine Anarchie an der Donau ist der Titel von Matthias Marschiks Artikel über die Donauwiese. Das Kunstinsert der vorliegenden Ausgabe stammt von Selma Selman. Es zeigt »eine Auswahl von Arbeiten, die ihre Rolle als Frau in einer patriarchalen und von sozialer Ungleichheit geprägten Gesellschaft ebenso radikal wie direkt thematisieren«. Mit dieser Ausgabe feiert dérive seinen 20. Geburtstag. Letzten Herbst hatten wir noch eine große Party in der Nordbahnhalle vor Augen, als wir an das Jubiläum dachten. Wäre die Nordbahnhalle letzten November nicht einer Brandstiftung zum Opfer gefallen, deren Aufklärung, wie es scheint, niemanden mehr interessiert, hätte uns wohl Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wenn es die Umstände erlauben, werden wir den 20er zumindest in kleinerem Rahmen beim diesjährigen urbanize!-Festival (nach-)feiern, das dieses Jahr Raum als Gemeingut unter dem Motto »Common Spaces, Hybrid Places« thematisiert und vom 14.–18. Oktober in Wien stattfindet. Save the date! Einen schönen Sommer wünscht Christoph Laimer

01


»Es ist an der Zeit »  in jeder Stadt

»    OFFENE STRASSEN »     für alle zu fordern!«

Florian Lorenz in seinem Text Offene Straßen für alle! Temporär autofreie Straßen als Bewegungs- und Interaktionsräume auf den S. 37–45.

ANGEBOT: ABONNEMENT + BUCH* 8 Ausgaben (2 Jahre) dérive um 56,–/75,– Euro (Österr./Europa) inkl. ein Exemplar von:

ÖGFA – Österreichische Gesellschaft für Architektur und Ute Waditschatka (Hg.) Wilhelm Schütte Architekt Frankfurt – Moskau – Istanbul – Wien Zürich: Park Books, 2019 176 Seiten, 38,00 Euro oder Katja Schwaller Technopolis Urbane Kämpfe in der San Francisco Bay Area Berlin, Hamburg: Assoziation A, 2019 232 Seiten, 19,80 Euro

Bestellungen an: bestellung@derive.at *Solange der Vorrat reicht!

dérive Zeitschrift für Stadtforschung

www.derive.at


Inhalt 01 Editorial CHRISTOPH LAIMER Schwerpunkt 04—05 Gegen eine Rückkehr zur Normalität Zum Schwerpunkt Pandemie CHRISTOPH LAIMER 06—11 Die Alltagsökonomie als Fundament zukunftsfähiger STADTENTWICKLUNG RICHARD BÄRNTHALER, SIGRID KROISMAYR, ANDREAS NOVY, LEONHARD PLANK, ALEXANDRA STRICKNER 12—17 Reframing the Streets: Raumverteilung und PROTEST RAINER STUMMER 18—20 Überlebensinfrastrukturen unter Covid-19 in INDIEN AYONA DATTA 21—25 Pandemie als SMART-City-Labor FELIX STALDER

37—45 Offene Straßen für ALLE! Temporär autofreie Straßen als Bewegungs- und Interaktionsräume FLORIAN LORENZ 46—54 COVID-19 und die Wohnungskämpfe Die (Wieder-)Auflage von Austeritätspolitik und Katastrophen-Kapitalismus sowie die Nicht-Rückkehr zur Normalität RHJ EDITORIAL COLLECTIVE Magazin 55—60 Die kleine ANARCHIE an der Donau Das Inundationsgebiet (1875–1987) MATTHIAS MARSCHIK Besprechungen 61—63 Die Entgrenzung der Architektur, S. 61 Mehr als Belanglosigkeiten, S. 62 68 IMPRESSUM

Kunstinsert 32—36 Selma Selman Tito’s bunker, Mercedes, Washing Machine and Vampyr

– dérive – Radio für Stadtforschung Jeden 1. Dienstag im Monat von 17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0 oder als Webstream http://o94.at/live. Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235

03


CHRISTOPH LAIMER

GEGEN eine Rückkehr zur »Normalität«

Zum Schwerpunkt Pandemie

Das Leben in Städten war die längste Zeit ihrer Existenz von einer sehr hohen Sterblichkeit gekennzeichnet. Die Lebenserwartung von Stadtbewohner*innen lag über Jahrhunderte um einiges unter derjenigen der Landbevölkerung. Krankheiten und Seuchen rafften regelmäßig große Teile der Bevölkerung hinweg. Das war im antiken Rom und Athen nicht anders als in den europäischen Städten des 14. bis 18. Jahrhunderts, über die der Anthro­ pologe Mark Nathan Cohen schreibt, dass sie möglicherweise die »am stärksten von Krankheiten befallenen und am kürzesten lebenden Bevölkerungen in der Geschichte der Menschheit« (zit. nach Bollyky 2019) waren. Pest-, Typhus- und Choleraepidemien wüteten und kosteten jeweils tausenden Menschen das Leben.

04

dérive No 80 — PANDEMIE

Vor allem natürlich jenen, die aufgrund ihrer Armut ihr Dasein unter miserablen Wohnbedingungen und katastrophalen hygienischen Zuständen fristen mussten. Doch obwohl Bourgeoisie und Arbeiterklasse natürlich nicht in denselben Vierteln wohnten, waren auch Bürger*innen nicht davor gefeit, an Seuchen zu erkranken und zu sterben. Gegenmaßnahmen waren also notwendig, nicht zuletzt auch, um den »Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern« (Marx & Engels 1972, S. 488), wie im Kommunistischen Manifest zu lesen ist, das während der Hochzeit der Typhus- und Choleraepidemien verfasst wurde. Friedrich Engels sah »die menschenfreundlichen Bourgeois in edlem Wetteifer für die Gesundheit ihrer Arbeiter« (Engels 1999, S. 233) entbrennen. Dass genau dieser Aspekt auch in Zeiten von Covid-19 nicht übersehen werden sollte, darauf weißen Vilenica et al. in ihrem Artikel Covid-19 und die Wohnungskämpfe (S. 46–54) hin. In den letzten Cholera-Epidemien in Wien (1866 und 1873) starben fast nur mehr arme Stadtbewohner*innen.1 Die Unterprivilegierten waren den Seuchen aber nicht nur am stärksten ausgesetzt, sie wurden auch immer wieder für ihre Verbreitung verantwortlich gemacht und im Zuge solcher Kampagnen als gefährliche Klasse denunziert. Zuletzt beispielsweise Bewohner*innen des Iduna-Zentrums in Göttingen oder eines Asylwerber*innenheimes in Wien. In diesem Zusammenhang ist auch die Dichte-Debatte zu sehen, die den städtebaulichen Diskurs seither begleitet. Aus dem Umstand, dass Arbeiter*innen in sehr dichten Wohnvierteln lebten und leben, wurde und wird immer wieder der Schluss gezogen, Dichte an sich wäre das Problem, das es zu beseitigen gilt. Die Fantasien und Gerüchte darüber, wie das Leben in den dichten Arbeiter*innenquartieren aussieht – Kriminalität, Promiskuität, Krankheiten – war nicht nur für hetzerische Kampagnen und Werke der Literaturgeschichte verantwortlich, sondern in Folge auch für städtebauliche Konzepte, die beispielsweise für die aufgelockerte Stadt eintraten. Nicht die physisch ruinösen Arbeitsbedingungen, die fehlende Möglichkeit zur Regeneration aufgrund extrem langer Arbeitszeiten, Unterernäh-

Stadtgeschichte, Pandemie, Städtebau, Hygiene, Dichte, gefährliche Klasse, Normalität, Wirtschaftskrise, Kapitalismus

Es ist erst wenige Monate her, dass Regierungen weltweit drastische Maßnahmen als Reaktion auf die steigenden Corona-Ansteckungszahlen durchgesetzt haben. Seit einigen Wochen werden diese Maßnahmen zurückgenommen, in manchen Ländern, weil sich die Situation tatsächlich zum Besseren gewendet hat, in anderen wohl vorrangig deshalb, weil wirtschaftliche Interessen bedient werden wollen. In dieser Zeit sind Unmengen von Artikeln und Beiträgen zu Covid-19 veröffentlicht worden, trotzdem finden wir es als Redaktion einer Zeitschrift für Stadtforschung angebracht, einen eigenen Schwerpunkt zum Thema Pandemie zu veröffentlichen. Das hat einerseits damit zu tun, dass Gestalt und Ordnung von Städten viel mehr von Seuchen und Krankheiten beeinflusst und geprägt sind, als man gemeinhin annimmt und andererseits damit, dass es für uns als kritische Zeitschrift ein wichtiger Zeitpunkt ist, um auf das Versagen eines Systems hinzuweisen, das noch selten so offensichtlich war.


rung bzw. ungesunde Ernährung, fehlende Bildung und Gesundheitsversorgung oder völlig unzureichend ausgestattete, feuchte Wohnungen seien das Problem, sondern die Dichte. Die Dichte, die genau das ermöglichte, was das Überleben irgendwie möglich machte: alltägliche Solidarität und gegenseitige Hilfe im Viertel. Bis heute passiert es, dass soziale Strukturen sowie die lokale Möglichkeit für (informelle) Arbeit unter dem Vorwand, bessere Wohnverhältnisse für Slumbewohner*innen zu schaffen, zerstört werden, indem die verantwortlichen Politiker*innen die Bewohner*innen an den Stadtrand absiedeln. Zufälligerweise können die ehemaligen Grundstücke dann immer wieder teuer verkauft oder mit ertragreichen Immobilien bebaut werden. Zwei der wichtigsten baulichen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung waren der Bau stadtweiter Kanalisationsnetze und die Versorgung aller Haushalte mit sauberem Trinkwasser. In Wien konnte die Cholera endgültig erst mit dem Bau der äußerst eindrucksvollen 95 km langen, 1873 eröffneten 1. Wiener Hochquellenleitung, die die lokalen Hausbrunnen ersetzte, und der Wienflussregulierung im Zuge des Baus der Stadtbahn, verdrängt werden.2 Neben reinem Wasser galten und gelten natürlich auch saubere Luft und Licht als wichtige Voraussetzungen für ein gesundes Leben in der Stadt, wobei die Annahme der Bedeutung sauberer Luft bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch eine Folge der ebenso gebräuchlichen wie falschen Annahme, giftige Ausdünstungen des Bodens (Miasma) seien für die Ausbreitung von Seuchen verantwortlich, zurückzuführen ist. So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Errichtung von Parks, Spielplätzen und sogar Schrebergärten als sozialhygienische Maßnahme im Sinne der Gesundheitsversorgung gesetzt wurde.3 Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl New Yorks Central Park, die »Lunge der Stadt« wie sie der Landschaftsarchitekt Frederick Olmsted, der gemeinsam mit dem Architekten Calvert Vaux den Wettbewerb für die Gestaltung des Central Parks gewonnen hat, bezeichnete. Covid-19 und die Wirtschaftskrise Wie zu den Zeiten der großen Epidemien des 19. Jahrhunderts geht es auch heute bei all den Hilfsmaßnahmen nicht darum, langfristig neue Strukturen aufzubauen, die gegenüber Krisen resilienter sind und nicht jedes Mal aufs Neue zig Millionen vor existenzielle Probleme stellen, sondern darum, den stockenden Motor des Kapitalismus wieder in Gang zu bringen: Koste es, was es wolle. Unser Wirtschaftssystem wäre aufgrund seiner hohen Produktivität ohne Probleme in der Lage, Güter in einem Ausmaß zu produzieren, die eine ausreichende Versorgung der Menschheit mit allem Lebensnotwendigen garantiert. Das Paradox an unserer aktuellen Situation ist nun, dass es zu einer Wirtschaftskrise gigantischen Ausmaßes kommt, weil eine Pandemie es notwendig macht(e), für ein paar Wochen den Arbeitsalltag neu zu organisieren und einige Bereiche vorübergehend einzustellen. Das Problem ist nun aber nicht, dass es zu wenige Lebensmittel, Kleidung oder Wohnungen gibt, sondern, dass viele Menschen aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit über weniger oder kein Einkommen mehr verfügen, um diese bezahlen zu können. Gleichzeitig fragen sich Investor*innen, ob es schon der richtige Zeitpunkt ist, um wieder Aktien zu kaufen

oder sie besser warten sollten, bis die Krise noch größer wird, weil der zu erwartende zukünftige Profit dann noch höher sein wird.4 Normalerweise verkündet die Ideologie-PR in Situationen, in denen Menschen vor existenziellen Problemen stehen, sie seien zu wenig tüchtig, zu wenig gebildet, zu wenig hartnäckig, zu unflexibel, zu wenig leistungsbereit etc. und brauchen sich deswegen nicht wundern, wenn sie nicht ausreichend Geld zur Verfügung haben. Doch diesmal ist es einfach völlig offensichtlich, dass keiner dieser Gründe angeführt werden kann, weil niemand, der/ die durch die Pandemie arbeitslos geworden ist oder nun weniger Einkommen hat als zuvor, selbst dafür verantwortlich gemacht werden kann. Und siehe da, jetzt wo das System in Gefahr ist, weil die Kaufkraft bzw. die Möglichkeit Geld auszugeben nicht mehr im notwendigen Ausmaß vorhanden sind, können plötzlich hunderte Milliarden Euro und Dollar aufgebracht werden, die teils freihändig verteilt werden, um den Laden wieder in Schwung zu bringen. Wie schon bei der Finanzkrise 2008 zeichnet sich auch bei Covid-19 ab, dass keinerlei Überlegungen angestellt werden, wie die Grundversorgung der Menschheit in Zukunft auch in Zeiten von Krisen aufrecht erhalten werden könnte, ohne jedes Mal große Teile der Bevölkerung unnötig dem Ruin auszuliefern. Was, um es noch einmal zu betonen, angesichts der Tatsache, dass es die Güter gibt oder sie jederzeit hergestellt werden könnten, die dafür notwendig sind, besonders grotesk ist. Die Milliarden, die jetzt verteilt werden, dienen ausschließlich dazu, die Mauern des Systems zu stützen und die Löcher zu stopfen, damit möglichst schnell die Rückkehr zu dem, was aktuell unter den Begriff Normalität läuft, gelingt. Doch genau diese Normalität gilt es in Frage zu stellen. Die Pandemie zeigt, wie wichtig eine soziale Infrastruktur und eine eigenständige Alltagsökonomie für ein gutes Leben für alle sind (siehe dazu die Beiträge von Bärnthaler et al., S. 06–11 sowie von Ayona Datta auf S. 18–20) und dass es der Gebrauchswert der Güter ist, auf den wir schlussendlich zählen können müssen und nicht der Tauschwert (Berardi 2020). Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive. Fußnoten 1 https://w w w.geschichtewiki.wien.gv.at/Cholera 2 https://w w w.geschichtewiki.wien.gv.at/Cholerakanäle 3 https://w w w.stadtmuseum.de/objekte-und-geschichten/seuchen-in-berlin 4 https://w w w.finanzen.net/aktien/corona-aktien Literatur Berardi, Franco »Bifo« (2020): Jenseits des Zusammenbruchs. Drei Betrachtungen zu einer Zeit danach. In: transversal texts, übersetzt von Adrian Hanselmann. Verfügbar unter: https://transversal.at/transversal/0420/berardi/de Bollyky, Thomas J. (2019): The Future of Global Health Is Urban Health. Verfügbar unter https://w w w.cfr.org/article/ future-global-health-urban-health [Stand 24.006.2020] Engels, Friedrich (1973) [1872/73]: Zur Wohnungsfrage. In: Marx, Karl & Engels, Friedrich: Werke. Band 18. Dietz Verlag: Berlin. S. 209–287. Fisher, Thomas (2010): Frederick Law Olmsted’s Campaign for Public Health. In: Places, 11/2010. Verfügbar unter: https://placesjournal.org/article/frederick-law-olmstedand-the-campaign-for-public-health/ [Stand 24.06.2020] Marx, Karl & Engels, Friedrich (1972) [1848]: Manifest der Kommunistischen Partei. In: dies.: Werke. Band 4. Dietz Verlag: Berlin. S. 459–493.

Christoph Laimer — GEGEN eine Rückkehr zur Normalität

05


RICHARD BÄRNTHALER, SIGRID KROISMAYR, ANDREAS NOVY, LEONHARD PLANK, ALEXANDRA STRICKNER

Die Alltagsöko­-

nomie als Fundament zukunftsfähiger

STADTENTWICKLUNG

06

dérive No 80 — PANDEMIE

Der Marktliberalismus: Die neoliberale Verengung von Wirtschaften Jahrzehntelang dominierten auch in der Stadtforschung neoliberale Strategien von sich im internationalen Wettbewerb behauptenden Städten. Es war dies Konsequenz eines Paradigmenwechsels, der seit den 1980er-Jahren durch den Siegeszug des Neoliberalismus eingeläutet wurde und in zumindest drei Bereichen Denk- und Handlungsweisen änderte: (1) Innenwurde zu Außenorientierung, (2) eine gemischte Wirtschaft zur Marktwirtschaft und (3) gesamtgesellschaftliche Zielsetzungen durch individualisierte Wünsche ersetzt. Kontextabhängigkeit und eigenständige städtische Entwicklungswege wurden der Hyperglobalisierung und ihrem Leitbild des einen globalen Marktes geopfert. (1) Die Schaffung und Liberalisierung von Märkten – von Immobilien und Tourismus bis hin zu Märkten für Grundversorgung – war eine logische Folge einer außenorientierten Stadtpolitik, die, im internationalen Städtewettbewerb stehend, möglichst attraktive Bedingungen für internationales Kapital schaffen sollte. Internationale Investor*innen, Tourist*innen, die creative class (Florida 2019) und hochqualifizierte Wissensarbeiter*innen wurden zur Zielgruppe dieser Politik; Effizienz, Optimierung und Renditeerwartungen zu ihren Leitwerten. Die Funktionsfähigkeit von Städten wurde primär anhand ihrer Anziehungskraft für ausländische Investor*innen gemessen und nicht an der Fähigkeit, alltägliche Bedürfnisse der Stadtbewohner*innen in hoher Qualität, leistbar und umweltfreundlich zu befriedigen. (2) Somit wich das pluralistische Verständnis einer gemischten Wirtschaft, die die Grundlage der österreichischen Sozialpartnerschaft sowie des europäischen Wohlfahrtskapitalismus der Nachkriegszeit bildete, zunehmend einem fundamentalistischen Markt-Monismus. Wirtschaften als ein komplexes, sich gegenseitig ermöglichendes und beschränkendes Zusammenspiel aus einer Vielfalt an Institutionen wurde vereinfachend reduziert auf globales Marktwirtschaften. Der Markt war nicht mehr eine Institution neben anderen, sondern

Alltagsökonomie, Marktliberalismus, Infrastruktur, Dienstleistung, Wohlfahrtsstaat, Lebensqualität, urban citizenship, Dekommodifizierung, Gemeinnützigkeit

Covid-19 demaskiert die neoliberale Behauptung, es gäbe nur eine Ökonomie, nur einen großen, globalen Markt, als das, was sie wirklich ist: Eine Illusion. Die Pandemie hat die Hyperglobalisierung einer grenzenlosen wirtschaftlichen Verflechtung ins Wanken gebracht. Wäre dieser teilweise Rückbau von globalen Lieferketten und Finanzbeziehungen dauerhaft, eröffnen sich für die Stadtentwicklung neue Handlungsspielräume, die durch geschicktes politisches Agieren genutzt werden können. Es kann aber auch erneut so enden wie nach der großen Finanzkrise 2008, als es mächtigen Kapitalinteressen rasch gelang, zum vermeintlichen Normalzustand einer grenzenlosen Weltwirtschaft zurückzukehren. Um dies 2020 zu verhindern, braucht es zweierlei: einerseits ein gutes Verständnis des Markliberalismus, der das ideologische Unterfutter für städtische Strategien der Liberalisierung, Privatisierung und Finanzialisierung liefert. Andererseits benötigen wir die Vision einer anderen Wirtschaftsordnung sowie Strategien, um die aktuelle neoliberale Marktordnung abzulösen. Dies kann durch die Stärkung der Alltagsökonomie gelingen. Die ihr zugrundeliegenden Infra­struk­turen bilden das Fundament einer zukunftsfähigen Stadtentwicklung, die die grundlegenden Bedürfnisse ihrer Bewohner*innen befriedigt (FEC 2018). Dies gelingt, wenn stadtpolitische Entscheidungen getroffen werden, die sich von der Logik des Marktliberalismus verabschieden und sich auf die kollektive Bereitstellung dieser städtischen Infrastrukturen konzentrieren.


RAINER STUMMER

Reframing the

Streets: Raumver­ teilung und PROTEST

Als 2015 der sogenannte Volksentscheid Fahrrad in Berlin (BVF) initiiert wird, zeigt sich bereits nach wenigen Monaten, dass der Protestdiskurs der Initiative mit seinen vielfältigen, performativen Aktionen im öffentlichen Raum erfolgreich in den stattfindenden Wahlkampf zur Berliner Senatswahl eingreifen kann. In weiterer Folge wird das bundesweit erste Mobilitätsgesetz beschlossen und die Vorgangsweise des BVF findet breite Nachahmung: zahlreiche deutsche Städte folgen dem Beispiel Berlins – mit MoVe It Graz und Platz für Wien gibt es mittlerweile zwei ähnliche Initiativen in Österreich.

12

dérive No 80 — PANDEMIE

Der Berliner Volksentscheid Fahrrad – Ausgangspunkt der Analyse Bei dem Instrument des Volksentscheids, welches von den Berliner Aktivist*innen genutzt wurde, handelt es sich um ein dreistufiges direkt-demokratisches Verfahren, dessen Anstoß bottom-up – also von Bürger*innen initiiert – erfolgt. Die erste Stufe besteht aus dem Antrag auf ein Volksbegehren, zu dessen Durchführung 20.000 gültige Unterstützungserklärungen binnen sechs Monaten gesammelt werden müssen. Sollte der Volksentscheid den Erlass eines Gesetzes beabsichtigen, so wie es beim BVF tatsächlich der Fall war, dann ist gleichzeitig der gewünschte Gesetzesentwurf verpflichtend zur Begutachtung beizulegen. Nachdem die erste Stufe erfolgreich absolviert wurde, beginnt die Eintragungsphase des Volksbegehrens, bei der in einem Zeitraum von vier Monaten 175.000 gültige Unter-

Raumtheorie, Populismustheorie, Berlin, Volksentscheid, Corona, Diskurs, Protest, Critical Mass

Temporäre Bodenmarkierungen als Versinnbildlichung diskursiv gezogener Grenzen – hier zeichnet sich die Verschiebung von Machtverhältnissen ab; Pop-up-Radweg Wien Praterstraße Juni 2020. Foto — Silvester Kreil, dérive

Der in Berlin angewandte Protestdiskurs um Flächengerechtigkeit und Raumverteilung erlangt im Lichte der aktuell zur Bekämpfung des Covid-19-Virus verhängten Maßnahmen und ihrer Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten erneut Bedeutung. Im Gegensatz zur neoliberalen Maxime »There is no alternative« spiegeln Prozesse urbaner Raumverteilung gesellschaftliche Verhältnisse und Machtverteilung wider und weisen damit die gleiche Wandlungsfähigkeit wie diese auf. Wird die Diskrepanz zwischen den seitens der Politik gewünschten Ergebnissen von Planungs- und Steuerungsprozessen und den Bedürfnissen von Bürger*innen zu groß, können sich an diesem – in Plänen verzeichneten oder in Beton gegossenen – Missverhältnis Proteste entzünden. Dieser Artikel widmet sich der Schnittstelle von Raum- und politischer Theorie, betrachtet die Konflikthaftigkeit urbaner Raumverteilungsprozesse und einen Diskurs – den des BVF –, der diesen Konflikt abbildet. Anschließend wird der während des Covid-19-Lockdowns akut zutage tretende Flächenkonflikt anhand ausgewählter theoretischer Kategorien diskutiert und auf Wien übertragen.


AYONA DATTA

Überlebens­

infrastrukturen unter Covid-19 in INDIEN

Infrastruktur, Indien, Wanderarbeiter*innen, Ausgangssperre, Hungersnot

Foto — Gwydion M. Williams

Als ich ein Kind war, erzählte mir meine Großmutter Geschichten über Kalkutta während der bengalischen Hungersnot im Jahr 1943. Die Hungersnot war eine künstlich herbeigeführte Katastrophe unter den wachsamen Augen der britischen Kolonialregierung, die den indischen Bauern und Bäuerinnen den Zugang zu Nahrungsmittelvorräten verwehrte, was zu Hunger und Tod führte – ein Völkermord an etwa drei Millionen armen Inder*innen. Kolonialhistoriker*innen und Wissenschaftler*innen haben darauf hingewiesen, dass Winston Churchill, der »Held« des Krieges, bekanntlich erklärte, dass Inder*innen »sich wie Kaninchen vermehrten« und deshalb den Tod verdienten. Meine Großmutter und ihre Familie lebten zu dieser Zeit in Kalkutta, und sie wurden Zeug*innen eines Exodus von Migrant*innen aus den umliegenden Dörfern und Gemeinden, die in die Stadt strömten und verzweifelt hofften, überleben zu können. Im Laufe ihres Lebens erzählte meine Großmutter immer wieder von den Schreien der Hungernden auf den Straßen vor dem Haus ihrer Familie. Ein Vorfall, der sie als junge Frau besonders traf, war, als sich

18

dérive No 80 — PANDEMIE


FELIX STALDER

Pandemie als

SMART-City-Labor Smart City, Technopolitik, Digitalisierung, Überwachung, Handel, Social Media, Bewegungsfreiheit, Open Source, Kontaktnachverfolgung

»I really think anyone who makes predictions now is a fool.« »It’s a little bit like trying to predict the future of foreign policy in October 2001.« Evgeny Morozov im Interview mit Holly Herndon

Während der Hochsaison bevölkern Ischgl Tourist*innen aus aller Welt und machen das Bergdorf zur temporären Stadt. (c) Profil

Die Covid-19-Pandemie ist gleichermaßen ein urbanes wie ein technologisches Phänomen. 95% aller Erkrankungen wurden bisher in Städten registriert. Vom Ausgangspunkt Wuhan, über die Metropolregion der Lombardei, Paris, Madrid, New York, Rio de Janeiro bis Moskau breitet sich das Virus vor allem innerhalb großer Städte aus. Das ist wenig verwunderlich, denn nicht nur begünstigt die größere Dichte die lokale Verbreitung des Virus von Mensch zu Mensch, sondern das Virus kommt auch zuerst in den großen Städten an. Sie sind die zentralen Knoten der Hypermobilität von Menschen und Gütern, welche die neoliberale Phase der Globalisierung prägt. Aus diesem Blickwinkel sind Tourist*innen-Hotspots wie Ischgl temporäre Städte in den Bergen. Ob die Hypermobilität, die momentan weitgehend zum Erliegen gebracht wurde, wieder in voll in Gang kommt, ist noch nicht absehbar, dass der globale Trend zur Urbanisierung gebrochen wird, ist aber nicht anzunehmen. So viel Vorhersage kann man getrost machen.

Felix Stalder — Pandemie als SMART City Labor

21


FRANK ECKARDT

Vertiefung der GRÄBEN

Corona in der fragmentierten Stadt Social Distancing, Lockdown, Segregation, Armut, Fragmentierung, Nachbarschaft, Exklusion, Wohnungslosigkeit, Solidarität, Kontrolle

Essensspenden für Obdachlose am Zaun eines Parks während der Corona-Ausgangsbeschränkungen. Fotos — Silvester Kreil, dérive.

Die Corona-Krise hat den Alltag in der Stadt einschneidend verändert. Das Leben der vulnerablen Gruppen wie Senior*innen, Kinder, Kranke, Arme und Geflüchtete wird dadurch erheblich beschwert und gefährdet. Der Lockdown verschärft dabei die bestehenden sozialen Ausschlüsse. Das »social distancing« fällt mit den vorhandenen sozialen Distanzen gefährlich zusammen.

26

dérive No 80 — PANDEMIE


Kunstinsert Selma Selman Tito’s bunker, Mercedes, Washing Machine and Vampyr Für die in Bosnien geborene Selma Selman ist ihre Roma-Herkunft ein wesentlicher Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Arbeit. In ihren Performances thematisiert sie vielfach geschlechtsspezifische und rassistische Diskriminierungen, Verfolgungen, Traumata und Spannungen. Dabei benutzt sie oft ihren Körper als Lautsprecher, um Verzweiflung, Wut, Angst, Widerstand und dem Kampf ums Überleben Ausdruck zu verleihen. Sie kann als eine der jüngsten Vertreter*innen einer langen Tradition kritischer und politisch engagierter Performance aus dem ex-jugoslawischen Raum gesehen werden. Die Art und Weise, wie Selma Selman ihren Körper, ihren weiblichen Zustand sowie ihren südosteuropäischen Hintergrund als Romni für politische Inhalte einsetzt, zeigt eine Neuinterpretation des Performance-Diskurses und knüpft an Praktiken von Künstler*innen wie Katalin Ladik oder Tanja Ostojić an. Im dérive-Insert zeigt Selma Selman eine Auswahl von Arbeiten, die ihre Rolle als Frau in einer patriarchalen und von sozialer Ungleichheit geprägten Gesellschaft ebenso radikal wie direkt thematisieren. In Mercedes Matrix zerstört Selma Selman mit ihrer Familie auf der Kampnagel-Piazza in Hamburg ein Statussymbol – den Mercedes Benz. Durch den Akt des Zerstörens dieses Fahrzeugs setzt sie die Mechanismen der Performance ein, um die körperliche Arbeit ihrer Familie in der Kunst zu positionieren. Dabei öffnet ihr biographischer Hintergrund noch eine weitere wesentliche Ebene: Selma Selmans Familie ist darauf angewiesen, Metall­ abfälle in Ressourcen zu verwandeln, um das Wohlergehen der Familie zu unterstützen. In Self-portrait I & II zerstörte die Künstlerin eine Waschmaschine und einhundert Staubsauger mit einer Axt. Die Künstlerin sagt dazu: »Diese früheren Arbeiten visualisieren die Zerstörung von Haushaltsgeräten, die mehr als ein Jahrhundert lang mit der Versklavung von Hausfrauen in Verbindung gebracht wurden, aber auch einen Moment der Katharsis, in dem ich die inneren Spannungen, die mich sowohl zerstören als auch konstruieren, abbauen konnte.« Auch hier transformiert Selma Selman wieder ihre biographischen Wurzeln einer patriarchalen (Roma-)Gesellschaft in einen performativen Befreiungsakt. Was ist ein sicherer Ort? Bunker werden als sichere Orte wahrgenommen, weil sie Menschen Schutz vor der physischen Bedrohung durch Luftangriffe bieten. In Mercedes 310/ Iron Curtain thematisierte die Künstlerin für die Biennial of Contemporary Art D-0 ARK Underground in Sarajewo (2015) den Mercedes 310 als sichersten Ort, weil ihre Familie dieses Auto zum Sammeln und Verkaufen von Eisen benutzte. Der Eiserne Vorhang war einst ein Symbol des ideologischen Konflikts zwischen zwei konkurrierenden Systemen. Als solches fungierte er nicht nur als physische, sondern auch als psychologische Barriere. »Ich habe den psychosozialen ›Eisernen Vorhang‹, der die Praktiken von marginalisierten Menschen stigmatisiert, abgebaut, um eine symbolische Öffnung zu erreichen und einen Boden zu schaffen, auf dem die Menschen zusammenkommen können« (Selma Selman). Selma Selman lebt derzeit zwischen Bihać und New York, wo sie an der University of Syracuse tätig ist. Sie war unter anderem im Roma-Pavillon der Biennale in Venedig 2019 vertreten und erhielt bereits zahlreiche Preise, u. a. den Young European Artist Award von trieste contemporanea. In ihrer Heimatstadt Bihać gründete sie die Organisation Mars To School / Go The Heck To School, die insbesondere den Schulbesuch von Romnija-Mädchen unterstützt. Weitere Informationen: www.selmanselma.com Barbara Holub und Paul Rajakovics

32

dérive No 80 — PANDEMIE


FLORIAN LORENZ

Offene Straßen für ALLE!

Temporär autofreie Straßen als Bewegungs- und Interaktionsräume Straße, Freiraum, Mobilität, Urbanität, Ciclovía, Open Streets, öffentlicher Raum Ciclovía in Minhocão (São Paulo) Foto — Nathan Bishop

Wenn über die Mobilitätswende und die Transformation von Städten in der Klimakrise diskutiert wird, stehen oft die Begriffe Straße1 und Straßenraum im Fokus. Auch in der aktuellen Covid-19Pandemie werden die Nutzung und die Aufteilung von Straßenräumen heftig diskutiert. Straßen bieten in der Pandemie – vor allem in dichten Innen­ städten ausreichend Raum für hygienisch notwendiges physical distancing, Freizeitnutzungen, Spaziergänge und sportliche Betätigung. In diesem Zusammenhang erhielt das Konzept offener Straßen – Straßenräume temporär als Bewegungsund Interaktionsraum und nicht als Verkehrsraum zu nutzen – eine neue Bedeutung und vermehrte Aufmerksamkeit.

Straßen als öffentliche Räume Straßen sind über Jahrhunderte gewachsene und durch Asphaltierung dauerhaft etablierte, vernetzte Räume, die Städte strukturieren und räumlich dominieren. Sie sind Transport­ wege, Bewegungsräume, Aufenthaltsbereiche sowie Begegnungsräume, wodurch sie sowohl funktionale als auch symbolische Bedeutungen bekommen. Straßen sind die vorrangig wichtigen öffentlichen Räume der Stadt des 21. Jahrhunderts. Sie repräsentieren gesellschaftliche Prioritäten. Hier ist ablesbar, wie energieintensiv und unter welchen Prämissen das Verkehrssystem organisiert ist und welche Umweltwirkungen welchen Bevölkerungsgruppen durch die Organisation von Mobilitäts-Bedürfnissen zugemutet werden. Als der »quintessentielle öffentliche Sozialraum« (Mehta 2013) machen Straßen den Hauptteil des öffentlichen Raumes und einen Großteil der Fläche in Städten aus. In Nordamerika nehmen sie zwischen 25 und 35 Prozent der bebauten Stadt­ fläche ein (Jacobs 1993). Für europäische Städte – deren Kernstrukturen oft vor der Erfindung des Autos angelegt wurden – stellt sich dieses Flächenverhältnis vergleichbar dar: In Wien nehmen Gemeindestraßen knappe 20 Prozent des gesamten für Bauland und Verkehr genutzten Stadtgebietes ein bzw. knappe 10 Prozent der gesamten Stadtfläche.2 Der Anteil der Straße an der Stadtfläche ist auch von der Lage im Stadtgebiet abhängig. In einem Außenbezirk wie dem 22. Bezirk beträgt dieser Anteil nur 6 Prozent und steigt auf bis zu ca. 36 Prozent im viel dichter bebauten 1. Bezirk (Stadt Wien, 2019. Eigene Berechnungen). 1 In diesem Artikel bezeichnet der Begriff Straße eine Straße im städtischen Raum, keine Landstraßen oder Autobahnen. Diesen Straßentypen fehlt die Funktion als (potenziell) multifunktional nutzbarer öffentlicher Raum.

Florian Lorenz — Offene Straßen für ALLE!

2 Diese Vergleiche beziehen sich auf reine Straßenfläche und exkludieren sonstige für den Kraftfahrzeugverkehr versiegelten Flächen – Parkplätze und Erschließungsstraßen – außerhalb der als Gemeindestraßen gewidmeten Flächen.

37


RADICAL HOUSING JOURNAL COLLECTIVE

COVID-19 und Die (Wieder-)Auflage von Austeritätspolitik und KatastrophenKapitalismus sowie die Nicht-Rückkehr zur Normalität

Mietstreitprotest in LA.; Foto — Timo Saarelma

46

dérive No 80 — PANDEMIE

Scheinbar über Nacht stand der Gebrauchswert von Wohnraum als lebenserhaltender, sicherer Ort im Mittelpunkt des politischen Diskurses der politischen Entscheidungsfindung und von neuen Regierungspraktiken. Die Forderung nach dem Recht auf angemessenen und sicheren Wohnraum hat sich plötzlich von den »radikalen« Rändern zum Gegenstand beispielloser öffentlicher politischer Interventionen weltweit verschoben. Da die Sicherheit ganzer Bevölkerungsgruppen auf dem Spiel steht, taucht das Thema Wohnen als öffentliche Gesundheitsfrage schlagartig auf der Tagesordnung auf. Wir wollen mit diesem Artikel den zentralen Nexus zwischen Wohnen, Austeritätspolitik und Covid-19 entwirren, indem wir die aktuellen Reaktionen auf den längerfristigen Entwicklungsverlauf von Vertreibung und Verfügbarkeit, Grenzpolitik, Ethno-Nationalismus, Finanzialisierung, Imperialismus, Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus in Zusammenhang bringen.

Austeritätspolitik, Covid-19, Mietstreik, Kapitalismus, Wohnungslosigkeit, gegenseitige Hilfe, Prekarisierung

die Wohnungs­ kämpfe


MATTHIAS MARSCHIK

Die kleine

ANARCHIE an der Donau

Das Inundationsgebiet (1875–1987) Donau, Donauregulierung, Hochwasserschutz, Transdanubien, Vergnügungsort, Freizeit, Naherholungsgebiet, Informalität Eine sommerliche Sonntagsszene vom Überschwemmungsgebiet aus den 1930er Jahren. Man hatte Essen und Trinken eingepackt, saß am Ufer, schaute dem fließenden Wasser und den vorbeifahrenden Schiffen zu und kühlte sich, wenn es zu heiß wurde, kurz in den Fluten ab. Foto — Bezirksmuseum Floridsdorf

Überschwemmungs- oder Inundationsgebiet oder im Wienerischen einfach Donauwiese: Drei Begriffe für ein etwa zehn Quadratkilometer großes Brachland in zentraler Lage, das primär dem Hochwasserschutz diente, im kollektiven Gedächtnis der Wiener Bevölkerung aber aus einem ganz anderen Grund präsent blieb, nämlich als individuell nutzbares Naherholungsgebiet. Im Gegensatz zur nachfolgenden gartenplanerisch durchkonzipierten Donauinsel wies die Donauwiese einen nahezu anarchischen Nutzungscharakter auf. Matthias Marschik — Die kleine ANARCHIE an der Donau

55


Besprechungen Die Entgrenzung der Architektur Andre Krammer

Balkrishna Doshi, Wohnsiedlung Aranya, Indore, 1989; Foto — Iwan Baan 2018

Die aktuelle Ausstellung im Architekturzentrum Wien mit dem Titel Balkrishna Doshi – Architektur für den Menschen ist auf den ersten Blick eine traditionelle Personale und erscheint so von den zuletzt thematisch orientierten Zugängen im Architekturmuseum abzuweichen. Der Umstand, dass es sich um eine internationale Wanderausstellung handelt, ist spürbar: Die verschachtelte Schau erscheint im Ausstellungsraum des Az W etwas eingezwängt und insbesondere das zentrale Modell im Zentrum der Ausstellung wirkt in seiner Übergröße leicht deplatziert. Der indische Architekt Balkrishna Doshi, Jahrgang 1927, hat in der Nachkriegszeit in den Büros von Le Corbusier und Louis Kahn gearbeitet. Sein eigenes, mittlerweile viele Jahrzehnte umspannendes Werk ist stark von der Formensprache und Ideenwelt seiner Lehrmeister beeinflusst und geht doch über diese hinaus. Es ist gleichermaßen von der westlichen Moderne geprägt wie von lokalen und regionalen Bautraditionen der indischen Kultur-Landschaft, in der sie eingebettet sind. Eine originäre Offenheit der räumlichen und funk-

tionalen Konfigurationen zeichnet das architektonische Werk Doshis aus, für das er 2018 mit dem Pritzkerpreis ausgezeichnet wurde. Es überschreitet die Grenzen des traditionellen Funktionalismus. Die von Doshis Büro entworfenen Stadtquartiere, Wohnund Bildungsbauten zeichnet eine hohe Nutzungsoffenheit aus, die aus der traditionellen indischen Alltagskultur abgeleitet ist. Die Architektur versteht sich hier nicht mehr als übergeordnetes Ordnungsprinzip, sondern als Rahmenwerk, das viel­ fältige Nutzungsszenarios ermöglichen soll. Dabei ordnet sie sich einem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang unter. Lebenswirklichkeiten werden nicht als Hindernis verstanden. Doshis Arbeitsfelder beschränken sich nicht auf die eines traditionellen Architekten. Seine Bildungsbauten basieren auf einem von ihm mitentwickelten interdisziplinären Ausbildungskonzept. Die allumfassende Konzeption ist aber gleichzeitig immer als wandelbare, offene Struktur konzipiert. Das Leben der Menschen auf der gesellschaftlichen und kulturellen Ebene soll durch das räumliche Dispositiv nicht kontrolliert werden – es soll sich frei entfalten können. Architektur schreibt nichts Endgültiges fest, sondern soll auch das Unvorhersehbare ermöglichen. Manchen Entwürfen gingen vom Architekten erfundene Erzählungen und Mythen voraus, ein Narrativ wird angeboten, das aber durch den Gebrauch überschrieben werden darf und soll. Nachhaltiges Bauen so verstanden, zielt auch auf Wandelbarkeit ab. Räumliche, architektonische, ökonomische, ökologische und soziale Aspekte begegnen sich auf Augenhöhe. Der anvisierte Gemeinsinn der zukünftigen Bewohner*innen ist eine Utopie, die erst durch die Praxis des Bewohnens realisiert werden kann. Am Bau einer Wohnsiedlung für einkommensschwache Gruppen, die auch in der Schau zu sehen ist, waren die zukünfti-

gen Bewohner*innen beteiligt. Die Architekt*innen haben eine »main-structure« entworfen, die von den Bewohner*innen im Laufe der Zeit ihren Bedürfnissen gemäß erweitert und verändert werden darf – sie werden selbst zu Architekt*innen der »sub-structure«. Diese Form der Raumproduktion nimmt ein Spannungsverhältnis von Kontrolle und Kontrollverlust bewusst in Kauf. Auf technischer Ebene bedeutete das in diesem Fall eine Kombination aus Fertigbauweise und lokalen Handwerkstechniken, Tradition und Moderne. Doshis Landschaften lösen die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Projekt und benachbarter Siedlungsstruktur auf. Strategisch gesetzte Zwischenräume und Schwellen, räumliche Leerstellen erlauben Durchlässigkeit und eine Praxis der Aneignung durch die Bewohner*innen und Nutzer*innen. In der Ausstellung verweisen bewegte Bilder und Szenen, welche die digitalen wie analogen Pläne ergänzen, auf die Bedeutung des realen Gebrauchs. Doshis Gemälde, die der Tradition indischer Miniaturmalerei abgeleitet sind und seine Projekte auf eine abstrakte wie imaginäre Ebene heben, scheinen simultane Szenarien zu präsentieren und verweisen so auf einen zentralen Aspekt Doshis Architektur: Zeit spielt in ihrer Konzeption eine genauso wichtige Rolle wie Raum. — Ausstellung Balkrishna Doshi – Architektur für den Menschen Architekturzentrum Wien 29.05.2020 –29.06.2020 Kuratorin Khushnu Panthaki Hoof; Kuratorin Vitra Design Museum: Jolanthe Kugler

— Katalog Vitra Design Museum, Wüstenrot Stiftung, Jolanthe Kugler, Khushnu Panthaki Hoof (Hg.) Balkrishna Doshi – Architektur für den Menschen Vitra Design Museum, Weil am Rhein 2019 383 Seiten, 59,90 Euro

61


Mehr als Belanglosigkeiten Peter Payer

Er ist ein Augenöffner, stets wachsam und unermüdlich neugierig in allen urbanistischen Dingen. Vittorio Magnano Lampugnani, renommierter Architekturtheoretiker und -historiker, emeritierter Professor an der ETH Zürich, hat ein neues Buch geschrieben. Diesmal über jene zahlreichen Objekte, die den öffentlichen Raum prägen und uns vielfach so selbstverständlich geworden sind, dass wir sie nur selten wahrnehmen. Und auch nur selten daran denken, dass sie eine teils weit zurück­ reichende Geschichte haben. Diese wurde im historisch-urbanistischen Diskurs bislang sträflich vernachlässigt. Zwar gab es bereits ab den 1980er-Jahren in einzelnen Städten Versuche, die Genese ihrer jeweiligen Kleinarchitekturen auf­zu­ arbeiten, etwa in Berlin, Paris oder Zürich; und auch für Wien liegen mittlerweile einige Einzelstudien dazu vor, unter anderem – in aller Bescheidenheit sei dies angemerkt – vom Autor dieser Zeilen. Eine zusammenfassende Gesamtschau fehlte jedoch bislang. Diese Lücke wurde nun erstmals profund und kennerhaft geschlossen. Der Titel von Lampugnanis Buch ist natürlich kokett, eigentlich ein Oxymoron, aber er spannt recht gut den Bogen, in

62

den die Straßenmöbel wahrnehmungsund stadthistorisch einzubetten sind. Sie sollen auffallen, aber nicht zu viel, und einen funktionalen Beitrag zur Nutzung der Stadt leisten. Belanglos sind sie keinesfalls, wie wir gleich am Anfang des Buchs erfahren: »Die Mikroarchitekturen, Stadt­ einrichtungsgegenstände und Grund­ elemente sind nicht nur Dinge, die den Stadtraum ergänzen oder verstellen, verschönern oder verunstalten und seinen Charakter entscheidend mitbestimmen. Sie sind weitgehend autonome Gegenstände, die, sieht man genauer hin, eigene Geschichten haben und diese auch erzählen.« Und sie geben auch, wie Lampugnani betont, genauen Einblick in das Wesen jener Stadt, in der sie stehen. Seine Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die europäische Stadt, der Zeitraum spannt sich von der Antike bis heute. Mit Schwerpunkt allerdings auf das 19. Jahrhundert, als mit dem Aufstieg des Bürgertums und einem gewaltigen Urbanisierungsschub sich auch die Rolle des öffentlichen Raums neu definierte. Walter Benjamins bekanntes Diktum von der »Wohnung des Kollektivs« drückte dies treffend aus. Wie im privaten Bereich, galt es nun, die Straßen und Plätze neu einzurichten und jenen Erfordernissen anzupassen, die für die Menschen der modernen Metropolen relevant waren. Essen, trinken, informieren, ausruhen bis hin zum Notdurft verrichten, all diese Funktionen verlagerten sich zunehmend in die öffentliche Sphäre. Welche Objekte man dazu benötigte und bis heute benötigt, wie diese ausgestaltet sind und wie wir von ihnen gleichsam Handlungsanleitungen erfahren, ist Teil des europäischen Zivilisationsprozesses, der auch – aber natürlich nicht nur – ein Disziplinierungsprozess ist. Der Stadtraum wurde zur Bühne, inszeniert und ausgestattet mit Requisiten, und diese fungieren, so der Autor, als »Erkennungs­zeichen für die politische, ideologische, religiöse, soziale, hygienische, technische, ökonomische und kulturelle urbane Entwicklung.« Drei Kategorien werden in der Folge unterschieden: Mikroarchitekturen, Objekte und Elemente. Zu ersteren gehören etwa Kioske, Trinkhallen, Bedürfnisanstalten, Telefonzellen, Haltestellen oder Metroeingänge. Als Objekte werden sodann Denkmäler, Brunnen, Bänke, Licht-

dérive No 80 — PANDEMIE

masten, Uhren, Poller, Abfallkörbe, Litfaßsäulen, Ampeln sowie Straßen- und Hausnummernschilder behandelt. Und bei den Elementen geht es schließlich um Themen wie Schaufenster, Einfriedung, Bürgersteig, Bodenbelag inklusive Schachtdeckel. Eine überaus breite Palette also, die allein schon offenbart, wie sehr sich das urbane Leben im Lauf der Jahrhunderte differenzierte – und auch verkomplizierte. Zwar vermisst man manche Dinge, Briefkästen etwa, Personenwaagen, Warenausgabeautomaten bis hin zu Bankomaten oder auch die Fülle der Verkehrszeichen, Lampugnani bekennt sich aber zu einer bewusst subjektiven Auswahl, bei der es nicht nur um typisch und bedeutsam ging, sondern auch Neugier und Narrationspotential eine Rolle spielten. Sehr instruktiv ist, dass er sein Thema weit fasst und auch die Begrenzungsflächen des Raums mit einbezieht, mit denen die Objekte in intensiver Beziehung stehen. Den Boden und die Wände also, die Dermatologie der Stadt, die ja ihre eigentliche Materialität ausmacht und von entscheidender sinnlicher Wirkung auf die Stadtmenschen ist. Die konkret geschilderten Beispiele entstammen den damals wie heute führenden Metropolen, London, Paris, Berlin, Wien, Moskau oder Rom. Recht deutlich wird, wie sehr sie alle vor ähnlichen urbanistischen Anforderungen standen. Etwa auf dem Gebiet der Kommunikation, wo mit der 1855 erfundenen Litfaßsäule erstmals ein adäquates Massenmedium zur Verfügung stand, das sich von Berlin aus in ganz Europa verbreitete. Oder die bislang weitgehend unerforschte Geschichte der Metroeingänge, die mit Hector Guimards Entwürfen für Paris emblematisch und identitätsstiftend wurden, aber auch in anderen Städten bemerkenswerte Varianten zeitigten. Klar wird im Städtevergleich auch, wie hoch schon im 19. Jahrhundert die Städtekonkurrenz war, der Wettbewerb der Metropolen untereinander und ihre gegenseitigen, auch stilistischen Beeinflussungen. Der Know-how-Transfer auf diesem Gebiet war gewaltig, nicht zuletzt, weil diese kleinen Dinge zu jenen gehören, die den Besucher*innen als erstes ins Auge springen. Das Bild der Stadt also entscheidend (mit)prägen. Auch die Frage der Orientierung ist damit eng verbunden und wird am Beispiel der Stadtorganisation durch Straßenbe-


BACKISSUES

dérive Nr. 1 (01/2000) Schwerpunkte: Gürtelsanierung: Sicherheitsdiskurs, Konzept – und Umsetzungskritik, Transparenzbegriff; Institutionalisierter Rassismus am Beispiel der »Operation Spring« dérive Nr. 2 (02/2000) Schwerpunkte: Wohnsituation von MigrantInnen und Kritik des Integrationsbegriffes; Reclaim the Streets/ Politik und Straße dérive Nr. 3 (01/2001) Schwerpunkt: Spektaktelgesellschaft dérive Nr. 4 (02/2001) Schwerpunkte: Gentrification, Stadtökologie dérive Nr. 5 (03/2001) Sampler: Salzburger Speckgürtel, Museumsquartier, räumen und gendern, Kulturwissenschaften und Stadtforschung, Virtual Landscapes, Petrzalka, Juden/Jüdinnen in Bratislava dérive Nr. 6 (04/2001) Schwerpunkt: Argument Kultur dérive Nr. 7 (01/2002) Sampler: Ökonomie der Aufmerksamkeit, Plattenbauten, Feministische Stadtplanung, Manchester, Augarten/Hakoah dérive Nr. 8 (02/2002) Sampler: Trznica Arizona, Dresden, Ottakring, Tokio, Antwerpen, Graffiti dérive Nr. 9 (03/2002) Schwerpunkt in Kooperation mit dem Tanzquartier Wien: Wien umgehen dérive Nr. 10 (04/2002) Schwerpunkt: Produkt Wohnen dérive Nr. 11 (01/2003) Schwerpunkt: Adressierung dérive Nr. 12 (02/2003) Schwerpunkt: Angst dérive Nr. 13 (03/2003) Sampler: Nikepark, Mumbai, Radfahren, Belfast dérive Nr. 14 (04/2003) Schwerpunkt: Temporäre Nutzungen dérive Nr. 15 (01/2004) Schwerpunkt: Frauenöffentlichkeiten dérive Nr. 16 (02/2004) Sampler: Frankfurt am Arsch, Ghetto Realness, Hier entsteht, (Un)Sicherheit, Reverse Imagineering, Ein Ort des Gegen dérive Nr. 17 (03/2004) Schwerpunkt: Stadterneuerung dérive Nr. 18 (01/2005) Sampler: Elektronische Stadt, Erdgeschoßzonen, Kathmandu, Architektur in Bratislava dérive Nr. 19 (02/2005) Schwerpunkt: Wiederaufbau des Wiederaufbaus dérive Nr. 20 (03/2005) Schwerpunkt: Candidates and Hosts

Bestellungen via Bestellformular auf www.derive.at oder an bestellung(at)derive.at. Alle Inhaltsverzeichnisse und zahlreiche Texte sind auf der dérive-Website nachzulesen.

dérive Nr. 21/22 (01-02/2006) Schwerpunkt: Urbane Räume – öffentliche Kunst dérive Nr. 23 (03/2006) Schwerpunkt: Visuelle Identität dérive Nr. 24 (04/2006) Schwerpunkt: Sicherheit: Ideologie und Ware dérive Nr. 25 (05/2006) Schwerpunkt: Stadt mobil dérive Nr. 26 (01/2007) Sampler: Stadtaußenpolitik, Sofia, Frank Lloyd Wright, Banlieus, Kreative Milieus, Reflexionen der phantastischen Stadt, Spatial Practices as a Blueprint for Human Rights Violations dérive Nr. 27 (02/2007) Schwerpunkt: Stadt hören dérive Nr. 28 (03/2007) Sampler: Total Living Industry Tokyo, Neoliberale Technokratie und Stadtpolitik, Planung in der Stadtlandschaft, Entzivilisierung und Dämonisierung, Stadt-Beschreibung, Die Unversöhnten dérive Nr. 29 (04/2007) Schwerpunkt: Transformation der Produktion dérive Nr. 30 (01/2008) Schwerpunkt: Cinematic Cities – Stadt im Film dérive Nr. 31 (02/2008) Schwerpunkt: Gouvernementalität dérive Nr. 32 (03/2008) Schwerpunkt: Die Stadt als Stadion dérive Nr. 33 (04/2008) Sampler: Quito, Identität und Kultur des Neuen Kapitalismus, Pavillonprojekte, Hochschullehre, Altern, Pliensauvorstadt, Istanbul, privater Städtebau, Keller, James Ballard dérive Nr. 34 (01/2009) Schwerpunkt: Arbeit Leben dérive Nr. 35 (02/2009) Schwerpunkt: Stadt und Comic dérive Nr. 36 (03/2009) Schwerpunkt: Aufwertung dérive Nr. 37 (04/2009) Schwerpunkt: Urbanität durch Migration dérive Nr. 38 (01/2010) Schwerpunkt: Rekonstruktion und Dekonstruktion dérive Nr. 39 (02/2010) Schwerpunkt: Kunst und urbane Entwicklung dérive Nr. 40/41 (03+04/2010) Schwerpunkt: Understanding Stadtforschung dérive Nr. 42 (01/2011) Sampler dérive Nr. 43 (02/2011) Sampler dérive Nr. 44 (03/2011) Schwerpunkt: Urban Nightscapes dérive Nr. 45 (04/2011) Schwerpunkt: Urbane Vergnügungen dérive Nr. 46 (01/2012) Das Modell Wiener Wohnbau

dérive Nr. 47 (02/2012) Ex-Zentrische Normalität: Zwischenstädtische Lebensräume dérive Nr. 48 (03/2012) Stadt Klima Wandel dérive Nr. 49 (04/2012) Stadt selber machen dérive Nr. 50 (01/2013) Schwerpunkt Straße dérive Nr. 51 (02/2013) Schwerpunkt: Verstädterung der Arten dérive Nr. 52 (03/2013) Sampler dérive Nr. 53 (04/2013) Citopia Now dérive Nr. 54 (01/2014) Public Spaces. Resilience & Rhythm dérive Nr. 55 (02/2014) Scarcity: Austerity Urbanism dérive Nr. 56 (03/2014) Smart Cities dérive Nr. 57 (04/2014) Safe City dérive Nr. 58 (01/2015) Urbanes Labor Ruhr dérive Nr. 59 (02/2015) Sampler dérive Nr. 60 (03/2015) Schwerpunkt: Henri Levebvre und das Recht aus Stadt dérive Nr. 61 (04/2015) Perspektiven eines kooperativen Urbanismus dérive Nr. 62 (01/2016) Sampler dérive Nr. 63 (02/2016) Korridore der Mobilität dérive Nr. 64 (03/2016) Ausgrenzung, Stigmatisierung, Exotisierung dérive Nr. 65 (04/2016) Housing the many Stadt der Vielen dérive Nr. 66 (01/2017) Judentum und Urbanität dérive Nr. 67 (02/2017) Nahrungsraum Stadt dérive Nr. 68 (03/2017) Sampler dérive Nr. 69 (04/2017) Demokratie dérive Nr. 70 (01/2018) Detroit dérive Nr. 71 (02/2018) Bidonvilles & Bretteldörfer dérive Nr. 72 (03/2018) Warsaw dérive Nr. 73 (04/2018) Nachbarschaft dérive Nr. 74 (01/2019) Sampler dérive Nr. 75 (02/2019) Sampler dérive Nr. 76 (03/2019) Stadt – Land dérive Nr. 77 (04/2019) Wohnungsfrage dérive Nr. 78 (01/2020) Willkommen im Hotel dérive Nr. 79 (02/2020) Protest


» Common Spaces,  Hybrid Places « save the date

14.—18.10.20 Wien

www.urbanize.at

65


Das aktuelle Programm: www.filmcasino.at

STADT STREIFEN Architektur- & StadtfilmMatinee von Cinema dérive mit Filmgesprächen 13.09. Bikes vs. Cars 18.10. urbanize! »Gemeingut Raum« 15. 11. Planeta Petrila 13.12. Space Metropoliz Sonntags 13 Uhr im Filmcasino Margaretenstraße 78 1050 Wien Park Fiction, © Margit Czenki www.filmcasino.at

ENDLICH WIEDER KINO


Impressum dérive – Zeitschrift für Stadtforschung Medieninhaber, Verleger und Herausgeber: dérive – Verein für Stadtforschung Mayergasse 5/12, 1020 Wien Vorstand: Christoph Laimer, Elke Rauth ISSN 1608-8131 Offenlegung nach § 25 Mediengesetz Zweck des Vereines ist die Ermöglichung und Durchführung von Forschungen und wissenschaftlichen Tätigkeiten zu den Themen Stadt und Urbanität und allen damit zusammenhängenden Fragen. Besondere Berücksichtigung finden dabei inter- und transdisziplinäre Ansätze.

Autor*innen, Interviewpartner*innen und Künstler*innen dieser Ausgabe: Melissa Fernández Arrigoitia, Richard Bärnthaler, Ayona Datta, Frank Eckardt, Mara Ferreri, Barbara Holub, Andre Krammer, Sigrid Kroismayr, Christoph Laimer, Melissa García-Lamarca, Michele Lancione, Florian Lorenz, Matthias Marschik, Erin McElroy, Andreas Novy, Peter Payer, Leonhard Plank, Paul Rajakovics, Selma Selman, Felix Stalder, Rainer Stummer, Ana Vilenica Anzeigenleitung & Medienkooperationen: Helga Kusolitsch, anzeigen(at)derive.at Website: Artistic Bokeh, Simon Repp Grafische Konzeption & Gestaltung: Atelier Liska Wesle — Wien / Berlin Lithografie: Branko Bily Coverfoto: New York, 34th Street während des Lockdown; Paulo Silva Hersteller: Resch Druck, 1150 Wien

Grundlegende Richtung dérive – Zeitschrift für Stadtforschung versteht sich als interdisziplinäre Plattform zum Thema Stadtforschung. Redaktion Mayergasse 5/12, 1020 Wien Tel.: +43 (01) 946 35 21 E-Mail: mail(at)derive.at

Abonnement Standard: 28 Euro (inkl. Versandspesen Inland) Ermäßigt: 24 Euro (inkl. Versandspesen Inland) Förder- und Institutionenabo: 50 Euro Ausland jeweils plus 8 Euro Versandspesen

derive.at urbanize.at facebook.com/derivemagazin twitter.com/derivemagazin instagram.com/derive_urbanize vimeo.com/derivestadtforschung

Abonnements laufen ein Jahr (vier Hefte). Bestellungen an: bestellung(at)derive.at oder per Bestellformular auf www.derive.at

dérive – Radio für Stadtforschung Jeden 1. Dienstag im Monat von 17.30 bis 18 Uhr in Wien live auf ORANGE 94.0 oder als Webstream http://o94.at/live. Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235 Chefredaktion: Christoph Laimer Schwerpunktredaktion: Christoph Laimer Redaktion/Mitarbeit: Thomas Ballhausen, Andreas Fogarasi, Elisabeth Haid, Barbara Holub, Michael Klein, Andre Krammer, Silvester Kreil, Karin Lederer, Erik Meinharter, Sabina Prudic-Hartl, Paul Rajakovics, Elke Rauth, Manfred Russo

68

Kontoverbindung Empfänger: dérive — Verein für Stadtforschung Bank: Hypo Oberösterreich IBAN AT53 54000 0000 0418749, BIC OBLAAT2L

dérive No 80 — PANDEMIE

Wir danken für die Unterstützung: Bundeskanzleramt – Kunstsektion, MA 7 – Wissenschafts- und Forschungsförderung

Mitgliedschaften, Netzwerke: Eurozine – Verein zur Vernetzung von Kulturmedien, IG Kultur, INURA – International Network for Urban Research and Action, Recht auf Stadt – Wien. Die Veröffentlichung von Artikeln aus dérive ist nur mit Genehmigung des Herausgebers gestattet.


Zeitschrift für Stadtforschung

dérive

dérive

PANDEMIE ISSN 1608-8131 9 euro

dérive

Jul — Sept 2020

derive-No.80_Umschlag.indd 1

PANDEMIE

Covid-19, Lockdown, Flächengerechtigkeit, Alltagsökonomie, Infrastruktur, Austeritätspolitik, Raumtheorie, Solidarität, Segregation, Wohnen, Ciclovía, Donauwiese

No 80

N o 80

Richard Bärnthaler, Sigrid Kroismayr, Andreas Novy, Leonhard Plank und Alexandra Strickner, S. 06

dérive – Zeitschrift für Stadtforschung

»Covid-19 demaskiert die neoliberale Be­haup­ tung, es gäbe nur eine Ökonomie, nur einen großen, globalen Markt, als das, was sie wirklich ist: Eine Illusion.«

Jul — Sept 2020

02.07.20 19:11


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.