Okt — Dez 2017 No 69
Zeitschrift für Stadtforschung
dérive
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ISSN 1608-8131 8 euro
Editorial Sieht man sich einige der Themen der letzten urbanize! Festivals an – Stadt selber machen, Citopia Now oder Do it together – Perspektiven eines kooperativen Urbanismus –, lässt sich unschwer erahnen, dass uns ein demokratischeres Modell von Stadt als das existierende durchaus ein Anliegen ist. Darunter verstehen wir eine Stadt, in der die Bewohner aktive und gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen und keine passiven Konsumenten sind, die sich – je nach Ausstattung mit finanziellem, rechtlichem, kulturellem und sozialem Kapital – ihr Recht auf Stadt leisten können oder eben nicht. Dieses Jahr lautet der Titel von urbanize!, das von 6. bis 15. Oktober im Wiener Architekturzentrum stattfindet, DEMOCRACitY – Demokratie und Stadt, womit wir uns ein weiteres Mal mit Aspekten dieses für die Zukunft der urbanen Gesellschaft zentralen Themas auseinandersetzen. Das erste urbanize! Festival hat 2010 stattgefunden. Im Zeitraum von damals bis heute gab es die Occupy-Bewegung, den Arabischen Frühling, die Gezi Park-Proteste, die Proteste am Syntagma-Platz in Athen, die Regenschirm-Bewegung in Hongkong, die Platzbesetzungen der Indignados bzw. die 15M-Bewegung in Madrid, Barcelona etc., Proteste in vielen brasilianischen Städten und in jüngster Vergangenheit immer mehr Wahllisten von Initiativen, die sich als Teil einer munizipalistischen Bewegung sehen. Unsere wiederkehrende Auseinandersetzung mit der Thematik hat also durchaus Anknüpfungspunkte mit der alltäglichen Realität in den Städten weltweit und zeigt: We are not alone. Diese dérive-Ausgabe mit dem schlichten Titel Demokratie stellt sich traditionell dem Festivalthema und steuert einige Beiträge bei, deren Fokus sich mit den Stichwörtern Munizipalismus, Selbstverwaltung, Asamblea, Partizipation sowie Öffentlichkeit und Staat zusammenfassen lassen und im hauseigenen Einleitungsartikel umrissen werden. Den Beginn des thematischen Readers zum Festival macht Juan Subirats, einer der Gründer der BürgerInnen-Plattform Barcelona En Comú, die 2015 bei ihrem erstmaligen Antreten die Kommunalwahlen in Barcelona gewonnen hat und mit Ada Colau seither die Bürgermeisterin stellt. Er skizziert in seinem Artikel Beginnt der Wandel in den Städten? den neuen Munizipalismus als Antwort auf ein Europa der Austerität und der Abschottung und zeichnet die Entwicklung von Barcelona en Comú seit dem Einzug ins Rathaus nach. Einen Überblick über die im Entstehen begriffene internationale munizipalistische Bewegung von Valparaíso über Neapel bis Hongkong gibt Kate Shea Baird, die ebenfalls Aktivistin bei Barcelona en Comú ist. Ein interessierter Beobachter der Entwicklung in den spanischen Städten ist der Autor und Hamburger Recht auf Stadt-Aktivist Niels Boeing, den wir kurz nach den G20Protesten zum Interview trafen. Im Gespräch erzählt Boeing jedoch weniger von Robocops und der Stadt als einzigem Gefahrengebiet, sondern über den erfolgreichen Versuch in
St. Pauli Stadtteilversammlungen einzuführen und sie zu einem Raum der demokratischen Debatte zu machen. Thema des Interviews war natürlich auch Boeings letztes Buch VON WEGEN, dessen Untertitel Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft den Inhalt des Gesprächs gut zusammenfasst. Das demokratiepolitische Top-down-Angebot für Mitsprache in Fragen zur Stadtentwicklung und -planung lautet Partizipation. Über die Probleme, die damit verbunden sind, war in dérive zuletzt von Sarah Kumnig im Schwerpunktheft zum Nahrungsraum Stadt zu lesen. Diesmal berichtet Peter Leeb über die bewundernswert hartnäckige Stadtteilinitiative FRISCH, die seit fünf Jahren für mehr öffentlichen Freiraum auf dem Gelände der Schmelz in Wien kämpft. Für eine grundsätzliche Diskussion der Frage, was Demokratie heißt, sorgt in diesem Schwerpunkt Mark Purcell, der sich seit Jahren intensiv damit beschäftigt. Seine Antwort darauf ist ebenso klar, wie es seine Begründungen und Herleitungen sind. Demokratie heißt für Purcell, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und die individuellen Potenziale und Fähigkeiten nicht verkümmern zu lassen, indem man sie an eine übergeordnete Institution wie den Staat abgibt. Für seine Argumentation und etymologischen Thesen greift er auf staatspolitische Klassiker wie Thomas Hobbes oder John Locke ebenso zurück wie auf die Schriften von Aristoteles und Platon. Dieser historisch weite Blick in die Vergangenheit ist für die aktuelle Situation keineswegs unwichtig, haben doch heute wieder höchst aktuelle demokratische Einrichtungen wie die Stadtteilversammlung (siehe Barcelona) ihre Ursprünge in der Antike. Manfred Russos Serie Geschichte der Urbanität konfrontiert in der aktuellen Folge das Imaginäre bei Jacques Lacan mit Henri Lefebvres – so die Hypothese – analoger Dimension des espace vécu (erlebten Raums), »um daraus einige Erkenntnisse über die Rolle des Imaginären in Bezug auf Stadt und Raum ableiten zu können«. Peter Payer hat für den Magazinteil einen Nachruf auf die im Februar verstorbene Wiener Stadtforscherin Elisabeth Lichtenberger verfasst. Lichtenberger hat während ihrer wissenschaftlichen Karriere nicht nur zahlreiche Bücher und Artikel zu urbanen Themen verfasst hat, sondern zeichnet auch für die Gründung des Instituts für Stadt- und Regionalentwicklung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ebenso wie für den Studienzweig Raumforschung und Raumordnung am Institut für Geographie der Universität Wien verantwortlich. Der Titel des Kunstinserts von Gabriele Sturm lautet The Mismeasure of Paradise. Sturm legt – nicht nur mit dieser Arbeit – den Fokus dabei auf den Warentransfer und die De- und Neukontextualisierung seiner kulturellen und inhaltlichen Bedeutung. urbanize! DEMOCRACitY lädt mit zahlreichen internationalen Gästen von A wie City Plaza Athen bis zu Z wie Mehr als Wohnen Zürich ab 6. Oktober ins Festivalwohnzimmer im Wiener Architekturzentrum ein. Gemeinsam rufen wir dort 10 Tage vor der österreichischen Nationalratswahl die Place Internationale aus: Einen Ort der Solidarität und nicht der Angst. Christoph Laimer und Elke Rauth
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»Bei der
Stadtteilversammlung herrschte damals ein
Gefühl der Selbstermächtigung.« Niels Boeing im Interview auf S. 18 in dieser Ausgabe.
ANGEBOT: ABONNEMENT + BUCH* 8 Ausgaben (2 Jahre) dérive um 48,–/68,– Euro (Österr./Europa) inkl. ein Exemplar von: Situationistische Internationale Der Beginn einer Epoche Einleitung Roberto Ohrt Hamburg: Edition Nautilus 320 Seiten, ca. 20 Euro oder David Graeber Direkte Aktion Hamburg: Edition Nautilus 352 Seiten, ca. 28 Euro Diesmal stehen zwei Bücher der Edition Nautilus zur Auswahl. David Graebers Direkte Aktion ist eine »ethnografische Studie der Bewegung für globale Gerechtigkeit«. Der Beginn einer Epoche versammelt zentrale Texte der Situationistischen Internationale wie Die Theorie des Umherschweifens oder Formular für einen neuen Urbanismus. *Solange der Vorrat reicht!
dérive Zeitschrift für Stadtforschung
Bestellungen an: bestellung@derive.at David Graebers Buch versenden wir aufgrund der hohen Portokosten nur in Österreich.
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Inhalt 01 Editorial CHR ISTOPH L A IMER, ELK E R AUTH
04 — 06 DEMOKRATIE ≠ Demokratie CHR ISTOPH L A IMER, ELK E R AUTH
07 — 14 Beginnt der WANDEL in den STÄDTEN? JOA N SUBIR ATS
15 — 21 Beharrlich bleiben, mitmachen, WEITERMACHEN NIELS BOEING, CHR ISTOPH L A IMER, ELK E R AUTH
22 — 27 »Wir würden ja gerne, allerdings sind uns von Rechts wegen die HÄNDE GEBUNDEN.« PETER LEEB
28 — 31 Eine NEUE INTERNATIONALE MUNIZIPALISTISCHE Bewegung ist im Entstehen K ATE SHEA BA IR D
32 —36 Kunstinsert Gabriele Sturm The Mismeasure of Paradise
37 — 47 For Democracy: Planning and Publics WITHOUT THE STATE M A R K PURCELL
SERIE 48 — 51 Geschichte der Urbanität, Teil 53 Lefebvre. Die Produktion des Raumes IV Das IMAGINÄTE und das MONUMENTALE M A NFR ED RUSSO
52 — 53 ELISABETH LICHTENBERGER 1925–2017 Erinnerung an eine außergewöhnliche Stadtforscherin PETER PAYER
54 — 61 BESPRECHUNGEN Unterwegs mit Schildkröte und Kamera S.54 Wohnraum für Alle!? – Das Ringen um eine nicht-profitorientierte Wohnungsversorgung in Deutschland S.55 Von der Bildfläche S.57 Selbstgemacht und glücklich S.60 We can aim at more S.61 68 IMPRESSUM
– dérive – Radio für Stadtforschung Jeden 1. Dienstag im Monat von 17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0 oder als Webstream http://o94.at/live. Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235
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DEMOKRATIE ≠ Demokratie Christoph Laimer, Elke Rauth
»What is to be done, what we all must do together, is to engage in a collective struggle and perpetual struggle to democratize our society and to manage our affairs for ourselves.« Mark Purcell Wandel, Austerität, Demokratie, Barcelona, Asamblea, Städtenetzwerke, Kommunalwahlen
Stadtteilversammlung Barcelona, 2011 Foto (c) Julien Lagarde
Es ist nicht zu übersehen: Die Demokratie hat ein echtes Problem. Weit verbreitete Korruption, der überbordende Einfluss von globalen Unternehmen, partikulare Machtinteressen und Vetternwirtschaft, post-demokratische Strukturen, eine offensichtliche Unfähigkeit zum Dialog mit dem Souverän und das augenscheinliche Unvermögen der Nationalstaaten, den anstehenden Problemen dieser Welt in adäquater Weise zu begegnen, lassen immer mehr Menschen an der Funktionsfähigkeit der herrschenden politischen Klasse und damit auch der Demokratie an sich zweifeln. Jahrzehnte der Durchsetzung einer neoliberalen Agenda mit konsequentem Abbau von hart erkämpften sozialen Rechten und der vorsätzlichen Diskreditierung von grundlegenden Werten wie Gleichheit und Solidarität haben unsere Welt in ein schlingerndes Schiff mit ungewissem Kurs verwandelt.
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It’s the inequality, stupid! In den Städten sind diese Entwicklungen längst angekommen: Betongold trifft auf Wohnungsnot, Armut und Obdachlosigkeit; Angstpolitik und umfassende Sicherheitsregime im öffentlichen Raum auf Abbau von Freiheitsrechten und Verdrängung; massive Eigentumskonzentrationen auf das Aussortieren von immer mehr Menschen am Arbeitsmarkt. »Cities are the places where austerity bites« hat Jamie Peck vor einigen Jahren in dérive geschrieben – eine Analyse, die immer mehr Menschen betrifft. Die 99 % dieser Welt bekommen die frappierende Ungleichheit der neo-feudalistischen Verhältnisse unter einem von Gier getriebenen, neuen Geldadel in immer bedrohlicherer Weise im Alltag zu spüren. Was bringt uns also dazu, einen Schwerpunkt zum Thema Demokratie und Stadt zu veröffentlichen?
Demos und Kratos Während die abgehängten Klassen sich scheinbar in großen Zahlen von Angstdiskurs und rechtspopulistischen Milchmädchen-Rechnungen angezogen fühlen, was weltweit einen besorgniserregenden Aufstieg von neuen autokratischen Führerfiguren hervorbringt, wächst auch der Widerstand gegen Demokratie als hohle Phrase und die Forderung nach einer umfassenden Demokratisierung von Gesellschaft. Zentrum dieses Widerstandes sind die Städte. Doch welches Potenzial birgt das Konzept Demokratie über den bekannten Status Quo hinaus? Ein möglicher Ansatz verbirgt sich in einer etymologischen Spurensuche: Die gängigste und einfachste Übersetzung von Demokratie ist Volksherrschaft. Sie ist grundsätzlich nicht falsch, meist fällt aber unter den Tisch, dass demos keinesfalls im völkischen bzw. ethnischen Sinne zu verstehen ist. Dafür verwendeten die Griechen den Begriff ethnos. Demokratie steht also keineswegs für ethnische Ausgrenzung zur Verfügung, wie es die von der wahren Volksherrschaft träumenden Wir-sinddas-Volk-Fraktionen verlangen. In seinem Beitrag For Democracy: Planning and Publics without the State setzt sich Mark Purcell näher mit der Begriffsdeutung von Demokratie auseinander. Das Ergebnis seiner demokratietheoretischen und etymologischen Analyse: Demokratie bedeutet im Kern, dass Menschen ihr angeborenes Potenzial, ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten, so frei als nur möglich nutzen können sollen. Purcell interpretiert kratos (dt. Macht, Stärke) nicht als Macht über oder Herrschaft über, sondern als die Macht oder das Vermögen zu etwas, also als Fähigkeit Dinge zu bewegen, Entscheidungen zu fällen, Probleme zu meistern. So wie in der attischen Demokratie die Bürger der Polis ihre Angelegenheiten in Versammlungen selbst regelten, fordert Purcell dazu auf, uns die Macht wieder zu eigen zu machen, die wir in der repräsentativen Demokratie an den Staat abgegeben haben, und das jedem Menschen innewohnende Potenzial zu nutzen. Dass diese natürlichen Fähigkeiten bei den meisten heute eher verkümmert scheinen und wir als Gesellschaft erst wieder lernen müssen, sie zu entdecken, ist offensichtlich. Change begins in the city Die Lust dazu ist in den letzten Jahren auf jeden Fall spürbar im Steigen begriffen. Das beginnt bei Community-Gärten, Fab-Labs oder selbstorganisierten Hausprojekten und reicht bis zu Bestrebungen der politischen Selbstverwaltung, wie wir sie derzeit beispielsweise bei der kurdischen Bevölkerung in Rojava und in zahlreichen Städten weltweit beobachten können. Ähnlich wie David Graeber von »elementarem Kommunismus« spricht, unter dem er vorrangig alltägliche gegenseitige Hilfe versteht, ohne die keine Gesellschaft funktionieren kann, deutet Purcell auf zahlreiche bereits bestehende Initiativen und Aktionen hin, die heute als Möglichkeitsfenster in eine andere Gesellschaft den Weg in Richtung einer umfassenderen Demokratie weisen. Für Purcell ist Demokratie kein Stadium, das irgendwann in seiner höchsten Vollendung erreicht werden kann, sondern ein Horizont auf den man sich asymptotisch zubewegt. Dabei tauchen frühe demokratische Werkzeuge wie etwa die offene Versammlung immer wieder auf, was ihre Wichtigkeit für
die demokratische Gesellschaft unterstreicht. Am eindrucksvollsten passiert das derzeit in Städten wie Barcelona, wo die Stadtteilversammlung (Asamblea) eine wichtige Rolle in der Stadtpolitik spielt. Dass diese Form der unmittelbaren demokratischen Auseinandersetzung derzeit für intensives Nachdenken sorgt, beweist auch die im Oktober erscheinende neue Publikation von Hardt/Negri unter dem Titel Assembly. Die Occupy-Bewegung und die weltweiten Platzbesetzungen der letzten Jahre mögen von vielen als nicht erfolgreich betrachtet worden sein, aber sie haben gemeinsam mit erfolgreichen kommunalen Experimenten wie etwa in Porto Alegre Prozesse in Gang gesetzt und umfassende Lernerfahrungen ermöglicht. In Summe bilden sämtliche Bestrebungen der Selbstorganisation fruchtbare Keime einer sich noch unscharf abzeichnenden, aber durchaus hoffnungsvollen neuen munizipalistischen Bewegung. In Spanien haben sich die Indignados des spanischen Movimiento 15-M von 2011 zahlreich in Initiativen organisiert und sind bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2015 als Bewegungs-Plattformen angetreten. Im Gegensatz zu populistischen Top-down-Bewegungen, die alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen, sind sie tatsächlich bottom-up entstanden. Mit ihren Programmen für echten gesellschaftlichen Wandel, gegen Korruption und soziale Ungleichheit und für eine offene, solidarische Gesellschaft haben sie in einer Vielzahl von spanischen Städten aus dem Stand den Wahlsieg davongetragen. Sie regieren mit Ahora Madrid und seiner neuen Bürgermeisterin Carmen Carmela sowohl das politische als auch mit Barcelona en Comú (BComú) und der PAH-Aktivistin1 Ada Colau das ökonomische Zentrum Spaniens und arbeiten intensiv an einer Öffnung der politischen Institutionen und der Entwicklung von neuen demokratischen Werkzeugen zur Verbindung der Ebene von Nachbarschaft und Stadtteilversammlung mit der institutionellen Stadtpolitik. Radical Cities Wie kann also eine Demokratie aussehen, die nicht in der weit verbreiteten Form der repräsentativen Demokratie erstarrt? Murray Bookchin, der 2006 verstorbene Begründer eines libertären Kommunalismus, dessen Ideen heute von zahlreichen politischen Gruppen wieder aufgegriffen werden, verfolgt in seinem Buch Die Agonie der Stadt (1996) die These, dass eine lebendige Demokratie nur dann möglich ist, wenn Menschen auf lokaler Ebene miteinander über ihre Anliegen von
Frank Eckardt — TRUMP on Main Street
1 PAH – Plataforma de Afectados por la Hipoteca ist eine spanienweite, selbstorganisierte Plattform gegen Zwangsräumungen und für das Recht auf Wohnen, die mit Hilfe von direkten Aktionen große Erfolge gegen die Räumungsklagen der Banken als Folge der Immobilienkrise erreicht hat. Ada Colau, die derzeitige Bürgermeisterin von Barcelona, war eine der führenden AktivistInnen der PAH.
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Angesicht zu Angesicht diskutieren und diesen Prozess nicht an BerufspolitikerInnen delegieren. Er spricht sich für eine Entprofessionalisierung von Politik aus, weist aber stets darauf hin, dass diejenigen die sich in einer Versammlung auf Maßnahmen einigen, nicht zwangsläufig die sein müssen, die sie auch umsetzen. Auch der Idee der Städtebünde hat Bookchin viel Aufmerksamkeit gewidmet und mit zahlreichen Beispielen von der Antike übers Mittelalter bis in die Gegenwart ihr Potenzial für eine demokratischere Gesellschaft belegt. Heute spielen Städtenetzwerke auf vielen Ebenen (wieder) eine wichtige Rolle und man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass sich ihre Bedeutung in Zukunft weiter erhöhen wird. Städte sind mit den Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen tagtäglich und direkt konfrontiert und können sich nicht in nationalstaatlichen Realitätsverweigerungen und Inszenierungen ergehen, zumindest dann nicht, wenn sie als lebendige und lebenswerte Orte für alle erhalten bleiben wollen. Benjamin Barber hat mit seinem 2013 erschienenen Buch If Mayors Ruled the World: Dysfunctional Nations, Rising Cities diese Entwicklung auf den Punkt gebracht. Bookchins libertärer Kommunalismus hat sich zwar als Begriff nicht wirklich durchgesetzt, in der aktuellen munizipalistischen Bewegung stoßen jedoch viele seiner Ideen auf großes Interesse. Der Begriff des Munizipalismus geht dabei historisch auf eine Bewegung während der Römischen Republik des 18. Jahrhunderts zurück, in der einige Kommunen sich in Gänze vom neuen Staat loszusagen versuchten, mit den Werten Selbstbestimmung und Autonomie als Kern der Idee. Juan Subirats, einer der Gründer von Barcelona en Comú, beschreibt in seinem Beitrag in dieser Ausgabe die Entwicklung der munizipalistischen Bewegung im heutigen Spanien und die Werte und Ziele, die in den lokal organisierten Wahlkämpfen im Vordergrund standen: Die Wiederaneignung der Institutionen im Sinne der BürgerInnen, die Bekämpfung von sozialer Not und der Zunahme von Ungleichheit, eine direkte Einbeziehung der BürgerInnen in öffentliche Entscheidungsprozesse und das Wiedererlangen einer ethischen, moralischen, politischen Perspektive nach Jahren der Korruption und privaten Bereicherung an den öffentlichen Institutionen. Lessons to learn So spannend und hoffnungsvoll sich das Projekt der munizipalistischen Bewegung darstellt, so stellt sich doch die Frage, ob und wie es langfristig möglich ist, die vorhandenen Strukturen der Stadtpolitik und Kommunalverwaltung so zu nutzen, dass am Ende des Tages nicht doch automatisch wieder nur eine repräsentative Demokratie übrig bleibt. Auch der Hamburger Autor und Stadtaktivist Niels Boeing weist im Interview in dieser Ausgabe darauf hin, dass sich die Strukturen der Verwaltung mitsamt ihrer Beamtenschaft in der Vergangenheit immer wieder als starke, bewahrende Kräfte erwiesen haben, die über viel Wissen und Erfahrung und damit über eine nicht zu unterschätzende Macht verfügen, mit der bei allen Ansätzen eines grundlegenden Wandels gerechnet werden muss. Barcelona en Comú arbeitet jedenfalls hart daran, die Institution der Asambleas (Stadtteilversammlungen) als den Ort zu institutionalisieren, an dem von der Bevölkerung Themen
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aufgeworfen und Fragen diskutiert werden, deren Antworten schließlich von Politik und Verwaltung aufgegriffen und umgesetzt werden. Können die komplexen Probleme der urbanen Gesellschaft mit solchen Modellen tatsächlich gelöst werden? Ist es also möglich an Demokratie als Projekt einer aktiven Selbstermächtigung zu arbeiten, anstatt sie nur passiv zu konsumieren? Die Fragen sind berechtigt, kommen allerdings zu früh, um sie ernsthaft und umfassend beantworten zu können. Der harte Pragmatismus (Kate Shea Baird) des neuen Munizipalismus ist es auf jeden Fall wert, einen genauen Blick darauf zu werfen und die Entwicklung zu verfolgen. Dass Barcelona en Comú es tatsächlich ernst meint, zeigen Bertie Russell, vom Urban Institute der Universität von Sheffield, und Oscar Reyes, der am Institute for Policy Studies forscht und in Barcelona lebt, in ihrer Analyse2 20 Monate nach der Wahl: Ada Colaus Credo Feminizing Politics setzt auf einen komplett anderen Politikstil, der Zweifel und Widersprüche offen thematisiert und gleichzeitig die Rolle der Gemeinschaft und des Gemeinwohls bei der Lösungsfindung stärkt. Im Mittelpunkt aller Bestrebungen steht eine Politik der Commons, der Vergesellschaftung von lebensnotwendigen Infrastrukturen und gemeinsamen Entwicklung von Stadt. Sein Wahlprogramm entwickelte BComú auf Stadtteilversammlungen in lokalen Nachbarschaften und durch technische Online-Werkzeuge gemeinsam mit tausenden Menschen. Die größten Gewinne hat BComú in den ärmsten Nachbarschaften erzielt. Nach dem Wahlsieg installierte die Plattform einen Notfalls-Plan mit Maßnahmen gegen Zwangsräumungen, Strafen für Banken, die ihren Immobilienbesitz leer stehen lassen, und Subventionierung von Transport- und Energiekosten für Arbeitslose und MindesteinkommensbezieherInnen. Statt rassistischer und xenophober Angst- und Sündenbockpolitik werden von BComú die wahren Gründe thematisiert, warum immer mehr Menschen immer weniger zum Überleben haben, und Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lage gesetzt. Soziale Stadtteilprojekte werden aus einem Fonds unterstützt, den die Abgeordneten von Barcelona en Comú durch eine selbst auferlegte Gehaltsbeschränkung von 2200 Euro speisen. Bei aller Lokalität verliert die Plattform den globalen Rahmen aber nicht aus den Augen: BComú vernetzt weltweit Städte und hat ein Komitee gegründet, um die gemachten Erfahrungen international zu diskutieren und zu teilen. All diese Ansätze verfolgen nicht einfach eine klassische sozialistische Politik, im Glauben, die besten Lösungen für das Wahlvolk zu haben. Barcelona en Comú glaubt ganz im Sinne des Stadt selber Machens daran, dass Menschen ihre Angelegenheiten gemeinsam und selbstorganisiert am besten regeln können, und verbindet Alltags- und ExpertInnen-Wissen, um Lösungen für die tatsächlichen Probleme der Menschen zu entwickeln.
2 www.opendemocracy.net/ can-europe-make-it/oscarreyes-bertie-russell/eightlessons-from-barcelona-encom-on-how-to-take-bac
Beginnt der WANDEL Joan Subirats
Der neue Munizipalismus als Gegenbeispiel zum Europa der Austerität und den sich abschottenden Staaten
Stadtteilversammlung in Barcelona mit Bürgermeisterin Ada Colau, Februar 2017 Alle Fotos (c) Barcelona en Comú
Joan Subirats — Beginnt der WANDEL in den STÄDTEN?
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Munizipalismus, Kommunalwahlen, Austerität, Solidarität, Barcelona, Pragmatismus, Städtenetzwerk, Finanzspekulation
in den STÄDTEN?
Beharrlich
Interview: Niels Boeing, Christoph Laimer, Elke Rauth
WEITERMACHEN Gespräch über die Notwendigkeit einer Demokratisierung der Stadt
»Wie soll das urbane Zusammenleben der Zukunft organisiert sein? Wie können wir erreichen, dass alle Menschen, die in unserer Stadt leben, die selben Möglichkeiten und Rechte haben?« Fragen, die im Arrivati Park während der G20-Proteste in Hamburg diskutiert wurden. Foto (c) Rasande Tyskar
»Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft« lautet der Untertitel von Niels Boeings Buch VON WEGEN, das 2015 in der Edition Nautilus erschienen ist. Diese Überlegungen drehen sich immer wieder um die Notwendigkeit einer Demokratisierung der urbanen Gesellschaft, weshalb wir Niels Boeing zu einem Gespräch für dieses Schwerpunktheft eingeladen haben. Darin geht es sowohl um die ganz konkreten Erfahrungen, die Niels Boeing in den letzten Jahren in St. Pauli/Hamburg gemeinsam mit der Recht auf Stadt-Bewegung und ihren Aktivitäten gemacht hat, als auch um Gedanken über Modelle einer Versammlungsdemokratie, dem Potenzial von Commons oder den Freuden der Selbstorganisation. Niels Boeing ist Autor, Journalist und aktiv im Hamburger Recht auf Stadt-Netzwerk sowie in mehreren urbanen Initiativen wie z.B. dem Fabulous St. Pauli oder Wohl oder Übel. Das Gespräch führten Elke Rauth und Christoph Laimer. Niels Boeing, Christoph Laimer, Elke Rauth — Beharrlich bleiben, mitmachen, WEITERMACHEN
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Selbstverwaltung, Commons, Recht auf Stadt, Demokratie, Stadtteilversammlungen, St. Pauli/Hamburg
bleiben, mitmachen,
»Wir würden Peter Leeb
sind uns von Rechts
wegen die HÄNDE GEBUNDEN.« Erfahrungen aus 5 Jahren Stadtteilarbeit der Freirauminitiative FRISCH
Ein Spielplatz und der ASKÖ-Sportplatz auf der Schmelz, Wien Alle Fotos (c) FRISCH
Partizipationsprozesse gehören zum stadtpolitischen Standardrepertoire. Die Kritik an diesen Prozessen ist ebenso groß wie in den meisten Fällen berechtigt, dienen sie doch oft zu nichts anderem als Top-down-Politik zu behübschen. Die selbstorganisierte Freirauminitiative FRISCH versucht seit fünf Jahren auf dem 30 ha großen Gelände der Schmelz in Wien zu erreichen, dass der Nachbarschaft mehr Raum zur Verfügung gestellt wird. Darüber wie es ihr mit diesem Bottom-up-Anliegen seither ergangen ist, schreibt Peter Leeb, einer der Aktivisten von FRISCH, im folgenden Beitrag.
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Partizipation, Freiraum, Bürokratie, Stadtteilarbeit, Nachbarschaft, Wien
ja gerne, allerdings
Eine NEUE Kate Shea Baird
MUNIZIPALISTISCHE Bewegung ist im Entstehen Von kleinen Erfolgen zu einer globalen Alternative
Protestkundgebung von Nuit Debout, am 10. April 2016 in Paris Foto: (c) Olivier Ortelpa
In einer Welt, die zwischen neoliberaler Krise und Autoritarismus feststeckt, beweist eine neubelebte munizipalistische Bewegung, dass sie ein starkes Werkzeug ist, um emanzipatorische Alternativen von Grund auf zu gestalten. Von 9.-11. Juni 2017 haben sich BürgermeisterInnen, StadträtInnen und AktivistInnen aus über 40 Länder zur internationalen, munizipalistischen Fearless-Cities-Konferenz in Barcelona getroffen. Die Veranstaltung brachte erstmals ein Netzwerk munizipalistischer Plattformen zusammen, das sich im Laufe der letzten Jahre, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen, rund um die Welt ausgebreitet hat.
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Munizipalismus, Demokratie, Lokalpolitik, Barcelona, Solidarität, Pragmatismus
INTERNATIONALE
Kate Shea Baird — Eine NEUE INTERNATIONALE MUNIZIPALISTISCHE Bewegung ist im Entstehen
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Kunstinsert: Gabriele Sturm The Mismeasure of Paradise
Für the taste of paradise – von einem Ende der Handelskette zum anderen ist Gabriele Sturm im wahrsten Sinne des Wortes bis an das andere Ende der Welt gelangt: In Bremen entdeckte die Künstlerin in einer Vitrine im Überseemuseum einen Paradiesvogel, der sie an die Hutfedern älterer Damen in ihrer Kindheit erinnert hatte. Gabriele Sturm beginnt eine intensive Recherche der (deutschen) Kolonialzeit auf Papua-Neuguinea und den daraus resultierenden Handelsbeziehungen zu Deutschland und Österreich. Während sie die intensive Spurensuche startet, sendet sie eine dieser Federn nach Papua-Neuguinea zurück, die sie dann in die entlegensten Dörfer Papua-Neuguineas verfolgt. Im Laufe ihrer Recherchen findet sie weitere Stränge, die symptomatisch für das immer noch koloniale und ressourcenverachtende Handeln unserer Gesellschaft stehen. Den Fokus legte sie dabei auf den Warentransfer und die De- und Neukontextualisierung der kulturellen und inhaltlichen Bedeutung. Gabriele Sturm recherchiert und verknüpft in ihren Arbeiten unterschiedliche zeitliche und räumliche Ebenen, wobei sie sich nie mit einfachen Antworten zufrieden gibt. Vielmehr stellt sie diese dann in aktuelle politische und wirtschaftliche Zusammenhänge, wie hier die heutigen Handelsbeziehungen zwischen der EU und Papua-Neuguinea, die u.a. vom flächendeckenden Thunfischfang vor den Küsten Papua-Neuguineas und der Ausbeutung des tropischen Regenwaldes geprägt sind. Diese konsequente künstlerische und politische Herangehensweise ist auch typisch für andere Projekte von Gabriele Sturm, in denen sie den Mikrokosmos der jeweiligen Umwelt mit dem Makrokosmos der globalen Zusammenhänge verbindet. So verfolgte sie persönlich bei Wie weit ist weit? (2006/07) Tomaten mit einem LKW-Transport aus der Südtürkei bis zum Großgrünmarkt von Wien Inzersdorf. Während dieser Zeit erhielt die Neue Galerie Graz von der Künstlerin regelmäßig SMS für die Ausstellung Un/fair Trade mit den genauen Positionen und Bedingungen der von ihr begleiteten 20 Tonnen Tomaten. Ob nun eine Feder, eine Tomatenverpackung oder Wetterveränderungen – ihre Projekte sind geprägt von präzisen Fragestellungen, die sich an Gegenständen oder Situationen entzünden. Aus den performativen Projekten entstehen unterschiedliche künstlerische Artefakte, die sich zu einem Geflecht aus Installationen, filmischen Arbeiten, Objekten – bzw. wie für dérive aus Fotos und Collagen – verdichten (auch wenn die Mittelseite hier nicht in paradiesfarbener Pracht erstrahlt). Derzeit arbeitet Gabriele Sturm an einer von ihr gegründeten Handelsplattform am Nordwestbahnhof im Rahmen von Stadt in Bewegung – zum Abschied eines Logistik-Areals, kuratiert von Tracing Spaces, bis Anfang November 2017. Weitere neue Arbeiten werden in der Ausstellung Urgent Perspektives #1, kuratiert von Barbara Holub im Projektraum Viktor Bucher von 9.11–11.11.2017 zu sehen sein (www.gabrielesturm.net). Paul Rajakovics
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Abbildungen Seite 33: 1 Paradiesvogelfeder aus einem Hutnachlass, Wien, 2009 2 & 3 Vogelpräparate, Archiv des Naturhistorischen Museums, 2009 Doppelseite: The Taste of Paradise, 2014, De-Collage, 220 x 130 cm, 2009/2014 (Collage mit Abbildung der Paradiesvögel aus dem Standardwerk der Naturgeschichte der Tiere von Jan Jonston (1650/53) und zwei historischen Weltkarten von 1895 Fotoarbeiten Seite 36: 1 Politische Demonstration in Port Moresby, 2012 2 Thunfisch verarbeitende Fischfabrik in Wewak, 2012
For Democracy: Mark Purcell
Planning and Publics Staat, Öffentlichkeit, Selbstverwaltung, Demokratie, Elementarer Kommunismus
WITHOUT THE STATE
Versammlung am Plaza Jacinto Benavente in Madrid im Zuge der M15 Proteste, August 2011 Foto (c) Jisakiel
This article argues that planning should develop a robust conception of »publics without the State.« We should do so because the State is a necessarily oligarchical arrangement that prevents us from achieving real democracy. We should explore publics without the State in both theory and practice.
Mark Purcell — For Democracy: Planning and Publics WITHOUT THE STATE
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Manfred Russo
Geschichte der URBANITÄT, Teil 53
Teil 9
Die PRODUKTION des Raumes IV: Das IMAGINÄRE und das MONUMENTALE Serie
Lacans Spuren bei Lefebvre Lefebvre hat in seiner großen Geste der Einverleibung von Literatur zum Raum auch psychoanalytische AutorInnen berücksichtigt. Neben Sigmund Freud wird auch sein Zeitgenosse Jacques Lacan gelegentlich erwähnt und es werden vage Bezüge zu dessen Theorie des Spiegelstadiums vorgelegt. Lefebvres Vorliebe zum Begriff der Spiegelung durchzieht sein Werk, insbesondere auch die Produktion des Raumes, ohne allerdings eine klare Präferenz für eine bestimmte Theorie erkennen zu lassen, wenn man von der Prämisse der marxistischen Widerspiegelungstheorie absieht, die von einer Reflexion der Welt in den Köpfen der Menschen ausgeht. Auch Lacans Ansatz korreliert mit der materialistischen Theorie, wenngleich auf eine komplexere Art der Beweisführung. Ein in diesem Zusammenhang besonders interessanter Hinweis zum Einfluss Lacans erfolgte durch den Vergleich der drei Formanten Lefebvres mit dem Borromäischen Knoten bei Lacan, einem Formprinzip der christlichen Trinitätslehre, das er als Darstellung für die Topologie seiner Lehre verwendete. Drei Ringe sind so angeordnet, dass ein Ring die beiden anderen, die nicht miteinander verbunden sind, verknüpft. Wenn ein Ring herausgelöst wird, so sind auch die beiden anderen frei. Es handelt sich bei den Ringen um das Imaginäre, das Symbolische und das Reale. Diese drei zentralen Elemente bei Lacan könnten, so ein kurzer Hinweis von Walter Prigge, der von Christian Schmid (2005, S. 242) weitergegeben wird, den drei Formanten bei Lefebvre entsprechen. Die Repräsentationen des Raumes (L’espace conçu, der konzipierte Raum) entsprechen demnach dem Begriff des Symbolischen bei Lacan. Die Räume der Repräsentation (L’espace vécu, repräsentierende Räume, gelebter
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Raum) entsprechen dem des Imaginären. Die räumliche Praxis (L’espace perçu, der wahrgenommene Raum) entspricht dem Realen. Mit dieser Analogiedarstellung erschöpft sich allerdings der Hinweis, daher wagen wir in einem Versuch eine Interpretation der Dimension des Lacan’schen Imaginären, wie sie in der Produktion des Raumes zumindest in Spuren vorhanden ist. Das Imaginäre bei Lacan Das Imaginäre ist die Schlüsseldimension bei Lacan, weil sie den Kern der Theorie bildet, die er in seinem Aufsatz über das Spiegelstadium veröffentlicht hat (siehe dazu auch Folge 43 in dérive 55) Wir wollen diese mit Lefebvres analoger Dimension des espace vécu – so die Hypothese – konfrontieren, um daraus einige Erkenntnisse über die Rolle des Imaginären in Bezug auf Stadt und Raum ableiten zu können. Zunächst zu Lacan: Menschliche Selbstfindung ist durch Narzissmus geprägt, durch ein mit sich selbst Eins-sein- Wollen, das von einem unerreichbaren Ideal angeleitet wird, das nicht erreicht werden kann. Der Ursprung dieses Dramas findet sich im Spiegelstadium. Der Spiegel bildet nach Lacan nichts Vorhandenes ab, sondern bewirkt eine Spaltung des Ich, in ein moi und ein je. Durch das Spiegelbild wird eine Verwandlung ausgelöst, indem sich das Kleinkind mit seinem imaginären Repräsentanten – also mit einem Anderen – identifiziert. Das kleine Wesen kommt im Spiegelbild zu sich und verfehlt sich zugleich, weil es sich mit einem Ideal-Ich durch jubilatorische Aufnahme1 gleichsetzt. Damit wird die Instanz des moi hervorgebracht, das sich durch den Höchstanspruch an sich definiert, der aber zugleich niemals erreicht werden kann. Dem zweiten Ich, dem je, obliegt die schwierige Aufgabe die Nichtübereinstimmung mit der
Spiegelstadium, Gesellschaftliche Kohäsion, der Andere, Lacan, Monument, Imaginäre
Henri Lefebvre
Peter Payer
ELISABETH
LICHTENBERGER 1925–2017
Erinnerung an eine
außergewöhnliche Stadtforscherin Von der Öffentlichkeit viel zu unbemerkt ist im letzten Spätwinter die Wiener Stadtforscherin Elisabeth Lichtenberger gestorben. Von den 1970er Jahren an hat sie – wie wohl wenig andere in Österreich – für mehr als drei Jahrzehnte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Stadt geprägt, dafür nationale und internationale Anerkennung und zahlreiche hohe Auszeichnungen erhalten. Es soll hier nicht der Raum sein, Lichtenbergers akademischen Werdegang und ihre umfangreichen Arbeiten, die sich in zwanzig Monografien und über 230 wissenschaftlichen Artikeln niederschlugen, detailliert nachzuzeichnen (auf den Webseiten der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gibt es dazu ausführliche Informationen inklusive benutzerfreundlicher Download-Links), vielmehr seien einige persönliche Anmerkungen gestattet. Als ehemaliger Student von ihr hatte sie meinen beruflichen Weg mitverfolgt und so durfte ich sie in ihren letzten Lebensjahren auch privat kennenlernen. Die unglaubliche Vielseitigkeit ihrer Forschungen, verbunden mit ihrem enormen Arbeitspensum, war mir erst im Lauf der Jahre bewusst geworden. Und dabei meine ich gar nicht ihre intensive Beschäftigung mit Fragen der Physischen Geographie oder Hochgebirgsforschung, sondern allein den engeren Themenkreis der Stadtforschung. Im Jahr 1980 begann ich am Institut für Geographie der Universität Wien Raumforschung und Raumordnung zu studieren, ein Studienzweig, der erst acht Jahre zuvor von Elisabeth Lichtenberger, mit Antritt ihrer ordentlichen Professur, gegründet worden war. Überzeugend legte sie dar, dass sich all unsere Aktivitäten immer und überall im Raum abspielen, räumliche
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Aspekte somit in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken seien und zwar – im Unterschied zu dem an der TU Wien gelehrten Studienzweig Raumplanung – nicht nur in planerischtechnischer Hinsicht, sondern in Form einer breiten sozialund kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung. Lichtenberger selbst war dafür das beste Vorbild, hatte sie doch Geographie, Geologie, Biologie, Geschichte und Wirtschaftswissenschaften studiert. Mit professoraler Autorität und – es sei nicht verschwiegen – Strenge führte sie uns ein in die komplexe Welt des Städtischen, die von den vielfältigsten Nutzungsansprüchen geprägt sei. Und dies auch in der Vergangenheit stets war, wie wir auf zahlreichen Exkursionen durch Wien hautnah und vor Ort vermittelt bekamen. Diese selbstverständliche Verknüpfung der historischen Dimension mit der aktuellen Stadtentwicklung war es dann auch, die mich besonders beeindruckte. Im mondänen Innenstadtpalais, in den Zinshäusern der ehemaligen Vorstädte, im Weichbild von Simmering, stets wusste Elisabeth Lichtenberger Interessantes über die Genese und Struktur des jeweiligen Ortes zu berichten und mit Anschauungsobjekten instruktiv zu verknüpfen. Stadtforschung, die empirisch fundiert war und nicht nur am Schreibtisch stattfand – das war spannend und ansteckend. Allmählich lernte ich ihre zahlreichen Bücher kennen, die sie bereits damals zur Stadtgeschichte von Wien verfasst hatte: Wien. Bauliche Gestalt und Entwicklung (gem. mit Hans Bobek, 1966), Wirtschafts- und Sozialstruktur der Wiener Ringstraße (1970), Die Wiener Altstadt (1977), Stadtgeographischer Führer (1978). Allesamt zu Standardwerken geworden, wobei letzteres noch heute ein wertvolles Vademecum für Wienexpeditionen darstellt.
Besprechungen Unterwegs mit Schildkröte und Kamera Michael Klein
Mit Liebe zur Stadt beschrieb der Historiker Jacques Le Goff einmal die aktive Teilhabe im Verhandlungsprozess zwischen den vielfachen Widersprüchlichkeiten und Differenzen, die das städtische Zusammenleben ausmachen. Ich weiß nicht, ob Le Goff Pate stand bei der Titelgebung dieses Buches, das sich vorgenommen hat, einen Teil dieser Widersprüchlichkeiten sichtbar zu machen. Vermessung einer Liebe zur Stadt trifft es aber gut, als dass das Buch anhand einer Untersuchung der Bilder von der Stadt den städtischen Wandel Wiens auslotet und die ihm zugrundeliegenden Prozesse – die von den sozialen und wirtschaftlichen Differenzen des städtischen Alltags zeugen – deutlich macht. Sechs kurze Essays behandeln das Bild von Wien. Es sind Texte, die sich eingehend der eigenen Stadtwahrnehmung und ihrem Werden widmen, von einem Urbanisten, der auf diese Weise die letzten sieben Dekaden Wiens in eigenen Worten nachzeichnet, Texte über das Fotografieren in und von Städten. An Paris geschult und einer französischen Theorietradition der Stadtbeschreibung,
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nicht zuletzt auch Walter Benjamin verpflichtet, durchstreift Rudolf Kohoutek Wien und verhandelt Bilder der Stadt jenseits der gängigen touristischen Klischees, die Aufschluss geben über die Räume des Zentrums, der Vorstadt und der Peripherie, von Hoch-, Sub- und Gegenkultur. Der weitaus größere Teil des Buches aber zeigt Fotografien von Wien: alte Portale, Erdgeschoßlokale, die leer stehen, Hausfassaden, von denen der Putz abfällt, bemalte Schaltkästen und Leitungen, verwaiste Hinterhöfe und halb fertig gestellte Miniaturarchitekturen, die fast kleinen Skulpturen glichen, wären sie welche – Bilder von einer Stadt, die immer ein wenig kaputt, ein wenig adaptiert und hergerichtet, im ständigen Umbau erscheint, Bilder vom »ästhetischen Mehrwert des Verfalls«. Dem Buch deshalb eine romantisch verklärte Sehnsucht nach dem Gestern zuzuschreiben, wäre aber mehr als fehl am Platz: Denn Kohouteks Bilder zeigen Ausschnitte von Wien, die ab 2008 aufgenommen wurden, also kurz bevor und während eine Investitionswelle über die Stadt rollte, die scheinbar aus jedem noch so erbärmlichen baulichen Überbleibsel der Gründerzeit lukrative Mieten zu schlagen trachtete, nachdem dieses modernisiert und sein zerbröselndes Antlitz geglättet wurde; oder dort, wo das nicht mehr möglich war, durch neue Gebäude ersetzte. Seine Kritik an den Verhältnissen wird deutlich in der Wiederholung von Variationen, an denen sie sich abarbeitet, sie wird dabei aber nie laut, schreierisch, sondern bleibt in ihrem Vorgehen vielmehr klar und präzise. Kohoutek setzt seine Bilder nur selten und gezielt dynamisch in Szene, ansonsten ist sein Blick eher der eines Vermessers: Die Fotos sind Frontalperspektiven, die, oft parallel zur Fassade aufgenommen, analytisch abbilden, wie Haus oder privater Raum der Stadt gegenüberstehen, in Konflikt treten, bisweilen versuchen, sich gegenseitig einzuverleiben. Menschen selbst sind nur selten zu sehen, vielmehr sind es die Spuren von Besitzverhältnissen, von Zuständigkeiten und Nichtzuständigkeiten, die sie im genauen Blick
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in den Oberflächen und Architekturen abbilden. Im Buch treten sie, geordnet in die fünf Kategorien Erdgeschoße, Historismen, Surrealismen, Heterotopien und Materialien, auf. Eine solche Einteilung könnte trocken und zwanghaft wirken, tatsächlich folgt sie im Buch jedoch einer Unordentlichkeit, die nur die Stadt bieten kann und aus der das Buch auch seinen Reiz zieht. In den 1840er Jahren, schrieb Walter Benjamin in seiner Schilderung des Flaneurs im Passagenwerk, sei es vornehm gewesen, eine Schildkröte mit sich zu führen, »das gebe einen Begriff vom Tempo des Flanierens in den Passagen«. In der Schildkröte zeichnet sich allerdings nicht nur die Notwendigkeit des Langsamen ab: Für den Flaneur, der bei Benjamin immer mehr ist als ein dandyhafter Großstadtspaziergänger, einer, der dank seiner Wahrnehmung in der Lage ist, den städtischen Alltag zu lesen und zu entschlüsseln, markiert die Schildkröte einen regelrechten Perspektivenwechsel. Denn Erkenntnis über die Stadt ist nicht länger den Herrschenden vorbehalten, jenen, die über den gottgleichen Blick von oben verfügten, auf dem auch der Plan aufbaut, sondern im Blick von unten zu suchen, in den Niederungen des Alltags. Dieser Perspektivenwechsel sollte zentral bleiben für sämtliche Formen des situativen Herumstreifens, von den Dérives der S.I. bis hin zu den Wanderungen von Stalker/Osservatorio Nomade und anderen Stadtstreunerinnen, in deren Tradition gewissermaßen auch die Arbeit Kohouteks steht. Auch Wiener Grund folgt dieser Haltung: es bietet keine pittoreske Aussicht, keinen Überblick über Wien, sondern bleibt am Boden – und zwar in jener Realität, die notwendig ist, eine Kritik der politischen Ökonomie der Stadt entlang ihrer Häuserkanten und Fassaden zu entwerfen. Rudi Kohouteks Schildkröte und wichtigstes Instrument ist hier seine Kamera: gehen, warten, schauen, den Kopf hervorstrecken, denken – und weitergehen.
– Rudolf Kohoutek WIENER GRUND Vermessung einer Liebe zur Stadt Fotografien und Texte Zürich: Park Books, 2017 225 Seiten, 39 Euro –
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dérive Nr. 44 (03/2011) Schwerpunkt: Urban Nightscapes dérive Nr. 45 (04/2011) Schwerpunkt: Urbane Vergnügungen dérive Nr. 46 (01/2012) Das Modell Wiener Wohnbau dérive Nr. 47 (02/2012) Ex-Zentrische Normalität: Zwischenstädtische Lebensräume dérive Nr. 48 (03/2012) Stadt Klima Wandel dérive Nr. 49 (04/2012) Stadt selber machen dérive Nr. 50 (01/2013) (vergriffen) Schwerpunkt Straße dérive Nr. 51 (02/2013) Schwerpunkt: Verstädterung der Arten dérive Nr. 52 (03/2013) Sampler dérive Nr. 53 (04/2013) Citopia Now dérive Nr. 54 (01/2014) Public Spaces. Resilience & Rhythm dérive Nr. 55 (02/2014) Scarcity: Austerity Urbanism dérive Nr. 56 (03/2014) (vergriffen) Smart Cities dérive Nr. 57 (04/2014) Safe City dérive Nr. 58 (01/2015) Urbanes Labor Ruhr dérive Nr. 59 (02/2015) Sampler dérive Nr. 60 (03/2015) Schwerpunkt: Henri Levebvre und das Recht aus Stadt dérive Nr. 61 (04/2015) Perspektiven eines kooperativen Urbanismus dérive Nr. 62 (01/2016) Sampler dérive Nr. 63 (02/2016) Korridore der Mobilität dérive Nr. 64 (03/2016) Ausgrenzung, Stigmatisierung, Exotisierung dérive Nr. 65 (04/2016) housing the many Stadt der Vielen dérive Nr. 66 (01/2017) Judentum und Urbanität dérive Nr. 67 (02/2017) Nahrungsraum Stadt dérive Nr. 68 (03/2017) Sampler
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