Place Internationale / dérive – Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 84 (3/2021)

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Editorial Unser Sommerheft erscheint diesmal nicht wie gewöhnlich vor dem Sommer, sondern mitten im Sommer. Das hat alle möglichen Gründe. Einer davon ist die Herausgabe des Buches Gemeinschaftliches Wohnen, selbstorganisiertes Bauen (gemeinsam mit Andrej Holm), die einiges an zusätzlicher Arbeitszeit erfordert hat. Die Publikation versammelt innovative Ansätze für die aktuellen Herausforderungen im Wohnungswesen und zeigt auf, wie Nischen innerhalb des kapitalistischen Systems genutzt werden können: von selbstorganisierten Planungsprozessen und einer nicht gewinnorientierten Bewirtschaftung bis zu grundsätzlichen Erkenntnissen zu Commons, solidarischen Ökonomien, Eigentum, Dekommodifizierung und alternativen Finanzierungsinstrumenten. Einige Exemplare bieten wir demnächst im Rahmen einer Aboaktion an. Ein anderer Grund für diese Spätsommer-Ausgabe rührt daher, dass der vorliegende Schwerpunkt um einiges umfangreicher als üblich ist. Statt rund 68 Seiten hat das Heft diesmal 108 Seiten. Diese umfassende Ausgabe verdanken wir auch unserem Kooperationspartner FFT, dem Forum Freies Theater in Düsseldorf, das gerade ein neues Haus bezieht und sich in den nächsten Monaten intensiv mit der Pariser Commune beschäftigen wird. Mehr darüber in einem Beitrag von Kathrin Tiedemann, künstlerischer Leiterin und und Geschäftsführerin des FFT. Denn auch für uns ist die Pariser Commune, die sich dieses Jahr zum 150. Mal jährt, der Ausgangspunkt dieses Schwerpunkts Place Internationale. Die Commune war eine urbane Revolution, die 1871 unter schwierigsten Bedingungen unternommen wurde und nur 73 Tage gedauert hat, aber trotz der Kürze speziell für die historische Arbeiterbewegung in all ihren Ausprägungen stets eine wichtige Referenz dargestellt hat. Somit erstaunt es nicht, wie viele Interpretationen der und Behauptungen über die Commune existieren. Was damals tatsächlich passiert ist, beschreibt Klaus Ronneberger, der gemeinsam mit Jochen Becker einer der Redakteure dieses Schwerpunkts ist, in seinem Versuch einer Rekonstruktion in diesem Heft. In einem weiteren Beitrag begibt sich Ronneberger auf die Suche nach den Gespenstern der Commune in Algerien, einem Land, das im französischen Kolonialsystem eine Sonderstellung eingenommen hat und in dem es ebenfalls den Versuch gab, eine Commune zu etablieren. Eine der bedeutendsten Figuren der Commune war die Anarchistin Louise Michel. Die Wiener Autorin Eva Geber hat 2018 den autobiografischen Roman Die Anarchistin und die Menschenfresser über sie verfasst und gibt in ihrem Beitrag für dérive Einblick in Michels Leben, Denken und Handeln zwischen Paris, Neukaledonien und den vielen Orten, die sie bei ihren Vortragsreisen besucht hatte. Die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Kristin Ross wiederum ist weniger daran interessiert, penibel zu recherchieren »wie es wirklich war«. Für ihr soeben auch auf Deutsch erschienenes Buch Luxus für alle. Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune war es ihr ein Anliegen, das Ereignis neu zu rahmen, sodass uns heute eine Perspektive möglich wird, »unbelastet von den Legenden und falschen Darstellungen, die sich um seine Ursprünge herum

verfestigt haben«, wie sie im Interview mit dérive erzählt. Ross schlägt damit Verbindungen zu unserer aktuellen gesellschaftspolitischen Situation, ebenso wie Sabine Bitter, Helmut Weber und Michael Klein das mit einer Bildbefragung in Form eines Inserts machen, das Bilder der Pariser Commune mit solchen der Proteste in Hongkong, dem Mai 1968, der Black Panther Party oder der Wiener Siedlerbewegung konfrontiert. Die Soziologin Hajer Ben Boubaker und der Journalist und Aktivist Mogniss H. Abdallah wurden von dem französischen Magazin Funambulist, das jüngst ebenfalls ein Schwerpunktheft zur Commune veröffentlicht hat, eingeladen, bei einem Spaziergang durch Pariser Arbeiterviertel darüber nachzudenken, was die Commune für sie und ihre Politisierung bedeutet (hat) und wie das Leben in den damals zentralen Vierteln heute gestaltet ist. Wir haben den Beitrag für unseren Schwerpunkt übersetzt. Die Frage, ob die Idee der Commune auch für aktuelle urbane Kämpfe eine Bedeutung haben kann, war für uns zentral. Zumindest von den Platzbesetzungsbewegungen vor zehn Jahren ist bekannt, dass auf Plakaten immer wieder Verweise auf die Commune – La Commune n’est pas morte – aufgetaucht sind. Wir haben die Frage an Mona Harb, Architekturprofessorin und Stadtaktivistin in Beirut, weitergegeben und sie gebeten, über die Krise und die Kämpfe in ihrer Heimatstadt Auskunft zu geben. Au Loong Yu analysiert für den Schwerpunkt den Konflikt um die Selbständigkeit Hongkongs und Raul Zelik fragt sich in seinem Beitrag Venezuela: Aufstieg und Fall der Erdöl-Commune, was in den letzten zwei Jahrzehnten zwischen Selbstverwaltung, Klientelismus, Extraktivismus und Chavismus in Venezuela tatsächlich passiert ist. Guillaume Paoli verknüpft Überlegungen zu räumlichen Veränderungen in Paris und der Verdrängung der Bevölkerungen von einst und jetzt an die Peripherie, mit dem Auftauchen von neuen Orten der Begegnung im Hinterland, die der Gelbwesten-Bewegung für ihre Aktionen dienen. Passend zum Beitrag von Au Loong Yu ist das Kunstinsert des Fotografen Lele Saveri zu sehen, der 2014 in Hongkong die damaligen Proteste der Regenschirm-Bewegung dokumentiert hat.. Ein weiterer Fotograf, der uns Fotos zur Verfügung stellt, ist Arno Gisinger. Er hat eine Serie von Aufnahmen im militärischen Sperrgebiet von Satory, gemacht, wo 1871 tausende Kommunard*innen nach der Niederschlagung der Commune gefangen gehalten wurden. Eine dritte Serie von Bildern stammt von Sabine Bitter und Helmut Weber und zwar für Raul Zeliks Beitrag über Venezuela. Schwerpunktredakteur Jochen Becker hat zu zentralen Aspekten rund um das Schwerpunktthema – Hinterland, Wellenschlag, Barrikade, Säulensturz – kurze, verbindende Kniestücke verfasst. Auch das 12. urbanize!-Festival in Wien steht von 6. bis 10. Oktober vor der Tür. Wenn nicht eine neue Covid-Welle unsere Pläne durchkreuzt, lädt ein umfangreiches Programm zum Thema Strategien des Wandels in die Festivalzentrale am Gelände des Wiener Nordwestbahnhofs. Alle Details dazu gibt es ab Anfang September unter www.urbanize.at. Für die Veranstaltungen wird eine Vorab-Registrierung notwendig sein, also bitte rechtzeitig das Programm durchsehen und anmelden! Schöne weitere Sommertage wünscht Christoph Laimer

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Inhalt 01—02 Editorial CHRISTOPH LAIMER 05—06 Einleitung CHRISTOPH LAIMER 07—13 Die Pariser Commune – Versuch einer historischen Rekonstruktion KLAUS RONNEBERGER 14 Intro: Kniestücke (DIE BÜRGERKRIEGE) JOCHEN BECKER 15—17 Kniestück: WELLENSCHLAG JOCHEN BECKER 18—23 Abräumen der Monumente — Ein Gespräch mit Kristin Ross über den langen Wellenschlag der urbanen Revolution JOCHEN BECKER / KRISTIN ROSS / CHRISTOPH LAIMER 24—27 STADT, Hinterland, FLÜSSE Landschaften des Aufstands (oder: Die Poesie der Autobahnzufahrten) GUILLAUME PAOLI 28—29 Kniestück: HINTERLAND JOCHEN BECKER 30 Die KLUBS in der Commune CHRISTOPH LAIMER


31 SATORY – oder der lange ARM der GESCHICHTE ARNO GISINGER 32—37 »Nicht die Paläste sollen BRENNEN, sondern die verpesteten HÜTTEN« EVA GEBER

78—84 Zwischen dem Kampf ums Überleben und dem ENGAGEMENT für einen gesellschaftspolitischen NEUANFANG MONA HARB / JOCHEN BECKER / CRISTOPH LAIMER 85—88 Zwischennutzung, Umzug, UMNUTZUNG KATHRIN TIEDEMANN

38—44 Wo seid Ihr, Kommunard*innen? MICHAEL KLEIN, SABINE BITTER UND HELMUT WEBER

89—90 Grenzgänger und Brückenbauer Nachruf: Daniel Aschwanden DÉRIVE

45—46 Kniestück: SÄULENSTURZ JOCHEN BECKER

Besprechungen

47—52 Die Gespenster der COMMUNE in ALGERIEN KLAUS RONNEBERGER 53—58 Von der COMMUNE bis HEUTE HAJER BEN BOUBAKER / MOGNISS H. ABDALLAH 59—63 The Historical Significance and PROSPECTS of the Hong Kong PROTESTS in 2019 AU LOONG YU Kunstinsert 64—68 Lele Saveri Hong Kong Barricades 69—71 Kniestück: BARRIKADEN JOCHEN BECKER 72—77 VENEZUELA: Aufstieg und Fall der ERDÖL-COMMUNE RAUL ZELIK

91—100 Der ideologische Kampf um die Interpretation der Pariser Commune – Besprechung historischer Publikationen S. 91 Der lange Wellenschlag des Communalismus Bücher zur Commune von Paris bis Algier S. 92 Louise Michel und die Frauen der Commune S. 94 Das urbane Bewusstsein der Aufständischen S. 95 Plädoyer für einen neuen städtischen Raum S. 96 Stadt als Gebrauchsform S. 97 »Das Unmögliche zu wünschen« S. 98 Eine übersehene Alternative? S. 99 Wildes Kombinieren S. 100 108 IMPRESSUM

– dérive – Radio für Stadtforschung Jeden 1. Dienstag jeden zweiten Monat von 17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0 oder als Webstream http://o94.at/live. Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235

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»Mir dämmerte,

dass sie nicht nur so

etwas wie Gleichheit im

Überfluss anstrebten — Sie erfanden den Reichtum jenseits des Tauschwerts

neu, das Ende des auf Klassenunterschieden

beruhenden Luxus.«

Kristin Ross auf S. 19 in diesem Heft.

ANGEBOT: ABONNEMENT + BUCH* 8 Ausgaben (2 Jahre) dérive um 56,–/75,– Euro (Österr./Europa) inkl. ein Exemplar von:

Kristin Ross Luxus für alle Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune Berlin: Matthes & Seitz Verlag, 2021 203 Seiten, 20 Euro

Bestellungen an: bestellung@derive.at *Solange der Vorrat reicht

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dérive No 84 — PLACE INTERNATIONALE – URBANE KÄMPFE von der PARISER COMMUNE www.derive.at bis heute Zeitschrift für Stadtforschung


CHRISTOPH LAIMER

Einleitung Immer wieder haben wir uns in dérive in den letzten Jahren mit Aspekten der Demokratisierung der urbanen Gesellschaft auseinandergesetzt und dazu Schwerpunkte veröffentlicht. Die Utopie einer Gesellschaft vor Augen, die jedem und jeder ein Leben frei von Existenzängsten und in Würde bietet, die es ermöglicht, selbstbestimmt ein individuelles Leben in Freiheit zu führen und als Teil der Gesellschaft diese kollektiv mitzugestalten. Eine Gesellschaft ohne Ausschlüsse und Abhängigkeiten, aber mit der Verantwortung jedes und jeder Einzelnen, für Erreichtes einzustehen und dem gemeinsamen Auftrag, sie in einem permanenten Prozess weiterzuentwickeln. Den finalen Zustand einer idealen Gesellschaft im Heute zu konzipieren, ist weder möglich noch wünschenswert. Aber wir sehen es als Aufgabe, aktuelle Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen, ebenso wie aus dem Fokus geratene oder verdrängte Konzepte erneut zu diskutieren, wenn sie das Potenzial in sich tragen, unser Denken und Handeln zu inspirieren.

Christoph Laimer — EINLEITUNG

150 Jahre ist es her, seit die Stadtbevölkerung von Paris die Commune ausgerufen hat. Wir zählen sie zu den erwähnten aus dem Fokus geratenen Ereignissen, über die heute nur Wenige genauer Bescheid wissen, woran selbst das Jubiläum trotz einiger erschienener Artikel, Publikationen und Radiosendungen nicht viel geändert hat. Die Pariser Commune war eine urbane Revolution, in der, obwohl sie für uns ein unbestritten historisches Ereignis ist, Fragen verhandelt wurden und Konstellationen gegeben waren, die tatsächlich immer noch aktuell und relevant sind. Vorausgegangen war ihr der grundlegende Stadtumbau von Baron Haussmann unter der Ära von Napoleon III., der, begleitet von einer großen Spekulationswelle, viele Altbauquartiere im Zentrum dem Erdboden gleichmachte und Teile der Arbeiterschaft in die Peripherie verdrängte. Als Reaktion auf diese sozialräumliche Restrukturierung kam es zu heftigen Protesten von Seiten der Linken. Vorausgegangen war der Commune eine Periode der liberalisierten Versammlungsfreiheit in der Spätphase der Kaiserzeit, die eifrig genutzt wurde, um lautstark die Verhältnisse zu kritisieren, über Forderungen und politische Ideen zu diskutieren, sich zu organisieren und gemeinsame Anliegen zu erkennen. Vorausgegangen war ihr auch der Deutsch-Französische Krieg (1870/71), den Napoleon nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen vom Zaun gebrochen hatte. Die lange Belagerung von Paris hatte entscheidend zu einer Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse in der Hauptstadt beigetragen, die letztlich zur Ausrufung der Commune führte. Die Commune hatte große, beeindruckende Pläne, die kurze Dauer von nur 73 Tagen und die äußerst schwierige Situation durch die Belagerung und die Angriffe durch die Versailler Armee (siehe Ronneberger in diesem Heft S. 7 – 13) machten es allerdings fast unmöglich, diese auch nur ansatzweise umzusetzen. In einem Manifest formulierte der Rat der Commune sein Selbstverständnis und seine Vorstellungen: »Die Anerkennung und Festigung der Republik, der einzigen Regierungsform, die mit der gesetzmäßigen und freien Entwicklung der Gesellschaft vereinbar ist; die auf alle Gemeinden Frankreichs ausgedehnte unbedingte Selbstverwaltung der Kommune, jeder die Unverletzlichkeit ihrer Rechte und jedem Franzosen die volle Entfaltung seiner Fähigkeiten und Anlagen als Mensch, Bürger und Arbeiter sichernd. […]

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das Ende der alten gouvernementalen und klerikalen Welt, des Militarismus, der Bürokratie, der Ausbeutung des Börsenwuchers, der Monopole, der Privilegien, […] (zit. nach Bruhat et al. 1971, S. 164). Manche Maßnahmen konnten rasch umgesetzt werden: so wurde ein zeitweiliger Mieterlass verkündet, um die Kriegslast gerechter zu verteilen, leerstehende Wohnungen wurden an vom Krieg Ausgebombte vergeben. Fälligkeitstermine für Schulden wurden verlängert, die Rückgabe verpfändeter Güter angeordnet und das Bildungswesen von der Kirche getrennt. Interessant an der Commune ist, wie Roger V. Gould (1995) in seiner Untersuchung Insurgent Identities detailliert herausarbeitet, dass tatsächlich die Identität als Urban Community in Opposition zum Staat und zur Kirche für die Ausbildung der Commune entscheidend war und weniger beispielsweise die Forderung nach einem Recht auf Arbeit, das bei früheren Aufständen im Vordergrund stand. Auf den Barrikaden standen und in den Klubs diskutierten nicht nur Arbeiter und Arbeiterinnen, sondern die Bewohner*innen der angrenzenden Nachbarschaften, egal ob Arbeiterin, Künstler oder Kleinunternehmer, wobei unbestritten die Arbeiterklasse die große Mehrheit der Kommunard*innen ausmachte. Nicht nur in Paris, sondern auch in anderen Städten wie Lyon oder Marseille gab es kurze Phasen einer Commune. Diese konnten sich jedoch nur in geringem Ausmaß auf kollektive Massenaktionen stützen und Regierungssoldaten hatten – im Gegensatz zu Paris – wenig Mühe, die Aufständischen zur Aufgabe zu bewegen oder zurückzudrängen (Gould 1995, S. 192). Neben der Begeisterung in mehreren Städten für die Commune gab es jedoch genauso den fanatischen Klassenhass, der sich in einer unbeschreiblichen Feindseligkeit äußerte und schlussendlich dazu führte, dass durch die Versailler Armee in einem als blutige Woche in die Geschichte eingegangenem Gemetzel tausende Kommunard*innen getötet wurden. Dass damit auch erreicht werden sollte, die Erinnerung an die Commune auszuradieren, war vielen Kommunard*innen bewusst, weswegen unmittelbar nach ihrem Ende ein eifriges Niederschreiben von Erinnerungen und Analysen begann. Karl Marx veröffentlichte bereits wenige Tage nach Ende der Commune seinen Text Der Bürgerkrieg in Frankreich, in dem er noch begeistert schrieb, die Commune sei »die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte« (Marx & Engels 1973, S. 342). Ganz im Gegensatz zur Französischen Revolution spielt die Commune in Frankreich bis heute eine untergeordnete Rolle. Abgesehen vom 100-Jahr-Jubiläum, das 1971 in zeitlicher Nähe zu 1968 stattfand und das Wissen über die Commune auch aufgrund etlicher Publikationen verbreitete, ist sie heute fast wieder vergessen und weder Teil des Schulunterrichts noch des Alltagswissens. Ein hohes Interesse und die entsprechende Aufmerksamkeit gab es von Anfang an vor allem in der historischen Arbeiterbewegung. Auch in Wien wurden die Jahrestage regelmäßig gefeiert. Karl Renner schwang sich in einem Artikel, der am Neujahrstag 1922 auf Seite 1 der Arbeiter-Zeitung erschienen ist, auf, auch das Rote Wien mit nachdrücklichem Verweis auf die Pariser Commune als Kommune zu

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bezeichnen: »Ein großes Erbe, eine gewaltige Neuschöpfung, ein kostbares Kleinod der Zukunft ist die Republik und Kommune Wien, Arbeiter von Wien, sie ist in eure Hand gegeben – bewahret, behütet sie denen die nach euch kommen, als teuerstes Vermächtnis!« (Arbeiter-Zeitung, 1.1.1922, S. 2). Auch wenn man das Rote Wien keineswegs direkt mit der Commune vergleichen kann, gibt es doch Parallelen, was die äußeren Umstände anbelangt. Eine Kriegsniederlage, das Ende eines politischen absolutistischen Systems, der fanatische Hass von Seiten des Bürgertums und schlussendlich die militärische Niederschlagung. Unser Schwerpunkt trägt den Titel Place Internationale und bezieht sich damit auf die Umbenennung des Place Vendôme nach dem Sturz der Vendôme-Säule (siehe Becker in diesem Heft, S. 47–48) während der Commune. Die Commune verstand sich von Anfang an als universell und grenzte sich vom Nationalismus ab. Bereits am zweiten Tag nach ihrer Proklamation wurden alle Ausländer*innen aufgenommen. Die »Fahne der Commune ist die Weltrepublik« (zit. nach Ross 2021, S. 32) war in der Zeitung der Commune zu lesen. Ähnlich wie später im spanischen Bürgerkrieg beteiligten sich Internationalist*innen auf Seiten der Commune an ihrer Verteidigung. Die Kolonial- und Kriegspolitik Frankreichs wurde in den Klubs der Commune regelmäßig scharf kritisiert. Nach der Niederschlagung der Commune mussten viele Kommunard*innen ins Exil gehen. Sie nahmen ihre Ideen dorthin mit, aber auch ihre Schriften verbreiteten sich und so gab und gibt es immer wieder urbane Kämpfe und Aufstände, die sich auf die Commune beziehen oder selbst Commune nennen – der lange Wellenschlag der Revolution. So rief die chinesische KP beispielsweise 1927 in Guangzhou eine Commune aus (Chak 2021), fünfzig Jahre später passierte das gleiche in Shanghai. Bei den Platzbewegungen 2011 waren immer wieder Plakate mit dem Slogan La Commune n’est pas morte zu sehen und auch heute stößt das Interesse am luxe communal (Luxus für alle) und der Selbstverwaltung wieder auf verstärktes Interesse, wie sich am Engagement für Commons zeigt.

Literatur Bruhat, Jean; Dautry, Jean & Tersen, Emile (1971): Die Pariser Kommune von 1871. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften. Chak, Tings (2021): Guangzhou 1927: The Paris Commune of the East. In: The Funambulist 34, S. 20–23. Gould, Roger V. (1995): Insurgent Identitites — Class, Community, and Protest in Paris from 1848 to the Commune. Chicago: The University of Chicago Press. Hofmann, Julia & Lichtenberger, Hanna (2011): Von der Commune in die Stadtteile. In: Perspektiven — Magazin für linke Theorie und Praxis, Heft 14. Verfügbar unter: http:// w w w.workerscontrol.net/de/system/files/docs/Von%20der%20 Commune%20in%20die%20Stadtteile.pdf (Stand 21.07.2021). Marx, Karl & Engels, Friedrich (1973) [1871]: Der Bürgerkrieg in Frankreich. In: Marx Engels Werke, Band 17, S. 342. Berlin: (Karl) Dietz Verlag. Ross, Kristin (2021): Luxus für alle — Die politische Gedankenwelt der Pariser Commune. Berlin: Matthes & Seitz.

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KLAUS RONNEBERGER

Die Pariser COMMUNE

Versuch einer historischen Rekonstruktion Pariser Commune, Deutsch-Französischer Krieg, Belagerung, Selbstverwaltung

Obwohl die Commune nur 73 Tage (18. April – 29. Mai 1871)1 dauerte, hatte dieser Aufstand einen festen Platz in der Erinnerungskultur der europäischen Arbeiterbewegung. Gerade das sozialistische Lager zelebrierte dieses Ereignis ausgiebig als heroischen, aber gescheiterten Vorläufer der russischen Oktoberrevolution, allerdings unter weitgehender Entleerung seiner genuinen politischen Inhalte. Die widersprüchliche Praxis der Commune entsprach nie der leninistischen bzw. stalinistischen Interpretation, derzufolge die (bolschewistische) Arbeiterpartei den einzigen Ort der Politik bildet. In gewisser Weise diente das Gedenken an die Pariser Erhebung nur dazu, eine Reaktivierung der Commune-Ideen zu unterbinden, die von sehr unterschiedlichen politisch-ideologischen Strömungen geprägt war, wie noch gezeigt wird. Der französische Philosoph und Raumtheoretiker Henri Lefebvre hat zudem auf eine weitere historische Dimension der Pariser Commune aufmerksam gemacht: Sie bildete nicht nur den Abschluss der französischen Klassenkämpfe im 19. Jahrhundert (1830; 1848; 1871), sondern stellte zugleich die erste urbane Revolution der Moderne dar. 1 In der Literatur über die Commune ist häufig nur von 72 Tagen die Rede, was aber nicht den historischen Tatsachen entspricht. Zwar erklärt General Mac-Mahon, Oberbefehlshaber der Versailler Truppen, am

Abend des 28. Mai 1871 offiziell Paris für befreit, aber in dem abgeschnittenen Fort de Vincennes harren noch 400 Aufständische aus, die sich erst im Laufe des nächsten Tages ergeben und deren Offiziere anschließend

Klaus Ronneberger — Die Pariser COMMUNE

Vorgeschichte der Commune-Bewegung Nachdem am 21. November 1852 in einem Plebiszit die große Mehrheit der wahlberechtigten (männlichen) Franzosen den Übergang von der Republik zum Kaisertum gebilligt hatte, beginnt Napoleon III. (1808–1873), zielstrebig seine Vision von einem imperialen Paris umzusetzen. Mit Hilfe von Straßendurchbrüchen und prachtvollen Stadtquartieren soll die Hauptstadt neu geordnet und verschönert werden. Ungewöhnlich für die damalige Zeit ist auch die Finanzierung des Vorhabens, denn die infrastrukturellen und städtebaulichen Aktivitäten des Staates werden vor allem durch die Mobilisierung von privatem Kapital vorangetrieben. Zur Umsetzung des Projekts ernennt der Kaiser Georges-Eugène Haussmann (1809–1891) zum Generalbevollmächtigten von Paris, der die Metropole im Geiste des liberalen Kapitalismus und des administrativen Zentralismus umgestalten soll. Als operativ nützlich erweist sich der Umstand, dass es in der Hauptstadt keinen Bürgermeister gibt. Die Präfekten und die Mitglieder des Stadtrats werden vom Kaiser ernannt, ebenso die Bezirksbürgermeister. Mit Hilfe einer technokratischen Planungsstrategie gelingt es Haussmann, ein modernes Paris zu erschaffen. Gemäß seinem Auftrag macht der Präfekt vor allem in der Innenstadt Tabula rasa. Émile Zola (1840– 1902) hat in seinem Roman La curée (dt. Die Beute), detailund kenntnisreich die Spekulationsgeschäfte im Zusammenhang mit den Bauvorhaben geschildert. Wie Aasgeier kreisen die Spekulanten um Paris und balgen sich um die Beuteteilung des aufgeschlitzten Stadtkörpers.

erschossen werden. Entsprechend spricht auch der französische Klassiker Die Pariser Kommune 1871 von Jean Bruhat, Jean Dautry und Emile Tersen von einer Revolution, die 73 Tage angedauert habe.

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JOCHEN BECKER

Intro: Kniestücke

(DIE BÜRGERKRIEGE) Im Krieg ward einmal ein Mann, erschossen um und um. Sein Knie allein blieb unverletzt, als wär’s ein Heiligtum. Seitdem: Ein Knie geht einsam um die Welt. Es ist ein Knie, sonst nichts. Es ist kein Baum, es ist kein Zelt, es ist ein Knie, sonst nichts. Christian Morgenstern, Das Knie, aus: Kluge, 1979

Die Bezeichnung Kniestücke entlehnt sich den vierzehn Minuten kurzen Knee Plays, welche Robert Wilson für die Zwischenmontage seiner weltumspannenden Bühneninszenierung the CIVIL warS: a tree is best measured when it is down (Die Bürgerkriege: Ein Baum wird am besten vermessen, wenn er unten liegt) nutzte. Es folgt die Geschichte eine Baumes vom Wald zur Hütte und Boot oder Buch zurück zum Wald. Knee Plays ist Wilsons eigener Begriff für die Vignetten, die die größeren Abschnitte einer Inszenierung miteinander verbinden und einen Bühnen- und Kostümwechsel ermöglichen.

1 »Es war der erste Krieg, der in Photographien dokumentiert wurde. Und da ist der Anfang von Veränderungen in der westlichen Kultur, der Anfang der industriellen Revolution.« (Wilson, S. 41). Der Regisseur nutzte hierbei die frühen Fotografien eines Bürgerkrieges von Mathew Brady, auf denen auch urbane Ruinen festgehalten waren. Hannes Heer, später Leiter der aufwühlenden

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Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 (1995 ff), welche auf den privaten Fotos der Soldaten aufbaute, arbeitete damals in der Kölner Dramaturgie mit. 2 The Knee Plays wurden im Herbst 1985 noch einmal zum Theater-der-Welt-Festival im Schauspielhaus Frankfurt wiederaufgeführt.

Ursprünglich war the CIVIL warS (1981–84) als ganztägiges Musiktheaterstück konzipiert, das an fünf Tagen die Olympischen Sommerspiele 1984 im Los Angeles Olympic Art Festival Shrine Auditorium begleiten sollte. Sechs Komponist*innen aus sechs Ländern sollten Musik zu Abschnitten von Wilsons Texten komponieren, die durch den amerikanischen Bürgerkrieg1 inspiriert waren. Die Proben hierzu fanden seit 1981 in München, Freiburg im Breisgau, Rotterdam, Köln, Rom, Minneapolis, Marseille/Lyon/Nizza und Tokio statt. Tamasaburo Bando, Heiner Müller, Ingrid Andree, Ilse Ritter, Hans Peter Kuhn, Michael Galasso, Philip Glass, David Byrne oder auch Laurie Anderson als die junge Mrs. Lincoln und David Bowie als Mr. Lincoln hatten als Mitspieler zugesagt. Der amerikanische Teil von the CIVIL warS bestand aus einer Reihe von zwölf kurzen Zwischenspielen, die die größeren Szenen miteinander verbinden und Zeit für Szenenwechsel bieten sollten. David Byrne war der Komponist dieser meist wortlosen Stücke, die Choreografie stammt von Suzushi Hanayagi. The Knee Plays wurde im April 1984 im Walker Art Center uraufgeführt. Der abstrakte Stil war beeinflusst vom japanischen Bunraku-Puppenspiel und dem Noh- und Kabuki-Theater.2 Der Film Robert Wilson und die CIVIL warS von Howard Brookner und Peter Leippe zeigt kurz vor dem endgültigen Scheitern des Projekts einen völlig verzweifelten und erschöpften Robert Wilson, der auf einem Hotelbett seinem Assistenten nur noch »Call Paul Getty, call Paul Getty« zurufen kann. Ich glaube, es fehlten noch wenige Zehntausend Dollar. Jochen Becker (Berlin) arbeitet als Autor, Kurator und Dozent und ist Mitbegründer von metroZones | Center for Urban Affairs und der station urbaner kulturen. Zuletzt kuratierte er Chinafrika. under construction (Graz, Leipzig, Weimar, Shenzhen, Nürnberg). Derzeit berät er den Umzug des Düsseldorfer Theaters FFT kulturpolitisch, konzeptionell und kuratorisch und entwickelt das Projekt Stadt als Fabrik und Place Internationale (2017–21) sowie die metroZones-Ausstellung Mapping Along (Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Berlin, 2021).

Literatur Brookner, Howard & Leippe, Peter (1985/86): Robert Wilson und die CIVIL warS. [Film] BRD/USA, 90 min. Byrne, David: The Knee Plays. [Website] https://kneeplays.com. Kluge, Alexander (1979): Die Patriotin. Frankfurt/M.: Zweitausendeins-Verlag. Wilson, Robert & Müller, Heiner (1984): the CIVIL warS. Die Kölner Aufführung. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag.

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JOCHEN BECKER

Kniestück:

WELLENSCHLAG Revolution, Aufstand, Pariser Commune, Gustave Courbet, Sergei Eisenstein Gustave Courbet: La Vague (Die Welle), 1870; Musée des Beaux-Arts de Lyon

Wenn das Volk, heute noch still, Brüllt wie der Ozean, Zu sterben bereit ist und will, Bricht die Commune sich Bahn, Wir werden kommen, ohne Zahl, Rächende Geister verlassen die Nacht Gefängnislied von Louise Michel, 1871 Übersetzung Eva Geber, in: Michel 2020, S. 11

Jochen Becker — Kniestück: WELLENSCHLAG

Georges Didi-Huberman verknüpft in seinem Essay Torrents and Barricades die Imaginationen von Welle und Blockade. »Als sie diese Zeilen schrieb, muss Louise Michel besser als jeder andere gewusst haben, dass die Kommune von 1871, wie so viele andere Aufstände, in blutiger Unterdrückung und einem großen Massaker endete. Ja, die Kommunarden haben verloren: es war ein zerquetschter Aufstand. Aber die Energie dieses Textes sagt uns etwas anderes: dass der Verlust immer noch ein Aufstand ist; dass die Trauer bereits eine Bewegung ist, wenn der Wunsch nach Freiheit glüht, schlägt oder Lärm macht – etwas, für das dieser Text, obwohl unter dem Zeichen der Nicht-Macht geschrieben, sowohl die Welle als auch die Potenz ist. Es ist, als ob die demontierten Barrikaden in den Straßen von Paris die Phantasie und das Verlangen des Lesers, an den Louis Michel sich wendet, wieder auferstehen lassen würden.« (2020, S. 157; Übersetzung durch den Autor)

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JOCHEN BECKER / KRISTIN ROSS / CHRISTOPH LAIMER

ABRÄUMEN der Monumente Die zwischen New York und Paris pendelnde Literaturwissenschaftlerin Kristin Ross hat mit The Emergence of Social Space: Rimbaud and the Paris Commune (1988) und Communal Luxury: The Political Imaginary of the Paris Commune (2016, deutsch: Luxus für alle: Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune 2021) zwei wichtige Bücher zur Form der Commune geschrieben. Ross verfolgt den langen Wellenschlag der urbanen Revolution entlang der Akteur*innen und umkreist hierbei die historische Pariser Commune und das Nachleben der urbanen Revolution in den Zeugnissen der Überlebenden und Exilierten. Gefeierte Figuren wie Louise Michel oder Gustave Courbet stehen dabei eher im Wege und werden wie die berühmte Vendôme-Säule erst einmal abgeräumt. Im Gespräch mit Jochen Becker und Christoph Laimer legt sie ihre spezifische Herangehensweise, über die Commune zu schreiben, dar, erklärt ihre Faszination für den luxe communal, spricht über Kunst und Handwerk sowie über die politische Positionierung der Frauen in der Commune, die strategische Ambivalenz von Alternativen innerhalb des Kapitalismus und vieles mehr. Jochen Becker: Was an Ihrem Buch auffällt, ist der verschobene Rahmen, den Sie der Pariser Commune geben. Viele Rückschauen und Darstellungen widmen der blutigen Maiwoche große Aufmerksamkeit und betrachten sie insgesamt als Niederlage. Für Intellektuelle, wie ich in einem Gespräch mit dem Theater La Commune erfahren habe, ist die Commune wegen ihrer brutalen Unterdrückung bis heute ein Trauma

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geblieben. Ihre Herangehensweise dagegen besteht darin, dass Sie die Commune gewissermaßen neu in Szene setzen, sich auf Luxus für alle konzentrieren, auf einen Neubeginn und die Fortsetzung einer Idee und politischen Überzeugung, die man als späte Ausläufer der Revolution bezeichnen könnte. Ihr Buch befasst sich in weiten Teilen nicht ausschließlich mit der Commune, sondern ganz konkret mit den Kommunard*innen. Wie sind Sie darauf gekommen, diesen Perspektivenwechsel zu wählen? DIE RAHMUNG DER COMMUNE UND DER GEMEINSCHAFTLICHE LUXUS Kristin Ross: Mein Augenmerk lag zwar darauf, wie politische Solidarität in der Vergangenheit geschaffen und aufrechterhalten wurde, ich bin aber weder Historikerin noch Politikwissenschaftlerin. Wenn ich über politische Kämpfe wie die Pariser Commune oder den Mai ’68 schreibe, versuche ich nicht, die Geschichte zu rekonstruieren, wie sie wirklich war, in einer Art positivistischer Ranke’schen Fantasie. Sie haben das

dérive No 84 — PLACE INTERNATIONALE – URBANE KÄMPFE von der PARISER COMMUNE bis heute

Pariser Commune, gemeinschaftlicher Luxus, Weltrepublik, Exil, La ZAD, Kunsthandwerk, Feminismus, Internationalismus, Denkmal

Ein Gespräch mit Kristin Ross über den langen Wellenschlag der urbanen Revolution


GUILLAUME PAOLI

STADT,

Hinterland, FLÜSSE

Landschaften des Aufstands

(oder: Die Poesie der Autobahnzufahrten)

Anders als die meisten Hauptstädte der Welt ist Paris von einer klaren, vergleichsweise engen Grenze umgeben, die die historischen zwanzig Arrondissements von späteren Ausdehnungen eindeutig trennt. Im 19. Jahrhundert war diese Stadtgrenze eine Festungsanlage. Die damals schon anachronistische Abwehrmaßnahme gegen feindliche Artillerie wird deren Baumeister Adolphe Thiers später, als die Stadtbevölkerung der von ihm geführten Regierung den Kampf ansagte, bereut haben. Ohne die Fortifs (wie das Befestigungswerk im Volksmund hieß) hätte die Pariser Commune nicht stattfinden können. Die Stadtmauer schützte das soziale Experiment vor Angriffen der nach Versailles geflüchteten Staatsgewalt. An den Forts wurde auf Leben und Tod gekämpft, so wie später auf den Barrikaden, jenen nach innen verlagerten Forts. Zugleich markierte die steinerne Membran einen freien Innenraum, die Commune in der dreifachen Bedeutung von Territorium, Bevölkerung und Verwaltungsform. Der Idee des Kommunalismus, einer Föderation autonomer und selbstverwalteter Gemeinden, entsprach die starke Identifikation der Bewohner mit ihrer Stadt, vor allem mit dem Viertel, wo sie wohnten, arbeiteten, in Kneipen und Clubs verkehrten und die Nachbarn kannten. Diese Identifikation sollte übrigens nicht mit Lokalpatriotismus verwechselt werden, Paris war damals schon eine kosmopolitische Stadt, viele prominente Kommunarden und Kommunardinnen waren Ausländer.

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dérive No 84 — PLACE INTERNATIONALE – URBANE KÄMPFE von der PARISER COMMUNE bis heute

Gelbwesten, Paris, Stadtmauer, Peripherie, Hinterland, Kreisverkehr, Kommunalismus, Globalisierung

Gelbwesten an einem besetzten Kreisverkehr; Fotos — Marion Lavabre


JOCHEN BECKER

Kniestück: HINTERLAND

Sucht man in einer Suchmaschine nach Bildern der Gelbwesten genannten sozialen Bewegung, so finden sich auf den ersten Seiten ausschließlich flammende Protestbilder aus dem Pariser Zentrum. Folgt man hingegen Guillaume Paolis genauen Raumstudien in dessen 2019 erschienenen Buch Soziale Gelbsucht, finden die Kämpfe weit eher im Hinterland statt: an Verkehrskreiseln und Mautstationen, auf Parkplätzen der Hypermarchés oder Tankstellen, vor Amazon-Centern, Öllagern und rund um Feuertonnen am Wegesrand: »Wir blockieren alles«.1 Genau hier, im Hinterland noch außerhalb der Banlieues, bündelten sich die Proteste der Gelbwesten. Am 17. November 2018 wurden in Frankreich über 3.000 Kreisverkehre blockiert, die Verkehrsströme durch Blockaden verlangsamt und in Folge diese Versammlungsorte des Hinterlands weiter zu politischen Versammlungsstätten ausgebaut. »Mit der Zeit richten sich die Besetzer ein bisschen ein, eine Hütte wird gebaut, ein Dixi-Klo organisiert. Ständig kommen solidarische Bewohner aus der Region, sie bringen Holzpaletten fürs Feuer, Essen und Getränke vorbei. Bei Wind und Wetter, bei Glühwein und Wurst lernen sich Unbekannte kennen und diskutieren über Geld und die Welt.« (Paoli 2019, S. 30) Unterstände, Sitzgelegenheiten und Hütten werden errichtet, die nicht von ungefähr an das Gecekondu am Kottbusser Tor der Berliner Mieteninitiative Kotti & Co. erinnern, geborgt wiederum von den Hütten über Nacht, aus welchen in der Nachkriegszeit Istanbul, Paris oder Rom zur Großmetropole erwuchsen, errichtet von Bauarbeiterfamilien aus der Provinz, die für die

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dérive No 84 — PLACE INTERNATIONALE – URBANE KÄMPFE von der PARISER COMMUNE bis heute

Hinterland, Gelbwesten, Zwischenstadt, Kreisverkehr, Logistik, Infrastruktur

Foto — Marion Lavabre

damalige Mittelschicht die Vorstädte der funktionalen Moderne in Beton bauten – und für sich selbst ein Häuschen aus Wellblech und Restholz. Sind die Gelbwesten also Provinztölpel, die bei Grillwurst und Glühwein für billigeren Diesel protestieren? So zumindest wurden sie von der Seine bis zum Main in den maßgeblichen Zeitungen abqualifiziert. Oder suchen sie, die Ausgespuckten und Hinausgedrängten der Metropolen und ihrer Vorstädte, schlichtweg Versammlungsorte auf, die das Hinterland ihnen zu bieten hat, wenn schöne Plätze und geräumige Hallen, wenn solidarische Universitäten und Kunsträume fehlen? »Auf wundersame Weise hat sich die Ödnis in eine Agora verwandelt. […] Schließlich stellen in der durch und durch funktionalisierten Raumordnung die vielen kreisförmigen Flecken die einzigen frei verfügbaren Commons dar, die letzten Krümel der Almende« (ebd., S. 30). »Nun, am Ende des 20. Jahrhunderts, kann man Siedlungsmuster in Europa am besten nachts von einem Flugzeug aus erkennen, ein beinahe flächendeckendes Netz von Transportrouten, von verstreuten Industrie-, Wohn- und Freizeitfeldern. Die historische Stadt ist hier nur einer von vielen Knotenpunkten« (zit. in Hesse 2001), beschrieb der Architekt Peter Wilson schon vor Jahren, was der Urbanist und Stadtplaner Thomas Sieverts Zwischenstadt nannte. Ist nicht dieses Hinterland als Auswurf auch ein Produkt der Stadt, so wie es vor Jahrzehnten schon einmal die Banlieues waren – dort wo Müll und Logistik, die Verkehrsknoten und Freizeitparks abgeladen werden, um die Innenstädte mit grünen Bänken und spielfreudigen Straßen von den Zumutungen des Spätkapitalismus freizuhalten? Die Vor-Verstädterung des Hinterlands ist in voller Blüte: Vorne Neubausiedlung, Brachfläche, Gewerbehallen, dazwischen Auto- und Bahntrasse, dann ein ausgestrecktes Shopping-Areal nebst Businesspark, und ganz hinten Großsiedlungen unterschiedlicher Jahrgänge und Einfamilienhausteppich, durch etwas Wald voneinander abgesetzt. In Europa singt die Hamburger Band Die Goldenen Zitronen in geradezu buchhalterischer Aufzählungsweise, und sie zeigen im Tourvideo endlose Folgen logistischer Landschaften. Die verstädterte Landschaft oder die verlandschaftete Stadt ist Auswurf eines aufgespaltenen Verflechtungsraums. Die Wiederentdeckung des zentralen Wohnens für junge und kaufkräftige Schichten hat die Segregation gefördert, also die soziale Entmischung zwischen Arm und Reich, zwischen Erst-


CHRISTOPH LAIMER

Die KLUBS in der Commune Die Basis für die Klubs legte Napoleon III. 1868 mit der Liberalisierung des Versammlungsgesetzes. Kurz darauf, im Frühjahr 1870, wurde kurzfristig wieder ein Verbot öffentlicher Versammlungen verfügt. Als das Empire am 4. September 1870 fiel, gab es jedoch unmittelbar wieder Versammlungen und das ab sofort ohne inhaltliche Beschränkungen (ebd., S. 137). Das Publikum vieler Klubs stammte aus der direkten Nachbarschaft und war so heterogen wie diese (Gould 1995, S. 132). Neben Arbeiter*innen nahmen ebenso kleine Geschäftsleute, Künstler und Handwerker teil. Von der durch die Belagerung der Stadt im Zuge des Deutsch-Französischen Kriegs verursachten Versorgungskrise waren alle betroffen, das einte die Teilnehmer*innen. Ihre gemeinsame Abneigung galt den dafür verantwortlichen Politikern. Regelmäßig tauchte die Forderung nach lokaler Selbstverwaltung auf. In den Klubs war es nicht ungewöhnlich, sich in Reden mit Stolz auf den eigenen Bezirk zu beziehen. Verantwortlich für diesen »intense neighborhood localism« (ebd., S. 140) war Goulds Meinung nach nicht zuletzt der französische Zentralismus, der den Stadtbevölkerungen die Wahl ihrer eigenen Stadträte verweigerte. Kommunardinnen wie Paule Minck oder Louise Michel traten regelmäßig in den Klubs als Rednerinnen auf, dominiert wurden diese allerdings von Männern. Als großer Impetus für das Engagement zahlreicher Frauen erwies sich ein radikaler Anti-Klerikalismus. Die Abneigung gegen die Kirche und der Hass auf Priester befeuerte viele Reden. Grund dafür war neben der Macht der Kirche oft auch die Einmischung in das Privatleben und das Selbstbestimmungsrecht der Frauen durch Priester sowie deren Einfluss auf die Erziehung der Kinder (Eichner 2004, S. 135). Anders als bei früheren Aufständen und Revolutionen blieb es nicht bei einer Kritik an der Institution Kirche, sondern die Ablehnung betraf die Religion und den Glauben an sich.

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Mit der Ausrufung der Commune änderte sich der Charakter der Klubs. Ging es bis dahin um die Kritik der bestehenden Verhältnisse, stand jetzt der Aufbau und die Verteidigung der Commune im Fokus. Die Zahl der Klubs stieg rasant (Bruhat et al. 1971, S. 131). Bestehende Klubs gründeten neue, wenn diese zu groß wurden. Beschlagnahmte Kirchen dienten als Versammlungsort. Versammlungen begannen mit der Festsetzung der Tagesordnung, daraufhin wurden Mitteilungen verkündet und Informationen weitergegeben. Im Anschluss folgten Reden und Debatten. Jeder Klub hatte fixe Redner*innen, aber es gab auch solche, die nur hin und wieder auftraten. Zum Abschluss wurden Anträge zur Abstimmung gebracht. Klubs hatten ein Präsidium, manche verfügten über sehr umfassende Strukturen und Regelungen wie Statuten und ähnelten damit fast Parteien. Bruhat et al. bringen das Beispiel so eines Klubs: Das Präsidium wurde alle zwei Wochen neu gewählt. Die Mitglieder mussten sich an die Statuten halten, taten sie das nicht, drohte ihnen der Ausschluss. Die Versammlungen fanden donnerstags und sonntags statt. Wer drei Mal hintereinander ohne triftigen Grund fehlte, wurde ausgeschlossen (ebd., S. 132). Während der Commune wurde eine Föderation der Klubs gegründet, womit ein größerer Einfluss erreicht werden sollte. Teilnehmer*innen der Klubs beklagten regelmäßig, dass ihre Anträge und Vorschläge von der Commune nicht behandelt wurden und kritisierten sie deswegen. Die Klubs waren ein Forum für Debatten, ermöglichten es, eigene Ideen zu präsentieren und zu diskutieren. Sie waren eine Schule der politischen Meinungsbildung und der Argumentationsfähigkeit. Sie ermöglichten das Knüpfen von Netzwerken, die für die Mobilisierung unentbehrlich waren. Sie dienten der Informationsweitergabe, manche veröffentlichten eigene Zeitungen, und waren eine radikal-demokratische Institution in Zeiten, als die formalen politischen Rechte großen Teilen der Bevölkerung nicht zugänglich waren.

Literatur Bruhat, Jean; Dautry, Jean & Tersen, Emile (1971): Die Pariser Kommune von 1871. Berlin (DDR): VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften. Eichner, Carloyn J. (2004): Surmounting the Barricades – Women in the Paris Commune. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press Gould, Roger V. (1995): Insurgent Identities – Class, Community, and Protest in Paris from 1848 to the Commune. Chicago; The University of Chicago Press.

dérive No 84 — PLACE INTERNATIONALE – URBANE KÄMPFE von der PARISER COMMUNE bis heute

Pariser Commune, Versammlungen, Klubs, Demokratie

Alles Übel hätten die Klubs verursacht, schrieb der Chef der Sicherheitspolizei Ende 1871 rückblickend auf die Commune (Bruhat et al. 1971, S. 131). Diese Bewertung der Bedeutung der Klubs dürfte zwar etwas übertrieben sein, die Einschätzung, dass die Klubs eine bedeutende Rolle vor und in der Commune gespielt haben, ist jedoch nicht von der Hand zu weisen. Es waren die Klubs, in denen die Idee zur Commune ab dem Herbst 1870 reifte und diskutiert wurde.


ARNO GISINGER

SATORY –

oder der lange

ARM der GESCHICHTE Satory ist ein Stadtteil von Versailles, rund 15 km südwestlich von Paris gelegen. Seine Geschichte ist eng mit jener des Schlosses verbunden und reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück. Da diente das große landwirtschaftliche Anwesen für die Nahversorgung der königlichen Residenz. 1834 errichtete die französische Armee an diesem strategisch günstig gelegenen Ort zunächst einen kleinen Truppenübungsplatz, bevor sie 1864 das gesamte Plateau für sich beanspruchte. Satory wurde zu einem weitläufigen Militärcamp ausgebaut, das bereits einige Jahre später eine unrühmliche Rolle in der Geschichte der Pariser Commune spielen sollte. 1871 wurden hier monatelang tausende besiegte Kommunard*innen unter unmenschlichen Zuständen in einem improvisierten Massenlager festgehalten. Viele starben an den Folgen ihrer Verwundungen, an Krankheiten oder an Unterernährung. Andere wurden erschossen und vor Ort in anonymen Gräbern verscharrt. An einer dieser Stellen – einer kleinen, idyllischen Waldlichtung am Rande einer Siedlung – erinnert noch heute eine Gedenktafel an diese bittere Episode aus der Zeit der Commune. Einmal jährlich wird hier eine Gedenkfeier abgehalten. Am 28. November 1871 wurden fünfundzwanzig von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilte Kommunard*innen auf dem damaligen Artillerieschießplatz hingerichtet, der sich am Rande der heutigen Route nationale 129 befindet. Die bekanntesten unter ihnen waren Louis Rossel, Pierre Bourgeois und Théophile Ferré. Auch Louise Michel war vor ihrer Deportation nach Neukaledonien im Lager Satory interniert. Im Musée d’art et d’histoire von Saint-Denis findet sich ein Gemälde von Jules Girardet (1856–1938), das die Verhaftung von Louise Michel am 24. Mai 1871 thematisiert. Topografische und strategische Kontinuitäten haben auch im 20. Jahrhundert die Geschichte dieses aufgeladenen Ortes bestimmt. Die rund 5.000 Einwohner*innen setzen sich praktisch ausschließlich aus Militärs und ihren Familien zusammen. Während beider Weltkriege wurde das Areal als strategisch wichtiges Ziel bombardiert. Heute noch beherbergt Satory unter anderem die Spezialeinheiten der französischen Gendarmerie (GIGN). Bis vor kurzem wurden auf dem Gelände unter strengster Geheimhaltung neu entwickelte Waffenarten und vor allem Munition getestet, was zu einer gefährlichen Kontamination des gesamten Geländes führte. Ein städtebauliches Projekt soll in den kommenden Jahren zu einer kompletten Neuorganisation von Satory führen. 2020 hatte ich im Rahmen eines kollektiven Kunstprojekts die Gelegenheit, mit Spezialgenehmigung und unter militärischem Begleitschutz Teile der Versuchsanlagen zu fotografieren. Die Arbeit Point aveugle thematisiert den langen Arm der Geschichte und versucht, die sichtbaren und unsichtbaren Schichten der Vergangenheit wahrnehmbar zu machen. Die auf den Seiten 9 – 13 und 32 – 36 publizierten Fotografien werden 2021–2022 im Rahmen der Gruppenausstellung Paris Saclay Paysages an sechs verschiedenen Orten im Departement Yvelines gezeigt. Die Originale sind in Farbe und haben ein Format von jeweils 110 x 150 cm. Arno Gisinger wurde 1964 in Dornbirn geboren. Er lebt und arbeitet als freischaffender Fotograf, Ausstellungsmacher und Hochschullehrer in Paris. Gisinger studierte Fotografie in Arles sowie Geschichte und Germanistik in Innsbruck. Seine künstlerischen Arbeiten beschäftigen sich mit visuellen Darstellungsformen von Geschichte und Erinnerung.

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EVA GEBER

»Nicht die Paläste sollen BRENNEN,

Louise Michels Kampf für eine soziale Revolution 150 Jahre Pariser Commune: Die Zeitungen, die Radio- und TV-Sender im deutschsprachigen Raum sind voll von Berichten über dieses herausragende historische Ereignis. In Österreich ist trotzdem überraschend wenig darüber bekannt, erst recht kaum etwas von den Ideen und Forderungen der Commune, deren Impulse Revolutionen und Bewegungen inspirierten. Eine Reihe von Büchern ist nun zu diesem Anlass erschienen, besonders das umfangreiche Werk La Commune der großen Kommunardin Louise Michel, das nun erstmals in deutscher Sprache vorliegt (Michel 2020). Und was für ein Werk, wie viel Details, Stimmungen und Dokumente vermittelt Michel in eleganter poetischer Sprache, die, vom revolutionären Pathos der damaligen Zeit durchzogen und vom Schmerz ihrer Erinnerung verzerrt, eine gewaltige Herausforderung für die Übersetzerin Veronika Berger darstellte. Eine großartige Leistung. Die Rezensionen waren sehr positiv, einige hatten es wohl nicht sorgfältig gelesen und meinten, die Pariser Commune hätte sich blutig durchgesetzt. Tatsächlich aber war sie im Rathaus etabliert worden. Die überstimmte reaktionäre Richtung hatte sich daraufhin nach Versailles zurückgezogen und bereitete eine Niederschlagung der Commune vor.

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Jules Girardet: Die Verhaftung der Louise Michel, 1871; Serie: Satory (siehe S. 31), Foto — Arno Gisinger

dérive No 84 — PLACE INTERNATIONALE – URBANE KÄMPFE von der PARISER COMMUNE bis heute

Pariser Commune, Louise Michel, Aufstand, Revolution, Feminismus, Frauenrechte, Neukaledonien

sondern die verpesteten HÜTTEN«


JOCHEN BECKER

Kniestück:

SÄULENSTURZ Pariser Commune, Denkmäler, Monumente, Revolution, Vendôme-Säule, Oktoberrevolution, Siegessäule Berlin

Ganze auf ein Postament gesetzt, das seinerseits auf drei Kanonenkugeln aufliegt, und dieses kolossale Monument, das wir gemeinsam auf der Place Vendôme errichten werden, dies sei Eure Säule, Eure und unsere, die Säule der Völker, die Säule Deutschlands und Frankreichs, die dann auf immer vereint sind. Die Göttin unserer Freiheit wird, wie ehemals Venus den Gott Mars bekränzte, die Zapfen, die die Kanone wie Arme an ihren Flanken hat, behängen mit Girlanden von Weintrauben, Ähren und Hopfenblüten.« (Gustave Courbet, zit. nach Stuffmann: S. 380).

Im Paris der Commune wurde am 16. Mai 1871 die zentrale Vendôme-Säule mit Hilfe zahlreicher Taue umgerissen und in ihre Einzelteile rückgebaut. Den performativen Denkmalsturz maßgeblich initiiert hatte der Maler Gustave Courbet. Er kritisierte wie viele andere schon lange politisch wie ästhetisch das Napoleons kolonialen Eroberungsfeldzügen zugedachte Monument, um es mitten im Krieg in ein Denkmal des deutsch-französischen Friedens umzumünzen: »Hört zu: Lasst uns Eure Kanonen von Krupp, und wir werden sie mit den unsrigen einschmelzen; die letzte Kanone, die Mündung in der Luft, die phrygische Mütze obenauf, das Jochen Becker — Kniestück: SÄULENSTURZ

Courbets Aufruf zum Friedensschluss und das Einschmelzen der Krupp-Kanonen mit denen der französischen Einheiten wurde am 29. Oktober 1870 im Théâtre de l’Athénée vorgetragen – drei Monate nach Ausbruch des brutal und von deutscher Seite industriell geführten deutsch-französischen Krieges am 19. Juli 1870, und einen Tag vor dem zweiten gescheiterten Versuch des französischen Militärs, den deutschen Belagerungsring um Paris zu durchbrechen. Am 12. April 1871 verabschiedet der Rat der Commune dann den Entschluss, der Säule ein Ende zu machen: »In Erwägung, dass die Kaisersäule auf dem Vendôme-Platz ein Monument der Barbarei ist, ein Symbol brutaler Gewalt und falschen Ruhms, ein Bekenntnis zum Militarismus, eine Verneinung des Völkerrechts […] verfügt die Pariser Kommune: einziger Artikel – Die Säule auf dem Vendôme-Platz wird abgerissen.«1 Der Zig-Zag-Fall der Säule im Herzen der Stadt war kein überstürzter Vandalenakt, sondern wohlüberlegt: Die Commune ließ darüber demokratisch abstimmen und den Platz sogar mit Stroh und Mist auslegen. Darauf wurde der Place Vendôme feierlich in Place Internationale umgetauft. Paris erlebt einen Umsturz, der sich bis ins ferne Petrograd (St. Petersburg) der Oktoberrevolution 1917 fortsetzen sollte. »Gold, Juwelen und Glanz bedecken die Zarenkrone, das kaiserliche Zepter, die Macht der Selbstherrschaft. [...] Solange bis sich aus den Hungerschlangen die knöchernen Fäuste der Frauen erhoben. Solange bis ölbeschmierte Arbeiterhände die Maschinen zum Stehen brachten, solange bis ätzende Flugblätter von der Erde aufflogen. Solange bis in den ausgehungerten Schützengräben das Schießen aufhörte. Solange bis

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KLAUS RONNEBERGER

Die Gespenster

der COMMUNE in ALGERIEN Algerien, Kolonialismus, Commune, Kabylen-Aufstand, Apartheid, Siedlungspolitik, Deutsch-Französischer Krieg, FLN, Befreiungskampf

Der Sturz des napoleonischen Kaiserreichs und die Ausrufung der Dritten Republik finden auch in der algerischen Kolonie ihren Niederschlag. Im französischen Kolonialsystem nimmt dieses Land eine Sonderstellung ein: Während Frankreich ansonsten meist auf indirekte Formen der Herrschaft setzt, betreibt es in diesem Fall eine aktive Besiedlungspolitik.

Die Eroberung des nordafrikanischen Raums Im frühen 19. Jahrhundert erlangt Großbritannien endgültig die maritime Hegemonie über den Mittelmeerraum, aber gleichzeitig verfolgt dort auch der französische König Charles X., der seit 1824 auf dem Thron sitzt, eine imperiale Expansionspolitik. So landet am 12. Juni 1830 ein Expeditionskorps von 35.000 Soldaten an der nordafrikanischen Küste und erobert bald die Stadt Algier. Das osmanische Sultanat in Konstantinopel, welches die nominelle Oberhoheit über das Land besitzt, ist militärisch nicht in der Lage, seine Ansprüche aufrechtzuerhalten und dem um Hilfe nachsuchenden Herrscher Hussein Dey beizustehen (Abulafia 2013, S. 688). Die Invasion dient Charles X. auch als innenpolitisches Ablenkungsmanöver, da er wegen seiner reaktionären Politik zunehmend unter Druck gerät. Von der militärischen Aktion gegen den Korsaren-Staat Algier erhofft sich die angeschlagene Monarchie eine Stabilisierung ihres Herrschaftssystems. Doch die öffentliche Meinung steht dieser Unternehmung durchaus kritisch gegenüber und bei Neuwahlen gehen die Gegner einer monarchischen Restaurationspolitik gestärkt hervor (Michels 2020, S. 18 ff.). Unmittelbar nach der Einnahme der nordafrikanischen Stadt ordnet der König in Frankreich die Einführung der Pressezensur, die Auflösung der Abgeordnetenkammer und die Begrenzung des Wahlrechts an. Als Reaktion auf diese repressiven Maßnahmen artikuliert sich in Paris heftiger Widerstand und nach blutigen Barrikadenkämpfen, die vom 27. bis 29. Juli 1830 andauern, verzichtet schließlich Charles X. auf seinen Thron. An seine Stelle tritt der Bürgerkönig Louis-Philippe aus einer Seitenlinie der Bourbonen, der sich vor allem auf das liberale Großbürgertum stützen kann (Schmid 2006, S. 10).

Die sogenannte Juli-Monarchie zeigt sich unschlüssig, was ihre zukünftige Algerienpolitik anbetrifft. Lange Zeit ist bei der Regierung und der Heeresleitung umstritten, wie weiter vorgegangen und in welchem Ausmaß eine Besiedlung erfolgen soll. Auf jeden Fall kommt es 1831 zur Gründung der Fremdenlegion, die in Algerien als Kolonialtruppe eingesetzt wird (Michels 2020, S. 55 ff.). Die aufeinanderfolgenden Herrschaftsregime in Frankreich (Juli-Monarchie, Zweite Republik, Kaiserreich und Dritte Republik) verfolgen in ihrer jeweiligen Kolonialpolitik durchaus unterschiedliche Ziele, doch letztlich schafft die Armee durch eigenmächtig getroffene Entscheidungen vor Ort vollendete Tatsachen (Jansen 2013, S. 33). Interessanterweise zählen zu wichtigen Vertretern einer aktiven Siedlungspolitik die sogenannten Saint-Simonisten (eine Strömung innerhalb der Utopischen Sozialisten), die über einen gewissen programmatischen Einfluss in Frankreich verfügen und in Algerien die praktische Umsetzung ihrer neuartigen Gemeinschaftsmodelle erproben wollen (Harnoncourt 2014, S. 13 ff.).

Obwohl die französische Öffentlichkeit keineswegs geschlossen hinter den Eroberungen steht, entscheidet sich Paris letztlich für eine dauerhafte Besetzung der nordafrikanischen Region. Obwohl die französische Öffentlichkeit keineswegs geschlossen hinter den Eroberungen steht, entscheidet sich Paris letztlich für eine dauerhafte Besetzung der nordafrikanischen Region. So rücken 1844 französische Truppen erstmals auch in das

Klaus Ronneberger — Die Gespenster der COMMUNE in ALGERIEN

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HAJER BEN BOUBAKER / MOGNISS H. ABDALLAH

Von der

COMMUNE bis HEUTE Pariser Commune, Arbeiterviertel, Migration, Rock-Against-Police. Immigration, Polizeigewalt, Rassismus

Die politischen Schichtungen der Pariser Arbeiterviertel

Rock-Against-Police-Konzert am Place des Grès in Paris am 19. April 1980; Foto — Archives Rock Against Police / AgenceIM’média.

Am 22. Januar 2021 lud Léopold Lambert, Chefredakteur des französischen Magazins Funambulist zwei Freund*innen des Magazins, den Journalisten und Aktivisten Mogniss H. Abdallah und die Soziologin und Musikjournalistin Hajer Ben Boubaker, zu einem Gespräch bei einem Spaziergang ein. Das Gespräch fand in jenen Vierteln statt, wo die Commune ihre letzten Gefechte mit der Versailler Armee austrug. In den vergangenen 150 Jahren haben viele proletarische und/oder migrantische Bewegungen die politischen Sedimente dieser Viertel weiter angereichert. Hajer Ben Boubaker / Mogniss H. Abdallah / Léopold Lambert — Von der COMMUNE bis HEUTE

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AU LOONG YU

The Historical

Significance and PROSPECTS of the Hong Kong, China, protest, democratization, modernization, colonialism, autonomy, suffrage

Hong Kong PROTESTS in 2019

Protests in Hong Kong 2019; Photo — Jonathan van Smit

Au Loong Yu — The Historical Significance and PROSPECTS of the Hong Kong PROTESTS in 2019

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Kunstinsert Lele Saveri Hong Kong Barricades Nach lange andauerndem Widerstand gegen die restriktive und repressive Politik der Volksrepublik China in Hongkong hat Peking der Demokratiebewegung im Juli 2020 mit dem Nationalen Sicherheitsgesetz in ihrer bisherigen Form ein (vorläufiges?) Ende bereitet. Ende Juni 2021 ist dann auch noch ein wichtiges Sprachrohr der Demokratiebewegung, die Zeitung Apple Daily, durch die Verhaftung von sieben Redakteur*innen zum Einstellen gezwungen worden. Als Lele Saveri, ein Fotograf aus Italien, im Oktober 2014 zu einem Workshop nach Hongkong eingeladen war, bemerkte er bereits auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt die spontan errichteten Strukturen, die die Straßen blockierten. Dies war der Beginn seiner intensiven Arbeit über das Umbrella Movement, das die Demonstrant*innen trotz großer Gefahr vor willkürlichen Verhaftungen beharrlich fortsetzten, und dafür von Beginn an auch diverse künstlerische Mittel einsetzten. Der Begriff Umbrella Movement entstand aus dem Einsatz von Regenschirmen, um sich gegen Pfeffersprays zu schützen. In der ersten Phase seiner Arbeit war Lele Saveri insbesondere an den kunstvoll errichteten Blockadestrukturen interessiert, die aus Paletten, Plastikfolien, Partyzelten, Tapes, Absperrgittern, Kartonschachteln, Müll, Schirmen oder Bambusstäben temporäre Architekturen schufen, die den Verkehr und damit die seit 1997 als chinesische Sonderverwaltungszone geführte Metropole an zentralen Orten lahmlegten. Der Protest richtete sich gegen die zunehmende Vereinnahmung Hongkongs durch China, in der die zugesicherten Rechte mit Füßen getreten und demokratische Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden. Was als Protestbewegung begann, entwickelte sich zu einer Auseinandersetzung, die das chinesische Regime zu immer noch repressiveren Maßnahmen greifen ließ. 2019 kehrte Lele Saveri nach Hongkong zurück, um Porträts der Protestierenden zu erstellen. Im dérive-Insert sind Fotografien der kunstvoll errichteten Barrikaden zu sehen, die der Fotograf in einer Publikation Hong Kong Barricades, die 2019 bei Humboldt Books in Mailand erschien, veröffentlichte. Lele Saveri lebt in New York und ist Mitbegründer des radikalen Künstler- und Multimediakollektivs 8-Ball Community. Seine Arbeiten wurden u. a. im MoMA (New York), Foam (Amsterdam), bei der Triennale in Milano sowie im Daegu Art Museum (Daegu/Südkorea) gezeigt. Derzeit arbeitet Saveri als Rettungssanitäter in New York. Barbara Holub / Paul Rajakovics

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dérive No 84 — PLACE INTERNATIONALE – URBANE KÄMPFE von der PARISER COMMUNE bis heute


JOCHEN BECKER

Kniestück:

BARRIKADEN Barrikaden, Aufstand, Pariser Commune, Hongkong

Auf den Barrikaden der über ganz Frankreich verstreuten Kommunen von 1870/71 standen Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und politischen Sozialisationen zusammen – so wie sich auf den von den Gelbwesten besetzten Kreisverkehren laut Hartmann und Wimmer Menschen unterschiedlicher Herkunft und politischer Einstellung zusammengefunden haben: »Kleinunternehmer diskutierten mit den Malochern aus der Logistik, Handwerker*innen der Kleinbetriebe hörten Heimarbeiter*innen zu und Jobber mit befristetem Arbeitsvertrag interessierten sich für die Sorgen der Sans-Papiers.«

1 Dieser Begriff wird heutzutage vor allem gegen den Foto-Voyeurismus im verfallenen Detroit gebraucht. 2 Éric Hazan wurde in Paris als Kind einer staatenlosen palästinensischen Mutter und eines aus Ägypten stammenden jüdischen Vaters geboren. Während des Algerienkriegs setzte er sich für die Belange der Front de Libération Nationale (FLN) ein. Während des libanesischen Bürgerkriegs ging Hazan in den Libanon, um dort als Arzt zu dienen. 1998 gründete Hazan Éditions La fabrique, wo unter anderem Bücher von Kristin Ross, George Ciccariello-Maher, Georges Didi-Huberman, Jacques Rancière, Edward Said oder die Wiederveröffentlichung von Henri Lefebvres La proclamation de la Commune erschienen sind.

Hôtel de Ville (Rathaus), Paris, 1871 (ca.), Foto — Alphonse J. Liébert, Privatsammlung Fr. Gregor, LL/50790

Barrikaden sind die statischen Momente im Fluss einer Revolution oder eines Aufstands. In der Zeit der Commune blieb bis kurz vor ihrem dramatischen Ende so viel Zeit der Langeweile, dass die Kommunard*innen froh waren über jede Abwechslung, etwa wenn ein Fotograf vorbeischaute und sie sich entsprechend der langen Belichtungszeiten in eingefrorene Posen werfen konnten. Von den bewegten Kampfhandlungen jedoch finden sich keine Bilder – erst die zahllosen Ruinen durch deutschen Kanonenbeschuss, die Kampfhandlungen der nationalen Armee sowie der Versuch der Kommunard*innen, durch verbrannte Erde und in den Weg gesprengte Gebäude die Armee aufzuhalten, geben wieder ein fotografierbares Bild ab. Diesen sogleich auf Postkarten feilgebotenen Ruin Porn1 nahmen Katastrophen-Tourist*innen vor allem aus England dankend an: Eine zum gefrorenen Bild gewordene Niederlage der Franzosen als Souvenir. In Die Dynamik der Revolte. Über vergangene und kommende Aufstände durchstreift Éric Hazan2 mit freudigem Übermut 220 Jahre Revolutionsgeschichte, von der Stürmung der Bastille bis zum Arabischen Frühling, und folgt hierbei nur dem Vorlauf und dem Beginn einer Revolution: »Die wichtigsten Aufstände entstanden nicht aufgrund politischer Ideen, sondern resultierten aus der Wut der Bevölkerung, ein ungünstiges Kräfteverhältnis kann sich von einem Tag auf

Jochen Becker — Kniestück: BARRIKADEN

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RAUL ZELIK

VENEZUELA:

Aufstieg und Fall der Ein Selbstgespräch in zwei Stimmen

»The union of housewives«, Caracas 2003, aus der Serie Super Citizens 2003 — 2005 von BitterWeber

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Venezuela steckt heute in der wahrscheinlich tiefsten Krise seiner Geschichte. Die Rohstoffe werden wieder – mit hohen sozialen und ökologischen Kosten für das Land – an ausländische Konzerne verschachert, die Klassenunterschiede sind extrem, die Währung kollabiert, und eine öffentliche Debatte darüber findet nicht statt. Arbeiter*innen verdienen drei US-Dollar im Monat – etwa so viel, wie Reiche in guten Konditoreien für ein Stück Gebäck bezahlen. Da lässt sich nicht erkennen, warum Venezuela aus linker Sicht interessant sein sollte. Im Rückblick könnte man den Chavismus wohl als politische Bewegung beschreiben, die für eine Neuzusammensetzung der herrschenden Klasse gesorgt und dabei das Fundament der venezolanischen Ökonomie – die Erdölproduktion – zerrüttet hat. In etwa so: Um die alte Oligarchie zu verdrängen, schmiedete der Chavismus ab Mitte der 1990er Jahre ein Bündnis zwischen subalternen Massen, kritischen Militärs und neuen Führungsgruppen. Die Massen wurden vom Chavismus mobilisiert, indem man die Sozialausgaben erhöhte. Die neuen aufstrebenden Gruppen in Armee, Privatwirtschaft und Staatsbürokratie hielt man bei der Stange, indem man ihre Korruption duldete, denn jene Unternehmer und Generäle, die sich unter Chávez eine goldene Nase verdienten, waren für rechte Putschpläne nicht zu haben. Aus der Perspektive der Regierungszeit unter Chávez von 1999 bis 2013 muss man den Prozess allerdings ganz anders beschreiben: Ab 1989 war es zu einer Reihe antineoliberaler Revolten gekommen, denen sich auch Teile der Armee anschlossen. Chávez, einem linken Offizier, gelang es, die vorhandenen, extremen Klassenunterschiede in der Gesellschaft zu politisieren. Er gab den spontanen Aufständen eine Stimme und bündelte ihre Energie auf ein Ziel: den Sturz des von Sozial- und Christdemokrat*innen dominierten Parteiensystems. Nach seinem Amtsantritt 1999 verfolgte Chávez eine antiimperialistische, soziale und demokratisierende Reformpolitik: Die Regierung holte sich die Kontrolle über die Ölmilliar-

dérive No 84 — PLACE INTERNATIONALE – URBANE KÄMPFE von der PARISER COMMUNE bis heute

Venezuela, Rentenökonomie, Chavismus, Erdöl, Selbstverwaltung, Klientelismus, bolivarische Revolution, Extraktivismus, Basisorganisationen, Sozialprogramm

ERDÖL-COMMUNE


MONA HARB IM GESPRÄCH ÜBER BEIRUT

Zwischen dem

Kampf ums Überleben und dem ENGAGEMENT NEUANFANG

Versammlung der Initiative Beirut Madinati, November 2019. Foto — Nadim Kobeissi

Mona Harb arbeitet als Professorin für Urbanistik und Politik an der American University of Beirut, betreibt dort gemeinsam mit Ahmad Gharbieh, Howayda Al-Harithy und Mona Fawaz das Beirut Urban Lab und ist im Großraum der Metropole stadtpolitisch aktiv. Schien der Vergleich der aktuellen Situation im gerade implodierenden Libanon mit dem der historischen Commune erst einmal weit hergeholt, schälten sich im Lauf des Gesprächs vielfältige Verknüpfungslinien über die trennenden Zeiten, Räume und Milieus hinweg heraus. Lässt sich also eine solidarische Place Internationale bilden, welche trotz Fragilität lokal und international gelebte Solidarität tatkräftig umsetzt? Jochen Becker und Christoph Laimer haben für dérive mit Mona Harb gesprochen.

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dérive No 84 — PLACE INTERNATIONALE – URBANE KÄMPFE von der PARISER COMMUNE bis heute

Beirut, Krise, Rentenökonomie, Stadtumbau, Bürgerkrieg, Wiederaufbau, Pyramidensystem, Beirut Madinati, Munizipalismus, Protest, Recht auf Stadt

für einen gesellschaftspolitischen


K ATHRIN TIEDEMANN

Zwischennutzung, Umzug,

UMNUTZUNG Theater, Stadtraum, Bühne, Black Box, Öffentlichkeit, Stadtlabor, Immobilienmarkt, Innenstädte

Perspektiven räumlicher Aneignung in Zeiten des beschleunigten Stadtumbaus »In dem Maße, wie die Menschen lernen können, ihre Interessen in der Gesellschaft entschlossen und offensiv zu verfolgen, lernen sie auch, öffentlich zu handeln. Die Stadt sollte eine Schule solchen Handelns sein, das Forum, auf dem es sinnvoll wird, anderen Menschen zu begegnen, ohne dass gleich der zwanghafte Wunsch hinzuträte, sie als Personen kennenzulernen.« Richard Sennett

Fotos — Jan Lemitz

Geschichte und Praxis der freien darstellenden Künste sind eng verknüpft mit den Umbrüchen von städtischen Strukturen am Übergang von der industriellen zur post-industriellen Stadt. Als ein bekanntes Beispiel für eine dauerhafte kulturelle Um- und Nachnutzung von ehemals industriell oder gewerblich genutzten Räumen durch Theatergruppen kann die Performing Garage in New York City gelten. Das Black Box Theater mit rund 100 Sitzplätzen befindet sich in den Räumen eines ehemaligen Metallstanzwerks in SoHo (South of Houston Street). Im 19. Jahrhundert war SoHo Standort der Leichtindustrie, verslumte mit dem Niedergang der Industrie Mitte des 20. Jahrhunderts und wurde in den Siebzigerjahren chic. 1968, als Künstler*innen begannen, den Leerstand in dem Lager- und Gewerbeviertel als Ateliers und Wohnungen zu nutzen, hatte der Regisseur und Hochschullehrer Richard Schechner die leerstehende Fabrikhalle in der Wooster Street 3 gekauft, um dort mit der von ihm geleiteten Performance Group zu arbeiten. 1980 wurde das Theater von der Regisseurin Liz Le Compte und der Wooster Group übernommen, die dort auch heute noch ihren Sitz hat, obwohl das Stadtviertel inzwischen unzählige Wellen der Gentrifizierung hinter sich hat und viele andere künstlerische Initiativen und kulturelle Einrichtungen aufgrund steigender Mieten längst verdrängt wurden.

Kathrin Tiedemann — Zwischennutzung, Umzug, UMNUTZUNG

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Grenzgänger und Brückenbauer Der Performance-Künstler und Urbanist Daniel Aschwanden ist Anfang Juli nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben

Daniel Aschwanden, PARCOURS IV: Kunst des Kartenlesens / Art of Reading Maps, 6. bis 13. Okt. 2013, urbanize!; Foto — Peter Kloser

Eines Tages stand er in der dérive-Redaktion. Er wolle Hallo sagen und uns kennen lernen. Groß und sehnig, mit warmen, wachen Augen und Lachfalten im Gesicht, bildete er eine ebenso interessante wie imposante Erscheinung. Wir waren uns davor nicht begegnet, hatten wenig bis gar keine Berührungspunkte zur Wiener Tanz- und Performance-Szene. Doch Daniel Aschwanden kannte keine Szenegrenzen. Er war Grenzgänger und Brückenbauer und verstand sein künstlerisches Werk immer auch als gesellschaftspolitisch. Mit seinen Arbeiten wollte er aufrütteln, zum Denken anregen, zu Veränderung beitragen. Darin waren wir von dérive uns mit ihm einig. 1959 im Schweizer Kanton Graubünden geboren, übersiedelte er Anfang der 1980er Jahre nach Wien und etablierte sich als Performancekünstler mit sozialer Verantwortung und aktivistischem Potenzial. Daniel Aschwandens Arbeiten waren nie Nabelschau, sondern kreisten im Großen wie im Kleinen um gesellschaftlich relevante Fragestellungen.

Elke Rauth — Grenzgänger und Brückenbauer

1988 gründete er mit dem Festival Tanzsprache im Wiener WUK ein vielbeachtetes Tanz- und Performance-Festival der freien Szene, das er bis 1994 leitete. Für das inklusive Projekt Bilderwerfer, in dem Performer*innen und Tänzer*innen mit und ohne Handicap entlang des Credos Wider den perfekten Körper! zusammenarbeiteten, wurden er und seine Kolleg*innen mit einem Staatspreis des Bundesministeriums für Kunst ausgezeichnet. Er war maßgeblich an der Schaffung des Tanzquartiers Wien beteiligt, ebenso wie an den Anfängen des Kabelwerks als alternativer Ort für künstlerisches Experiment, und engagierte sich zuletzt in der Plattform Wiener Perspektive. Mit der unübersehbaren Urbanisierung der Welt wandte sich auch Daniel Aschwanden ab den 2000er Jahren dem Stadtraum zu und erforschte in seinen Arbeiten die massiven Veränderungen mit den Mitteln seiner Körper-Kunst. Er arbeitete sich tief in urbanistische Theorien ein und entwickelte in

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Besprechungen

Der ideologische Kampf um die Interpretation der Pariser Commune – Besprechung historischer Publikationen Klaus Ronneberger

Anlässlich des hundertsten Jahrestags der Commune erschien 1971 im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von Büchern zu diesem Thema, teilweise in relativ hohen Auflagen. Dies stand nicht zuletzt im Zusammenhang mit den Auswirkungen der 68er-Revolte, die gerade in der Bundesrepublik zu einem verstärkten Interesse an der Geschichte revolutionärer Bewegungen führte. So suchten die undogmatischen Strömungen der Neuen Linken nach Modellen von Selbstregierungsformen der Massen, die sowohl eine Alternative zum bürgerlichen Parlamentarismus als auch zum etatistisch-bürokratischen Realsozialismus darstellten. Bei diesen gesellschaftspolitischen Phantasien spielte die Pariser Commune ein gewichtige Rolle, die man als Beispiel für die Ausbildung rätedemokratischer Strukturen verhandelte. Für Marxist*innen-Leninist*innen lag hingegen das Scheitern der Commune auch an der Schwerfälligkeit basisdemokratischer Entscheidungsprozesse und der fehlenden Existenz einer zentralisierten Avantgardepartei. Neben den Auseinandersetzungen zwischen den Antiautoritären und Orthodoxen wurde die Idee der Pariser Commune auch während der chinesischen Kulturrevolution (1968–1972) neu belebt, um die verknöcherten Hierarchien in den Parteiund Staatsapparaten in Frage zu stellen und zugleich den Revisionismus der sogenannten sowjetischen Renegaten anzu-

prangern, die das revolutionäre Erbe der Commune verraten hätten. Diese Argumentation bestimmte auch hierzulande das Narrativ der maoistischen K-Gruppen in den 1970er Jahren. Insofern war der Bezug auf die Pariser Ereignisse von 1871 innerhalb der damaligen Linken ideologisch sehr unterschiedlich codiert. Die Besprechung der Literatur erfolgt in alphabetischer Reihenfolge. Alle Bücher sind nur antiquarisch erhältlich

Es handelt sich hier um einen Reprint des Verlags Neue Kritik Frankfurt, programmatisch dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund nahestehend. Das Original, herausgegeben von Hermann Duncker, stellte damals die umfassendste Sammlung von Dokumenten aus der Commune-Ära im deutschsprachigen Raum dar, erweitert um Exzerpte aus der Memoirenliteratur von Zeitgenossen. Der Aufbau des Buches ist leider etwas unübersichtlich strukturiert: Originaltext und Kommentar (formuliert aus einer marxistischen Perspektive) gehen mitunter fast nahtlos ineinander über. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf Erlassen und Gesetzen der Commune, sowie Protokollen der Pariser Sektion der Internationalen Arbeiterassoziation. Gerade unter diesem historischen Aspekt ist die Publikation immer noch lesenswert.

Besprechungen

Archiv sozialistischer Literatur Pariser Kommune 1871. Berichte und Dokumente von Zeitgenossen Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik, 1969 [Erstveröffentlichung 1931] 446 Seiten

Anlässlich des 100. Jahrestages der Commune erscheint aus dem akademischen Umfeld der Kommunistischen Partei Frankreichs ein aufwändig gestalteter Prachtband mit zahlreichen Photographien und Bildern, der umgehend vom Deutschen Verlag der Wissenschaften (DDR) übersetzt wird. 1971 finden auch mehrere Kolloquien von Historiker*innen aus der DDR und der französischen Republik zu diesem Thema statt. Man muss diese Publikation allein aufgrund ihres Materialreichtums und der vielfältigen historischen Quellen als ein Standardwerk über die Pariser Commune bezeichnen. Leider fällt aufgrund der marxistisch-leninistischen Orientierung der Autor*innen die Darstellung abweichender Strömungen (Anarchosyndikalist*innen, Anarchist*innen etc.) recht einseitig aus. — Jean Bruhat, Jean Dautry, Emile Tersen Die Pariser Kommune von 1871 Berlin (DDR): VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1971 [frz. Orig. 1970] 359 Seiten

In dieser zweibändigen Publikation werden wichtige Texte der sozialistischen und anarchistischen Klassiker zur Pariser Commune vorgestellt. Im ersten Band finden sich die einschlägigen Schriften der Anarchisten Michail Bakunin und Peter Kropotkin sowie Pjotr L. Lavrov (der an der Commune aktiv teilgenommen hat, aber im Vergleich zu den anderen russischen Sozialrevolutionären seiner Epoche weitgehend unbekannt blieb). Im zweiten Band geht es um entsprechende Text-Passagen von Karl Marx, Friedrich Engels, Wladimir I. Lenin und Leo Trotzki. Alle Schriften der Klassiker sind mit einem akribischen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat versehen. Zudem hat der Herausgeber Dieter M. Schneider kurze Einführungen zu den einzelnen Autoren und ihren ideologischen Positionen verfasst. Bis heute ein Standardwerk, wenn es um die theoretische Auseinandersetzung mit der Pariser Commune geht. — Dieter Marc Schneider Pariser Kommune 1871 Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1971 Teil 1: Bakunin, Kropotkin, Lavrov, 206 Seiten Teil 2: Marx, Engels, Lenin, Trotzki, 196 Seiten

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Autor*innen, Interviewpartner*innen und Künstler*innen dieser Ausgabe: Mogniss H. Abdallah, Jochen Becker, Sabine Bitter, Hajer Ben Boubaker, Adina Camhy, Eva Geber, Arno Gisinger, Mona Harb, Michi Klein, Silvester Kreil, Christoph Laimer, Au Loong Yu, Vanessa Joan Müller, Guillaume Paoli, Elke Rauth, Klaus Ronneberger, Kristin Ross, Lele Saveri, Kathrin Tiedemann, Helmut Weber, Raul Zelik Anzeigenleitung & Medienkooperationen: Helga Kusolitsch, anzeigen(at)derive.at Website: Artistic Bokeh, Simon Repp Grafische Konzeption & Gestaltung: Atelier Liska Wesle Lithografie: Branko Bily Coverfoto: Illustration zu dem Gedicht Mai – Les deux trophées, Holzstich von Fortuné Méaulle nach einer Zeichnung von Daniel Vierge, 1874. Hersteller: Resch Druck, 1150 Wien Kontoverbindung Empfänger: dérive — Verein für Stadtforschung Bank: Hypo Oberösterreich IBAN AT53 54000 0000 0418749, BIC OBLAAT2L

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Diese Schwerpunktausgabe erscheint in Kooperation mit dem FFT Düsseldorf (Forum Freies Theater) im Rahmen des Projektes Place Internationale. Redaktion/Mitarbeit: Thomas Ballhausen, Andreas Fogarasi, Elisabeth Haid, Judith Haslöwer, Barbara Holub, Michael Klein, Andre Krammer, Silvester Kreil, Karin Lederer, Erik Meinharter, Sabina Prudic-Hartl, Paul Rajakovics, Elke Rauth, Manfred Russo

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dérive No 84 — PLACE INTERNATIONALE – URBANE KÄMPFE von der PARISER COMMUNE bis heute



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