Detroit / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 70 (1/2018)

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Jan — März 2018 No 70

Zeitschrift für Stadtforschung

dérive

dérive

DETROIT dérive

ISSN 1608-8131 8 euro


Editorial 100 Jahre Oktober Revolution, 100 Jahre Republik Österreich, 50 Jahre 1968, 200. Geburtstag von Karl Marx, 50 Jahre Le droit à la ville (Recht auf Stadt) … Die letzten und die kommenden Monate sind von zahlreichen Gedenk- und Jahrestagen geprägt. Über ein Ereignis, das vor 50 Jahren stattfand, hat die Regisseurin Kathrin Bygelow einen Film gedreht, der gerade in unseren Kinos gelaufen ist: Detroit. Im Juli 1967 fanden in Detroit Riots statt, bei denen sich nach einer Razzia in einer illegalen Bar Frustration und Zorn gegen den tief verwurzelten Rassismus, die immense Ungleichheit und die gesellschaftlich tolerierte Polizeibrutalität ihren Weg bahnten. Die auch als 12th Street Riot in die Annalen der Stadt eingegangenen Ausschreitungen kosteten 43 Menschen das Leben, über 1.000 Menschen wurden verletzt und mehr als 7.000 verhaftet. Die Stadt hatte damals schon viel von ihrem Glanz verloren. Zigtausende Arbeitsplätze in der Automobilindustrie waren aus der Stadt verschwunden, Arbeitslosigkeit, Armut, elende Wohnverhältnisse und Polizeibrutalität kennzeichneten den Alltag eines großen Teils der Bevölkerung. Betroffen waren vor allem die Schwarzen BewohnerInnen Detroits, die damals 40 Prozent der Bevölkerung ausmachten, heute sind es 80. Detroit ist das Thema des Schwerpunkts in diesem Heft. Das Schicksal der Stadt erhält seit Jahren große, wenn auch meist oberflächliche Aufmerksamkeit: Von der Ästheti­ sierung des Verfalls der Stadt, der sich so attraktiv in Coffee­ table-Books darstellen lässt – Stichwort Ruin Porn –, über den Versuch mit Creative Industries oder Urban Farming ökono­ mische Impulse zu setzen bis zur Berichterstattung über den Konkurs der Stadt. Das dominante Narrativ von Detroit wiederholt sich in den Darstellungen und oszilliert zwischen den Polen Verfall und Wiederauferstehung. Der gesellschaftspolitische Kontext und die Erklärungen dafür, wie aus Detroit Destroit werden konnte, wie die Stadt nicht ganz unpassend gelegentlich genannt wird, sind im Detail weit weniger bekannt. Dem Niedergang der Stadt liegt tatsächlich ein Akt der Zer­ störung zugrunde, der sich – wie in zahlreichen anderen Städten auch – auf Rassismus gründet. Der so genannte White Flight aus den heterogenen Innenstädten in die homogenen Vorstädte wäre ohne rassistische Praktiken im Immobilienhandel oder bei der Kreditvergabe, kombiniert mit einer spezifischen Steuerpolitik, nicht möglich gewesen. Der von Lucas Pohl betreute Schwerpunkt in dieser Ausgabe von dérive versammelt Beiträge zu unterschiedlichen Aspekten von Detroits urbaner Gesellschaft: Nach der Ein­ leitung zum Schwerpunkt stellt der Detroiter Geograf Joshua Ackers die oben genannten gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen in einem historischen Abriss der letzten Jahrzehnte der Stadt dar und analysiert die aktuelle Situation im Zeitalter der Austeritätspolitik.

Eine der sehr konkreten Auswirkungen der neoliberalen Sparprogramme ist die Wasserversorgung der Bewohner und Bewohnerinnen Detroits. Seit 2014 wurde über 100.000 Haushalten das Wasser abgedreht, weil sich die BewohnerInnen nicht mehr in der Lage sehen, ihre Rechnungen zu bezahlen. (In Österreich wird übrigens jedes Jahr rund 28.000 Haus­ halten wegen offener Rechnungen der Strom abgedreht.) Die Community-Organisation We the People kämpft seit Jahren gegen diese Politik und informiert in ihrem Beitrag für diesen Schwerpunkt über die Situation. Lucas Pohl wirft in seiner Auseinandersetzung mit Detroit auch einen Blick auf einige der stadtprägenden Wolkenkratzer, die für ihn den Fall und Wiederaufstieg sowie die Machtverhältnisse in der Stadt beispielhaft verkörpern. Darüber hinaus macht er sich Gedanken um Fragen nach Zeit und Vergänglichkeit in einer Stadt, die sich wie kaum eine andere mit ihrem Untergang konfrontiert sah und sieht. Kerstin Niemann und Alexa Färber sprechen in einem Interview mit dem Fotografen Camilo José Vergara, der Detroit seit mehreren Jahrzehnten fotografisch dokumentiert. Durch seine Arbeit ist er zu einem Chronisten der Stadt geworden, der im Gegensatz zu anderen FotografInnen keine Ruin-PornCoffeetable-Books produziert, indem er den Verfall ästhetisch in Szene setzt, sondern mit seinem Schaffen einen stadtforscherischen Zugang verfolgt. Medial wird Detroit mit Blick auf die Kunstszene immer wieder als neues New York oder neues Berlin gehandelt. Nora Küttel zeigt in ihrem Beitrag, wie es um die Lebensrealität der Künstler und Künstlerinnen zwischen Kommodifizierung, Gentrifizierung, sozialem Engagement und Vereinnahmung tatsächlich steht und wie viel – oder wie wenig – die nach Aufmerksamkeit heischenden Das-Neue…-Schlagzeilen mit der Realität der Stadt zu tun haben. Auch Scott Hocking ist Künstler in Detroit und hat für dérive einen Essay verfasst, in dem er erzählt, wie er in der Stadt aufgewachsen ist, sie immer wieder durchwandert hat, wie er begonnen hat sich künstlerisch mit ihr auseinanderzusetzen und sie nachts fotografisch dokumentiert. Der Magazinteil bringt einen Beitrag des Hamburger Urbanisten Michael Ziehl, der sich am Beispiel des Hamburger Gängeviertels, in dem er selbst seit langer Zeit aktiv ist, ansieht, wie es um die äußerst schwierigen Kooperationen zwischen BürgerInnen und Stadtverwaltungen steht. Das Kunstinsert von Cäcilia Brown trägt den schönen Titel Ausschweifendes Reden ist ein schöner Laster und zeigt u.a. einen raketenförmigen Anhänger, der dem Wiener Wagenplatz Treibstoff als Toilette dient. Christoph Laimer

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»Das Durchstreifen

von Wolkenkratzern steht

somit sinnbildlich für das Erleben

dessen, wie sich Machtverhältnisse in der Architektur einer Stadt niederschlagen.« Lucas Pohl auf S. 13 in dieser Ausgabe.

ANGEBOT: ABONNEMENT + BUCH* 8 Ausgaben (2 Jahre) dérive um 48,–/68,– Euro (Österr./Europa) inkl. ein Exemplar von: Situationistische Internationale Der Beginn einer Epoche Einleitung Roberto Ohrt Hamburg: Edition Nautilus 320 Seiten, ca. 20 Euro oder David Graeber Direkte Aktion Hamburg: Edition Nautilus 352 Seiten, ca. 28 Euro Diesmal stehen zwei Bücher der Edition Nautilus zur Auswahl. David Graebers Direkte Aktion ist eine »ethnografische Studie der Bewegung für globale Gerechtigkeit«. Der Beginn einer Epoche versammelt zentrale Texte der Situationistischen Internationale wie Die Theorie des Umherschweifens oder Formular für einen neuen Urbanismus. *Solange der Vorrat reicht!

dérive Zeitschrift für Stadtforschung

Bestellungen an: bestellung@derive.at David Graebers Buch versenden wir aufgrund der hohen Portokosten nur in Österreich.

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Inhalt 01 Editorial CHRISTOPH LAIMER Schwerpunkt 04 — 05 Eine STADT im Zerfall Vorwort zum Schwerpunkt Detroit LUCAS POHL 06 — 12 The DECLINE of Detroit in Three ACTS JOSHUA ACKERS 13 — 18 Die unsterbliche STADT: Das UNBEHAGEN in den Wolkenkratzern von Detroit LUCAS POHL 19 — 26 TRACKING the Transformation of Detroit’s Cultural Heritage Interview with the photographer CAMILO JOSÉ VERGARA ALEXA FÄRBER, KERSTIN NIEMANN 27 — 31 ART for whose SAKE? Zwischen Kommodifizerung, Gentrification und sozialem Engagement NORA KÜTTEL 37 — 42 Detroit Nights SCOTT HOCKING 43 — 45 MAPPING the Water CRISIS WE THE PEOPLE OF DETROIT COMMUNITY RESEARCH COLLECTIVE

Kunstinsert 32 — 36 CÄCILIA BROWN Ausschweifendes Reden ist ein schöner Laster Magazin 46 — 50 Zukunftsfähigkeit durch Kooperation – Ein Laborbericht aus dem Gängeviertel MICHAEL ZIEHL Besprechungen 51 — 55 Die neuen Munizipalismen. Soziale Bewegungen und die Regierung der Städte. S. 51 All that is Solid Melts into Air — An Alternative History of the City S. 52 Dos Naye Lebn – Birobidschan, das Jerusalem am fernöstlichen Amur S. 53 Diese Wildnis hat Kultur S. 54 Das Ringen um die nackte Existenz S. 55 60 IMPRESSUM

– dérive – Radio für Stadtforschung Jeden 1. Dienstag im Monat von 17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0 oder als Webstream http://o94.at/live. Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235

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LUCAS POHL

Eine STADT im Zerfall Vorwort zum Schwerpunkt Detroit »Das Phänomen Stadt zerfällt, indem es sich entfaltet« — Henri Lefebvre

Foto — Scott Hocking

Das Vorwort zu einem Themenheft über Detroit zu schreiben gestaltet sich in etwa so schwer, wie die Gestaltung eines solchen Schwerpunktes. Schließlich wurde kaum eine Stadt innerhalb und außerhalb der Stadtforschung aus so vielen Gründen herangezogen, um urbane Phänomene in der Geschichte und Gegenwart zu erörtern, dass sich bei einer Zusammenstellung an Beiträgen über Detroit notwendig die Frage stellt, wie sich die einzelnen Texte zu einem großen Ganzen verknüpfen lassen. Als Hochburg der Automobilindustrie avancierte Detroit unter der Federführung von Henri Ford im 20. Jahrhundert zu einer der prosperierendsten und wohlhabendsten Städte der USA. Im Zuge der Krise des Fordismus und politischen Unruhen schrumpfte Detroit seit den 1950er Jahren schließlich sukzessive um über die Hälfte der Bevölkerung. Zeitweise verließ alle 48 Minuten eine Familie die Stadt, wie Joshua Akers in seinem überblicksartigen Abriss von Detroits Entwicklung für diesen Schwerpunkt festhält. Nachdem das Bild der Stadt für einige Zeit vor allem durch ausgestorbene Wohnviertel, leere Straßenzüge und verfallene Wolkenkratzer geprägt war, sorgte der Zuzug von jungen Kreativen für einen erneuten Imagewandel. Die Stadt erfindet sich neu und wird zu einem Anziehungspunkt des Do-It-Yourself-Urbanismus. Dieses Comeback bringt jedoch einige millionenschwere Investments und Spekulationsvorhaben mit sich. Ganze Viertel werden abgerissen, neugebaut und saniert, um Platz zu machen für ein neues

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Detroit, dessen Ausmaße sich zum jetzigen Zeitpunkt zwar noch nicht vorhersagen lassen, doch von Nora Mariella Küttel in ihrem Beitrag bereits passend mit der Frage Whose Detroit? infrage gestellt werden. Da ein Heft zu Detroit eventuell nahelegt, dass hier ein repräsentatives Bild von der Stadt gezeichnet werden würde, möchte ich eingangs dafür sensibilisieren, wie unmöglich es ist, ein solches Bild zu entwerfen. Längst sind die Zeiten vorbei, in denen Synonyme, wie Motor City oder Motown herhalten konnten, um Detroit hinlänglich zu bezeichnen und auch das Gerede von Detroit als sterbender Stadt hat ausgedient. Detroit Is No Dry Bones, um den Titel des neuen Buchs von Camilo José Vergara zu zitieren. Vergara, der in einem Interview mit Alexa Färber und Kerstin Niemann in dieser Ausgabe darüber reflektiert, wie er die Stadt seit über 25 Jahren dokumentarisch begleitet, gehörte zu den ersten Fotografen, die den Ruinen Detroits ihre Aufmerksamkeit schenkten. Doch auch wenn der Verfall immer noch omnipräsent das Stadtbild prägt und bis heute ganze Viertel verfallen und weggerissen werden, stehen gerade in der Innenstadt Detroits frisch sanierte Hochhäuser und Wohnbauten bereit, um Zugezogene willkommen zu heißen. Wo vor ein paar Jahren noch Wohnviertel waren, finden sich nun großzügige Grünflächen und zwischen Ateliers, Cafés und urbanen Gärten wirken Armut und Obdachlosigkeit, die vor einiger Zeit noch ausschlaggebend für die Debatten rund um Detroit waren, heute eher wie Randerscheinungen. Diesen zunehmend unsichtbar werdenden AkteurInnen der Stadt widmet sich Scott Hocking in seinem essayistischen Beitrag. Der Künstler baut seit Jahren Skulpturen an verlassenen Orten Detroits und gibt einen einzigartigen Einblick in seine nächtliche Arbeit in den Ruinen. Detroit ist die Stadt der Widersprüche. Vielleicht ist sie gerade deshalb in den letzten Jahren zu einem Spielfeld für die kritische Stadtforschung geworden. Während die Geisterstadt zu einem ikonischen Beweis für die Endlichkeit der kapitalistischen Stadtentwicklung wurde, liefern die großangelegten Gentrifizierungsprozesse und neoliberale Austeritätspolitik gegenwärtig vor allem das Material für kritische Reflexionen über aktuelle Trends der kapitalistischen Stadtentwicklung. Wo sich gestern noch wie nirgends sonst über die Postapokalypse fantasieren ließ, schreitet heute bereits mit aller Beharrlichkeit die Wiederherstellung des Status Quo voran – ein Gegensatz, dem ich mich in meinem Beitrag zu diesem Heft durch einen Blick auf die Wolkenkratzerarchitektur Detroits gewidmet habe. Über die Schwierigkeit, eine einheitliche Erzählung von der Stadt zu liefern, löst Detroit damit auf eindrucksvolle Weise ein, was Henri Lefebvre in seiner programmatischen Schrift La Révolution urbaine aus den 1970er Jahren als Ausgangspunkt für das künftige Denken der Stadtforschung in Aussicht stellte: die Annahme einer Unmöglichkeit von der Stadt als Ding sprechen zu können. Während Lefebvres These jedoch vor allem darauf zielte, die Stadt nicht mehr als lokal abgrenzbaren Gegenstand, sondern als global wirkmächtigen Urbanisierungsprozess zu verstehen, sensibilisiert Detroit für eine andere Tragweite dieser Unmöglichkeit. Die Stadt wird zum Unding, doch nicht, weil sie sich grenzenlos ausbreitet, sondern weil sie keine Einheit darstellt – weder heute noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte. Was uns Detroit lehrt, ist die inhärente Widersprüchlichkeit des Urbanen. In Detroit zerfallen mehr als die Gebäude, das Phänomen Stadt selbst zerfällt. Sobald man versucht die Stadt auf den Begriff zu bringen, entzieht sich ein Teil von ihr dieses Zugriffs. Von Detroit sprechen heißt demnach immer auch nicht von Detroit zu sprechen. Wie eine glibberige Masse lässt sich die Stadt nicht festhalten, sodass sie keine zusammenhängende Geschichte, sondern nur einen Flickenteppich an inkompatiblen Versatzstücken liefert. Anstelle eines übergeordneten Rahmens, geben die Texte zum Schwerpunkt Detroit einen Einblick in die unterschiedlichen und teils paradoxen Wirklichkeiten der Stadt, versammelt von ForscherInnen und KünstlerInnen aus Detroit und anderswo. Und weil kein Bild und kein Text repräsentativ dafürsteht, was Detroit im Kern ausmacht – weil jedes Narrativ vernachlässigt, ausblendet oder schlicht vergisst – lässt die Zusammenstellung von Texten, die dieses Themenheft vereint, auch keinen anderen Rahmen zu als den Namen der Stadt selbst. Lucas Pohl ist Doktorand am Institut für Humangeographie der Goethe Universität Frankfurt am Main. Er promoviert zum Leerstand und Verfall von Wolkenkratzern und analysiert in diesem Zusammenhang, welche Konsequenzen von solchen Objekten in unterschiedlichen Städten ausgehen. Allgemeiner interessiert er sich für eine Vermittlung von Philosophie, Psychoanalyse und Stadtforschung mit Fokus auf den Arbeiten von Jacques Lacan, Henri Lefebvre, Alain Badiou und Slavoj Žižek.

Lucas Pohl — Eine STADT im Zerfall

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JOSHUA AKERS

The DECLINE of Detroit in Three ACTS

housing, austerity, deindustrialization, subsidies, eviction, racism, suburbs, speculation

Series: Hope starts here; All photos — Romain Blanquart

On a hot humid day in the middle of August, seven members of Detroit Eviction Defense quickly packed boxes and loaded a moving truck on the east side of Detroit. They were aiding a single-mother and her three children who were losing their home less than seven months after agreeing to purchase it on a land contract. This house, a three-bedroom colonial in the rough and tumble wilds of a long-neglected neighborhood, was to be a home for the Morgan family. A site of stability, as Ms. Morgan’s children chased their aspirations for higher education and a better life. Instead, they now had no place to live just three weeks before the start of the school year. As the truck was being loaded it was unclear where they would go.

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LUCAS POHL

Architektur, Stadtgeschichte, Ruin Porn, Wolkenkratzer, Unsterblichkeit, Machtverhältnisse

Die unsterbliche STADT

Das UNBEHAGEN in den Wolkenkratzern von Detroit

Der Book Tower wurde 1926 als Detroits höchstes Gebäude eröffnet. Foto: Scott Hocking.

1 Inwiefern Lefebvres Lesart mit einer psychoanalytischen Sichtweise auf (vertikale) Architektur korrespondiert, habe ich in einem anderen Beitrag näher erläutert (Pohl 2018).

Die Psyche der Stadt Kaum etwas zeugt derart eindrucksvoll vom Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg Detroits wie dessen Wolkenkratzer. Während zehntausende Gebäude in den letzten Jahren verfallen, verbrannt und weggerissen worden sind, verweilen sie als Zeugen einer Stadt, die einmal zu den reichsten und prosperierenden Metropolen der Welt gehörte; die durch Schlagzeilen als ärmste, kriminellste und schließlich sterbende Stadt weltweit Berühmtheit erlangt hat; und die vielleicht eines Tages als umfangreichstes Projekt einer städtischen Wiederauferstehung in die Stadtentwicklungsgeschichte eingehen wird. Während sich ein Großteil der gebauten Umwelt stetig verändert, wohnt Wolkenkratzern eine eigenartige Zeitlosigkeit inne. Doch nur, weil wir uns durch sie einen Zugang zur Geschichte einer Stadt verschaffen können, sollte nicht vergessen werden, dass uns solch schlafende Giganten nicht einfach die Geschichte der Stadt erzählen. Weder erhalten wir durch sie einen allgemeinen Blick auf die städtische Geschichte, noch ist es eine beliebige Geschichte, die Wolkenkratzer erzählen. Wolkenkratzer sind architektonische Manifestationen von Größe und Imposanz und somit von Grund auf Ausdruck und Zeugnis eines politischen Stadtverhältnisses. Henri Lefebvre führt an einer Stelle seines Hauptwerkes La production de l‘espace in einem psychoanalytisch inspirierten Vokabular aus: »Die arrogante Vertikalität von Wolkenkratzern ... führt ein phallisches oder genauer ein phallokratisches Element in den Bereich des Visuellen ein; der Zweck dieser Darstellung, diesem Bedürfnis zu beeindrucken, ist, den Zuschauenden einen Eindruck von Autorität zu vermitteln. Vertikalität und Höhe waren schon immer der räumliche Ausdruck von potentiell gewaltiger Macht.« (Lefebvre 1974, S. 117)1 Das Durchstreifen von Wolkenkratzern steht somit sinnbildlich für das Erleben dessen, wie sich Machtverhältnisse in der Architektur einer Stadt niederschlagen. Wolkenkratzer sind der materialisierte Ausdruck dessen, wie sich Macht in einer Stadt wortwörtlich zur Schau stellt – eine »Bühne aus Beton, Stahl und Glas«, um es mit den Worten des Soziologen

Lucas Pohl — Die unsterbliche STADT: Das UNBEHAGEN in den Wolkenkratzern von Detroit

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ALEXA FÄRBER, KERSTIN NIEMANN

documenting, photography, image-making, historization, ruin porn, segregation, investment

TRACKING the Transformation of

Detroit’s Cultural Heritage Interview with the photographer Camilo José Vergara

Tribute to street artist Nekst, by New Zealand artist Askew One; Photo — Camilo José Vergara

The slow decay of urban architectures and infrastructures, derelict buildings, wasteland, urban wilderness, and scrapped homes in Detroit’s city center contributes to the common image of the deindustrialized city. Yet citizens have adapted to and survived this long-term process of depopulation and economic downfall over the last six decades. Derelict buildings and structures become landmarks, gradually approaching the status of historical monuments and points of orientation over time. A new building boom driven by investment in private developments has led to the (re)building of some downtown areas. This process of (re)invention, known as the New Renaissance, is giving way to yet another future for the city, which has been in a constant state of renewal since its Golden Age in the 1940s and 1950s. Alexa Färber & Kerstin Niemann — TRACKING the Transformation of Detroit’s Cultural Heritage

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NORA KÜTTEL

Visual arts, Gentrifizierung, socially engaged art, Instrumentalisierung, Prekariat

ART for

whose SAKE?

Zwischen Kommodifizierung, Gentrification und sozialem Engagement

Blick auf einen südlichen Teil der Packard Automotive Plant; Foto — Nora Küttel

Motor City, Motown, The D – Detroit trägt nicht nur viele Namen, um die Stadt kursieren auch zahlreiche Narrative. Während die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem vom wirtschaftlichen Aufstieg Detroits geprägt gewesen ist – Detroit als Synonym des American Dream, Detroit als Arsenal of Democracy –, nehmen in den darauffolgenden Jahren vor allem Erzählungen vom Niedergang den Platz ein. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts münden diese in Artikeln, Büchern und Zeitungsberichten mit den eingängigen Titeln wie Is Detroit Dead? (Eisinger 2013), If Detroit is Dead, Some Things Need to Be Said at the Funeral (Tabb 2015) oder Detroit – An American Autopsy (LeDuff 2013). Wie passend es ist, im Kontext einer Stadt, in der immer noch Menschen leben, wohnen und arbeiten, von Tod zu sprechen, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt. Viel mehr ist hier interessant, dass etwa seit den 2010er Jahren wiederum eine neue Richtung der Erzählung eingesetzt hat. Sie dreht sich um die Zukunft Detroits und darum,

welche Rolle KünstlerInnen in ihr einnehmen. Hierbei wird immer wieder ein Zusammenhang hergestellt zwischen KünstlerInnen und einer Renaissance oder einem Comeback Detroits. Das geschieht einerseits eher fragend: »Can Detroit’s Vibrant Arts Scene Save the City?« (La Force 2014), »Can the Arts Save Detroit?« (Tolf 2014), andererseits mit einer klareren Aussage: »Detroit – The Dream is Now. The Design, Art and Resurgence of an American City« (Arnaud 2017). Doch solche Artikel werfen meist eher Fragen auf als dass sie Antworten finden. Wer sind also diese KünstlerInnen, die vielleicht in der Lage wären, Detroit zu retten? Wie sähe solch eine Rettung überhaupt aus? Und welche Spannungen und Widersprüche verbergen sich in Detroit hinter der vielleicht auch glorifizierten Rolle von KünstlerInnen und Kunst in der Stadtentwicklung?

Nora Küttel — ART for whose SAKE?

Outdoor Gallery des Grand River Creative Corridor, diverse KünstlerInnen; Foto — Nora Küttel

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Kunstinsert: Cäcilia Brown Ausschweifendes Reden ist ein schöner Laster Cäcilia Brown beschäftigt sich mit dem öffentlichen Raum und seinen Ordnungen und Hierarchien. Sie wählt dafür das Medium der Skulptur mit dessen ihm ganz eigenen Ordnungen und Hierarchien. Manche davon sind ganz profan – Gewicht, Volumen, Können, Farbe, Schmutz  – und manche Luxusprobleme, wie sie unlängst eine Einzelausstellung betitelt hat. Die Werktitel in jener Ausstellung lauteten dementsprechend: Aktivbürger, Aktivbürger (Kopie), Innerstädtischer Grillgeruch, Er zieht ein und ich zieh aus und auch Ohne Titel (ein typisches Luxusproblem der Gegenwartskunst in ihrem Bemühen die Welt zu fassen und für prekäre Momente ein organischer Teil von ihr zu werden). Cäcilia Brown schweißt und gießt Stahl, Beton und Gips zu teilweise beweglichen Objekten, die Elementen des städtischen Raumes ähneln, wie Mistkübeln, Zäunen, Toren und Mauern. Doch auch destruktive Akte wie Verbrennen oder Aus-dem-Fenster-Werfen sind Teil ihrer Methoden, ebenso wie die Kopie (s.o.) und die Sammlung. Ihr Beitrag für dérive startet mit einer Installationsansicht aus dem Leopold Museum in Wien, wo derzeit eine umfangreiche Installation von ihr zu sehen ist. Im Bildvordergrund sehen wir Auftürmungen gebogener Wachsobjekte, die hängend Raum okkupieren und den Spann­ gewichten von Stromleitungen nachempfunden sind. Dahinter einen raketenförmigen Anhänger, der dem Wiener Wagenplatz Treibstoff als Toilette dient. Als letztes Bild ihres Beitrags sehen wir Cäcilia Brown selbst, die ein halbfertiges Traggerüst in Augenschein nimmt. Derzeit hat der Wagenplatz Treibstoff bestehend aus rund einem Dutzend Wagen einen temporären Platz (mit Toiletten) im 12. Bezirk gefunden. Auf Betreiben des Bezirksvorstehers wohl nur für kurze Zeit, obwohl der Grundstückseigentümer einer längeren Zwischennutzung zustimmen würde. Daher die museale Zwischennutzung des voll funktionalen Objekts, das in größtmöglichem Kontrast zu den gediegenen Museumsräumen steht, deren dunkler Holzboden und steinverkleidete Foyers den Geist des Wiener Fin de Siècle evozieren sollen. Holzverkleidungen ganz anderer Art verwendet Brown für eine weitere aktuelle Arbeit, deren Nahsicht sie für die folgende Doppelseite gewählt hat. Ihre Sammlung von Fotos öffent­ licher Toiletten in Tokio ist auf Sperrholzplatten montiert, die als Träger von Wahlkampfplakaten dienten. Deren teils idealisierte, teils gehässige Botschaften sind zur Wand gedreht, die im Raum der Zeitschrift illusorisch und papierdünn erscheint. Auf der Folgeseite schließlich sind Fragmente von Gesprächen zu lesen, die Brown mit befreundeten KünstlerInnen zu Themen wie Pünkt­ lichkeit, Politik und Alltagsritualen führte. Cäcilia Browns Arbeit ist noch bis 26. Februar 2018 im Rahmen der Ausstellung Spuren der Zeit im Leopold Museum in Wien zu sehen.

Andreas Fogarasi

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SCOTT HOCKING

abandonment, sounds, walking, sculpture, locations, materials

Detroit Nights

Photos — Scott Hocking

For the first 12 years of my life, I lived on a dirt street. Trucks would periodically come by and oil it, to keep the dust down. We had ditches, a rotating assortment of broke down cars being repaired that covered both the driveway and lawn, and a couple of big trees in the front yard – the bigger one was whitewashed at the trunk. It was a working-class neighborhood; kids everywhere. Our parents would yell our names at dinnertime, or at dark, or whenever we had to come home – because we were always outside, somewhere. We lived in an 800-square foot house, which sold for 800 bucks a couple of years ago. A handful of houses down the street, running perpendicular to it, was the industry-lined C & O Railroad. Ziebart Rustproofing, Profile Steel and Wire – whose giant front lawn we used for baseball games; the signpost that read »No Ball Playing« was home plate – and further east, a sprawling 7-Up Bottling Plant. There was a pedestrian walkway between the steel and pop factories, allowing people to walk to and from the railroad. On the other side of the tracks, the streets were paved.

Scott Hocking — Detroit Nights

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WE THE PEOPLE OF DETROIT COMMUNITY RESEARCH COLLECTIVE

MAPPING the Water CRISIS The We the People of Detroit Community Research Collective was formed in 2015 by a group of academics, community members, and community activists from We the People of Detroit, a community-led organization that has assisted Detroiters in their struggles for a right to the city and its resources. The impetus for the formation of our research collective was the severe impacts of austerity policies on Detroit’s communities and, in particular, on the working-class and disadvantaged African-American communities that comprise the majority of the city’s population. Our collective has been dedicated to documenting the social consequences of austerity policies, focusing on the racial inequities of those policies and the way in which those policies have perpetuated systematic and structural forms of racism that shape the allocation of wealth, jobs, security, education, health, and many other social and economic rewards and resources. Our work started with one of the most basic of those resources: water. We started with water because the communities we work in, work with, and work for are currently contending with a water crisis instigated by a campaign to shut off water to households with unpaid water bills. The narrative of the Detroit Water and Sewerage Department (DWSD) and municipal officials is that water is shut off at homes where water bills aren’t being paid. Water shut-offs, for the DWSD and these officials, are not a crisis, but simply a responsible business practice. The research of our collective, however, tells a different story. Our research shows how water bills in Detroit go unpaid not because water customers are irresponsible, but because water is unaffordable. While the U.S. Environmental Protection Agency recommends that access to water and sewers should cost no more than 2.5% of a family’s income, we show that many Detroiters are faced with bills that amount to 10% or even more of their income. We also document how water rates in Detroit have increased even as public assistance to the city’s most impoverished residents has been cut and even as unemployment levels in the city have rose—both factors leading to water bills consuming ever and ever greater shares of the income of the city’s most disadvantaged families and communities. Our research shows that, in Southeastern Michigan, the severity of policie affecting customers who are late on their water bills corresponds to the race of a water authority’s customers, so that water authorities in white-majority suburban municipalities offer much more lenient late-payment options

We the People of Detroit Community Research Collective — MAPPING the Water CRISIS

Detroit Light Brigade protest against mass water shut-offs in front of Michigan Central Station, Detroit. Photograph by Shanna Merola.

than the DWSD offers its customers. Our research also shows that some suburban water authorities do not even allow water to be shut off at all—almost as if they understand that water is a human right as well as a commodity. Our research shows that the DWSD, a public agency paid for by the citizens of Detroit, has for decades funded water infrastructure that has supported the growth of white-majority suburban municipalities around Detroit. Officials in these municipalities have consistently accused African-American majority Detroit of overcharging for water, even as the DWSD sells water at reduced rates to suburban water authorities, who then mark up that water, sell it to their customers, and retain the price difference. Our research shows how the regionalization of Southeastern Michigan’s water system is shifting control of the DWSD from African-American majority Detroit to the white-majority suburban region that the department has ended up serving, how suburban officials initially resisted regionalization because of what they called the delinquency of Detroit’s water customers, how the DWSD responded to these concerns by accelerating water shut-offs to delinquent customers, and how these accelerated shut-offs apparently convinced suburban municipalities to agree to a regional water authority. Perhaps most consequentially, our research shows that what the DWSD and suburban officials present as sound business practice is, on the ground, a practice that is displacing working-class and disadvantaged African-American families and communities for whom water bills are unaffordable expenses. We document how the DWSD’s program to put unpaid water bills on property taxes is materially contributing

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MICHAEL ZIEHL

der KRISE

Das Gängeviertel in Hamburg als Reallabor zur Koproduktion urbaner Resilienz Magazin Hamburg, 22. August 2009. Rund 200 KünstlerInnen und AktivistInnen besetzen das Gängeviertel, ein denkmalgeschütztes Ensemble aus zwölf leerstehenden Gebäuden in der Hamburger Innenstadt. Zuvor war es nach zehnjährigem Leerstand von der Freien und Hansestadt Hamburg (FHH) an einen Investor verkauft worden, der es entwickeln sollte. Für rund 50 Millionen Euro sollten Wohnungen, Büros und Gewerbeflächen entstehen, wofür die FHH den Abriss von großen Teilen der Bausubstanz genehmigte. Doch diese »neoliberale Erneuerungsstrategie« (Breckner 2016, S. 192) scheiterte. Der Investor geriet in Folge der um sich greifenden Finanzkrise ab 2009 in Zahlungsschwierigkeiten. Diese Situation nutzten die AktivistInnen um mit der Besetzung gegen den geplanten Abriss zu protestieren. In diesem Zuge kritisierten sie auch die Stadtentwicklungspolitik des Hamburger Senats, denn sie sahen darin die zentrale Ursache für eine weitgehende Verödung der Innenstadt und für die Gentrifizierung von Wohnquartieren. Vor allem die Verdrängung von KünstlerInnen und Kulturschaffenden bei gleichzeitiger Selbstdarstellung der FHH als kreative und tolerante Stadt standen in der Kritik. Viele der BesetzerInnen waren selbst von steigenden Mietpreisen oder Verdrängung in Folge von Projektentwicklungen betroffen. Daher forderten sie die Entwicklung des Gängeviertels als selbstorganisiertes Quartier für künstlerische Nutzungen mit günstigen Mieten. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, wurde die Besetzungsaktion künstlerisch inszeniert und stadtweit mit dem Slogan Komm in die Gänge beworben (Gängeviertel e.V. 2012, S. 45ff.).

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Fabrique im Gängeviertel nach der Sanierung 2015. Alle Fotos — Franzi Holz

Kooperation, Selbstverwaltung, Resilienz, Paternalismus, Projektentwicklung, Reallabor, Governance, Gängeviertel

Kooperation in


Besprechungen Die Neuerfindung der Demokratie Elke Rauth

Munizipalismus lautet das aktuelle BuzzWord für viele an einem tiefgreifenden Wandel der urbanen Gesellschaft interessierte linke Bewegungen, die unter den Auswirkungen der Dauerkrise seit 2007 an einer solidarischen Praxis für den städtischen Alltag arbeiten. Gemeint ist damit eine neue Form des Regierens, die den leeren Hallen der Demokratie wieder echtes Leben einhauchen möchte. Entstanden aus den Bewegungsinitiativen und in den Nachbarschaften betrachten die munizipalistischen Regierungen auch nach der Eroberung der institutionellen Macht eben diese als ihre PartnerInnen in der Formung und Umsetzung ihrer politischen Agenda einer offenen, solidarischen und gerechten Gesellschaft. Viele der munizipalistischen Ansätze fußen dabei auf weiter zurückreichende Theorien wie etwa Murray Bookchins System eines libertären Kommunalismus, doch für die Praxis fungiert insbesondere Spanien mit den Aushängeschildern Barcelona und Madrid als leuchtende Inspirationsquelle. Bei den spanischen Kommunalwahlen 2015 führten – nach den Platzbesetzungen der 15M-Bewegung 2011 und den Erfolgen der Bewegung gegen Zwangsräumungen PAH – zahlreiche Wahlkämpfe munizipalistischer Plattformen in einer ganzen Reihe spanischer Städte zum Sieg. Seither befinden sich die Bewegungs-Plattformen, die ganz im

Gegensatz zu Podemos keine hierarchische Parteienstruktur anstreben, in einem ebenso schwierigen wie hoffnungsvollen Prozess der Aneignung der Institutionen des Politischen und der »Erprobung einer neuen Institutionalität« durch das Zusammendenken von sozialen urbanen Bewegungen, Nachbarschaften und politischen Institutionen. Einiges ist dazu im Netz bereits publiziert worden und auch die dérive-Ausgabe 69 zum urbanize! Festival Demokratie und Stadt im Herbst 2017 hat sich intensiv mit der munizipalistischen Idee beschäftigt. Ende 2017 ist dazu nun eine weitere Publikation erschienen, die sich unter dem Titel Die neuen Munizipalismen. Soziale Bewegungen und die Regierung der Städte aufmacht, eine kritische Analyse der munizipalistischen Praxen in Spanien, ihrer Erfolge und Fallstricke zu liefern. Gut zwei Jahre nach dem unerwarteten David-gegen-Goliath-Sieg der munizipalistischen Plattformen betrachtet der schmale Band, erschienen bei transversal texts, in acht Beiträgen den Status Quo: Was ist bisher geschehen, welche Erfahrungen – und welche Fehler – wurden gemacht und welche Erkenntnisse und Notwendigkeiten ergeben sich daraus? Die HerausgeberInnen Christoph Brunner, Niki Kubaczek, Kelly Mulvaney und Gerald Raunig lassen dabei die PraktikerInnen in den neuen Stadtregierungen ebenso zu Wort kommen, wie sie einen Blick von außen liefern, der die Entwicklungen zu theoretisieren versucht. Gleich mit dem Einführungsartikel Die politische Neuerfindung der Stadt liefern Niki Kubaczek und Gerald Raunig einen spannenden Überblick, der von den un­mittelbaren Wurzeln der munizipalistischen Bewegungen und ihrem urbanen Terrain bis zu den Prozessen, Ansprüchen, Forderungen und Zielen reicht. Das Munizipalistische Manifest versammelt gemeinsame Positionen, die im Juli 2016 auf der 1. Tagung zu Munizipalismus, Selbstverwaltung und Gegenmacht diskutiert wurden. Dabei wird auch klar, dass mit der Verlagerung des Politischen auf die Ebene von Städten und Gemeinden keineswegs der Rückzug ins Lokale gemeint ist; ganz

Besprechungen

im Gegenteil verfolgt der Munizipalismus die globale Vernetzung solidarischer Städte als gemeinsames Bollwerk gegen die EU-weite Austeritätspolitik des Sozialabbaus und der geschlossenen Grenzen sowie die Macht der Konzerne. Wie anders sich das munizipalistische Politikverständnis gestaltet, wird insbesondere in den Artikeln aus der Praxis klar: Übersetzt von Gerald Raunig erläutert etwa Montserrat Galcerán Huguet, Philosophie-Professorin und seit 2015 Gemeinderätin in Madrid, die Erfolge und Schwierigkeiten im »Kampf für den sozialen Wandel und seine Ankunft in den Institutionen«, während sie gemeinsam mit ihrem Ahora Madrid-Kollegen, dem Geschichtswissenschafter, Aktivisten und Gemeinderat Pablo Carmona Pascual, Die Zukünfte des Munizipalismus entlang von Feminisierung der Politik und demokratischer Radikalisierung analysiert. Auch Manuela Zechner arbeitet nah an der Praxis und liefert mit Let‘s play wichtige Überlegungen zu neuen Formen von Subjektivität und Kollektivität, sowie den Ein- und Ausschlüssen eines behaupteten Wir. Insgesamt schafft der Band eine wertvolle Bestandsaufnahme für das Echtzeit-Labor Munizipalismus, in dem Theorie und Praxis tastend entwickelt und erprobt werden. Dazu gehört wohl ebenso, dass es für die Zukunft einer Sprache und Übersetzungsleistung bedarf, die auch den theoretischen Diskurs für unterschiedliche Milieus zugänglich macht. Aber noch ist das letzte Wort ja nicht geschrieben. — Christoph Brunner, Niki Kubaczek, Kelly Mulvaney, Gerald Raunig (Hg.) Die neuen Munizipalismen. Soziale Bewegungen und die Regierung der Städte. transversal texts, 2017 140 Seiten, 10 Euro. Auch erhältlich als Gratisdownload unter transversal.at

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Okt — Dez 2017 No 69

Zeitschrift für Stadtforschung

dérive

dérive

dérive Nr. 1 (01/2000) Schwerpunkte: Gürtelsanierung: Sicherheitsdiskurs, Konzept – und Umsetzungskritik, Transparenzbegriff; Institutionalisierter Rassismus am Beispiel der »Operation Spring« dérive Nr. 2 (02/2000) Schwerpunkte: Wohnsituation von MigrantInnen und Kritik des Integrationsbegriffes; Reclaim the Streets/ Politik und Straße dérive Nr. 3 (01/2001) (vergriffen) Schwerpunkt: Spektaktelgesellschaft dérive Nr. 4 (02/2001) Schwerpunkte: Gentrification, Stadtökologie dérive Nr. 5 (03/2001) Sampler: Salzburger Speckgürtel, Museumsquartier, räumen und gendern, Kulturwissenschaften und Stadtforschung, Virtual Landscapes, Petrzalka, Juden/Jüdinnen in Bratislava dérive Nr. 6 (04/2001) Schwerpunkt: Argument Kultur dérive Nr. 7 (01/2002) Sampler: Ökonomie der Aufmerksamkeit, Plattenbauten, Feministische Stadtplanung, Manchester, Augarten/Hakoah dérive Nr. 8 (02/2002) Sampler: Trznica Arizona, Dresden, Ottakring, Tokio, Antwerpen, Graffiti dérive Nr. 9 (03/2002) Schwerpunkt in Kooperation mit dem Tanzquartier Wien: Wien umgehen dérive Nr. 10 (04/2002) (vergriffen) Schwerpunkt: Produkt Wohnen dérive Nr. 11 (01/2003) Schwerpunkt: Adressierung dérive Nr. 12 (02/2003) Schwerpunkt: Angst dérive Nr. 13 (03/2003) Sampler: Nikepark, Mumbai, Radfahren, Belfast dérive Nr. 14 (04/2003) (vergriffen) Schwerpunkt: Temporäre Nutzungen dérive Nr. 15 (01/2004) Schwerpunkt: Frauenöffentlichkeiten dérive Nr. 16 (02/2004) Sampler: Frankfurt am Arsch, Ghetto Realness, Hier entsteht, (Un)Sicherheit, Reverse Imagineering, Ein Ort des Gegen dérive Nr. 17 (03/2004) Schwerpunkt: Stadterneuerung dérive Nr. 18 (01/2005) Sampler: Elektronische Stadt, Erdgeschoßzonen, Kathmandu, Architektur in Bratislava dérive Nr. 19 (02/2005) Schwerpunkt: Wiederaufbau des Wiederaufbaus

dérive Nr. 20 (03/2005) Schwerpunkt: Candidates and Hosts dérive Nr. 21/22 (01-02/2006) Schwerpunkt: Urbane Räume – öffentliche Kunst dérive Nr. 23 (03/2006) (vergriffen) Schwerpunkt: Visuelle Identität dérive Nr. 24 (04/2006) Schwerpunkt: Sicherheit: Ideologie und Ware dérive Nr. 25 (05/2006) (vergriffen) Schwerpunkt: Stadt mobil dérive Nr. 26 (01/2007) Sampler: Stadtaußenpolitik, Sofia, Frank Lloyd Wright, Banlieus, Kreative Milieus, Reflexionen der phantastischen Stadt, Spatial Practices as a Blueprint for Human Rights Violations dérive Nr. 27 (02/2007) Schwerpunkt: Stadt hören dérive Nr. 28 (03/2007) Sampler: Total Living Industry Tokyo, Neoliberale Technokratie und Stadtpolitik, Planung in der Stadtlandschaft, Entzivilisierung und Dämonisierung, Stadt-Beschreibung, Die Unversöhnten dérive Nr. 29 (04/2007) Schwerpunkt: Transformation der Produktion dérive Nr. 30 (01/2008) (vergriffen) Schwerpunkt: Cinematic Cities – Stadt im Film dérive Nr. 31 (02/2008) (vergriffen) Schwerpunkt: Gouvernementalität dérive Nr. 32 (03/2008) Schwerpunkt: Die Stadt als Stadion dérive Nr. 33 (04/2008) Sampler: Quito, Identität und Kultur des Neuen Kapitalismus, Pavillonprojekte, Hochschullehre, Altern, Pliensauvorstadt, Istanbul, privater Städtebau, Keller, James Ballard dérive Nr. 34 (01/2009) Schwerpunkt: Arbeit Leben dérive Nr. 35 (02/2009) Schwerpunkt: Stadt und Comic dérive Nr. 36 (03/2009) Schwerpunkt: Aufwertung dérive Nr. 37 (04/2009) Schwerpunkt: Urbanität durch Migration dérive Nr. 38 (01/2010) Schwerpunkt: Rekonstruktion und Dekonstruktion dérive Nr. 39 (02/2010) (vergriffen) Schwerpunkt: Kunst und urbane Entwicklung dérive Nr. 40/41 (03+04/2010) Schwerpunkt: Understanding Stadtforschung dérive Nr. 42 (01/2011) Sampler dérive Nr. 43 (02/2011) Sampler

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ISSN 1608-8131 8 euro

dérive Nr. 44 (03/2011) Schwerpunkt: Urban Nightscapes dérive Nr. 45 (04/2011) Schwerpunkt: Urbane Vergnügungen dérive Nr. 46 (01/2012) Das Modell Wiener Wohnbau dérive Nr. 47 (02/2012) Ex-Zentrische Normalität: Zwischenstädtische Lebensräume dérive Nr. 48 (03/2012) Stadt Klima Wandel dérive Nr. 49 (04/2012) Stadt selber machen dérive Nr. 50 (01/2013) (vergriffen) Schwerpunkt Straße dérive Nr. 51 (02/2013) Schwerpunkt: Verstädterung der Arten dérive Nr. 52 (03/2013) Sampler dérive Nr. 53 (04/2013) Citopia Now dérive Nr. 54 (01/2014) Public Spaces. Resilience & Rhythm dérive Nr. 55 (02/2014) Scarcity: Austerity Urbanism dérive Nr. 56 (03/2014) (vergriffen) Smart Cities dérive Nr. 57 (04/2014) Safe City dérive Nr. 58 (01/2015) Urbanes Labor Ruhr dérive Nr. 59 (02/2015) Sampler dérive Nr. 60 (03/2015) Schwerpunkt: Henri Levebvre und das Recht aus Stadt dérive Nr. 61 (04/2015) Perspektiven eines kooperativen Urbanismus dérive Nr. 62 (01/2016) Sampler dérive Nr. 63 (02/2016) Korridore der Mobilität dérive Nr. 64 (03/2016) Ausgrenzung, Stigmatisierung, Exotisierung dérive Nr. 65 (04/2016) housing the many Stadt der Vielen dérive Nr. 66 (01/2017) Judentum und Urbanität dérive Nr. 67 (02/2017) Nahrungsraum Stadt dérive Nr. 68 (03/2017) Sampler dérive Nr. 69 (04/2017) Demokratie

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Impressum ABONNEMENT

dérive – Zeitschrift für Stadtforschung Medieninhaber, Verleger und Herausgeber: dérive – Verein für Stadtforschung Mayergasse 5/12, 1020 Wien Vorstand: Christoph Laimer, Elke Rauth ISSN 1608-8131 Offenlegung nach § 25 Mediengesetz Zweck des Vereines ist die Ermöglichung und Durchführung von Forschungen und wissenschaftlichen Tätigkeiten zu den Themen Stadt und Urbanität und allen damit zusammenhängenden Fragen. Besondere Berücksichtigung sollen dabei inter- und transdisziplinäre Ansätze finden. Grundlegende Richtung: dérive – Zeitschrift für Stadtforschung versteht sich als interdisziplinäre Plattform zum Thema Stadtforschung. Redaktion Mayergasse 5/12, 1020 Wien Tel.: +43 (01) 946 35 21 E-Mail: mail@derive.at www.derive.at www.urbanize.at, www.facebook.com/derivemagazin twitter.com/derivemagazin dérive – Radio für Stadtforschung Jeden 1. Dienstag im Monat von 17.30 bis 18 Uhr in Wien live auf ORANGE 94.0 oder als Webstream http://o94.at/live. Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235

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Chefredaktion: Christoph Laimer Schwerpunktredaktion: Lucas Pohl Redaktion / Mitarbeit: Thomas Ballhausen, Johanna Betz, Andreas Fogarasi, Barbara Holub, Michael Klein, Andre Krammer, Silvester Kreil, Axel Laimer, Iris Meder, Erik Meinharter, Sabina Prudic-Hartl, Paul Rajakovics, Elke Rauth, Manfred Russo. AutorInnen, InterviewpartnerInnen und KünstlerInnen dieser Ausgabe: Joshua Ackers, Thomas Ballhausen, Alexa Färber, Andreas Fogarasi, Rixta Hoekstra Scott Hocking, Nora Küttel, Kerstin Niemann, Lucas Pohl, Ursula Maria Probst, Paul Rajakovic, Elke Rauth, Camilo José Vergara, We the People of Detroit Community Research Collective, Michael Ziehl. Coverfoto: Camilo José Vergara; Outdoor service, Free Indeed Outreach Ministries. 3323 Gratiot Avenue, Detroit, 2015.

Mitgliedschaften, Netzwerke: Eurozine – Verein zur Vernetzung von Kulturmedien, IG Kultur, INURA – International Network for Urban Research and Action, Recht auf Stadt – Wien. Die Veröffentlichung von Artikeln aus dérive ist nur mit Genehmigung des Herausgebers gestattet.



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