Nachbarschaft / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 73 (4/2018)

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No 73

Zeitschrift für Stadtforschung

dérive

N o 73 NACHBARSCHAFT

NACHBARSCHAFT

dérive

»Die Stadt, das waren wir«, Garrett Dash Nelson, S. 12

dérive – Zeitschrift für Stadtforschung

»Die Stadtversammlungen Neuenglands«, schwärmte Gropius, »bieten ein gutes Beispiel für ein System solider demokratischer Nachbarschaften.«

Okt — Dez 2018

ISSN 1608-8131 8 euro

dérive

Okt — Dez 2018

Selbstverwaltung, Demokratie, Alltagsökonomie, Nahversorgung, Mapping, everyday urbanism, kollektiver Konsum, Munizipalismus, Kottbusser Tor, Selbstermächtigung, Venezuela, Neuengland, Commons


„Frauen und Mädchen!“ Eine Intervention von Tatiana Lecomte zur Geschichte der politischen Teilhabe und der Durchsetzung persönlicher Rechte von Frauen zwischen 1848 und 1918

17. September bis 17. November 2018 Montag bis Samstag, 11 bis 14 Uhr Palais Niederösterreich Herrengasse 13, 1010 Wien www.publicart.at

Rutschn Wir legn da a 4 x IM JAHR 16 SEITEN

Wien wächst bei gleichbleibender Fläche. Der öffentliche Raum steht unter Druck. Wie mehr Platz für Menschen, die ihn dringend brauchen, geschaffen werden kann, lesen Sie in der AK Stadt.

AK Stadt Zeitschrift für ArbeitnehmerInnen-Interessen im urbanen Raum Gratis bestellen! E-Mail stadt@akwien.at Download www.wien.arbeiterkammer.at/meinestadt

Foto: Jakob Fielhauer

Karoline von Perin Iduna Laube Auguste von Littrow-Bischoff Marianne Hainisch Irma von Troll-Borostyáni Anna Altmann Henriette Hontschik Auguste Fickert Marie Lang Rosa Mayreder Gabriele Possanner von Ehrenthal Therese Schlesinger Clotilde Benedikt Adelheid Popp Olga Rudel-Zeynek Eugenie Schwarzwald Bertha Pauli Hildegard Burjan


Editorial Die Frage, wie eine wahrlich demokratische urbane Gesellschaft aussehen könnte und müsste, beschäftigt uns seit langer Zeit. Wir haben diesem Thema mehrere Ausgaben von dérive und dem urbanize!-Festival gewidmet: Perspektiven eines kooperativen Urbanismus, Housing the Many – Stadt der Vielen, Henri Lefebvre und das Recht auf Stadt, Citopia Now, Stadt selber machen und letztes Jahr Demokratie. Mit dem diesjährigen Festival und dieser dérive-Ausgabe setzen wir diese Erkundung fort. An der Nachbarschaft, dem Titel des vorliegenden Heftes, interessiert uns vor allem die Frage, welche Potenziale und Chancen der Maßstab der Nachbarschaft für Demokratisierung und Teilhabe, für die Stärkung der StadtbürgerInnenschaft und des sozialen Zusammenhalts, für nachhaltigen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Wandel bietet. Welche politischen, wirtschaftlichen und planerischen Strukturen fördern eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen selbstorganisierten Initiativen, Politik und Verwaltung? Welche KomplizInnenschaften lassen sich auf lokaler Ebene schließen, um gemeinsam lebendige Stadtteile zu schaffen? Wie kann eine Ökonomie des Alltags aussehen, die lokale Strukturen stärkt, sinnstiftende Tätigkeit befördert und sich am Bedarf der Nachbarschaften orientiert? Welche Räume braucht eine lebendige Zivilgesellschaft? dérive versteht sich als Initiative, deren Arbeit sich der Verwirklichung einer urbanen Gesellschaft im besten Lefebvre’schen Sinn verschreibt. So auch diesmal, wenn es um das Potenzial für eine demokratische Erneuerung geht, die ihren Ausgangspunkt auf der Ebene des Grätzels nimmt, wie der Kiez oder eben die großräumliche Nachbarschaft in Wien heißt. Folgerichtig lädt die Wiener Ausgabe des diesjährigen urbanize!-Festivals unter dem Titel Grätzelhood – Globale Stadt lokal gestalten von 24. bis 28. Oktober in die Nordbahnhalle Wien, um die Potenziale der globalen Gesellschaft im lokalen Maßstab zu erkunden. Wiener Ausgabe deswegen, weil es 2018 auch ein Berliner urbanize!-Festival gibt. Zum zweiten Mal nach 2016, als wir urbanize! gemeinsam mit der Planbude im Hamburger Gängeviertel veranstaltet haben, findet urbanize! nicht nur in Wien, sondern auch in Berlin statt: Save the date! heißt es somit gleich für zwei ziemlich supere Festivaltermine: Gemeinsam mit einer breiten Plattform stadtpolitischer AkteurInnen laden wir von 5. bis 14. Oktober zu urbanize! nach Berlin, knapp danach folgt urbanize! in Wien von 24. bis 28. Oktober. In Berlin lädt urbanize! unter dem Motto Bewegung. Macht.Stadt. zu 10 Tagen intensiver Beschäftigung mit aktuellen stadtpolitischen Diskursen und Fragestellungen. Lässt sich in der immer schon widerständigen Metropole doch seit einigen Jahren verfolgen, wie eine neue StadtbürgerInnenschaft Gewinn-maximierende Privatisierungen verhindert, Top-down Bebauungspläne kippt, Stadtentwicklungskonzepte selbst erstellt oder Bürger- und Volksentscheide gewinnt. Die Norma-

lität des politischen und Verwaltungshandelns wird in der Bundeshauptstadt deutlich in kreative Unruhe versetzt. Eine Vielzahl an Initiativen und Projekten macht deutlich, wie aus oftmals nachbarschaftsbezogenen Bewegungen heraus Stadt zusammen emanzipativ-demokratisch gestaltet werden kann. urbanize! in Berlin thematisiert dieses städtische Handeln der Vielen. Es präsentiert und diskutiert Ansätze eines neuen Munizipalismus und verhandelt die Stadt als Gemeingut und Ausgangspunkt einer umfassenden demokratischen Erneuerung. Das Programm will mit lokalen AkteurInnen und internationalen Gästen ausloten, welche gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten zwischen der Vielzahl stadtpolitischer Initiativen und Projekte, Politik und Verwaltung, kritischer Wissenschaft und gemeinwohlorientierter Immobilienwirtschaft bestehen. Debattiert wird die Schaffung nachhaltiger Strukturen und Kulturen für eine breit aufgestellte Stadtentwicklung von unten, die sich aus den Bedürfnissen und Fähigkeiten der vielfältigen Stadtgesellschaft speist. An die dreißig stadtentwicklungspolitische Berliner AkteurInnen laden zu Vorträgen, Podien, Workshops, Führungen und Exkursionen ein. Es gilt bestehende Wege zu erkunden und neue zu ebnen: Für eine plurale und kollaborative, solidarische und gemeinwohlorientierte Stadt(re)produktion. Das Wiener urbanize!-Festival schlägt auf seiner Reise durch die Wiener Bezirke seine Zelte diesmal in der Nordbahnhalle im zweiten Bezirk auf. Der Ort eignet sich ideal als Festivalzentrale zum Thema Nachbarschaft, liegt er doch mitten im Stadtentwicklungsgebiet Nordbahnviertel und versteht sich selbst als Raumressource für die be- und entstehenden Nachbarschaften. Wer Näheres zur Nordbahnhalle wissen möchte, sei auf den Beitrag von Christian Peer und Lina Streeruwitz über das Nordbahnviertel, seine Planungsgeschichte und das Verhältnis von Nachbarschaft und Planung verwiesen. Mehr darüber und über alle anderen Heft-Beiträge im einleitenden Artikel ab S. 4. Das urbanize! Festival in Wien bietet die Möglichkeit, diesen wunderbaren Ort kennen zu lernen und gemeinsam darüber nachzudenken, welche politischen, ökonomischen und planerischen Strukturen auf Grätzel-, Bezirks- und Stadtebene es eigentlich braucht, um eine kollaborative und gemeinwohlorientierte Stadtproduktion und Nachbarschafts-Entwicklung zu ermöglichen. Eine Vielzahl an inspirierenden internationalen Projekten und Initiativen stellen vor, was alles möglich ist, wenn sich Nachbarschaften solidarisch zusammen schließen. Und damit es nicht alleine beim Zuhören bleibt, widmen wir unter dem Motto »How to …« einen ganzen Festivalsamstag dem nachbarschaftlichen Empowerment mit Workshops zu Methoden und Werkzeugen der Selbstorganisierung, zu kreativen Protestformen, sowie dem Learning from … mit Strategien und Taktiken erfolgreicher Initiativen. Bereits zum 9. Mal eröffnet urbanize! eine Bühne für emanzipatorisches städtisches Handeln. Change begins in the cities – und ist unter dem gegenwärtigen Rechtsruck mehr als nötig. Machen wir uns gegenseitig schlau – und werden gemeinsam stark! Wir freuen uns auf aktive Teilnahme in Berlin und/oder Wien, eure dérives

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Internationales Festival für urbane Erkundungen

ur9anize! Produktive Verunsicherung und utopischer Überschuss in Theorie und Praxis

Bewegung.Macht.Stadt. 5. — 14. Oktober 2018, Berlin www.berlin.urbanize.at

gRÄtZeLhOOd globale Stadt lokal gestalten 24. — 28. Oktober 2018, Wien www.urbanize.at


Inhalt 01 Editorial Schwerpunkt

37—41 Selbstverwaltete COMMUNITIES in VENEZUELA RICARDO VAZ IM GESPRÄCH MIT DARIO AZZELLINI

04—05 NACHBARSCHAFT There IS such a thing as SOCIETY CHRISTOPH LAIMER

42—44 FOUNDATIONAL Economy Die Infrastruktur des alltäglichen Lebens LEONHARD PLANK

06—10 BASISARBEIT an der DEMOKRATIE CHRISTOPH LAIMER UND ELKE RAUTH IM GESPRÄCH MIT ULRIKE HAMANN UND SANDY KALTENBORN

45—52 Die NACHBARSCHAFT zusammenschrauben Wie Eisenwarenhandlungen Dinge, Nachbarschaften und die physische Welt ordnen SHANNON MATTERN

11—18 »Die STADT, das waren WIR« Wie die Kleinstädte Neuenglands zur mythischen Landschaft der amerikanischen Demokratie wurden GARRETT DASH NELSON

Besprechungen

19—24 NACHBARschaft als planungsrelevantes NETZWERK in innerstädtischen Neubaugebieten CHRISTIAN PEER, LINA STREERUWITZ

53—55 Freedom, generosity, pleasure S.53 Die Verlorene kritische Sicht S.54 Verlorene Stadtbewohner derive.at 60 IMPRESSUM

25—31 CoMMa neighbourhood ATLAS LORENZO TRIPODI Kunstinsert 32—36 Herwig Turk Unstable Grounds | Unsicherer Boden | Terra Mobile | Majava Tla

– dérive – Radio für Stadtforschung Jeden 1. Dienstag im Monat von 17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0 oder als Webstream http://o94.at/live. Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235

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CHRISTOPH LAIMER

NACHBARSCHAFT There IS such a thing as SOCIETY Lange Zeit lautete eines der Versprechen der Stadt, in der Anonymität des Urbanen die Möglichkeit zu haben der sozialen Kontrolle des Dorfes – und den damit verbundenen Konsequenzen – zu entfliehen. Ganz egal welchen Lifestyle man pflegte, welche sexuelle Orientierung man hatte, welche politischen Ansichten man teilte und in welchen Kreisen man sich bewegte – die Stadt machte Platz für individuelle Lebensentwürfe und im besten Fall ließen sich gleichgesinnte Menschen finden, mit denen der eigene Lebensentwurf geteilt werden konnte. Diese Freiheit durch Anonymität war autoritären politischen Bewegungen schon immer ein Dorn im Auge: Die Nationalsozialisten etwa installierten Blockwarte als Kontroll- und Überwachungsinstanz und damit als autoritäres Bindeglied zwischen Privatraum und NS-Terror-Regime, die als Treppen-Terrier der Ausspitzelung und Denunziation abtrünnigen Verhaltens in der Nachbarschaft dienten. Und auch die Figur der HausmeisterInnen ist im öffentlichen Gedächtnis durchaus mit einem erheblichen Ausmaß an Kontrolle verbunden. Die Anonymität aber war Teil des Freiheitsversprechens einer modernen, individualistischen Gesellschaft. Ermöglicht oder zumindest erleichtert wurde diese individuelle Freiheit durch einen Sozialstaat, der es erlaubte, die heimatliche Scholle hinter sich zu lassen und die familiären Bande zu lockern oder gar zu kappen, indem er soziale Absicherung in Krisenzeiten garantierte. Interessanterweise hat sich der Wunsch nach Anonymität in den letzten Jahren vorrangig ins Internet verlagert, in der Stadt hingegen tritt dieser eher in den Hintergrund und wird durch die Beliebtheit von urbanen Dörfern überlagert. Das Thema soziale Kontrolle spielt in diesem Zusammenhang keine entscheidende Rolle. Die überwunden geglaubte Dorf- und Landromantik, unterfüttert mit der Sehnsucht nach Authentizität und Naturverbundenheit und dem Versprechen einer heilen Welt, übt auf die gestresste, abstiegsgefährdete Mittelschicht eine große Anziehungskraft aus. Bei aller Notwendigkeit für das Recht auf Anonymität im Stadtraum einzutreten, führt kein Weg vorbei am Mensch als sozialem Wesen, für das soziale Kontakte und Austausch unerlässlich sind. In einer Zeit der immer stärkeren Fragmentierung und Vereinzelung ist die Sehnsucht nach einem Leben in Gemeinschaft deutlich im Anwachsen wie zahlreiche Haus- und Baugruppenprojekte zeigen. Im Gegensatz zum Land bietet die Stadt jedoch den Vorteil, sich soziale Kontakte aussuchen zu können und auch hier spielt das Thema Nachbarschaft zusehends wieder eine wichtigere Rolle.

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Bei aller Notwendigkeit für das Recht auf Anonymität im Stadtraum einzutreten, führt kein Weg vorbei am Mensch als sozialem Wesen, für das soziale Kontakte und Austausch unerlässlich sind. Historisch war die räumliche Nähe der Nachbarschaft immer auch eine soziale: »Der Nachbar war von gleichem Stand, arbeitete und lebte unter ähnlichen Verhältnissen. Wer sich räumlich nah war, der war sich auch sozial nah, man war denselben Nöten und Zwängen unterworfen und zur Bewältigung des eigenen Alltags unausweichlich aufeinander angewiesen. Und viele blieben ihr Leben lang Mitglied ein und derselben Dorfgemeinschaft. Nachbarschaft war Schicksal.« (Siebel 2015) Die industrielle Revolution läutete ein Ende für eine Vielzahl dieser Dorfgemeinschaften ein, um ihr unstillbares Verlangen nach Arbeitskraft befriedigen zu können. Nachbarschaft konstituierte sich unter völlig veränderten Bedingungen in den ArbeiterInnenvierteln neu. Mit der zunehmenden Diversifizierung der Gesellschaft, die dazu führte, dass nicht mehr alle BewohnerInnen einer Nachbarschaft in den selben Fabriken arbeiteten, den gleichen Lohn nach Hause brachten, von den gleichen Sorgen und Nöten geplagt wurden, übereinstimmende Interessen und Verhaltensnormen hatten, verschwand neben dem Bewusstsein einer gemeinsamen Klasse anzugehören mit den Segnungen des aufkommenden Wohlfahrtsstaates auch die ökonomische Notwendigkeit einer engen Nachbarschaft. Gegenseitige Hilfe war im Alltag nicht mehr notwendig, Nachbarschaft keine Schicksalsgemeinschaft mehr. Walter Siebel weist in seinem Text über Nachbarschaft darauf hin, dass erst das Ende der Nachbarschaft als Produktionsgemeinschaft, wie sie in der Vormoderne durchaus verbreitet war, »die Intimisierung einer privaten Sphäre der Wohnung« (Siebel 2015) in breiten Kreisen der Gesellschaft zum Standard machte. Erst mit dieser Entwicklung entstand das Bedürfnis nach Distanz, Abschottung und dem Schutz der Privatsphäre. Wie wir wissen, stimmt diese Analyse aktuell nicht mehr in vollem Umfang. Das Bedürfnis Nachbarschaft wieder in einem umfassenderen Verständnis zu leben, steigt zwar nicht unbedingt generell, aber doch in erheblicheren Teilen der Gesellschaft. Verantwortlich dafür sind mehrere Phänomene. Die radikale Individualisierung der Gesellschaft hat in den besonders stark von neoliberaler Politik geprägten Staaten wie beispielsweise Großbritannien zu einer mit verheerenden Folgen verbun-


denen Vereinzelung und Vereinsamung von speziell alten, nicht mehr im Berufsleben stehenden Menschen geführt. Hunderttausende haben im Schnitt nur einmal monatlich die Möglichkeit eines Gesprächs mit Verwandten oder Bekannten, die Hälfte der über 75-Jährigen lebt alleine. Der Trend zu SeniorInnen-WGs, Generationenwohnen oder erfolgreiche private Initiativen wie die Online-Nachbarschafts-Plattform frag nebenan zeigen, dass das soziale Wesen Mensch wieder in den Vordergrund tritt und seine Rechte einfordert.

Ein anderes Ziel des Neoliberalismus, die Zerschlagung des Sozialstaates, trägt ebenfalls dazu bei, dass Nachbarschaften wieder als wichtige Ressource gesehen werden. Ein anderes Ziel des Neoliberalismus, die Zerschlagung des Sozialstaates, trägt ebenfalls dazu bei, dass Nachbarschaften wieder als wichtige Ressource gesehen werden. Die aktuell in der Linken breit diskutierten Themen wie kollektives Eigentum und Commons wurzeln in jener Zeit, als Nachbarschaft nicht nur ein räumliches Nebeneinander, sondern ein soziales Netzwerk war. Garrett Dash Nelson erzählt in seinem Artikel für diese Ausgabe die Geschichte der (Klein-)Städte Neuenglands, die aus spezifischen historischen, gesellschaftlichen und auch räumlichen Gründen besonders demokratische Gemeinschaften bildeten, die zu einem hohen Grad auf Selbstverwaltung und Gemeineigentum basierten. Einzelne Aspekte dieser Struktur – wie beispielsweise Stadtversammlungen – haben sich in manchen Städten bis heute gehalten. Die Krise der repräsentativen Demokratie ist eine weitere Ursache, die Nachbarschaften wieder verstärkt in den Blickpunkt rücken. Über munizipalistische Initiativen, die Nachbarschaften als zentralen Ort für eine radikale Demokratisierung sehen, mit Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau und ihrer Plattform Barcelona en Comú als populäre Aushängeschilder, war in dérive schon des Öfteren zu lesen. In der vorliegenden Ausgabe gibt es ein Interview mit Dario Azzellini, der sich seit vielen Jahren mit dem Thema Selbstverwaltung beschäftigt, ein ausgewiesener Experte für die gesellschaftspolitischen Verhältnisse Venezuelas ist und Einblicke in die Bottom-up-entwickelten Selbstverwaltungsstrukturen gibt, die von der lokalen Nachbarschafts- bis auf die regionale Stadtebene reichen, und ihren Wechselbeziehung zu den zentralstaatlichen Organen. Mit Ulrike Hamann und Sandy Kaltenborn aus der nachbarschaftlich organisierten Berliner Bottom-up-Initiative Kotti & Co haben wir über Auswirkungen für die Herausbildung sozialer Beziehungen in einer Nachbarschaft durch gemeinsamen öffentlichen Protest gesprochen. Die MieterInnen von Kotti & Co waren über die Jahre mit ständigen Mieterhöhungen konfrontiert, die 2011 ein Ausmaß erreichten, das weder trag- noch leistbar war. Bemerkenswert an Kotti & Co ist, dass es trotz der Diversität der Nachbarschaft und der gesellschaftlich marginalisierten Stellung vieler BewohnerInnen der Wohnbauten

gelungen ist, sich über Jahre sichtbar und erfolgreich zu organisieren. Kotti & Co zeigt vor wie wichtig Selbstermächtigung und gegenseitige Unterstützung für eine Demokratisierung der urbanen Gesellschaften sind und welche Rolle Nachbarschaften dabei spielen können. Um nachbarschaftliche Vernetzung und Aktivismus anzuregen und zu unterstützen, Informationen bereitzustellen und Wissen zu vermitteln, arbeitet die Berliner Plattform Tesserae Urban Social Research an der Entwicklung eines digitalen Nachbarschafts-Atlas. Lorenzo Tripodi, Teil von Tesserae und Autor eines Beitrages für diesen Schwerpunkt, sieht in nachbarschaftlichen Aktivitäten ebenso ein Potenzial für demokratische Reformen, weist aber gleichzeitig auf die Beschränkung lokaler Ansätze im Hinblick auf die übergreifenden globalen Faktoren hin. Der Nachbarschaftsatlas soll helfen, Wissen und Ressourcen auf lokaler Ebene zu mobilisieren und gleichzeitig Ebenen-übergreifende Beziehungen und Abhängigkeiten in größerem Maßstab aufzuzeigen. Eine wichtige Funktion für Nachbarschaften haben immer auch Einrichtungen für die kleinteilige Nahversorgung und deren Funktion als soziale Treffpunkte gespielt. Die Struktur dieser Einrichtungen ist über die letzten Jahrzehnte stark ausgedünnt. In Missachtung der sozialen Funktionen von Greißlern, Gemischtwarenhandlungen und Tschecherln1 wurden diese in großer Zahl auf dem Altar der Marktwirtschaft geopfert. Shannon Mattern steuert zu diesem Themenkreis eine Betrachtung der nachbarschaftlichen Funktion von Eisenwaren- und Gemischtwarenhandlungen in US-amerikanischen Städten bei und wie diese die Bedürfnisse und Werte der Gemeinschaft widerspiegeln und sie oft auch prägen. Mit Alltagsökonomie setzt sich auch Leonhard Plank in seinem Beitrag Foundational Economy auseinander. Er plädiert dafür die »demokratische Kontrolle über die Grundlagen des guten Lebens vor Ort und von unten zurückzuerlangen« und streicht die Bedeutung des kollektiven Konsums unerlässlicher Güter und Dienstleistungen des Alltags für unser aller Wohlergehen hervor.

1 Für die des Österreichischen nicht Mächtigen, der Duden sagt: ein Greißler ist ein kleiner Lebensmittelhändler, ein Tschecherl ein ebensolches, einfaches Gast- oder Kaffeehaus.

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.

Literatur Baumann, Zygmunt (2009): Gemeinschaften. Frankfurt: Suhrkamp. Siebel, Walter (2015): Nachbarschaft. Verfügbar unter: philosophie-indebate.de/3038/ schwerpunktbeitrag-nachbarschaft [Stand 11.9.2018]

Christoph Laimer — NACHBARSCHAFT. There IS such a thing as SOCIETY

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INTERVIEW MIT ULRIKE HAMANN UND SANY K ALTENBORN

BASISARBEIT

an der DEMOKRATIE Ihr kämpft seit vielen Jahren als Teil der Initiative Kotti & Co gegen Mietsteigerung und Verdrängung am Kottbusser Tor. Was ist der Kotti eigentlich für ein Ort?

Foto — Sandy Kaltenborn

Die Mietergemeinschaft Kotti & Co in Berlin kämpft seit 2011 für bezahlbare Mieten im sozialen Wohnungsbau und die Re-Kommunalisierung der Sozialbauten am Kottbusser Tor in Berlin Kreuzberg. Mit ihrem Gecekondu1 Protesthäuschen und dem Slogan I love Kotti ist sie zum Symbol für geeinten Widerstand und vielstimmigen Protest quer durch soziale und kulturelle Milieus geworden. dérive hat mit den MitbegründerInnen Ulrike Hamann und Sandy Kaltenborn über die Erfahrungen der Initiative, das Entstehen von Nachbarschaft und die Selbstermächtigung durch Protest gesprochen.

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dérive No 73 — NACHBARSCHAFT

Sandy Kaltenborn Während die meisten Leute bei Kreuzberg eher an die Gründerzeitbauten denken, ist das Kottbusser Tor durch Sozialbauten mit bis zu 12 Stockwerken aus den 1970ern definiert – also einer Gebäudehöhe, die weit über die klassischen vier Gründerzeit-Etagen hinausgeht. Insgesamt gibt es hier um die 1.000 Wohnungen, die alle sozialer Wohnungsbau sind. Der Kotti ist einer der bekanntesten Orte in Berlin und über Berlin hinaus – mit einem eher schlechten Ruf. An diesem Ort, der räumlich durch eine große Kreuzung geprägt ist, laufen unterschiedliche Stränge zusammen: zum einen die Geschichte der Migration, sei es Arbeitsmigration oder Flucht – hier wohnen viele türkische und arabische Leute – und gleichzeitig ist es ein Ort, der als Tor zur Oranienstraße gelesen werden kann, einem der ehemaligen Zentren für Sub- und Gegenkultur. Eine starke Kunst- und Off-Kultur-Szene, die ihre Wurzeln in den 1970er/80er-Jahren hat, hat diesen Ort gleichermaßen geprägt. Einstürzende Neubauten oder »Schade, dass Beton nicht brennt« haben hier ihren Ursprung. Die Geschichte der HausbesetzerInnenbewegung ist ebenso präsent. Ein, zwei Straßen weiter stehen ehemals besetzte Häuser. Das Kottbusser Tor ist also ein Ort der Diversität, hier leben Leute aus verschiedenen Nationen, hauptsächlich arme Leute, aber auch zunehmend Menschen aus der Mittelschicht und reichere Leute. All das macht den Ort interessant. Ulrike Hamann Das Kottbusser Tor war einer der Ausgangspunkte für die geplante Umstrukturierung von Kreuzberg. Der Ort wird heute von sozialem Wohnbau umfasst, großen Blöcken, die in den 1970ern im Rahmen der sogenannten Kahlschlagsanierung gebaut wurden. Damals sollte der gesamte Altbaubestand abgerissen und durch Neubau ersetzt werden. Kreuzberg lag direkt am Rande West-Berlins knapp vor der Berliner Mauer, eine Gegend, die dem Abriss preisgegeben worden war. Es kam dann bekanntermaßen nicht dazu, weil sich viele gegen den Abriss der Gründerzeithäuser gewehrt hatten. Die behutsame Stadterneuerung hat hier ihren Ursprung. An diesem Punkt in den 1960/70ern beginnt auch die Migrationsgeschichte des Stadtteils, weil die Häuser leer standen und die VermieterInnen dachten, sie könnten migrantische Mieter als ZwischennutzerInnen zu überteuerten Mieten hereinholen, mit dem Kalkül, dass ihnen die MieterInnenrechte


GARRETT DASH NELSON

»Die STADT, das waren WIR« Wie die Kleinstädte Neuenglands zur mythischen Landschaft der amerikanischen Demokratie wurden Selbstverwaltung, Nachbarschaft, Demokratie, Stadtversammlung, Kleinstadt, Neuengland, Commons

Storrowton Village, restaurierte Gebäude aus dem 18. Jahrhundert auf dem Gelände der Eastern States Exposition, Springfield, Massachusetts, Postkarte ca. 1930-1945. (c) The Springfield News Company

»Vor ein oder zwei Jahrhunderten«, beginnt das Voiceover im Dokumentarfilm The City von 1939, »bauten wir unsere Kirche und steckten das Gemeingut ab. Als nächstes errichteten wir das Rathaus, um einen Ort für Mitsprache zu haben.« Aaron Coplands Partitur schlägt einen hellen Ton an, als die Kamera über die Häuser und Farmen von Shirley Center, Massachusetts, schwenkt, und der Erzähler fährt fort: »Wenn die Stadtversammlung stattfindet, kennen wir unsere Rechte und Pflichten, und es ist kein Unglück, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind. In allem, was zählt, halten wir Nachbarn zusammen.« Zwischen Szenen, die lokale politische Versammlungen, Kunsthandwerker, die Körbe weben, und Bauern und Bäuerinnen bei der Feldarbeit zeigen, legt der Film eine Vision der kommunalen Demokratie dar. »Arbeiten und Leben, wir haben ein Gleichgewicht gefunden. Die Stadt, das waren wir, und wir waren ein Teil von ihr.«1 Garrett Dash Nelson — »Die STADT, das waren WIR«

1 Der Film ist hier verfügbar: vimeo.com/52962432

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CHRISTIAN PEER, LINA STREERUWITZ

als planungsrelevantes NETZWERK in innerstädtischen Neubaugebieten

Workshop Wir Nordbahnhof Kids & unsere Gstettn veranstaltet von der IG Lebenswerter Nordbahnhof; November 2016. Foto: Peter Rippl.

Christian Peer, Lina Streeruwitz — NACHBARschaft als planungsrelevantes NETZWERK in innerstädtischen Neubaugebieten

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Nordbahnviertel, Wien, Masterplan, soziale Mischung, Nutzungsmischung, Freiflächen

NACHBARschaft


LORENZO TRIPODI

CoMMa neighbourhood Neighbourhood, mapping, territory, collaboration, participation, knowledge, exploration, commons, everyday urbanism, accessibility

ATLAS

A collaborative platform for mapping hybrid territories

Lorenzo Tripodi — CoMMa neighbourhood ATLAS

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Kunstinsert Herwig Turk Unstable Grounds | Unsicherer Boden | Terra Mobile | Majava Tla Der Foto- und Konzeptkünstler Herwig Turk arbeitet seit vielen Jahren im Spannungsfeld von Wissenschaft, Biologie und Natur und realisiert Projekte in unterschiedlichen Kontexten. In großformatigen Fotografien untersucht er u.a. die Komplexität von Landschaftsräumen, die von den Eingriffen von Technik und Infrastruktur gekennzeichnet sind und somit das widersprüchliche Verhältnis von naturräumlichen Bedingungen und Fragen der Nutzung sichtbar machen. 2016 setzte Herwig Turk mit seiner Arbeit Linescape in der Galerie Kargl in Wien Robert Smithsons monumentale Erdskulptur Spiral Jetty zu den Überformungen im benachbarten militärischen Sperrgebiet in der Wüste im Südwesten der USA, die für menschliche Eingriffe wie Atomversuche oder zielgerichtete Bombardierungen zu Trainingszwecken genutzt werden, in Bezug. Seit zwei Jahren befasst sich Herwig Turk intensiv mit der Flusslandschaft des Tagliamento im Norden der friulanischen Tiefebene. Dieses Terrain ist voller Widersprüche und Gegensätze: Einem scheinbar naturbelassenen Flussbett, dem Lebensraum seltener Tier- und Pflanzenarten, stehen Uferzonen gegenüber, die im Zeichen der Regulierung stehen und entsprechend devastiert sind. Viele Brücken und Festungsanlagen zeugen von den Anstrengungen, den Tagliamento als Hindernis zu überwinden und unter Kontrolle zu bringen. Schleusen, Kanäle und Rohrleitungen verweisen auf die Ausbeutung seiner Wasserressourcen. In dieser »Vorvergangenheit einer Landschaft in der Region um Gemona gibt es keine Stabilität. Der Fluss strömt, der Verkehr rollt, die Berge falten.« Das meist ausgetrocknete Flussbett des Tagliamento befindet sich im Bereich des durch das Erdbeben von 1976 immer noch gezeichneten Gebietes, das Friaul erschüttert und entvölkert hat. Abgesehen von Gemona, das als (zweifelhaftes) Vorzeigebeispiel wiederaufgebaut wurde und zu einer Touristenattraktion wurde, ist die Gegend weitgehend von Abwanderung betroffen. Verfallende Gebäude, die provisorisch gestützt werden, erzählen von einer instabilen Situation und der ungewissen Zukunft dieser Region. Für das Insert wählte Herwig Turk Fotos aus, die der scheinbaren Leere des Flussbetts gewidmet sind und dabei gleichzeitig von der Fülle angelagerter Aspekte zeugen. Ein Mikrokosmos von Vegetationsinseln nistet sich im Kies ein. Autobahnen und scheinbar überdimensionierte Brücken führen über das trockene Flussbett des Tagliamento. Nur in einem Foto zeigt Herwig Turk das seltene Ereignis des wildes Wasser führenden Stromes. Menschen sind auf seinen Fotografien keine zu sehen. Ihre Präsenz zeigt sich nur indirekt, in Form der Infrastruktur. Vom 15. 11. bis zum 9. 12. 2018 findet die Ausstellung Unstable Grounds, produziert von UNIKUM im Raum für Fotografie, www.unikum.ac.at, St. Ruprechter Straße 10, Klagenfurt, statt. Barbara Holub/ Paul Rajakovics

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RICARDO VAZ

in VENEZUELA Interview mit Dario Azzellini

»Die Comunas sollen der Raum sein, in dem wir den Sozialismus in die Welt bringen«, verkündete Hugo Chávez in einer seiner berühmten Fernsehansprachen. Dario Azzellini, der seit vielen Jahren sowohl über Venezuela als auch zu Fragen der Selbstverwaltung forscht und publiziert, spricht im Interview mit Ricardo Vaz über Formen der Selbstverwaltung auf unterschiedlichen Ebenen der venezolanischen Gesellschaft, ihre Erfolge, Schwierigkeiten und Widersprüche. Diese Ebenen reichen von lokalen Nachbarschaftsversammlungen bis zu kommunalen Städten. In deinem Buch schreibst du, dass es in Venezuela sowohl einen Top-down- als auch einen Bottom-up-Prozess gibt. Wie erklärst du diese zweigleisige Entwicklung? Im Allgemeinen ist es so, dass manche Leute die Vorstellung haben, der Wandel käme von oben. Man müsse die Staatsmacht und die Regierung übernehmen, dann könne man alles Top-down ändern. Andere widersprechen und verfechten die Ansicht, dass 1 eine Basisbewegung von unten agieren muss und auf diese Weise den Staat überwinDer Begriff ist vom Spanisden kann. chen Empresas Recuperadas Ich denke, das Beispiel Venezuela zeigt, dass der Staat da ist, ob man es will por sus Trabajadores, ERT, abgeleitet, der in Argenoder nicht. Er verschwindet nicht einfach, indem man ihn ignoriert. Andererseits tinien definiert wurde und haben wir auch gesehen, dass, wenn man versucht, etwas von oben zu verändern, von ForscherInnen aus ohne selbstorganisierte Strukturen in der Gesellschaft zu haben, die sie stützen, sich Brasilien und Uruguay übernommen wurde. Als RBA das Bewusstsein der Menschen nicht wirklich verändert und alles wie ein Kartenhaus werden Betriebe bezeichnet, zusammenfallen kann, wenn die Staatsmacht plötzlich verloren geht. die zuvor als kapitalisCharakteristisch für einige der jüngsten Prozesse in Lateinamerika und insbetische Unternehmen existierten und deren Schließung sondere in Venezuela mit all seinen Schwierigkeiten und Widersprüchen ist die oder Bankrott zu einem Kombination von Veränderungen und Reformen von oben mit einer starken SelbstorgaKampf der ArbeiterInnen um nisation auf lokaler Ebene. Wenn wir uns erfolgreiche Beispiele besonders in Veneeine Übernahme unter kollektiver ArbeiterInnenselbstzuela ansehen, von den rückeroberten Betrieben unter ArbeiterInnenkontrolle (RBA)1 verwaltung geführt hat. bis hin zu den lokalen Selbstverwaltungen durch die kommunalen Räte und Neben einem Prozess der Wiederinbetriebnahme sind die Comunas, waren es Strukturen, die von der Bevölkerung vor Ort geschaffen und also die Anstrengungen von später von Hugo Chávez aufgegriffen und in Regierungspolitik umgesetzt wurden. den ArbeiterInnen zugunsten Der zweigleisige Ansatz bedeutet, dass es gleichzeitig Bemühungen um Veräneiner von kollektiven Entscheidungsstrukturen derung von oben und von unten gibt. Es kann in staatlichen Institutionen eine geprägten Unternehmensform Bottom-up-Logik vorherrschen, ebenso wie es in einigen Basisbewegungen eine hierausschlaggebend. Ein RBA archische Top-down-Konzeption gibt. Es ist also komplizierter, als es scheint. ist ein sozialer und ökonomischer Prozess.

Ricardo Vaz — Selbstverwaltete Communities in VENEZUELA

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Selbstverwaltung, Stadtteilversammlung, Nachbarschaft, Bottom-up/Top-down, Venezuela, Gender, Sozialismus

Selbstverwaltete Communities


LEONHARD PLANK

FOUNDATIONAL Economy Die Infrastruktur des alltäglichen Lebens Alltagsökonomie, Infrastruktur, kollektiver Konsum, Wertschöpfung, Finanzialisierung, Commons, Munizipalismus, De-Growth

Crest Hardware Art Show, 2012 (siehe auch den Artikel Die Nachbarschaft zusammenschrauben S. 45-52); Foto: Garrett Ziegler

»Paving for Pizza« heißt die marketingtechnisch zweifellos erfolgreiche Kampagne der seit kurzem weltweit größten PizzaKette Domino’s. Dabei stellen die Pizzabäcker aus Michigan ausgewählten US-Gemeinden in Aussicht, sich einmalig mit 5.000 US-Dollar an der Reparatur von Schlaglöchern und anderen Straßenunebenheiten zu beteiligen. Ganz ohne Gegenleistung geht das freilich nicht: Im Gegenzug müssen die ausgebesserten Stellen mit dem Logo der Pizza-Kette sowie dem Spruch »Oh yes we did« versehen werden. Im Gegensatz zu kreativen Aktionen von BürgerInnen (z.B. Bepflanzung der Schlaglöcher, Graffiti), die auf das Fehlen regelmäßiger Instandhaltung von Straßen hinweisen, hat es diese Kampagne zu nationaler Aufmerksamkeit gebracht. Vermutlich nicht zuletzt, weil sie exemplarisch die Vorstellungen der TrumpAdministration und ihres Infrastructure Incentives Program verkörpert. Damit sollen signifikante, private Kapitalströme durch

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dérive No 73 — NACHBARSCHAFT

Public-Private-Partnerships zur Modernisierung der maroden US-Infrastruktur aktiviert werden. Aber auch auf dieser Seit des Atlantiks ist im Bereich der Infrastruktur nicht alles rosig. Dies trifft nicht zuletzt die kommunale Ebene in Österreich und Deutschland. Am Beispiel Deutschland lässt sich dies auch grob quantifizieren. Auf Basis des jüngsten Kommunalpanels 2018 schätzen die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) den Investitionsrückstand auf rund 159 Milliarden Euro. In etwa 48 Milliarden Euro entfallen dabei auf den Bereich Schulen und Bildungsinfrastruktur. Die notwendigen Investitionen des Bundes und der Länder (z.B. Breitbandausbau, Verkehrsinvestitionen für eine Mobilitätswende oder Spitäler) sind hier noch gar nicht berücksichtigt. Auch wenn diese Investitionsrückstände räumlich unterschiedlich stark ausgeprägt sind, kann festgehalten werden, dass Deutschland insgesamt von seiner Substanz lebt.


SHANNON MATTERN

Die NACHBARSCHAFT

Einzelhandel, Alltag, Nahversorgung, Kommunikation, Nachbarschaftszentrum, Reparatur, Beratung, DIY

zusammenschrauben Wie Eisenwarenhandlungen Dinge, Nachbarschaften und die physische Welt ordnen

Crest Hardware Art Show, 2012; Foto: Garrett Ziegler

Shannon Mattern — Die NACHBARSCHAFT zusammenschrauben

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Besprechungen Freedom, generosity, pleasure Elisabeth Haid

Das ArchitektInnenduo Lacaton & Vassal hat längst internationale Bekanntheit erlangt, sei es durch ihre (unkonventionellen) Wohnbauten – vom Einfamilienhaus bis zu Großwohnsiedlungen –, Kulturbauten wie das FRAC Nord-Pas de Calais (siehe Abb.) oder die Adaptierung des Palais de Tokyo in Paris. In letzterem findet man sich beim Betreten der Ausstellung inhabiting: pleasure and luxury for everyone im Innsbrucker aut wieder: Ein Foto des Innenraums gibt einen lebhaften, fast maßstabsgetreuen Eindruck eines der größten Zentren für zeitgenössische Kunst. Großzügigkeit, Freiheit und Vergnügen – für das Schaffen der beiden ArchitektInnen zentrale Begriffe – treten bereits hier deutlich zutage und werden greifbar. Eine Besonderheit des 1999-2001 bzw. 2010-2012 von Lacaton & Vassal adaptierten Museumsbaus ist die große Freiheit, die er sowohl BesucherInnen, KünstlerInnen als auch den ausgestellten Werken zuteil werden lässt und ihn zu einem Ort der Begegnung, Diskussion und Aneignung macht. Dahinter steht die Vision, mit gezielten, minimalen Eingriffen ein Maximum an Raum zu bieten, wie auch die Möglichkeit, die einzelnen Räume flexibel und unabhängig zu nutzen. »Räumliche Großzügigkeit ist wesentlich«, schreiben Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal in einem Text zur Ausstellung. »Uns geht es darum, zusätzlichen Raum ohne vorgegebene Funktion zu schaffen, um eine Vielzahl von Nutzungen und Aneignungsmöglichkeiten zu bieten. Dies entspricht unserem Verständnis von Luxus, den wir im Sinn von Großzügigkeit, freier Verwendung und Freude neu definieren.« Ein Prinzip, dem insbesondere auch in den Wohnbauten von Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal große Bedeutung zukommt.

FRAC (Regionalfond für zeitgenössische Kunst) Nird-Pas de Calais, Dunkerque, 2013 – 15 – (c) Courtesy Philippe Ruault

Diese bilden einen zentralen Bestandteil der Ausstellung. Großformatig projizierte Innenraumansichten geben Einblick in neun zwischen 1993 und 2016 realisierte Projekte. Die Fotografien ermöglichen es, in die verschiedenen Projekte einzutauchen und die Wohnräume aus der Perspektive der Bewohner- und NutzerInnen wahrzunehmen. Die im Ausstellungsraum platzierten Möbel laden zum Verweilen ein und wirken wie Versatzstücke aus den Fotografien. Zusätzlich werden ebenfalls mittels Projektionen in Form von (Kurz)Filmen und Studien weiterführende Informationen zugänglich gemacht. Da ist zum Beispiel die Cité Manifeste in Mulhouse. Errichtet wurde die experimentelle Reihenhaussiedlung unter der Prämisse, bei gleichbleibenden Kosten ein Maximum an hochwertigem (Wohn)Raum zu schaffen. Entstanden sind 14 loft-ähnliche Wohnungen, die nicht nur aufgrund ihrer Größe (sie weisen fast das doppelte Raumvolumen des üblichen Standards im sozialen Wohnbau auf) das Potenzial der Aneignung und kreativen Nutzung durch ihre BewohnerInnen in sich tragen. Durch das »Setzen von Prioritäten« und die Verwendung einfacher und kostengünstiger Materialien gelingt es Lacaton & Vassal »gute Architektur leistbar zu machen« und hohe (räumliche) Qualität zu schaffen.

Besprechungen

Zu sehen ist auch das Haus Latapie, ein Einfamilienhaus am Stadtrand von Bordeaux. Es ist das erste realisierte Projekt der beiden und nimmt bereits viele der zentralen Aspekte und Grundzüge ihrer Arbeit vorweg: Eine Stahlkonstruktion, zum Garten hin mit durchsichtigem PVC beplankt, umschließt einen einfachen hölzernen Kubus, der alle grundlegenden Funktionen beinhaltet. Sie bildet die klimatische Hülle aus und definiert zusätzlichen, flexibel nutzbaren Raum in Form eines Wintergartens. Je nach Bedarf und Jahreszeit kann das Gebäude durch Tore, Fenster und Klappen den Bedürfnissen der BewohnerInnen angepasst werden. Versatzstücke und Elemente industrieller Gewächshausanlagen bilden ein wiederkehrendes Motiv in den Bauten von Lacaton & Vassal. Sie ermöglichen es, das Raumklima zu steuern und gleichzeitig kostengünstig zusätzlichen Raum zu schaffen. Eine zentrale Rolle kommt diesen meist frei programmierbaren Räumen, von der klimatischen Funktion ähnlich der eines Wintergarten, auch bei der Transformation und Erweiterung bestehender Großsiedlungen zu. 2004 setzen Lacaton & Vassal gemeinsam mit Frédéric Druot den Plänen der französischen Regierung, etwa 200.000 in den 1960er und 1970er Jahren errichtete

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Impressum

AutorInnen, InterviewpartnerInnen und KünstlerInnen dieser Ausgabe: Dario Azzellini, Thomas Ballhausen, Elisabeth Haid, Ulrike Hamann, Barbara Holub, Sandy Kaltenborn, Silvester Kreil, Christoph Laimer, Shannon Mattern, Garrett Dash Nelson, Stepan Nest, Christian Peer, Leonhard Plank, Paul Rajakovics, Elke Rauth, Lina Streeruwitz, Lorenzo Tripodi, Herwig Turk, Ricardo Vaz. Anzeigenleitung & Medienkooperationen Helga Kusolitsch, anzeigen@derive.at

dérive – Zeitschrift für Stadtforschung Medieninhaber, Verleger und Herausgeber: dérive – Verein für Stadtforschung Mayergasse 5/12, 1020 Wien Vorstand: Christoph Laimer, Elke Rauth ISSN 1608-8131

Website: Christian Klettner, Artistic Bokeh, Simon Repp, Robert Wildling Grafische Konzeption & Gestaltung: Atelier Liska Wesle — Wien / Berlin Lithografie: Branko Bily

Offenlegung nach § 25 Mediengesetz Zweck des Vereines ist die Ermöglichung und Durchführung von Forschungen und wissenschaftlichen Tätigkeiten zu den Themen Stadt und Urbanität und allen damit zusammenhängenden Fragen. Besondere Berücksichtigung finden dabei inter- und transdisziplinäre Ansätze. Grundlegende Richtung dérive – Zeitschrift für Stadtforschung versteht sich als interdisziplinäre Plattform zum Thema Stadtforschung.

Coverfoto: Kottbusser Tor Sandy Kaltenborn Hersteller: Resch Druck, 1150 Wien Kontoverbindung / Bank Account Empfänger: dérive – Verein für Stadtforschung Bank: Hypo Oberösterreich IBAN AT53 54000 0000 0418749, BIC OBLAAT2L Abonnement Standard: 24 Euro (inkl. Versandspesen Inland) Ermäßigt: 20 Euro (inkl. Versandspesen Inland) Förder- und Institutionenabo: Euro 50 Ausland jeweils plus 8 Euro Versandspesen

Redaktion Mayergasse 5/12, 1020 Wien Tel.: +43 (01) 946 35 21 E-Mail: mail@derive.at www.derive.at www.urbanize.at, www.facebook.com/derivemagazin twitter.com/derivemagazin dérive – Radio für Stadtforschung Jeden 1. Dienstag im Monat von 17.30 bis 18 Uhr in Wien live auf ORANGE 94.0 oder als Webstream http://o94.at/live. Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235

Abonnements laufen ein Jahr (vier Hefte). Bestellungen an: bestellung@derive.at oder per Bestellformular auf www.derive.at Wir danken für die Unterstützung: Bundeskanzleramt – Kunstsektion, MA 7 – Wissenschafts- und Forschungsförderung, INURA – International Network for Urban

Chefredaktion: Christoph Laimer Redaktion: Thomas Ballhausen, Tina Deschu, Andreas Fogarasi, Barbara Holub, Michael Klein, Andre Krammer, Silvester Kreil, Axel Laimer, Iris Meder, Erik Meinharter, Sabina Prudic-Hartl, Paul Rajakovics, Elke Rauth, Manfred Russo, Jacob Scholz

Mitgliedschaften, Netzwerke: Eurozine – Verein zur Vernetzung von Kulturmedien, IG Kultur, INURA – International Network for Urban Research and Action, Recht auf Stadt – Wien. Die Veröffentlichung von Artikeln aus dérive ist nur mit Genehmigung des Herausgebers gestattet.

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dérive No 73 — NACHBARSCHAFT


No 73

Zeitschrift für Stadtforschung

dérive

N o 73 NACHBARSCHAFT

NACHBARSCHAFT

dérive

»Die Stadt, das waren wir«, Garrett Dash Nelson, S. 12

dérive – Zeitschrift für Stadtforschung

»Die Stadtversammlungen Neuenglands«, schwärmte Gropius, »bieten ein gutes Beispiel für ein System solider demokratischer Nachbarschaften.«

Okt — Dez 2018

ISSN 1608-8131 8 euro

dérive

Okt — Dez 2018

Selbstverwaltung, Demokratie, Alltagsökonomie, Nahversorgung, Mapping, everyday urbanism, kollektiver Konsum, Munizipalismus, Kottbusser Tor, Selbstermächtigung, Venezuela, Neuengland, Commons


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