Atlas Sanierung

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Atlas Sanierung Edition ∂

INSTANDHALTUNG UMBAU ERGÄNZUNG

GIEBELER FISCH KRAUSE

MUSSO PETZINKA RUDOLPHI


Autoren

Koautoren:

Georg Giebeler Prof. Dipl.-Ing. Architekt Fachgebiet Baukonstruktion, Hochschule Wismar

Petra Kahlfeldt, Dipl.-Ing. Architektin Kahlfeldt Architekten, Berlin

Rainer Fisch Dr.-Ing. Architekt Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Berlin Harald Krause Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Phys. Fachgebiet Bauphysik und Gebäudetechnik, Hochschule Rosenheim Florian Musso Prof. Dipl.-Ing. Architekt Lehrstuhl für Baukonstruktion und Baustoffkunde, TU München Karl-Heinz Petzinka Prof. Dipl.-Ing. Architekt Fachgebiet Entwerfen und Gebäudetechnologie, TU Darmstadt Alexander Rudolphi Prof. Dipl.-Ing. Gesellschaft für Ökologische Bautechnik mbH, Berlin

Florian Lang, Dipl.-Ing. Architekt Lang+Volkwein Architekten und Ingenieure, Darmstadt Jochen Pfau, Prof. Dr.-Ing. Fachgebiet Innenausbau, Hochschule Rosenheim Ulrich Schanda, Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Phys. Fachgebiet Bauphysik und Gebäudetechnik, Hochschule Rosenheim Elmar Schröder, Dipl.-Phys. Müller-BBM, Planegg Jürgen Volkwein, Dipl.-Ing. Architekt Lang+Volkwein Architekten und Ingenieure, Darmstadt Johann Weber, Dipl.-Ing. Lehrstuhl für Baukonstruktion und Baustoffkunde, TU München

Redaktion Projektleitung: Steffi Lenzen, Dipl.-Ing. Architektin

Druck und Bindung: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell

Redaktion und Lektorat: Julia Liese, Dipl.-Ing.

Herausgeber: Institut für internationale Architektur-Dokumentation GmbH & Co. KG, München

Redaktionelle Mitarbeit: Claudia Fuchs, Dipl.-Ing. Architektin; Carola Jacob-Ritz, M. A.; Eva Schönbrunner, Dipl.-Ing.; Nicole Tietze, M. A. Zeichnungen: Marion Griese, Dipl.-Ing; Martin Hämmel, Dipl.-Ing.; Daniel Hajduk, Dipl.-Ing.; Caroline Hörger, Dipl.-Ing.; Claudia Hupfloher, Dipl.-Ing; Nicola Kollmann, Dipl.-Ing.; Simon Kramer, Dipl.-Ing.; Elisabeth Krammer, Dipl.-Ing; Dejanira Ornelas, Dipl.-Ing. Herstellung / DTP: Roswitha Siegler Repro: Martin Härtl OHG, Martinsried

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© 2008, erste Auflage Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungs­ pflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.


Inhalt

Impressum Vorwort

4 6

Teil A

8

Einführung

1 Begriffsdefinition Georg Giebeler 2 Weiterbauen – Gedanken zum Bauen mit Bestand Georg Giebeler, Petra Kahlfeldt

Teil B

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16

Grundlagen

20

1 Sanierungen planen Georg Giebeler 2 Bauphysik Harald Krause, Jochen Pfau, Ulrich Schanda, Elmar Schröder 3 Technische Gebäudeausstattung Karl-Heinz Petzinka, Bernhard Lenz, Jürgen Volkwein, Florian Lang 4 Denkmalpflege Rainer Fisch 5 Baustoffe in Sanierungsprojekten Florian Musso, Johann Weber 6 Gefahrstoffe im Bestand Alexander Rudolphi

Teil C

0 1 2 3 4 5

Zeitenatlas

Georg Giebeler Einordnung der Bauaufgabe Allgemeine Sanierungsaufgaben Gründerzeitbauten 1870 –1920 Zwischenkriegsbauten 1920 –1940 Nachkriegsbauten 1950 –1965 Wohlstandsbauten 1965 –1980

Teil D

Gebaute Beispiele im Detail

Projektbeispiele 1 bis 18

Teil E

Anhang

Glossar Verordnungen, Richtlinien, Normen Literatur Abbildungsnachweis Sachregister Autoren

22 32

52

72 86 102

116

118 122 132 154 172 190

206 208 – 265

266 266 268 272 274 276 279

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Vorwort

»Eine Veränderung, die keine Verbesserung ist, ist eine Verschlechterung.« Adolf Loos

In dieser Reihe sind schon viele Atlanten erschienen und alle vertiefen ein Teilgebiet des Bauens: Beton, Holz, Fassade. Der Atlas Sanierung hingegen behandelt alle Bereiche des Bauens: vom Fundament bis zum Innenanstrich, von der Vorplanung bis zur Bauüberwachung. Dies auf nur 280 Seiten zu vereinen erscheint gewagt, denn zu jedem einzelnen dieser Themen gibt es umfangreiche Literatur. Und tatsächlich baut dieses Buch auf dem Wissen auf, das jeder Architekt mitbringen sollte. Es ersetzt keines der schon erschienen Standardwerke zu Konstruktionen oder Baustoffen, es fügt nur etwas hinzu: Konstruktionen und Baustoffe, mit denen wir – die Planer – uns im Umbau und der Sanierung beschäftigen müssen. Denn: Der wesentliche Unterschied zwischen Umbau und Neubau ist jener, dass das Haus im ersten Fall schon steht. Auch wenn es sich aus dieser banal klingenden Aussage nicht direkt erschließt, enthält sie Fragen wie: Gibt es die Notwendigkeit, zwischen architektonischen Planungen für Um- und Neubauten zu unterscheiden? Wenn ja, liegen die Unterschiede in allen Planungs- und Bauphasen? Benötigt man zusätzliches Wissen, um Umbauten sicher zu beherrschen? Die Antwort lautet: Ja, es gibt grundlegende Unterschiede in Planungsmethodik, Bewertungsmodellen und Fachwissen, welche man sich als Planer aneignen muss, um Umbauten für sich und den Bauherrn zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Die folgenden Kapitel widmen sich daher hauptsächlich den methodischen Unterschieden zwischen Neu- und Umbauten. Dies setzt voraus, dass man Erfahrung in der Planung von Neubauten mitbringt – was üblicherweise auch erwartet werden kann, da die Neubauplanung Teil jeder Architektenausbildung ist. Die heute üblichen Studiengänge behandeln jedoch selten die Planung von Umbauten und Sanierungen, was umso mehr verwundert, als der Umgang mit vorhandenen Gebäuden in allen bisherigen Epochen üblich war und zudem sehr pragmatisch gehandhabt wurde: Was nutzbar war, wurde genutzt; was umzubauen war, wurde dem eigenen Geschmack und dem eigenen Nutzen angepasst; was »übrig« war,

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wurde abgebrochen. Erst die Moderne forciert den radikalen Bruch mit dem Bestand: die neue Stadt, das neue Haus, die neue Gesellschaft. Etwas später, nachdem die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs diese »neuen« Städte ermöglicht hat, bemerkt man, dass auf diesem Weg einiges verloren zu gehen droht. Das Pendel schlägt zurück. Anfang der 1960erJahre gibt es eine bemerkenswerte Allianz zwischen Erneuerern wie Alexander Mitscherlich und Bewahrern wie Hans Sedlmayr, die übereinstimmend den Erhalt der alten Städte fordern. Ein Kind dieser Zeit ist die Denkmalpflege, auf deren Idee des Schützens und Erhaltens sich die in der Folge erscheinende Fachliteratur, aber auch entsprechende neue Studiengänge orientieren. Ökonomisch durchsetzbar nur bei besonderen Exponaten vergangener Baukunst, scheinen die Sanierungen und Umbauten der banal erscheinenden Bauten keine Aufgaben für ambitionierte Architekten zu sein. Dies hat sich erst im letzten Jahrzehnt gewandelt – wohl auch dem Umstand geschuldet, dass das Auftragsvolumen im Neubaubereich deutlich zurückgegangen ist. Heute sind es auch solche Bauaufgaben, die den Weg in die Fachzeitschriften und Architekturvorträge finden. Die Lücke zwischen Büchern aus dem Bereich der Denkmalpflege und jenen der Neubaukonstruktion zu schließen, ist das Anliegen dieses Atlas. Dabei basieren viele Aussagen auf persönlichen Erfahrungen. Dass es daher auch viele andere Lösungsansätze als die vorgeschlagenen gibt, ist selbstverständlich. Ein Atlas, der nach Epochen geordnet ist und der historische Zeichnungen enthält Der Teil C des Atlas ist in vier Zeitabschnitte unterteilt: Gründerzeit, Zwischen- und Nachkriegszeit sowie Wohlstandsbauten. Eine andere Unterteilung – beispielsweise nach Bauteilen wie Wand und Decke – entspräche eher dem üblichen Aufbau eines Konstruktionsatlas. Um das zu sanierende Gebäude jedoch in seiner Gesamtheit zu verstehen, werden die jeweiligen Bauteile einer Epoche in direktem Zusammenhang behandelt. Die Aufteilung in Bauteile dient dabei als Untergliederung der vier Zeitabschnitte; es finden sich also zu jedem Bauteil


vier Kapitel, beispielsweise Decken der Gründerzeit, Decken der Zwischenkriegszeit usw. Zeitspezifische Bauarten von Decken stehen in direktem Zusammenhang zu der zeittypisch dazugehörende Wandbauart. Alle Bauteile werden dabei neben der textlichen Beschreibung mit historischen Zeichnungen dargestellt, die in der Regel den damaligen Standardwerken zur Baukonstruktion entnommen sind. Daran interessiert weniger die – zugegebenermaßen wunderbare – Grafik als vielmehr deren hoher Informationsgehalt. Es empfiehlt sich, die Zeichnungen genau zu betrachten, da sie oft über die in der Bildunterschrift ausgewiesenen Inhalte weit hinausgehen und so wertvolle Hilfestellungen in der Planung darstellen. Der Grund für die Beschreibung längst überholter Bautechniken ist einfach: Diese Techniken gehören zu dem Haus, welches saniert werden soll. Sie bilden damit die Grundlage unserer Planungsaufgabe: Historische Detailausbildungen, materialspezifische Kennwerte und die zum Entstehungszeitpunkt verwendeten Materialien sind wesentliche Parameter, auf die die Planung aufbauen muss. Erst das Wissen über alte Konstruktionen lässt eine sinnvolle Entscheidung über deren Erhalt, Ersatz oder Sanierung zu. Ein Atlas, der ohne Standarddetails auskommt Kein Umbau ist wie der nächste. Selbst der Versuch einer ganzheitlichen Betrachtung des Gebäudes in seinem Zeitabschnitt stellt natürlich eine starke Vereinfachung dar. Einerseits sind die Zeitabschnitte nicht klar getrennt, sondern bilden ein Kontinuum, was auch auf die verwendeten Baukonstruktionen zutrifft; andererseits gibt es – insbesondere in Zeiten mit mangelhafter Verkehrsinfrastruktur – regionale Unterschiede in den Bauweisen, welche auf den lokal verfügbaren Materialien basieren. Wenn es also kein historisches Standarddetail, beispielsweise einer Holzbalkendecke, geben kann, so kann es auch kein Standarddetail zur Sanierung dieser Decke geben – ganz abgesehen davon, dass auch die heutigen Ansprüche nicht einheitlich sind, sondern auf unterschiedliche Nutzungszwecke und Baugesetzgebungen reagieren müssen. Statt solcher konkreter und damit ausschließender Vorschläge

zeigt das Buch häufig auftretende technische Schwächen der historischen Konstruktionen. Die meisten davon waren den zeitgenössischen Architekten wohl bewusst, wurden jedoch aufgrund des Stands der Technik oder des Diktats der Ökonomie bewusst in Kauf genommen. Trotz der oben beschriebenen Problematik enthält das Buch Verbesserungsvorschläge für ebensolche »historischen« Schwächen – wiederum im Spannungsfeld zwischen heutiger Gesetzeslage, Innovationen und Kosten. Ein Atlas, der weit mehr enthält als »alte« Baukonstruktionen Allen Einschränkungen zum Trotz gibt es bei Sanierungsvorhaben sehr ähnliche und wiederkehrende Aufgaben und Randbedingungen. Diese sind hauptsächlich im Teil B zusammengefasst. Der Versuch einer Begriffsdefinition, Hinweise zur Planung von Umbauten, bauphysikalische Sanierungen, Veränderungen an der technischen Infrastruktur, Denkmalpflege, Materialien und die Schadstoffsanierung sind zwar ebenfalls abhängig von der vorgefundenen Gebäudestruktur, jedoch in eigenen Kapiteln zusammengefasst, um die Übersichtlichkeit zu erhöhen. Ergänzt wird dies um übergeordnete, immer wiederkehrende Sanierungen wie Trockenlegungen oder Wärmedämmmaßnahmen. Die historischen Bauweisen in Teil C bieten erst dann eine echte Planungshilfe, wenn man sie in Verbindung mit den Informationen aus den Teilen A und B sieht. Mein Dank geht neben den unzähligen Institutionen und Personen, die maßgebliche Informationen beisteuern konnten, auch an die Autoren baukonstruktiver Standardwerke. Diese Bücher seien jedem Planer – neben diesem Atlas – besonders ans Herz gelegt, denn ihre Lektüre ist nicht nur informativ, sondern zumeist auch sehr kurzweilig.

Georg Giebeler Köln, im August 2008

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Teil A

Abb. A

Einführung

1 Begriffsdefinition Rekonstruktion Restaurierung Rückbau Gebäudeabbruch Renovierung / Instandhaltung Reparatur / Instandsetzung Sanierung Umbau Entkernung / Neubau mit Teilerhalt Modernisierung Schadstoffsanierung Erweiterung /Anbau Ausbau Umnutzung

10 11 11 12 12 12 13 13 14 14 14 15 15 15 15

2 Weiterbauen – Gedanken zum Bauen mit Bestand Weiterbauen? Weiterbauen! Bauen im Bestand? Bauen mit Bestand!

16 17 18

Palais Langhans, Prag (CZ), Ladislav Lábus

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Begriffsdefinition Georg Giebeler

A 1.1

A 1.1 A 1.2 A 1.3

10

Erzbischöfliches Diözesanmuseum »Kolumba«, Köln (D) 2007, Peter Zumthor Frauenkirche, Dresden (D) 1743 / 2005, George Bähr Planungsaufwand der verschiedenen Sanierungsmaßnahmen

Es gibt keinen allgemeingültigen Begriff, der alle Baumaßnahmen an bestehenden Gebäuden allumfassend beschreibt und als solcher auch generell verstanden wird. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Begriffen, die neben dem Begriff Sanierung existieren und etwas Ähnliches oder gar das Gleiche meinen: Umbau, Instandsetzung, Modernisierung, Kernsanierung, Rückbau, Bauen im Bestand, Restaurierung, Renovierung. Diese Unschärfe hat mehrere Gründe. Zum einen ist der Grad des Umbaus gemessen am Umfang der zu erhaltenden Bausubstanz sehr unterschiedlich: Er reicht von kleinmaßstäblichen Reparaturen bis zu grundlegenden Kernsanierungen. Zum anderen resultieren die Eingriffe in die Bausubstanz aus unterschiedlichen Beweggründen: ästhetischen, technischen oder nutzungsspezifischen. Hinzu kommt eine »traditionell« ungenaue Wortwahl, die eine eindeutige, scharf abgegrenzte Zuordnung von Begriff zu Maßnahme unmöglich macht. Dieses Kapitel versucht dennoch die verschiedenen Begriffe zu fassen und voneinander abzugrenzen. Dies geschieht nicht im Sinne einer endgültigen Definition. Ziel ist es vielmehr, dem Architekten durch die Einordnung eine Planungshilfe an die Hand zu geben. Verschiedenartige Eingriffe in den Gebäudebestand bedingen sowohl unterschiedliche Planungsmethoden als auch unterschiedliche Baumaßnahmen. Ist der Architekt in der Lage, seine Aufgabe einem Begriff zuordnen, kann das zur Klärung des Planungs- und Bauprozesses beitragen. Daher sollen die Begriffe im Folgenden nicht nur erklärt und eingegrenzt werden, sondern es werden auch praktische Hinweise für die Umsetzung der Planungsaufgabe gegeben. Die Einordnung geschieht nach zwei Gesichtspunkten: erstens nach dem Umfang des Eingriffs in den Bestand und zweitens nach dem Maßstab der Bauaufgabe. Aus der Kombination von beiden lassen sich Planungsmethoden und Baumaßnahmen ableiten. Das Maß des Eingriffs beginnt mit dem Nachbau eines nicht mehr oder nur noch in Teilen bestehenden Bauwerks und reicht über den Komplettabbruch mit anschließenem Neubau bis zur Erhaltung in unterschiedlichen Graden (Renovierung bis Entkernung):

• • • • • • • • • • •

Rekonstruktion Restaurierung Rückbau Gebäudeabbruch Renovierung / Instandhaltung Reparatur / Instandsetzung Teilsanierung Sanierung Kernsanierung / Generalsanierung Umbau Entkernung / Neubau mit Teilerhalt

Hinzu kommen weitere Begriffe, die im Zusammenhang mit Sanierung fallen können, aber nicht in dieses Schema passen: • • • • •

Modernisierung Schadstoffsanierung Erweiterung / Anbau Ausbau Umnutzung

In vielen Fällen treffen mehrere Begriffe auf eine Bauaufgabe zu, weil sich die Begriffe teilweise überschneiden oder mehrere Maßnahmen gleichzeitig durchgeführt werden. Die Einordnung der Objektgröße ist hingegen relativ eindeutig. Sie lässt sich in fünf Kategorien unterteilen: • • • • •

XXL: Stadt / Quartier XL: Block / Gebäudekomplex M: Gebäude S: Gebäudeteil / Geschoss XS: Wohnung / Einzelraum

Zur Kategorisierung könnte man die Begriffe »Weiterbauen« oder »Bauen im Bestand« verwenden. Beide Begriffe beschreiben keine Maßnahmen im technischen Sinne, sondern verdeutlichen eher eine Haltung. Weiterbauen spiegelt den dauerhaften Prozess des Bauens wider: Nach dem Umbau ist vor dem Umbau. Außerdem stellt der Begriff klar, dass jede Maßnahme auf die vorhandenen Strukturen reagieren muss. Streng genommen ist es also kein »Bauen im Bestand«, sondern »Bauen mit Bestand«.


Begriffsdefinition

A 1.2 Rekonstruktion

Unter Rekonstruktion versteht man den Nachbau eines nicht mehr vorhandenen Bauwerks, d. h. es handelt sich streng genommen um einen Neubau. Bei einer ernsthaften Rekonstruktion wird jedoch auch auf alte Baukonstruktionen zurückgegriffen. Rekonstruktionen werden immer wieder kontrovers diskutiert, wobei die Kritik in der Regel umso heftiger ausfällt, je weniger tatsächlich rekonstruiert, also originalgetreu wiederhergestellt wird. Sehr kritisch wird z. B. die Planung des Berliner Schlosses verfolgt; dagegen hat die Rekonstruktion der Dresdener Frauenkirche viel Zustimmung erhalten (Abb. A 1.2). Obwohl sie auf einem alten Entwurf basieren, sind Rekonstruktionen immer Neubauten ohne Originalbestand. Es gelten daher im Allgemeinen die bekannten Regeln für Neubauten. Normen und Gesetze, Herstellerrichtlinien, Bauablauf, Bauzeiten, Art der Ausschreibung und Bauleitung entsprechen weitgehend jenen des

Neubaus. Auch die Arbeitsweisen in der Planungsphase sind ähnlich, denn selten sind historische Bauten so ausreichend dokumentiert, dass der Architekt nichts Neues entwerfen bzw. konstruieren muss. Zudem sind im Zweiten Weltkrieg ein Großteil der europäischen und insbesondere der deutschen Bauarchive zerstört worden, sodass man bei dieser Bauaufgabe oftmals auf Illustrationen oder Fotografien zurückgreifen muss statt auf maßstabsgetreue Architektenpläne. Rekonstruktion als Entwurf bedeutet neben der Aufarbeitung der vorhandenen Quellen zum Originalgebäude also auch eine künstlerische Nachahmung des Baustils einer gewissen Epoche durch den heutigen Architekten, d. h. es ist keine ausschließlich wissenschaftliche Aufgabe. In den einzelnen Planungsschritten hilft zeitgenössische Fachliteratur, wenn es darum geht, historische Konstruktionen möglichst detailgenau mit heutigen Mittel neu zu erstellen.

Restaurierung bedeutet die Fertigstellung eines unvollendeten Bauwerks. Der Begriff entstand in der Zeit der Romantik, als das Interesse an Kulturdenkmälern der Vergangenheit in den Blickpunkt rückte. Er wurde wesentlich durch den französichen Architekten und Kunsthistoriker Eugène Viollet-le-Duc geprägt, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts mittelalterliche Schlösser restaurieren ließ. Ebenso wurde der Kölner Dom nach fast 300 Jahren Baustillstand vollendet (Abb. A 1.4). Restaurierung ist der Rekonstruktion sehr ähnlich, nur dass bei ersterer noch Originalbauteile vorhanden sind, welche zeittypisch ergänzt werden. Ihre Nähe zur Rekonstruktion macht sie ähnlich umstritten: »Die Restaurierung ist eine Maßnahme, die Ausnahmecharakter behalten sollte. Ihr Ziel ist es, die ästhetischen und historischen Werte des Denkmals zu bewahren und zu erschließen. Sie gründet sich auf der Respektierung

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Renovierung / Instandhaltung

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aufwendig in Organisation (wann kann gearbeitet werden) und Abrechnung (viele Regieleistungen)

Reparatur / Instandsetzung

aufwendig in Organisation und Abrechnung, häufig keine Planungsleistungen

XS: Wohnung / Einzelraum

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S: Gebäudeteil / Geschoss

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entf.

XL: Block / Gebäudekomplex

Vergabe, Bauleitung, Abrechnung

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Rekonstruktion / Restaurierung

Genehmigung

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Abbruch / Rückbau

Vorentwurf, Entwurf

Ausschreibung

Planungsaufwand im Verhältnis zu M (Gebäude) 2

Werkplanung

Planungsumfang eines Gebäudes (M) im Verhältnis zum Neubau1

Restaurierung

aufwendig in der Planung, da man Bauforschung betreiben muss oft durchgeführt von spezialisierten Unternehmen

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Teilsanierung

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Sanierung

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Umbau

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Kernsanierung / Generalsanierung

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nur Mehraufwand für Sicherheitsmaßnahmen

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Maßnahmen im Bestand haben nur einen kleinen Anteil am Gesamtbudget

Entkernung / Neubau mit Teilerhalt

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Erweiterung

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Ausbau

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entf.

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entf.

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-deutlich geringer entf. kommt kaum oder nicht zur Anwendung

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Umnutzung ++ deutlich mehr + mehr ° ungefähr gleich geringer

nicht vergleichbar, kann nicht bewertet werden (z. B. aufgrund großer Schwankungen)

aufwendig in Organisation und Abrechnung, häufig Streitigkeiten mit Nachbarn hoher Aufwand in der Bauleitung aufgrund vieler Unabwägbarkeiten insgesamt leicht erhöhter Aufwand an den Schnittstellen Bestand / Neubau hoher Entwurfsaufwand durch Anpassung an den Bestand, hoher konstruktiver Aufwand

viele Bauteile des Bestands werden übernommen; bei Teilausbau: aufwendig in Organisation und Abrechnung, häufig Streitigkeiten mit Nachbarn nur Genehmigung notwendig, kann aber sehr umfangreich sein 1

2

gibt eine Hilfestellung, um wieviel höher der Umbauzuschlag ausfallen muss oder wo er entfallen kann notwendige Erhöhung des Umbauzuschlags je nach Größe des Objekts A 1.3

11



Teil B

Grundlagen

1 Sanierungen planen Analyse Bewertung Planungsprozess Abbruch Nach dem Umbau ist vor dem Umbau

22 22 24 24 29 31

2 Bauphysik Energieeffizienz, Wärme- und Feuchteschutz Wärmeschutz und Behaglichkeit Bestandsaufnahme Sanierungsmaßnahmen Schallschutz Wesentliche Kenngrößen des Schallschutzes und Anforderungswerte Vorgehen im Sanierungsfall Schalltechnische Schwachstellen bei Bestandsbauten und deren Beseitigung Brandschutz Brandschutzertüchtigung von Bestandswänden Brandschutzertüchtigung von Bestandsdecken Ertüchtigung von Stützen und Trägern

32

3 Technische Gebäudeausstattung Bestandsaufnahme Bewertungskatalog Haustechnik und Denkmalschutz Wasserversorgung Wasserentsorgung Warmwasserheizungssysteme Wärmeerzeuger Warmwasserbereitung Gebäudekühlung Lüftung Elektroinstallation Blitzschutz Vorfertigung von Ver- und Entsorgungssystemen

Abb. B

32 33 34 36 42 43 44

45 48 49 49 51 52 52 52 54 54 57 59 61 62 65 67 68 70

4 Denkmalpflege Geschichtliche Entwicklung seit Beginn der Neuzeit Heutiges Begriffsverständnis Denkmalschutz Organisationen und Verbände Internationale Abkommen Baupraktische Denkmalpflege

72 72 77 77 79 80 81

5 Baustoffe in Sanierungsprojekten Tragkonstruktion Holz Eisen und Stahl Stahlbeton Mauerwerk Gebäudehülle Flachdach Dachsteine und -ziegel Metalldeckungen Holz und Holzwerkstoffe Fenster und Türen Naturwerkstein Außenputz Anstriche und Beschichtungen Dämmstoffe Ausbau Innenputz und Gipsbaustoffe Holzböden Estrich und Terrazzo

86 86 86 88 88 89 90 90 91 91 92 93 94 95 96 99 100 100 100 101

6 Gefahrstoffe im Bestand Definition, Deklaration und Umgang mit Gefahrstoffen Bedeutung der Gefahrstoffkontamination im Bestand Bewertungsziele bei Gefahrstoffkontaminationen im Bestand Notwendige Arbeiten und Ablauf der Sanierungsplanung Beschreibung der häufigsten Gefahrstoffe im Gebäudebestand

102 103 105 106 108 110

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SUVA-Gebäude, sanierte Gebäudehülle, Basel (CH) 1993, Herzog & de Meuron

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Denkmalpflege Rainer Fisch

B 4.1

Unter Denkmalpflege versteht man alle Maßnahmen zur Erforschung, zum Schutz und zur Pflege von Natur-, Boden-, Kunst-, Bau- und beweglichen Denkmälern. Der folgende Text beschäftigt sich jedoch nur mit Baudenkmälern und Denkmalensembles. Um die heutige Definition des Denkmalbegriffs sowie die Grundsätze und Arbeitsmethoden der Denkmalpflege besser verstehen zu können, ist es notwendig, ihre geschichtliche Entwicklung nachzuvollziehen. Die Denkmalpflege hat grundsätzlich die Aufgabe, die kulturelle Identität aufzuzeigen und zu bewahren. Was darunter zu verstehen ist, hat einen über Jahrhunderte währenden Diskussionsprozess entfacht, der keineswegs als abgeschlossen zu betrachten ist. Geschichtliche Entwicklung seit Beginn der Neuzeit

B 4.1 B 4.2 B 4.3 B 4.4

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Römischer Saal, Neues Museum, Berlin (D) 2009, David Chipperfield Architects Konstantinbasilika, Trier, nach einer Zeichnung von Alexander Wiltheim, um 1616 Westbau der Marienburg, Zeichnung von Friedrich Frick nach Friedrich Gilly, 1799 Feier der Grundsteinlegung zum Weiterbau des Kölner Doms am 4. September 1842, Lithografie nach Georg Rudolf Daniel Osterwald

Die Wurzeln der heutigen europäischen Vorstellungen von Denkmalpflege reichen bis in die Renaissance zurück. Dies bedeutet nicht, dass man zuvor jegliche Baukultur früherer Epochen rücksichtslos missachtet hat. Jedoch entstand die Motivation zum Erhalt überkommener Gebäude vor dieser Zeit nicht aus einem Geschichtsbewusstsein heraus: Die Kontinuität eines Orts oder die Verehrung eines Stifters, wie etwa bei Sakralgebäuden, führte zu einer Wertschätzung, die bestimmte Bauwerke vor dem Abbruch bewahrte. Ebenso spielten pragmatische Gründe wie die gute Bausubstanz oder die wertvolle künstlerische Ausgestaltung eine entscheidende Rolle. Aus diesem Verständnis heraus erklärt sich auch die bedenkenlose Überformung und Anpassung alter Bauwerke an neue Gegebenheiten und Nutzungsansprüche. Nicht die Bewahrung eines Zeitdokuments stand zu dieser Zeit im Vordergrund, sondern die Erhaltung des Erinnerungswerts bzw. die Wiederverwendung von mit großem materiellem und menschlichem Einsatz errichteten Bauwerken. In Trier etwa wurden nach dem Sieg über die Römer Ende des 5. Jahrhunderts viele Gebäude umgenutzt: Die Porta Nigra diente vom 11. Jahrhundert bis 1795 als Stiftskirche, in den römischen Getreidespeicherhallen siedelte sich ein Kloster an, und die Palastaula, heute Konstantinbasilika genannt, fand als Fluchtburg Wiederverwendung, später bauten die Erzbischöfe von Trier

sie als kurfürstliche Residenz aus (Abb. B 4.2). Erst die Renaissance entdeckt antike Gebäude und deren Bauglieder als Überlieferungen einer vergangenen, verehrenswerten Epoche. Doch es entstand kein breites allgemeines Interesse. Vielmehr betrieben vor allem die Päpste und eine kleine Gruppe Intellektueller archäologische Forschungen, die sich jedoch ausschließlich auf die Antike beschränkten, und setzten sich nachhaltig für die Pflege der antiken Denkmäler ein. Erste Erlasse zum Schutz von Denkmälern (17. bis 18. Jh.) Eine auf breite Bevölkerungsschichten übergreifende staunende Bewunderung für die Zeugnisse vergangener Zeitalter entwickelte sich erst mit der Aufklärung. Ausschlaggebend hierfür war sicherlich ein wachsendes Interesse an Geschichte und die gleichzeitige Erkenntnis, dass nicht nur schriftliche Überlieferungen, sondern auch Münzen, Grabdenkmäler, Gedenksteine und Gebäude als historische Quellen dienen können. Gottfried Herder (1744 – 1803) stellte 1796 nicht mehr lediglich politische Ereignisse und kriegerische Auseinandersetzungen ins Zentrum der Geschichtsforschung. Er plädiert für eine ganzheitliche Betrachtung mit dem Ziel, das Denken und Handeln früherer Epochen zu begreifen. Etwa gleichzeitig zu Herders »Briefen zur Beförderung der Humanität« wurden die ersten Verordnungen zum Schutz von Denkmälern erlassen, so 1779 die »Verordnung, die im Lande befindlichen Monumente und Altertümer betreffend« von Friedrich II., Landgraf zu Hessen-Kassel, und 1780 das »Landesväterliche Ausschreiben« des Markgrafen Alexander von Bayreuth. In beiden Texten geht es jedoch lediglich um die Sicherung von Inschriften, Wappen und Grenzsteinen, nicht um die Erhaltung von Gebäuden an sich. Als Vorreiter eines modernen Denkmalbegriffs kann Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) bezeichnet werden. Seine euphorische Schrift »Von deutscher Baukunst« erschien 1773. Darin huldigt er Erwin von Steinbach und verehrt sein Werk, das Straßburger Münster, als das herrlichste Denkmal. Goethe beschreibt das Gebäude als Zeugnis eines Geistes und


Denkmalpflege

eines authentischen Handelns und nicht wie bisher lediglich als Geschichtsquelle für eine Epoche. Damit rückt er die individuelle Arbeit eines Künstlers in den Mittelpunkt. Für den Umgang mit historischen Bauwerken bleibt jedoch sein Aufsatz zunächst ohne Bedeutung. Vielmehr handelt es sich um einen frühen kleinen Schritt, der in Richtung unseres heutigen Denkmalbegriffs weist. Das Nationaldenkmal (Ende des 18. bis Mitte des 19. Jh.) In der Romantik rückte nach den Wirren der Französischen Revolution und dem damit einhergehenden Werteverfall der Zeitgeist des Mittelalters als Ausdruck einer natürlichen Einheit von Kunst und Frömmigkeit in den Vordergrund. Man war der Meinung, Tugend, Moral und Glaube ließen sich wiedergewinnen, wenn man nur dem vorbildlichen Mittelalter und seinem Baustil, der Gotik, nacheifere. Da auch die Werke des Mittelalters als reproduzierbar angesehen wurden, erscheint die Vollendung berühmter mittelalterlicher Bauwerke als konsequent. Man begann mit dem Weiterbau nicht fertiggestellter Kirchen wie dem Kölner Dom oder dem Ulmer Münster, mit der Wiederherstellungen des teilweise zerstörten Speyerer Doms sowie dem Ausbau bekannter Festungsanlagen wie der Wartburg bei Eisenach. Diese rege Bautätigkeit an historischen Gebäuden ist auch mit einem erwachenden Nationalbewusstsein zu erklären. Überkommene Bauwerke, besonders aus der Gotik, werden als typisch deutsch angesehen und dienen der Abgrenzung gegenüber anderen europäischen Staaten. Das Nationaldenkmal entsteht: Es ist Dokument und sprechendes Zeugnis einer eigenen, nationalen Identität und als solches erhaltungswürdig. Die Gotik wird zum deutschen Nationalstil. Paradoxerweise galt den Franzosen die Gotik als selbstverständlich französisch, den Engländern als besonders englisch. 1794 begutachtete Oberbaurat David Gilly (1748 –1808) die Marienburg in Westpreußen, ehemals Konventssitz des Deutschen Ordens. Bei dieser Gelegenheit fertigte sein Sohn Friedrich (1772 –1800), der ihn begleitete, idealisierte Zeichnungen an, die er 1795 in der Berliner Akademie der Künste ausstellte (Abb. B 4.3).

B 4.2

Die Etablierung der Denkmalpflege (19. Jh.) Karl Friedrich Schinkel (1781–1841), ein Schüler Friedrich Gillys, studierte intensiv die mittelalterliche Baukunst und lieferte Entwürfe für die Wiederherstellung der Marienburg. Er wird 1810 Beamter der »Oberbaudeputation«, einer 1770 als »Oberbaudepartment« gegründeten und 1804 in eine lediglich beratende Instanz umgewandelten Behörde. In seiner Funktion als Zuständiger für ästhetische Angelegenheiten an öffentlichen Gebäuden bereiste er das Königreich Preußen. In den napoleonischen Kriegen wurden unzählige Kirchengebäude gesprengt, abgebrochen oder verwüstet. Gravierender jedoch waren die Folgen des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803. Die Aufhebung fast aller geistlichen Fürstentümer, Stifte und Klöster und die Einziehung des Kirchenguts führten zu einer beispiellosen Zerstörungswelle. Schinkel zeigte sich entsetzt über den Zustand der historischen Bauwerke. 1815 legte er König Friedrich Wilhelm III. ein Memoran-

dum zur Denkmalpflege vor. Darin beklagte er die ungeregelten Zuständigkeiten und forderte eigene Behörden, »denen das Wohl dieser Gegenstände anvertraut wird« [2]. Die Mitglieder dieser Schutzbehörden sollten laut Schinkel aus den Gemeinden stammen und unterschiedlichen Ständen angehören. Ihre erste Pflicht sei es, »Verzeichnisse alles dessen anzufertigen, was sich in ihrem Bezirke vorfindet, und diese Verzeichnisse mit einem Gutachten über den Zustand der Gegenstände und über die Art, wie man sie erhalten könne, zu begleiten« [3]. Schinkel rief dazu auf, die Denkmäler, soweit dies möglich sei, an ihrem Ort zu belassen und nicht in Museen der Hauptstadt aufzubewahren, da sie durch die örtliche Veränderung einen Großteil ihrer Bedeutung verlieren würden. Wenn auch die Vorschläge Schinkels zu seinen Lebzeiten nicht mehr umgesetzt wurden, so blieben sie doch nicht wirkungslos. Noch im gleichen Jahr befahl König Friedrich Wilhelm III., dass bei Veränderungen an öffentlichen Gebäuden oder Denkmälern die Oberbaudeputation einzuschalten sei. De facto bedeutet dies, dass Schinkel über alle Baumaßnahmen informiert wurde. Mit großem persönlichen Einsatz widmete er sich dem Erhalt und der Pflege der Denkmäler im preußischen Reichsgebiet und setzte sich auch für die Bauten des von ihm nicht geschätzten Barocks sowie der Renaissance ein. Zwei Jahre nach Schinkels Tod wird dessen Schüler Ferdinand von Quast (1807–1877) 1843 durch »allerhöchste Kabinettsorder« erster »Konservator für Kunstdenkmäler« in Preußen. Im Königreich Bayern gibt es schon seit 1835 einen »Generalinspektor der plastischen Denkmäler des Mittelalters«. Damit folgte König Ludwig I. von Bayern einem Vorbild Frankreichs, wo bereits 1830 eine »Inspection Générale des Monuments historiques« eingerichtet wurde. Der erste Generalinspektor Bayerns Sulpiz Boisserée (1782 –1854) musste allerdings sein Amt aus gesundheitlichen Gründen nach nur einem Jahr aufgeben und sein Nachfolger Friedrich von Gärtner (1792 –1847) verstand sich eher als entwerfender Architekt denn als Konservator. Ab 1847 blieb die Stelle gänzlich unbesetzt.

B 4.3

B 4.4

Die Berliner Bevölkerung war begeistert und erkannte in der in Vergessenheit geratenen Ordensburg ein genuin deutsches Bauwerk. 1804 gab der preußische König Friedrich Wilhelm III. dem öffentlichen Druck nach und unterband den geplanten Abriss. Nach den napoleonischen Kriegen begann der systematische Wiederaufbau des ersten deutschen Nationaldenkmals mit breiter Unterstützung in der Bevölkerung. Zu dem wichtigsten nationalen Monument wird jedoch bald der halbfertige, größte gotische Dom am »deutschen Rhein«. Seine Vollendung sollte Ausdruck der neu gewonnen Einheit und Freiheit nach den Kapitulationsverhandlungen Napoleons werden. Nachdem 1815 das Rheinland Preußen zugeschlagen worden war, entdeckte das protestantische preußische Königshaus in dem Projekt seiner Fertigstellung die Möglichkeit, im katholischen Rheinland an Popularität zu gewinnen. Der Kölner Dom wird zum deutschen Nationaldenkmal schlechthin. In seiner Rede zur Grundsteinlegung 1842 stellt König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen fest: »Deutschland baut sie, – so mögen sie für Deutschland, durch Gottes Gnade, Thore einer neuen, großen guten Zeit werden!« [1] (Abb. B 4.4).

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Denkmalpflege

B 4.5

B 4.6 B 4.7 B 4.8 B 4.9

Seit 1987 wird alljährlich in Berlin in Erinnerung an den ersten Preußischen Konservator die Ferdinand-von-Quast-Medaille verliehen. aktuelle Ausgabe des Handbuchs der deutschen Kunstdenkmäler Heidelberger Schloss, Ottheinrichsbau, 1689 zerstört Rekonstruktionsvorschlag für den Ottheinrichsbau von Carl Schäfer, 1900 Schutzbau der Goldenen Pforte des Doms in der Formensprache des Jugendstils, Freiberg in Sachsen (D) 1903, Schilling & Graebner, Zeichnung von Bruno Schmitz, Wettbewerbsbeitrag zum Ausbau des Doms zu Freiberg in Sachsen B 4.5

Ferdinand von Quast kann also zu Recht als erster hauptberuflicher Konservator auf deutschem Boden bezeichnet werden, der sein Amt wirklich ausübte (Abb. B 4.5). Er trägt den Titel eines Baurats und ist dem Kultusminister direkt unterstellt. Seine Aufgaben sind die Inventarisation, das Erstellen von Gutachten bei Restaurierungen von Baudenkmälern sowie die Kontaktpflege zu den Geschichts- und Altertumsvereinen. Baumaßnahmen an Kunstdenkmälern müssen, soweit sie nicht zum unantastbaren Privateigentum gehören, vom Kultusministerium vor Beginn genehmigt werden. Wenn ein Denkmal durch eine Baumaßnahme bedroht wird, hat der »Konservator für Kunstdenkmäler« das Recht einen Baustopp zu verhängen. Dem Beispiel Preußens folgte, wenn auch nicht mit den gleichen Befugnissen und der gleichen personellen Ausstattung, 1853 das Großherzogtum Baden und 1858 das Königreich Württemberg. Bereits unter Karl Friedrich Schinkel begann man mit der Erfassung aller Bau- und Kunstdenkmäler, wobei die Listen unsystematisch und uneinheitlich erstellt wurden. Auch Ferdinand von Quast vernachlässigte ein solche Auflistung, wobei für die Erhaltung und Pflege des überkommenen Kulturguts ein Inventar jedoch unabdingbar ist. Aus diesem Grund erhielt Ferdinand von Quast erneut den Auftrag, eine Fragebogenaktion durchzuführen; das Vorhaben scheiterte jedoch letztlich am fehlenden Rücklauf. Dennoch erschien 1870 der erste Band eines Denkmalinventars: Im Vorfeld wurde bereits 1867 in Berlin ein Verzeichnis mit den Denkmälern des Regierungsbezirks Kassel vorgelegt. Das Kultusministerium erteilte daraufhin dem »Verein für Hessische Geschichte und Landeskunde« den Auftrag, für diese Region ein Inventar zu erstellen. Erst 1905 –1912 wird das erste und bis heute einzige flächendeckende Denkmalverzeichnis unter dem Titel »Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler« publiziert. Nach seinem ersten Verfasser, dem Kunsthistoriker Georg Dehio (1850 –1932), landläufig nur »der Dehio« genannt, wird es bis heute fortgeschrieben (Abb. B 4.6). Es erfasst nicht alle Denkmäler, sondern trifft eine wertende Auswahl. Im Vor-

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wort zum ersten Band formuliert Dehio als Ziele: die gleichmäßige Berücksichtigung des ganzen deutschen Kunstgebiets und eine kurze, konkrete Beschreibung der Denkmäler. Zudem soll diese Zusammenstellung sowohl als Nachschlagewerk für die Arbeit am Schreibtisch sowie als Reisehandbuch dienen und durch einen niedrigen Preis jedermann zugänglich sein. Tatsächlich traf es auf einen breiten interessierten Leserkreis. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts bildeten sich im deutschsprachigen Raum Gruppierungen, die sich mit großem ehrenamtlichen Engagement der Erforschung und Pflege des Heimat- und Kulturguts widmeten. Diesen vom gehobenen Bürgertum getragenen Bewegungen ist es sicherlich mit zu verdanken, dass es in der Folgezeit zu einer allgemeinen öffentlichen Wertschätzung von Denkmälern kam. Geschichts- und Altertumsvereine entstanden, die sich 1852 mit den »Historischen Kommissionen« sowie den landesgeschichtlichen Instituten und Arbeitskreisen zum »Gesamtverein der Deutschen Geschichts- und Altertumsvereine« zusammenschlossen, um damit die Einheit der deutschen Geschichte in der Vielfalt zu betonen und die landes- und regionalgeschichtliche Forschung anzuregen. Änderungen des Denkmalverständnisses (Ende des 19. bis Anfang des 20. Jh.) Allmählich lernte man auch die nachmittelalterlichen Baustile zu schätzen. Nach wie vor war jedoch die Stilreinheit ein Restaurierungsziel. Spätere Zutaten wurden durch stilgerechte ersetzt, nicht fertiggestellte Bauwerke komplettiert. Unter Restaurieren verstand die Denkmalpflege – meist waren Architekten hier tätig – das Gebäude vor allem im Stil der jeweiligen Epoche seiner Erstehung zu ergänzen. Der französische Architekt und Kunsttheoretiker Eugéne Emmanuel Viollet-le-Duc (1814 –1879) übernahm eine Vorbildfunktion auf diesem Gebiet. Er betrieb eine ausführliche Bauforschung und nutzte auch historische Quellen und Literatur, um mittelalterliche Konstruktionen, Techniken und Schmuckformen nachzuvollziehen. Seine Forschungsergebnisse veröffentlichte er in seinem zehnbändigen Werk »Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au

XVIe siècle«. Er und viele Architekten seiner Zeit erreichten so in der Planung und Ausführung eine Perfektion, die eine Unterscheidung zwischen historischen und neuen Bauteilen nicht mehr ohne Weiteres möglich machte. Dies führte Ende des 19. Jahrhunderts zu heftigen Auseinandersetzungen über den richtigen Umgang mit einem Baudenkmal – eine Debatte, die 50 Jahre zuvor bereits in England geführt wurde. Der Streit entzündete sich am Ottheinrichsbau des Heidelberger Schlosses: 1689 und 1693 zerstört und nach notdürftiger Reparatur 1764 ausgebrannt, galt das Heidelberger Schloss als Symbol für die schmachvolle Niederlage gegen Frankreich (Abb. B 4.7 und 8). Bald nach dem siegreichen Krieg 1870 / 71 entstanden Pläne zum Wiederaufbau. Der Architekt Carl Schäfer (1844 –1908) widmete sich zunächst dem Friedrichsbau, den er bis 1903 restaurierte, was bedeutet, dass er ca. ein Drittel aller Fassadenteile austauschte und die fehlenden Obergeschosse nach eigener Interpretation neu aufbaute. 1901 wendete sich Georg Dehio, der eine Professur in Straßburg innehatte, mit seinem Aufsatz »Was wird aus dem Heidelberger Schloß werden?« gegen dieses Vorgehen. Er forderte konsequent die Erhaltung der bestehenden Ruine und lehnte die Wiederaufbaupläne Schäfers einem französischen Ausdruck folgend als »vandalisme restaurateur« ab. »Verlieren würden wir das Echte und gewinnen die Imitation; verlieren das historisch Gewordene und gewinnen das zeitlos Willkürliche« [4]. Nach seiner Auffassung hat die Denkmalpflege das 19. Jahrhundert mit seinen Rekonstruktionen überwunden und ist »nun zu dem Grundsatz gelangt, den sie nie mehr verlassen kann: erhalten und nur erhalten! ergänzen erst dann, wenn die Erhaltung materiell unmöglich geworden ist; Untergegangenes wiederherstellen nur unter ganz bestimmten, beschränkten Bedingungen« [5]. Dass sich der Kunsthistoriker Dehio als Anwalt einer substanzschonenden, der Authentizität verpflichteten Arbeitsweise letztendlich durchsetzt, ist wohl auch dem Umstand zu verdanken, dass die Akzeptanz des Historismus immer mehr abnahm. Ein reger Austausch über Ziele und Aufgaben der Denkmalpflege be-


Denkmalpflege

B 4.6

gann. 1899 erschien erstmals die Zeitschrift »Die Denkmalpflege«, die bis heute als Organ der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger besteht. Ein Jahr später fand der erste »Tag der Denkmalpflege« statt. Als Protagonist der neuen Definition des Denkmalbegriffs ist neben Dehio auch der Österreicher Alois Riegl (1858 –1905), ab 1897 Professor für Kunstgeschichte an der Universität Wien, zu nennen. Zwar haben Dehio und Riegl unterschiedliche Auffassungen darüber, was den Denkmalwert eines Gebäudes ausmacht, in der baupraktischen Konsequenz jedoch folgt aus beiden Ansätzen ein neuer Umgang mit der historischen Bausubstanz. Nicht mehr im Sinne einer nachahmenden Epoche, sondern bewusst vom ursprünglichen Bestand abgesetzt, entsteht so z. B. der Schutzbau der Goldenen Pforte des Doms von Freiberg in Sachsen in der Formensprache des Jugendstils (Abb. B 4.9). Gleichzeitig führt die Einsicht, dass Bauwerk und Umgebung einen Zusammenhang bilden, zu einer Ausweitung des Denkmalbegriffs. 1889 veröffentlichte Camillo Sitte (1843 –1903), ein Wiener Kollege Riegls, ein Buch mit dem Titel »Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen«, das sowohl für den Städtebau des 20. Jahrhunderts als auch für die Denkmalpflege wegweisend wird. Fortan erscheinen nicht mehr lediglich Einzeldenkmäler, sondern auch städtebauliche Situationen erhaltenswert. Man erkennt, dass die bis dahin

gängige Praxis, mittelalterliche Dome ihrer umgebenden Bebauung zu berauben und sie damit freizustellen, nicht der ursprünglichen Konzeption entspricht. Die Heimatschutzbewegung, die infolge der Industrialisierung mit ihren durchgreifenden sozialen Veränderungen Ende des 19. Jahrhunderts entstand, dehnte den Denkmalbegriff noch weiter aus. Die sehr populäre Strömung berief sich auf traditionelle Werte, wendete sich gegen die Verstädterung und Technisierung und begeisterte sich für die Natur sowie für die Volkskunst. Überkommene Sitten und Gebräuche, aber auch Landschaften, Tier- und Pflanzenwelt, geologische Eigentümlichkeiten sowie einfache Denkmäler der Heimatgeschichte, Bauern- und Bürgerhäuser erscheinen ihr schützenswert. Die staatliche Denkmalpflege (20. Jh.) Die wachsende Bedeutung der Denkmalpflege schlug sich in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 nieder. In Artikel 150 wird die Denkmalpflege als Staatsziel festgeschrieben. Die Trennung von Staat und Kirche führte allerdings zu einer nicht eindeutigen Konstellation bezüglich der kirchlichen Denkmäler. Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wirkte sich zunächst auf den Umgang mit Denkmälern eher gering aus, abgesehen von Einzelfällen wie dem Umbau des Braunschweiger Doms und der Stiftskirche in Quedlinburg als nationalsozialistische Weihestätten. Nach

Meinung Adolf Hitlers waren ohnehin nur die Dome, Pfalzen und Rathäuser des Mittelalters verehrenswert. Ohne Zögern wurden später in Berlin ganze gründerzeitliche Stadtteile für den Ausbau »Germania« abgerissen. Die in den 1920er-Jahren begonnenen Freilegungsaktionen an Fachwerkhäusern wurden weiter forciert. Außerdem kam es zu einem Rückbau der als »Verschandelungen« bezeichneten Zutaten des 19. Jahrhunderts an Baudenkmälern. Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs vernichteten nicht nur unzählige Einzeldenkmäler, auch ganze historische Altstädte wie z. B. Köln, Lübeck, Dresden und Trier gingen für immer verloren. Die Rückbesinnung auf die eigene Geschichte war nach dem Missbrauch durch die Nationalsozialisten nicht mehr opportun. Man wollte nach vorne schauen. So wurde die Wiederaufbauphase genutzt, um die Städte zukunftsgerecht zu modernisieren. Viele beschädigte Baudenkmäler wurden, besonders wenn sie nicht als außergewöhnlich wertvoll galten, beseitigt. Das wachsende Bedürfnis nach Wohnkomfort führte zu einer Abwanderung aus den historischen Zentren an den Stadtrand. Der Forderung nach der »autogerechten Stadt« fielen ganze Straßenzüge zum Opfer. Gleichzeitig distanzierte sich die Denkmalpflege nicht von ihrer Einstellung und den mitverantworteten Maßnahmen im Dritten Reich. Der Historismus bieb weiterhin verhasst. Daher spricht man heute von einer zweiten Zerstörungswelle, in der angeblich mehr historische

B 4.7

B 4.8

B 4.9

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Teil C

Abb. C

Zeitenatlas

0 Einordnung der Bauaufgabe

118

1 Allgemeine Sanierungsaufgaben Energetische Sanierung Putz Feuchtigkeit aus dem Erdreich Ausblühungen Dachausbau Balkenköpfe Flachdach Schlitze, Durchbrüche, Nischen

122 122 124 125 126 127 129 129 130

2 Gründerzeitbauten 1870 – 1920 Keller Gründungen und Böden Kelleraußenwände Kellergewölbe und -decken Erd- und Obergeschosse Außenwände Fenster Innenwände und Skelettkonstruktionen Decken Treppen Dachgeschoss Flachdach Typische An- und Umbauten Nachrüstung von Balkonen Dachgeschossausbau

132 133 133 134 135 137 138 140

3 Zwischenkriegsbauten 1920 – 1940 Keller Gründungen und Böden Kelleraußenwände Kellergewölbe und -decken Erd- und Obergeschosse Außenwände Fenster Innenwände und Skelettkonstruktionen Decken Putze und Anstriche Treppen Dachgeschoss Dachstuhl Dachdeckungen Umnutzung von Industrie- und Gewerbebauten

154 156 156 157 157 157 157 160

142 144 151 151 151 152 152 153

4 Nachkriegsbauten 1950 – 1965 Keller Gründungen und Böden Kelleraußenwände Kellerdecken Erd- und Obergeschosse Außenwände Fenster Innenwände und Skelettkonstruktionen Decken Treppen Dachgeschoss Dachstuhl und Decke unter Dachgeschoss Dachdeckungen Flachdach, Balkone und Loggien Sanierung auskragender Balkonplatten

172 174 174 175 176 176 176 179

5 Wohlstandsbauten 1965 – 1980 Keller Gründungen und Böden Kelleraußenwände Erd- und Obergeschosse Außenwände Tragende Innenwände und Skelettkonstruktionen Fassadensysteme Fenster Decken Balkone und Loggien Fußböden Dachgeschoss Flachdächer Steildächer Sonderbauweisen Plattenbau

190 192 192 193 193 193

179 182 187 187 187 187 188 189

197 197 198 199 200 200 201 201 203 203 204

160 165 169 170 170 170 171 171

Sanierung und Umbau Hauptbahnhof Dresden (D) 2007, Foster + Partners

117


Gründerzeitbauten 1870 –1920 Georg Giebeler

C 2.1

Die Gründerzeit ist ein im deutschsprachigen Raum gebräuchlicher Begriff, der die Phase der ersten durchgreifenden Industrialisierung umfasst. Ausgehend von unterschiedlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten in den Ländern Mitteleuropas kann man den Beginn zwischen 1850 und 1870 ansetzen. In Deutschland setzte der industrielle Aufschwung in den 1860er-Jahren ein und entwickelte sich mit dem gewonnenen DeutschFranzösichen Krieg von 1870 / 71 und den folgenden französischen Reparationszahlungen zu einem Wirtschaftsboom. Auch die Reichsgründung 1871 trug zum rasanten wirtschaftlichen Aufschwung bei. Industrialisierung bedeutet Massenproduktion, Arbeitsteilung und Schichtbetrieb rund um die Uhr. Die Herstellungsprozesse konzentrierten sich an einem Ort, der Fabrik, was einen massenhaften Zuzug von Arbeitskräften vom Land bedingte. Die Gründerzeit löste einen (kriegsunabhängigen) Bauboom aus, wie es ihn bis dahin nicht gegeben hatte und wie er auch bis heute nicht mehr vorkam. Das bedeutet auch, dass das Bauen selbst industrialisiert wurde. Neue reproduzierbare oder vorgefertigte Bausysteme eroberten den Markt, der bis zu diesem Zeitpunkt handwerklich geprägt war. Ebenso wird die Arbeitsteilung, also die Aufteilung in Gewerke, vom Produktionsalltag auf die Bauwirtschaft übertragen. Baugeschichtlich umfasst die Gründerzeit eklektizistische Baustile wie Neugotik, Neobarock und Neorenaissance, welche auch unter dem Oberbegriff Historismus zusammengefasst werden. Die Bauaufgaben spiegeln alle denkbaren Nutzungen wider; den größten Teil aber stellten neben den Fabrikanlagen die mehrgeschossigen, innerstädtischen Mehrfamilienhäuser dar (Abb. C 2.1 und 2). Zudem wurden in vergleichbarer Technik frei stehende Villen für das Großbürgertum errichtet. Die technischen Angaben in diesem Kapitel beziehen sich, wenn nicht anders ausgewiesen, auf die beiden letztgenannten Nutzungen. Die erste Phase der Industrialisierung ging einher mit durchgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, die sich selbstverständlich auch in den Bauten niederschlugen. Während auf der einen Seite die großbürgerlichen Villen auf

132

der sogenannten Beletage (meist das erste Obergeschoss) ausreichend Platz zum Wohnen und Repräsentieren boten, so hausten die Arbeiter auf der anderen Seite oft in erbärmlichen sozialen und hygienischen Verhältnissen. Sich das Bett im Schichtbetrieb zu teilen, galt z. B. als normaler Zustand. Das »Trockenwohnen« konnte sogar gesundheitsschädliche Folgen haben. Mit diesem Begriff bezeichnete man das Einquartieren von Mietern in gerade fertiggestellte Gebäude zu geringen Mieten, damit diese die zum Aushärten und Trocknen notwendigen Koksfeuer bedienten. Die heute beliebten großen Räume waren keine repräsentativen Wohnzimmer, sondern bestenfalls Unterkunft für Großfamilien. WC und Waschbecken lagen meist auf dem Flur oder im Treppenhaus und wurden von allen Bewohnern eines Geschosses gemeinsam genutzt. Diese Zustände boten nicht nur den Nährboden für weitreichende sozialpolitische Bewegungen, sondern auch – mit der Sehnsucht nach »Licht und Luft« – für die Ideen der Gartenstadt und letztendlich der Moderne. Da Gründerzeitbauten gewinnmaximierte Produkte darstellten, findet man sehr oft große Differenzen zwischen Schauseite und Hinterhof. Die Schauseiten, reich verzierte Fassaden, flankieren die breiten, oft baumbestandenen Boulevards, die Stiegenhäuser sind hier sehr großzügig angelegt: breite Läufe, großflächige farbige Verglasungen, kleine Steigungsverhältnisse. Der Gegenentwurf findet sich oft im selben Komplex: enge und damit dunkle Hinterhöfe mit Fassaden aus unverputztem Ziegelmauerwerk sowie schmale Stiegen, die zu kleinen dunklen Wohnungen führen (Abb. C 2.4). Viele dieser Gründerzeitviertel existieren auch heute noch. Ihre innerstädtische Lage und die gute Infrastruktur machen sie zu beliebten Wohngebieten, auch weil im Vergleich zu früher die Bewohnerdichte heute deutlich reduziert ist. Typische Stärken und Schwächen Die Stärken von Gründerzeitbauten liegen in der damaligen Nutzung. Große, hohe Räume von oft über 20 m2 und ca. 3 m Höhe (die Berliner Bauordnung von 1897 schrieb mindestens 2,80 m vor) waren sinnvoll, um möglichst viele


Gründerzeitbauten 1870 –1920

C 2.1

Häuserzeile, Hohenzollernring, Köln (D) 1885, C. A. Philipp C 2.2 Grundrisse Wohnhäuser, Köln (D) 1885, C. A. Philipp a Erdgeschoss b 1. Obergeschoss C 2.3 Kalklöschen und Kalkmörtelzubereitung an einer Baustelle um 1900 C 2.4 ehemals geschlossene Hinterhofbebauung in Köln, heute seitlich offen

Personen in einem Raum unterbringen zu können. Diese Struktur setzt stark dimensionierte, tragende Innen- und Außenwände voraus, die meist parallel zur Fassade angeordnet, eine einfache, orthogonale Raumfolge ergeben. Beides kommt einer heutigen Umnutzung entgegen. Die Räume eignen sich heute für Büronutzungen genauso wie für offene Wohnformen; Unterteilungen für kleinflächige Nutzungen sind zusätzlich möglich. Eine massive Bauweise mit großen Mauerstärken (ausgenommen oft das oberste Geschoss) sorgt für einen guten Schallschutz und ausreichende Wärmespeicherung. Bei straßenbegleitenden Bauten erzielen hoch eingesetzte Fensterstürze gute Tageslichtbedingungen. Die Schwächen liegen in der gewinnmaximierenden Bebauung sowie den fehlenden Technologien begründet. Enge Hinterhofbebauungen und dunkle, enge Grundrisse mit langen Erschließungsfluren ohne natürliche Belichtung – oftmals nur einseitig belichtet, ohne Querlüftungsmöglichkeit – lassen sich auch heute schlecht vermarkten. Umbauten verbessern diesen Zustand kaum, da die natürliche Belichtung nicht verändert werden kann. Bei Stadtsanierungen der letzten Jahrzehnte ist daher immer wieder versucht worden, solche Viertel zu entkernen, also Hinterhofbebauungen abzubrechen. Hinzu kommen technische Mängel. Fehlende oder defekte Abdichtungen der Kelleraußenwände (horizontal oder vertikal) sorgen für feuchte Keller, Tiefparterre- und oft auch Erdgeschosswohnungen. Zudem weisen die Holzbalkendecken einen unzureichenden Trittschallschutz, schlechte Luftschall- sowie Brandschutzwerte auf und sind oft zu schwach dimensioniert, was zu sichtbaren Durchbiegungen führt.

a

b

senem Aufwand möglich. Anders verhält es sich dagegen bei feuchten Kellern; hier ist eine nachträgliche Trockenlegung so gut wie ausgeschlossen. Aufgrund der vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten und der hohen Attraktivität von Gründerzeitbauten können diese Probleme aber so weit vernachlässigt werden. Ein vollständiger Abbruch solcher Einzelgebäude aus ökonomischen Gründen ist von vornherein auszuschließen – es sei denn, es handelt sich um eine städtebauliche Maßnahme.

Keller waren damit brauchbare, jedoch nicht wirtschaftlich vermietbare Flächen. Die Ausführung entspricht dieser Prämisse – trotz fortgeschrittener Bautechnologien. So gibt es seit Mitte des 19. Jahrhunderts industriell hergestellten und somit bezahlbaren Zement sowie Abdichtungen auf Teerbasis, welche aber in der Regel nicht oder nicht regelgerecht eingesetzt wurden. Daher sind Keller der Gründerzeit zwar meist standfest, jedoch dauerhaft feucht. Größere Schäden sind selten, aber eine dauerhafte Nutzung, gar mit Aufenthaltsräumen, ist mit vertretbarem Aufwand nicht zu erreichen (Abb. C 2.7).

C 2.2

Keller Gründungen und Böden

In Städten mit extremem Zuzug und entsprechender Wohnungsnot, wie z. B. in Berlin zu jener Zeit, wurden Keller in der Gründerzeit auch als bewohnbare Räume geplant. Üblicherweise dienten sie jedoch: • als Lagerraum für Lebensmittel (aufgrund ihrer gleichmäßig kühlen Temperatur) oder für Heizmaterial • zum Schutz gegen aufsteigende Feuchtigkeit bzw. Spritzwasser im Sockelbereich durch Herausheben des Erdgeschossbodens um mehr als 40 cm • zum Schutz vor gesundheitsschädlichen »Dämpfen« aus dem Grundwasser, welche z. B. für Typhus verantwortlich gemacht wurden

Da es sich bei Gründerzeitbauten um eine massive Mauerwerksbauweise handelt, findet man bei normaler Baugrundbeschaffenheit Streifenfundamente (historische Bezeichnung: Bankette). Als frostfreie Gründung geben zeitgenössische Fachbücher meist 1,0 bis 1,2 m unter Geländeniveau an [1]. Um die zulässigen Pressungen des Erdreichs, zu denen es grobe Richtlinen gab, nicht zu überschreiten, wurden die Fundamentsohlen durch Abtreppungen verbreitert: Das Mauerwerk verspringt in jeder zweiten Schicht beidseitig um ¼ Stein (Reichsformat 6,5 cm). Die unterste Lage des Fundaments muss möglichst eine gerade Auflage für das Mauerwerk bilden und geringfügig unterschiedliche Baugrundgegebenheiten überbrücken. Als Bau-

C 2.3

C 2.4

Umbaupotenzial Gründerzeitbauten haben ein großes Umbaupotenzial. Die Grundstruktur eignet sich für eine Vielzahl von Nutzungen mit teilweise sehr hoher Aufenthaltsqualität. Im auf die einfache Grundstruktur reduzierten Umbau verbleiben nach dem Einbau zeitgemäßer Haustechnik meist zwei Problemzonen: Holzbalkendecke und Keller. Die Verbesserung der Decken ist bis zu einem gewissen Grad mit angemes-

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Gründerzeitbauten 1870 –1920

Wohngebäude Keller Frontwand 99 balkentragende Mittelwand 64 nicht balkentragende Giebelwand ohne Öffnungen 51 balkentragende Giebelwand ohne Öffnungen 77 nicht balkentragende Giebelwand mit Öffnungen 38 Treppenwand bei Flurbreite > 2,50 m 64 Treppenwand bei Flurbreite < 2,50 m 51 Fabrikgebäude Frontwand 77 balkentragende Giebelwand 51 nicht balkentragende Giebelwand 51 balkentragende Giebelwand 64 Treppenwand bei Flurbreite > 2,50 m 64 Treppenwand bei Flurbreite < 2,50 m 51

EG 77 51 51 64 38 51 38 64 51 38 51 64 51

Mauerstärke [cm] 1. OG 2. OG 3. OG 64 51 51 51 38 38 38 38 25 51 51 38 25 25 25 51 38 38 38 25 25 51 38 38 51 51 38

C 2.5

stoff wird neben großen Natursteinplatten und anderen großformatigen Bruchsteinen auch Stampfbeton eingesetzt. In der zeitgenössischen Fachliteratur findet man Vorschläge, den Stampfbeton mit Eisenbändern oder alten Eisenbahnschienen zu verstärken [2]. Alte Mängelberichte sprechen jedoch nicht dafür, dass diese Technik flächendeckend zum Einsatz kam [3]. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Fundamente vollständig oder zumindest in der unteren Lage in Bruchstein ausgeführt wurden. Als Mörtel verwendete man entweder Lehmmörtel aus der Baugrube oder Kalkmörtel mit sehr geringen Kalkbeimischungen – beides Mörtel mit geringer Standfestigkeit. Auch in der Gründerzeit nutzte man schon Baugrunduntersuchungen und Spezialgründungen, die den heutigen Techniken ähneln. Da die Stadtplanung auf die natürliche Landschaft wie vorhandene Flussläufe keine Rücksicht nahm, musste man z. B. auf Tiefgründungen zurückgreifen. Für mehrgeschossige Bauten verwendete man dabei häufig eingerammte Holzpfähle mit einer 1– 2 m starken Auflage aus Stampfbeton, welcher in der Unterlage schwach bewehrt wurde (Abb. C 2.8). Keller, die dauerhaft im Grundwasser stehen, sind sehr selten, da damals der Einsatz von Pumpen unüblich war und somit »unter Wasser« hätte gebaut werden müssen. Bei festem Baugrund und leichten Bauten wird als unterste Lage ein Holzrost verlegt, welcher ständig unterhalb des Grundwasserspiegels liegen musste, um nicht zu faulen. Später werden solche Fundamente in Stampfbeton ausgeführt, da die Kosten im Laufe der Zeit sanken (Abb. C 2.11). Die Betonherstellung auf Zementbasis geschah als Handmischung auf der Baustelle. Als Zuschlagstoffe werden, wenn immer möglich, Sand und Kies aus dem Aushub verwendet. Der so hergestellte Beton hat – auch aufgrund von Erdverunreinigungen – bei Weitem nicht die Güte von heutigem Beton, was auch die enormen Bauteilstärken erklärt. Die Ausführung der Böden entspricht dem Nutzungszweck. Kellersohlen werden bevorzugt mindestens 20 cm über dem höchsten Grundwasserstand geplant. Da keine Wohnnutzung vorgesehen war, waren abdichtende Beläge

38 38 25 38 38 25

DG 25 – 25 25 25 38 25

38 38 25 38 38 25

25 – 25 25 38 25 C 2.6

nicht notwendig. So gibt es heute hauptsächlich zwei Arten von Böden: gestampften Lehmboden oder lose verlegtes Ziegelpflaster. Beide Böden sind offen gegen Grundwasser und aufsteigende Feuchtigkeit. Schäden und Maßnahmen Fundamentierungsprobleme wie Setzungen sollten nach über 100 Jahren Standzeit abgeschlossen oder behoben sein. Verzichtet man auf Baumaßnahmen im Gründungsbereich, sind keine Sanierungen zu erwarten. Eine Maßnahme gegen aufsteigende Bodenfeuchte über den Kellerboden ist beispielsweise das Einbringen einer WU-Betonschicht von mindestens 25 cm Stärke auf dem gestampften Kellerboden. Glatt abgezogen und verrieben kann dieser als fertiger Boden genutzt werden. Bei der Gefahr von aufsteigendem Grundwasser ist vom Einbinden und Abdichten zum aufgehenden Mauerwerk abzuraten. Für die auftretenden Vertikallasten (Aufschwimmen) an den Einbindepunkten ist das vorhandene Mauerwerk nicht ausgelegt und es kann zu beträchtlichen Schäden kommen. Vielmehr sollten aus-

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134

51 38 25 38 51 38

4. OG 38 38 25 38 25 38 25

reichend breite Fugen, z. B. durch Streifen aus Dränageplatten, als Randdämmstreifen eingesetzt werden, damit das Grundwasser in den Keller eindringen kann (Abb. C 2.5). Über Gefälle in der Bodenplatte und einen zentralen Pumpensumpf kann das Wasser dann in den Kanal abgepumpt werden. Kelleraußenwände

Kellerwände sind bei Gründerzeitbauten grundsätzlich gemauert. Die Maueroberflächen blieben meist unbehandelt oder wurden mit einer Kalkschlämme überzogen. Die vorgeschriebenen Mindeststärken sind beträchtlich: In Berlin z. B. wurde je nach Geschosszahl ein bis zu 99 cm, also ein 3 ½ Steine starkes Mauerwerk für Außenwände im Erdreich baupolizeilich gefordert (Abb. C 2.6). Damit einhergehend traten zwei Probleme auf, die auch heute noch relevant sind: Ersteres besteht darin, dass teilweise nur die Außenschalen gemauert sind und der Zwischenraum mit Abbruch- oder Aushubmaterial bei nur sehr geringer Beigabe von Bindemitteln verfüllt wurde (Schüttmauer), um Ziegel und damit Kosten zu

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Gründerzeitbauten 1870 –1920

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Verstärkungsrippe Wandwiderlager gemauerter Gurtbogen Mittellinie des Gewölbes

sparen. Aufgrund der massiven Ausführung ist ein Problem der Standfestigkeit meist nicht gegeben bzw. wäre schon in der Bauphase aufgefallen. Äußerst schwierig gestalten sich allerdings Stemmarbeiten an diesen Mauern, da der Ausbruch – auch bei gesägten Schnitten – kaum kontrollierbar ist. Nachträgliche und teure Sicherungsmaßnahmen durch Ausmauern sind die Folge. Zudem lässt sich ein solches Mauerwerk nicht durch Injektion abdichten, da die zum Teil beträchtlichen Hohlräume nicht sicher verfüllt werden können (siehe Allgemeine Sanierungsaufgaben, S. 126). Das andere Problem betrifft den verwendeten Mörtel. Die oft als Mauermörtel eingesetzten, preiswerteren Luftkalke härten nur unter Luftzufuhr. Um die Bauzeit zu verkürzen, wurden die Baugruben jedoch frühzeitig verfüllt, was den Abbindeprozess beendet und zu nicht standfesten Fugen führt. Aber auch sehr magere hydraulische Kalkmörtel neigen mit den Jahren zum Aussanden. Beim nachträglichen Ausfugen sollten Kalkmörtel ähnlicher Güte – mit nur geringer Beimengung von Zement – verwendet werden, keinesfalls jedoch reiner Zementmör-

Pfeil, Pfeilhöhe oder Stich Scheitel Rücken Verstärkung

5 6 7 8

Zwickel Leibung Widerlager Kämperfuge

C 2.9

C 2.10

tel. Dieser ist aufgrund seiner Wasserundurchlässigkeit und seiner Härte ungeeignet und erreicht keine dauerhafte Bindung zum Bestand. Erst vor wenigen Jahren setzte sich die Erkenntnis durch, dass Gründerzeitkeller nicht trockengelegt werden sollten, selbst wenn dies technisch möglich sei. Durch das dauerhafte Austrocknen des Mauerwerks, insbesondere der Kalkmörtelfugen, verringert sich deren Volumen und das Aussanden der Fugen wird verstärkt. Die Folge sind Setzungen und Standsicherheitsprobleme, vor allem bei den dünnwandigen Gewölben. Darüber hinaus ist die Trockenlegung schon allein wegen der Mauerstärken sehr aufwendig und Folgekosten sind aufgrund der oben beschriebenen Probleme nicht abzuschätzen. Daher sollte man auf die Umnutzung von Gründerzeitkellern verzichten.

be (Kappendecke) ausgeführt wurde (Abb. C 2.9 und 10). Die häufigste Gewölbeart für Kellerdecken ist das Tonnengewölbe. Nur in öffentlichen, repräsentativen Gebäuden werden auch in den Obergeschossen Kuppeln und Kreuzgewölbe errichtet, insbesondere in Treppenräumen und Fluren. Antike Tonnengewölbe sind in ihrem Querschnitt halbkreisförmig. In solchen Gewölben entsteht kein Gewölbeschub, was große Spannweiten ohne Probleme im Widerlager ermöglicht. Die in Gründerzeitbauten üblichen Gewölbe beschreiben hingegen nur ein Bogensegment, um eine bessere Nutzbarkeit des Raums zu erzielen. Es entstehen schalenartige Tragwerke aus relativ dünnem Mauerwerk. Im Gegensatz zu biegebeanspruchten Flachdecken herrschen in Gewölben lediglich Druckkräfte. Diese den Bogen entlanglaufenden Druckkräfte lassen sich im Auflager in Vertikalund Horizontalkräfte (Gewölbeschub) aufteilen. Je geringer der Stich, d. h. die Auswölbung nach oben zwischen Auflager und Scheitelpunkt, desto höher ist der Gewölbeschub. Dieser Horizontalschub muss vom Außenmauer-

Kellergewölbe und -decken

Wurden in den Obergeschossen meist flache Holzbalkendecken eingezogen, so bevorzugte man über den Kellerräumen eine luftdichte und feuchtigkeitsbeständige Deckenkonstruktion, die nahezu immer als Gewölbe oder Teilgewöl-

C 2.5

Fuge zwischen bestehendem Mauerwerk und neuer Betonbodenplatte im Keller C 2.6 Mindestmauerstärken nach Berliner Bauvorschrift, um 1900 C 2.7 Kelleraußenwand und Gründung, hier in Beton ausgeführt, sonst meist gemauert oder in Bruchstein C 2.8 Pfahlgründung auf Holzpfählen, in Lagen eingebrachtes Stampfbetonfundament, oberhalb der zweiten Lage mittels Bandeisen bewehrt C 2.9 a Tonnengewölbe b Preußische Kappendecke C 2.10 Bezeichnungen am Gewölbe C 2.11 Gründung im Grundwasser auf Holzrost (Schwellrost); das oberste Holz muss mindestens 30 cm unter dem Grundwasserspiegel liegen (tiefster Grundwasserstand). C 2.11

135



Teil D

Abb. D

Gebaute Beispiele im Detail

01

Markus Wespi Jérôme de Meuron Architekten; Ferienhaus in Scaiano (CH)

02

Miguel Alonso del Val, Rufino Hernández Minguillón; Klosterbibliothek in Fitero (E)

03

Karl + Probst; Hochschulgebäude in Vaduz (FL)

04

Volker Giencke; Hotel in Barth (D)

05

Boris Enning; Mehrfamilienhaus in Köln (D)

06

Adjaye Associates; Wohn- und Atelierhaus in London (GB)

07

Kahlfeldt Architekten; Bürogebäude in Berlin (D)

08

Staab Architekten; Museum in Chemnitz (D)

09

Dieter Jüngling, Andreas Hagmann; Wohnanlage in Chur (CH)

10

Fischer Architekten; Museum in Ingolstadt (D)

11

4000architekten; Bogenhalle in Köln (D)

12

Petzinka Pink Architekten; Bürogebäude in Düsseldorf (D)

13

Anja Köster; Mehrfamilienhaus in Bochum (D)

14

kehrbaumarchitekten; Wohnhaus in Kaufbeuren (D)

15

zanderroth architekten; Schule in Schulzendorf (D)

16

Allmann Sattler Wappner; Pfarrzentrum in München (D)

17

Urs Primas; Wohnsiedlung in Zürich (CH)

18

Kleffel Papay Warncke; Wohn- und Geschäftshaus in Hamburg (D)

Bogenhalle, Sanierung, Köln (D) 2000, 4000architekten

207


Beispiel 01

Ferienhaus Scaiano, CH 1850 / 2004 Architekten: Markus Wespi Jérôme de Meuron Architekten, Caviano Tragwerksplanung: Paolo de Giorgi, Tegna

Am Rand des Dorfs Scaiano im Tessin an der Ostküste des Lago Maggiore dient die umgebaute Ruine eines Stalls mit Scheune heute einer Familie als Ferienhaus. Man betritt das steile Hanggrundstück über den Garten, das dreigeschossige Haus selbst im Obergeschoss. Über wenige Stufen erreicht man das Wohnzimmer mit dem Kamin, der die Räume im Winter über ein Warmluftsystem beheizt. Im Stockwerk darunter liegen Arbeits-, Kinderzimmer und Bad, im Untergeschoss schließlich Schlafzimmer und Abstellraum. Die kaum geänderte Raumaufteilung mit ihren Gebäudeversprüngen, die sich über enge, steile Treppen nach unten entwickelt, wirkt fast labyrinthartig. Die Architekten entschieden sich, die Bruchsteinmauern zu erhalten und so den archaisch anmutenden Charakter des Hauses zu bewahren. Die hölzerne Veranda und das Satteldach wurden vollständig entfernt, die maroden Holzbalkendecken durch Betondecken ersetzt. Der Baukörper ist mit dem neuen Flachdach auf einen einfachen Kubus reduziert. Das für die neue Nutzung unabdingbare Bad wurde, ohne die klare, zeitgemäße Form des Gebäudes zu stören, im Untergeschoss in den Hang gegraben. Die bestehenden Fensteröffnungen sind an selber Stelle belassen und nur zum Teil geringfügig erweitert. Die eingebrachten Betonstürze bleiben sichtbar und machen die Sanierungsmaßnahmen ablesbar. Im Inneren wurde das bestehende Mauerwerk mit Schaumglas isoliert, verputzt und anschließend im beigebraunen Farbton des gestrichenen Zementbodens lasiert. ¤Abbruch von Satteldach und Zwischendecken, Einbau von Betondecken ¤Wärmedämmung innen ¤Anbau eines Badezimmers ¤Halbverputz der bestehenden Bruchsteinmauern

7

aa Bestand

bb

Schnitte • Grundrisse Maßstab 1:200

1 2 3

Kinderzimmer Arbeitszimmer Bad Schlafzimmer

3 2

1

OG Bestand

OG

a a

4 5 b

b

º Baumeister 08 / 2006 6

EG Bestand

208

4 5 6 7

Eingang Küche / Esszimmer Wohnzimmer

EG


Bauten vor 1870

8

Schnitt Maßstab 1:20

11 9 13 15

10 8

9

10 12

Bruchsteinpflaster im Splittbett verlegt 150 mm Schutzschicht / Dränagefolie PP 10 mm Abdichtung 5 mm Schweißbahn Elastomerbitumen 3 mm Wärmedämmung Schaumglas 155 mm Gefällebeton wasserundurchlässig 140 – 235 mm Halbverputz Natursteinmauerwerk (Bestand) 400 – 600 mm Ausgleichsschicht 40 mm Wärmedämmung Schaumglas 65 mm Grund- und Fertigputz gestrichen 10 mm Perimeterdämmung Hartschaum 80 mm Abdichtung Stahlbeton wasserundurchlässig 200 mm Wärmedämmung Schaumglas 65 mm Putz gestrichen 10 mm

11 12 13

14

15

Eingangstür Isolierverglasung in Rahmen Lärche Festverglasung Isolierglas Zementestrich geglättet, gestrichen und imprägniert 35 mm Stahlbeton 150 mm Zementestrich geglättet, gestrichen und imprägniert 80 mm PE-Folie Wärmedämmung Schaumglas 65 mm Stahlbeton wasserundurchlässig 150 mm Magerbeton 50 mm Bruchsteinpflaster im Splittbett verlegt 150 mm Schutzschicht auf Abdichtung Stahlbeton 140 mm Wärmedämmung Schaumglas 65 mm Putz gestrichen 10 mm

14

209


Beispiel 03

Hochschulgebäude Vaduz, FL 1890 / 2002 Architekten: Karl + Probst, München Ludwig Karl, Markus Probst Mitarbeiter: Birgit Dierolf, Norbert Engelhardt, Sebastian Hrycyk, Rafael Malenka, Carolin Ruckdeschel, Carola Seifert Tragwerksplanung: Vogt Ingenieurbüro, Vaduz

Als eine der ersten Fabriken in Liechtenstein wurde die ehemalige Baumwollspinnerei ab 1882 am nördlichen Ortsrand von Vaduz errichtet und bis in die 1970er-Jahre stetig umgebaut und erweitert. 1992 wurde die Produktion eingestellt und Ende der 1990er-Jahre die Umnutzung des Industriedenkmals für die Fachhochschule Liechtenstein beschlossen. Bei der Umnutzung und Sanierung des Gebäudekomplexes sollte das äußere Erscheinungsbild und die innere Gebäudestruktur weitgehend bewahrt werden. Die Außenmauern aus bis zu 80 cm starkem Bruchsteinmauerwerk wurden ohne zusätzliche Wärmedämmung belassen, wo nötig ergänzt und neu verputzt. Alle Fenster wurden entsprechend der ursprünglichen Sprossenteilung mit Wärmeschutzverglasung neu gefertigt. Der Charakter der beiden ehemaligen Spinnereihallen mit ihren nach Norden orientierten Sheddachfenstern bleibt in der neuen Nutzung durch Studienräume und Hörsäle erhalten. Raumhöhen über 5 m ermöglichten den Einbau von Galerien. Oberlichtbänder und Dachdeckung beider Hallen sind neu, bei der stärker beschädigten südlichen Shedhalle wurde die gesamte Dachkonstruktion abgebrochen und erneuert. Dabei wurden die gusseisernen Stützen ausgebaut, entrostet und – mit neuem Rostschutz versehen – wieder an gleicher Stelle eingefügt. Auch das ehemalige Baumwolllager, ein 12 m hoher Zentralraum, hat seinen originalen räumlichen Charakter bewahrt und steht als Ausstellungs- und Veranstaltungsraum zur Verfügung. Um den Dachstuhl sichtbar zu belassen, erhielt das bestehende Dach eine Dämmung zwischen neuen Sparren. Klar abgesetzt vom Bestand ist der aufgeständerte, verglaste Neubau für Bibliothek und Cafeteria als schmaler Riegel der Westfassade vorgelagert.

B

A

aa

6

2

7

4

3

5

1 OG Bestand

8 10

15 13 11

16

14

9

12

10

18

19

OG

b

20

• Außenwände und Innenstützen erhalten und restauriert • Fenster, Oberlichtbänder, Dachdeckung, Dachränder neu, entsprechend dem ursprünglichen Zustand

21 16 a

9

9

23 22

º Baumeister 10 / 2002 Deutsche Bauzeitung 10 / 2002 Hochparterre 10 / 2002

EG b

214

17

14

a


Gründerzeitbauten 1870 –1920

bb

Schnitte • Grundrisse Maßstab 1:1500 Isometrie Shedhallen und Mittelbau ohne Maßstab

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Ballenlager (1889): ehemaliges Baumwollmagazin Bogenshedhalle (1973): ehemalige Maschinenhalle nördlicher Shedtrakt (1890): ehemalige Spinnereihalle Mitteltrakt (1882): ehemaliges Büro- und Magazingebäude südlicher Shedtrakt (1890): ehemalige Spinnereihalle Heizhaus ehemalige Geräteräume, abgebrochen Eingang Ost Ausstellung / Veranstaltung Seminar Arbeitsraum Fachbereich Architektur Dozentenarbeitsraum Konferenzsaal / Auditorium Foyer Büro Hauswart Hörsaal Gruppenraum Cafeteria Bibliothek Mehrzweckhalle Lager / Werkstatt Haupteingang West Jugendzentrum

215


Beispiel 03

Vertikalschnitt Sheddach Nordhalle Vertikalschnitt Ballenlager Maßstab 1:20

1

4

2

5 6

3

7

8

A

1 9

2 3 4 5 6 7 8 9

10

8

10 11

11

12

13 14 15 16 10 17 18 8

216

Biberschwanzziegel, Lattung 50/30 mm, Konterlattung 50/30 mm, Abdichtung Folie, OSB-Platte 18 mm, Sparren (Bestand) 140 mm, dazwischen Wärmedämmung, OSB-Platte 18 mm, Dampfbremse PE-Folie, Holzlattung 30/50 mm, Hohlraum 40 mm, HolzwolleAkustikplatte magnesitgebunden 18 mm Sprinkler Zugstab (Bestand) Ø 30 mm Oberlichtband Wärmeschutzverglasung in Aluminiumrahmen pulverbeschichtet Verdunklung: Plissee Polyestergewebe Rinnenheizung Holzträger (Bestand) 2≈ 150/315 mm neu gestrichen Stahlstütze (Bestand) Ø 150 mm mit Rostschutz neu neuer Bodenaufbau: Steinholzestrich 12 mm, Hohlraumboden 148 mm, Verbunddecke Trapezblech Aufbeton 140 mm, abgehängte Decke Primärträger (Bestand) Gusseisen 130/200 mm ehemaliger Bodenaufbau: Steinholzestrich 30 mm, Holzbretter 42 mm, Träger Kantholz 170/210 mm, Gipsplatten Doppelstehfalzdeckung Edelstahlblech 0,6 mm, Bitumenbahn, Schalung 24 mm, Konterlattung 50 mm, Abdichtung Folie, Sparren 100/180 mm, Wärmedämmung 160 mm, Trennlage 0,4 mm Dachaufbau (Bestand): Schalung, Sparren, Dachstuhl, Balken abgebürstet Traufgesims Holz (Bestand) ausgebaut, höher gesetzt Außenputz (Bestand), Bruchsteinmauerwerk (Bestand) bis 800 mm, Innenputz Kalkputz zweilagig Holzfenster nach originaler Aufteilung und Farbgebung, Wärmeschutzverglasung, Wärmedämmung im Laibungsbereich 30 mm, Putz 25 mm Natursteingewände (Bestand) gereinigt und ergänzt Steinholzestrich 12 mm, Zementestrich mit Fußbodenheizung 73 mm, Trennlage 0,4 mm, Trittschalldämmung 20 mm, Dämmung Polystyrol 60 mm, Abdichtung Bitumenbahn 5 mm, Ausgleichsschicht 20 mm, Boden (Bestand) Magerbeton


Grßnderzeitbauten 1870 –1920

12

13

14

15

16

17

18

B

217


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