Berlin im Rausch Sebastian Strombach
BERLIN IM RAUSCH
Berlin in den 1920ern, das war eine Stadt im Fieber. Eben noch Hauptstadt eines Kaiserreiches war es zum Mittelpunkt einer Demokratie geworden, die heftigen Krisen ausgesetzt war. Unvollendete Großbaustellen wie die Untergrundbahn oder das gigantische Per gamonmuseum wurden von neuen, noch gewagteren städtebaulichen Projekten und Visionen übertroffen. Zwischen, über und unter den Baustellen bewegten sich die Menschen in nagelneuen oder komplett veralteten Verkehrsmitteln, im ständigen Umsteigen begriffen. Dreimal täglich verkündeten die Zeitungen von den neuesten Katastrophen, Umbrüchen und Erfindungen. Haushohe Lichtreklamen machten die Nacht zum Tage und das prasselnde Buchstabengewitter trieb die Men schen in Abgründe ihrer Triebe, Süchte und Hoffnungen. Über alldem schwebten drohend Flugmaschinen, warfen Reklamezettel oder schon Fliegerbomben wie bei der Revolution von 1918/19 ab. Die Revolution war der Anfang dieser verwirrenden Zeit: Die letzte kaiserliche Regierung übergab die Macht 2
an die Sozialdemokraten, diese ließen dann eine wild gewordene Soldateska auf die eigentlich für sie strei tenden Revolutionäre los, um schließlich mit bürgerli chen Parteien zu koalieren. Ständig spuckten Autos, Züge und andere Verkehrsmittel einen Strom an neuen glänzenden und abgerissen Gestalten aus, um sie dann im nächsten Augenblick wieder wegzubringen, zu über fahren oder abstürzen zu lassen. Tausende von ehemaligen Kriegsgegnern aus Russland strömten nach Berlin, hier wurden osmanische Kriegs verbrecher von armenischen Rächern auf der Straße erschossen; Berlin war die Drehscheibe zwischen Ost und West, von Revolutionären und Konservatisten, Nationalisten und Spießern. Das war der Humus für neue, nie dagewesene Ideen und Visionen in Kunst, Architektur und Film. Der Rausch der Avantgarden, die sich ständig untereinander und mit ihrer Umgebung bekriegten, zündete ein nie dage wesenes Ideenfeuerwerk an, das bis heute über Berlin leuchtet.
KRIEG UND DADA
Der Erste Weltkrieg war Hintergrund aller politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Krisen der fol genden Zeit. Der Krieg bewirkte einen Umsturz vieler Werte und Normen auf allen Ebenen, so auch in der Kunst und Architektur. Hier hatte schon vor dem Krieg eine Avantgarde die Grenzen der alten Kunst gesprengt und in der Malerei die abstrakte, ungegenständliche Kunst erfunden und in der Architektur die Begrenzung der Wände in Frage gestellt. Krieg und Kunst waren jedoch keine Gegensätze, son dern durchdrangen sich förmlich. Moderne Maler schu fen die Tarnoptik für Geschütze oder Kriegsschiffe. Die wilden Muster sollten den Feind verwirren und etwa den U-Booten das Anvisieren und Torpedieren verhin dern. Architekten fanden sich in den Baustäben der Pionie re wieder und bauten gigantische Zeppelinhallen in die Landschaft. Kanonen schossen wirkliche Löcher in die Häuserwände, Gebäude ohne Umgrenzungen ent standen. Riesige Filmfirmen wie die UFA wurden im Krieg zu Propagandazwecken gegründet, um die Be völkerung mit gut inszenierten Bildern vom Krieg zu versorgen. Die Zeitungen hallten wider von den Lügen der Kriegspropaganda und neuen Worten wie „torpe dieren“ oder „Kanonenfutter“. Diese Wort- und Sprachzerstörung ist auch in den Lautgedichten der DADAisten zu entdecken. Buch stabenfragmente werden zu Zeichen jenseits ihres Schriftgebrauchs und finden sich plötzlich in der Architektur wieder. Die DADAisten gründeten sich auf internationaler Ebene mitten im Krieg im neutralen Zürich. Einer der bedeutendsten Orte der DADAisten war Berlin. Hier sammelte sich um George Grosz und John Heartfield eine Gruppe besonders politisch en gagierter Künstler. Dabei erfanden sie aus dem Müll und den Trümmern der Gesellschaft die Collage und insbesondere die Fotocollage.
Aufgefundene Fragmente beispielsweise aus Reklame anzeigen wurden neu kombiniert und zu drastischen Angriffen auf die herrschende Gesellschaft und Moral benutzt.
GEORGE GROSZ
⁕1893 Berlin †1959 Berlin George Grosz war Maler und Grafiker. Zusammen mit seinem Freund John Heartfield veran staltete er die erste Berliner DADA-Kunstmesse. Er war ein politischer Künstler, der mit seinen Werken das Establishment bis zur Weißglut r eizte. Grosz inte ressierte sich für die populären Künste und begeister te sich besonders für Amerika und den Wilden Wes ten. Er anglisierte seinen Namen von G roß in Grosz und lief mit Cowboy-Hut durch die Straßen. Kurz vor der Machtergreifung 1933 emigrierte er in die USA.
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PROUN UND WOLKENBÜGEL Der Wolkenbügel war gedacht als eine Serie von Gebäu den über wichtigen Moskauer Kreuzungen. Die netzar tige Weiterentwicklung dieser Gebilde kann man sich im World Wide Web unserer Tage denken.
EL LISSITZKY
Die Oktoberrevolution in Russland erschütterte die Welt des Kapitalismus und der spätfeudalistischen Monar chien Europas nachhaltig. Beflügelt von diesem Um bruch wagten Künstler und Architekten den Sprung zu einer neuen Kunst und Malerei. Schon vor dem Krieg malte Malewitsch sein „Schwar zes Quadrat auf weißem Grund“, der Anfangspunkt einer gegenstandslosen abstrakten Malerei und eine Kampfansage an die etablierte Kunstszene. El Lissitzky bewunderte diesen Nullpunkt in der Ge schichte der modernen Kunst und schuf eine Gemälde serie, die er PROUN nannte: für ihn eine „Umsteigesta tion“ von Kunst zur Architektur. Die Proun-Gemälde waren abstrakte, monochrome Formen, die allerdings im Gegensatz zu Malewitsch eine gewisse räumliche Tiefe hatten. Der nächste logische Punkt waren Rauminstal lationen: Abstrakte Formen wurden als Gesamtkunst werk in einem Raum installiert. Der berühmteste dieser Räume war der Prounenraum auf der Großen Berliner Kunstaustellung von 1923. Auf weißen Grund schwebten kubische Formen und schufen mit schiefen Linien Dyna mik und ein Gefühl von Schwerelosigkeit. Lissitzky war überzeugt, dass die Architektur der Zu kunft die Schwerkraft überwinden würde – eine Vor stellung, die zur revolutionären Umgestaltung der Welt passte. Er präzisierte dies im Entwurf des „Wolkenbü gels“. Auf drei hohen Beinen lagert ein h-förmiges Ge bilde. Dort oben liegen die einzigen Nutzflächen des „Gebäudes“, wie eine Brücke weit über den Straßen angeordnet. Der Wolkenbügel erscheint als ein Abbild der neuen Gesellschaft nach der Revolution: es gibt kein Unten oder Oben, keine Unterdrückten oder Herr schenden mehr, sondern alle Menschen sind gleichge stellt, auf einer Ebene. 6
1890 Potschinok †1941 Moskau El-Lasar-Lissitzky studierte in Darmstadt Architek tur, da ihm dies aufgrund seiner jüdischen Abstam mung in Russland nicht möglich war. Zeit seines Lebens war er ein Multitalent und Netz werker. Er wechselte ständig zwischen Malerei, Gra fik und Architektur sowie zwischen vielen europäi schen Ländern. Mit Kurt Schwitters unterhielt er sich in Hannover darüber, ob man aus Buchstaben Gebäude machen könnte, was sich in seinem Wolkenbügel-Projekt niederschlagen sollte. Seinen Wolkenbügel (für Mos kau) entwarf er in der Schweiz und erste Entwürfe schickte er an Oud in den Niederlanden. Publiziert wurde der Wolkenbügel dann auf dem Cover von Adolf Behnes „Der moderne Zweckbau“ in Wien. In Berlin stellte er mehrfach aus und schuf eindrucks volle Rauminstallationen. Besonders sein grafisches Werk ist bemerkenswert: Typografie und Buchstaben, die zu abstrakten Ge stalten werden. Hier sieht man einmal mehr die Nähe von DADAistischen Lautgedichten und moder ner Typografie.
BERLIN UND BABEL schließlich nach der Revolte der unterdrückten Arbeiter von einer Sündflut überschwemmt wird. Eine Metapher für Berlin und die Revolution von 1918? Wiederaufge baut und ausgestellt wurde Babel erst sehr viel spä ter im Berliner Pergamonmuseum. Aus Tausenden von Steinteilen wurde dort bis 1930 das Ischtartor wieder zusammengepuzzelt.
FRITZ LANG
Ab 1890 gruben deutsche Archäologen Babylon aus. Babylon war, wie sich damals herausstellte, die älteste Zivilisation der Menschheitsgeschichte. Sehr viel älter als z.B. Rom, das sowohl als Staat als auch in der Ar chitektur im 19. Jahrhundert immer als vorbildhaft galt. Da Babylon also zugleich „neu“ wie auch „uralt“ war, bot es sich geradezu als Vorbild und Metapher für das aufstrebende deutsche Kaiserreich, seine Hauptstadt Berlin und die neue Architektur an. Der Turm zu Babel wurde Ausgangspunkt für die Turmfantasien deutscher Architekten ab 1910, das Baumaterial Babels, glasierte Ziegelsteine, fand Eingang in neue Architekturaufga ben, z.B. in die Gestaltung von U-Bahnhöfen. Die dunkle Seite Babyloniens, die von der Bibel über lieferte Sprachverwirrung beim Turmbau und die Sünd flut, passten ebenfalls zur modernen Gesellschaft ab 1900. Bewirkten doch ständige technische Innovatio nen, Streiks und Wettrüsten einen Unruhefaktor in der Gesellschaft, der sich in Größenwahn und Untergangs fantasien spiegelte. Genau hier setzte Fritz Langs Film „Metropolis“ an: Er zeigte eine hypermoderne Stadt, die
1890 Wien †1976 Beverly Hills Fritz Lang studierte Architektur und Malerei, lande te aber schon sehr früh beim Film. In der Film-Me tropole Berlin machte er eine steile Karriere. Sein filmisches Schaffen war äußerst vielfältig und enorm einflussreich. So wechselte er vom Kriminalfilm „Dok tor Mabuse“ zu dem – heute würde man sagen – Fan tasy-Film „die Nibelungen“, dann zum Science-Ficti on-Film „Metropolis“, um schließlich mit den Thriller „M“ seinen ersten Tonfilm zu realisieren. George Lucas prägte sehr viel später den Begriff „Space Opera“, der vorzüglich auf Metropolis passt: Genau wie Lucas Langs Filmroboter Marie zitiert, bediente sich Lang in einer wilden Mischung bei den Genres Märchen, Melodrama und Klassenkampf. Der „verrückte“ Wissenschaftler lebt in einem gotischen Hexenhaus zwischen modernen Hochhäusern, der oberste Chef in einem turmhohen Büro mit Bildtele fon und die Arbeitermassen vegetieren ganz unten in der höhlenartigen Unterstadt.
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3 ZEITUNGSVIERTEL (FRIEDRICHSTRASSE/ KOCHSTRASSE) Zeitungen waren vor 100 Jahren das Massen medium und lieferten sich einen erbitterten Wettbewerb um aktuelle Nachrichten, Aufla genhöhe und die besten Autoren und Zeichner. Mehrmals täglich erschienen die großen Blät ter der drei Pressezaren August Scherl, Leo pold Ullstein und Rudolf Mosse. Geschrieben, gesetzt und gedruckt wurden sie alle im Vier tel um die Kochstraße. Die Macht der Presse war so wichtig, dass die Verlagshäuser nach dem verlorenen Weltkrieg 1918/19 von revolutionären Spartakisten be setzt wurden. Freiheit und Frieden waren die Ziele der Spar takisten, aber die reaktionären Regierungs truppen gingen rücksichtslos vor und setzten sogar Fliegerbomben ein. Bei den Kämpfen wurde das Mossehaus Ecke Jerusalemer Straße / Schützen Straße schwer beschädigt und 1923 von den Architekten E rich Mendeslohn futuristisch umgebaut.
FLUGHAFEN STAAKEN
chelt: Gestri ebahn 1936 Land Start-
B C D
: ichelt Gestr ge Straße Heuti alten Gas„Am werk“
BAHNHOF STAAKEN
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STAAKEN
LUFTSCHIFFBASIS JAMBOLI (BULGARIEN) Im Ersten Weltkrieg wurden Zeppeline militärisch einge setzt. Von der Basis Jamboli startete das Marineluftschiff LZ 104 zu der Rekordlangstreckenfahrt (95 Stunden) nach Afrika. 1
FLUGHAFEN STAAKEN LZ 104 wurde in Berlin-Staaken gebaut. Dieser Flugplatz war in den folgenden Jahren Ausgangspunkt vieler spekta kulärer Flüge und wurde regelmäßig von Zeppelinen wie der „Graf Zeppelin” angeflogen. 1920 mußte eine der beiden gro ßen Luftschiffhallen (A) aufgrund des Versailler-Vertrages, der Deutschland die Produktion von Zeppelinen verbot, ge sprengt werden. In der ungenutzten Halle (B) wurden in den nächsten Jahren Filme gedreht, der berühmteste: „Metropo lis” von Fritz Lang. Wenig ist heute erhalten: die Ruinen des Gaswerkes (C) und die Peripherie-Gebäude (D) der Luftschiffhallen. 2
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4 ULAP (STRASSE ALT MOABIT) Die überlebenden Spartakisten wurden misshandelt und auf der großen Freitreppe des ULAPs (Uranier Landesausstellungsparks) standrechtlich erschossen. Das Gebäudes des ULAP diente als Ausstel lungsbau für Messen und der jährlich stattfin denden Großen Berliner Kunstausstellung. Dort stellte 1923 El Lissitzky seinen berühm ten Prounenraum aus. Nach 1933 wurden Flugzeuge und Zeppeline im ULAP gezeigt. Unter anderen das riesige DO-X Flugboot, aber auch Raketenaggregate. Die Ausstellungsgebäude mitsamt der Flug zeuge wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört, einzig die Freitreppe ist heute erhalten. 5 STADTBAHNVIADUKT UND BAHNHOF FRIEDRICHSTRASSE Der Stadtbahnviadukt ist Berlins wichtigste Eisenbahnstrecke. Auf 731 gemauerten B ögen durchquert er die Stadt von Ost nach West. Die Bahnhöfe der Stadtbahn sind so verschie den wie die Stadt selbst: ob proletarisch am Alexanderplatz oder vornehm am Zoo, hatte und hat jeder Bahnhof sein eigenes, sich wan delndes Gesicht. Die ältesten Stationen stammen aus dem Jahr 1889, der Bahnhof Friedrichstraße wurde dann bis 1923 expressionistisch umgebaut. In seiner Halle machte der Nord-Express Sta tion. Der Nord-Express war ein internationaler Luxuszug, der von Moskau bis Paris fuhr und genau so berühmt war wie der Orient-Express.