DAS LEHRERZIMMER Johannes Duncker, Ilker Çatak
DEUTSCHE DREHBÜCHER Herausgegeben von der Deutschen Filmakademie
DAS LEHRERZIMMER von Ilker Çatak & Johannes Duncker
30. September 2021
Kontakt: if... Productions Film GmbH Ingo Fliess Lindwurmstr.108a 80337 München info@ifproductions.de
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INT. LEHRERZIMMER - TAG
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Eine junge Lehrerin, CARLA NOWAK (29), hält einen Telefonhörer ans Ohr. Wir befinden uns im Lehrerzimmer - hier telefoniert man noch über Festnetz. Das Gespräch geht schon eine Weile. Carla blickt immer wieder auf die Uhr. CARLA Ja. Ich verstehe. Wie gesagt, das haben wir bereits letzte Woche… Mhm. Das Gegenüber am Telefon scheint Carla zu unterbrechen. Sie hört geduldig zu. Sekunde.
CARLA (CONT’D)
Carla greift sich einen Stift, sucht vergebens nach einem Zettel. CARLA (CONT’D) Ja, ich bin noch dran. Sie notiert eine Telefonnummer und eine Adresse in ihre Handinnenfläche. CARLA (CONT’D) Ja … 0153 249 348 - Bitte? Ah. Platanenallee 35. Ein Kollege, MILOSZ DUDEK (45), erscheint im Hintergrund, gibt Carla zu verstehen, dass es nun Zeit ist. Carla nickt und er geht vor. CARLA (CONT’D) Herr Volz, ich muss das Gespräch an dieser Stelle beenden, aber wir bleiben dazu im Austausch, Ok? Ja. Ich hab alles aufgeschrieben und kümmere mich. Prima. Wiederhören. Carla legt auf, trinkt einen schnellen Schluck von ihrem Kaffee, packt hastig ihre Sachen zusammen und geht durch -1A
INT. FLUR - TAG
1A
-- lange Flure. Sie gelangt an die Tür zu einem Klassenzimmer, atmet einmal durch und geht hinein. 2
INT. BESPRECHUNGSRAUM- TAG
2
Carla betritt einen schlichten Raum, den wir alle aus Schulzeiten kennen. Ein paar zusammengeschobene Tische, an deren einem Ende die Kinder JENNY (12) und LUKAS (12) sitzen.
2. Ihnen gegenüber haben die Lehrer Milosz Dudek, sowie THOMAS LIEBENWERDA (42) Platz genommen. Lukas schaut schweigend auf sein Käppi, welches er im Schoß hält. Jenny, lange Haare und Zahnspange, ein Teenie aus dem Lehrbuch. Angespannte Stimmung. Carla setzt sich an die Längsseite des Tisches, auf einen leeren Stuhl, zwischen die beiden Parteien. CARLA Entschuldigt die Verspätung. MILOSZ DUDEK Kein Problem. Herr Liebenwerda hat die Thematik schon grob umrissen. Gut.
CARLA
(zu den Kindern) Ihr wisst also Bescheid? Lukas nickt. JENNY Ja, aber wir haben schon gesagt, dass wir nichts wissen. MILOSZ DUDEK Genau. Uns geht es auch nicht darum, ob ihr etwas wisst, sondern ob ihr irgendwelche Hinweise habt. Eine Ahnung. Jenny und Lukas gucken sich an - Keine Ahnung. THOMAS LIEBENWERDA Ist Euch irgendwas aufgefallen, in letzter Zeit? Mitschüler, die sich auffällig verhalten haben? Jenny guckt zu Lukas - der zuckt mit den Schultern. MILOSZ DUDEK Ich weiß, dass das jetzt eine unangenehme Situation für euch ist. CARLA Nicht nur für Euch, übrigens. MILOSZ DUDEK Aber versetzt euch doch mal in die Lage der Opfer. Wir müssen jetzt alle zusammen dafür sorgen, dass das aufhört. Und als Klassensprecher tragt ihr eine gewisse Verantwortung.
3. JENNY Was sollen wir sagen, wenn wir nichts wissen? Lukas sinkt weiter in sich zusammen, starrt auf den Boden. Carla schaut zu Thomas, ihr Blickt sagt: lass gut sein. Lukas?
THOMAS LIEBENWERDA
Lukas blickt auf. THOMAS LIEBENWERDA (CONT’D) Von dir haben wir noch gar nichts gehört. Was denn?
LUKAS
THOMAS LIEBENWERDA Fällt Dir niemand ein? Vielleicht hat jemand ein neues Handy? Teure Markenklamotten? Jemand, der mit Geld geprahlt hat? LUKAS Ich will nicht drüber reden. Die Lehrer blicken zu Lukas, Jenny dreht sich irritiert zu ihm.
Ey.
JENNY (leise)
MILOSZ DUDEK Nochmal, damit das klar ist: alles, was hier besprochen wird, bleibt unter uns. CARLA Lukas, Du musst auch nicht drüber reden, wenn Du nicht möchtest. THOMAS LIEBENWERDA Ja genau. Wir müssen gar nicht reden. Thomas Liebenwerda steht auf, geht auf die andere Seite des Tisches. Er legt Lukas das Klassenbuch vor, auf dem alle Namen der Kinder aus der 7B stehen. THOMAS LIEBENWERDA (CONT’D) Schau mal, ich gehe jetzt mit dem Stift die Namen ab. Alles was Du tun musst, ist zu nicken, wenn Du eine Ahnung hast.
4. Liebenwerda beginnt mit dem Stift die Namen abzufahren, Lukas guckt auf das Papier, schüttelt immer mal wieder den Kopf. Milosz Dudek und Carla gucken sich gegenseitig an. Die Methode von Liebenwerda war so nicht abgesprochen. CARLA Herr Liebenwerda? Sie guckt ihn an: Wollen wir's dabei belassen? THOMAS LIEBENWERDA Lukas, Du musst das nicht machen, wenn Du nicht willst. Lukas reagiert kaum. THOMAS LIEBENWERDA (CONT’D) Ich macht jetzt weiter, wir sind auch fast durch. Lukas zuckt mit den Schultern, Liebenwerda setzt erneut an. Carla schaut rüber zu Milosz, der gibt ihr zu Verstehen: lass ihn machen. Wir bleiben bei Carla: das, was um sie herum passiert, ist in ihrem Gesicht abzulesen. Ein Gesicht, dass sich Stück für Stück weiter versteinert. THOMAS LIEBENWERDA (O.S.) (CONT’D) Der hier? Ok, Prima. Danke Lukas. MILOSZ DUDEK (O.S.) Danke Euch für die Kooperation. Ich möchte Euch daran erinnern, dass das hier Besprochene bitte unter uns bleibt. Ja? Die Kinder nicken halbherzig. MILOSZ DUDEK (CONT’D) Gut Leute, Ihr könnt jetzt gehen. Die Kinder verlassen den Raum. THOMAS LIEBENWERDA (O.S.) Danke Frau Nowak. Milosz und ich werden das weitere Vorgehen mit der Schulleitung besprechen. Aber Carla nimmt alles um sie herum kaum mehr war - sie weiß nur: das, was gerade geschehen ist, war nicht in Ordnung, doch die Klingel zur nächsten Unterrichtsstunde schellt bereits. TITEL: DAS LEHRERZIMMER
5. CARLA (O.S) Guten Tag, liebe Klasse... 3
INT. KLASSENZIMMER - TAG
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KLASSE (im Chor) Guten Tag, Guten Tag, guten Tag, Tag, Tag, Tag, Tag! Carla steht an der Tafel, vor ihr die Klasse der 7B. CARLA Ich sehe alle Bücher. Die Kinder halten ihre Mathebücher in die Luft. Carla prüft ob jemand seins vergessen hat. CARLA (CONT’D) Ich sehe alle Hefte und Mappen. Die Kinder halten jetzt ihre Hefte und Mappen hoch. CARLA (CONT’D) Prima. Dann holt bitte die Hausaufgaben raus, ich komme rum. Währenddessen guckt ihr Euch bitte das Warmup an. Und bleibt leise. Sie zeigt an die Tafel. Dort steht: WARMUP: 0, Periode 9
= 1?
BEWEISE!!!
Carla geht nun durch die Reihen und guckt sich die Hausaufgaben an, während die Kinder das Warmup lösen… Unter den Kindern sind auch Jenny und Lukas. Immer mal wieder guckt sie, macht einen Kommentar, lobt und kritisiert konstruktiv. CARLA (CONT’D) (flüstert) Das Ergebnis stimmt, Mikhail, aber ich kann Deine Schrift kaum lesen. Sie geht weiter, beugt sich über eine weitere Reihe. CARLA (CONT’D) Guck mal, hier musst Du erweitern, um auf den gleichen Nenner zu kommen. Dann erst kannst Du die Zahlen zusammenrechnen. Die Klasse wird für einen Moment zu laut. Hey!
CARLA (CONT’D)
6. Sie klatscht 4x in die Hände. Die Klasse nimmt den Impuls auf und klatscht 2x zurück - Ruhe. Carla kommt nun nach vorne. CARLA (CONT’D) Okay, wer möchte das Warmup lösen? Ist Null Komma Periode Neun dieselbe Zahl wie eins? HATICE (12), ein Mädchen mit Kopftuch, meldet sich. CARLA (CONT’D) Hatice, ja? HATICE Also, eigentlich ist es nicht dieselbe Zahl. CARLA Eigentlich? Dann komm mal an die Tafel und zeig uns wieso? Hatice steht auf, geht an die Tafel, beginnt mit einem Beweis. HATICE Wenn man Null Komma Periode Neun von Eins abzieht, dann bleibt ja immer noch ein Rest. Null Komma Null Null, ganz viele Nullen und dann Eins. Sie schreibt ihre These an die Tafel. CARLA Du meinst also, es müsste noch eine Zahl geben, die dazwischenliegt? Zwischen Null Komma Periode Neun und der Eins, ja? Ja.
HATICE
CARLA (zur Klasse) Was meint Ihr dazu? Ist das ein Beweis oder eine Behauptung? JENNY Ein richtiger Beweis ist das nicht, oder? Carla guckt in die Klasse. Oskar meldet sich. CARLA Okay. Oskar will es versuchen. Danke Dir Hatice.
7. Hatice setzt sich, Oskar kommt an die Tafel. Zügig und ohne große Erklärungen schreibt er. OSKAR Null Komma Periode Eins ist gleich ein Neuntel. Er schreibt an die Tafel: 0,11… = 1/9 OSKAR (CONT’D) Und neun mal ein Neuntel sind Eins. 9 x 1/9 = 1 OSKAR (CONT’D) Also ist Null Komma Periode Neun das Gleiche wie Eins. 0,99… = 1 Etwas schüchtern steht er neben der Tafel. Carla versucht ihre Begeisterung zu verbergen. CARLA (zur Klasse) Was meint ihr? Carla blickt in die Gesichter der Kinder - sie sieht, dass einige nicht ganz folgen können. JENNY Macht Sinn. CARLA Macht Sinn, oder? Hatice? HATICE Ja, nur, so richtig check ich's noch nicht. TOM (ruft rein) Ich auch nicht. Da muss doch noch eine Lücke sein, zwischen der Neun und der Eins. TOM (12) ist ein großes Kind, mit lauter Stimme. CARLA Hat es denn noch jemand nicht verstanden? Die Mehrzahl der Kinder hebt die Hand. Oskar steht immer noch an der Tafel. Carla blickt fragend zu ihm. Der zuckt mit den Schultern. Ein gemeinsamer Blick, der sagt: Danke, kannst Dich wieder setzen. Oskar geht auf seinen Platz zurück.
8. CARLA (CONT’D) Okay, die Aufgabe war vielleicht ein bisschen anspruchsvoller. Aber wir werden in diesem Schuljahr noch öfter auf ähnliche Fragestellungen treffen. Und das Wichtigste ist, das ihr versteht, dass ein Beweis eine Herleitung braucht. Schritt für Schritt. Wir werden schon noch dahinkommen, macht Euch keine Sorgen. Carla steht vor der Tafel, mit der Kreide schreibt sie ein Datum auf. CARLA (CONT’D) Und bevor es soweit ist, schreiben wir Ende der Woche auch eine erste Klassenarbeit. KINDER Ach Scheisse. // Whaat? // Neein. LUKAS Hä? Wieso das denn? Wir haben doch erst gerade angefangen. CARLA Naja, es stehen Klassenfahrt, Projektwoche und Herbstferien an! Wir müssen halt irgendwann auch unsere Arbeiten schreiben. Plötzlich klopft es an der Tür. Ja bitte.
CARLA (CONT’D)
Aber die Tür geht schon auf, noch bevor Carla ausgesprochen hat. Die Schulleiterin DR. BETTINA BÖHM (64), Thomas Liebenwerda und Milosz Dudek betreten den Raum. Die Schulleiterin ist eine Frau, der man die Jahre im Beruf ansieht. Sie kennt diese Situationen und lässt in all ihrem Tun eine gewisse Routine durchblicken. DR. BETTINA BÖHM Frau Nowak, bitte entschuldigen Sie die Störung. Wenn Sie erlauben, übernehme ich mal kurz. Sie wendet sich an die Klasse. DR. BETTINA BÖHM (CONT’D) Wir müssen den Unterricht für einen Moment unterbrechen. Herr Dudek?
9. MILOSZ DUDEK Wir bitten nun alle Mädchen aufzustehen, und den Raum zu verlassen. Die Mädchen gucken sich gegenseitig an. Die ersten stehen auf. MILOSZ DUDEK (CONT’D) Einfach rausgehen. Wir holen Euch dann gleich wieder rein. Die Mädchen gehen raus, hinter ihnen geht die Tür zu. DR. BETTINA BÖHM Gut, alle, die jetzt noch hier sind, hören genau zu. Wir würden gerne einen Blick in Eure Portemonnaies werfen. Holt sie bitte raus, legt sie auf den Tisch und kommt nach vorne. Die verbliebenen Jungs schauen sich irritiert an. Auch Carla, weiß überhaupt nicht, was los ist. THOMAS LIEBENWERDA Geldbörse auf den Tisch legen und nach vorne kommen, bitte. DR. BETTINA BÖHM Das Ganze ist natürlich freiwillig, aber wer nichts zu verbergen hat, braucht sich auch keine Sorgen machen. Die Kinder tun, was die Schulleiterin ihnen befiehlt. Einer nach dem anderen holen die Jungs ihre Portemonnaies heraus und legen sie auf die Tische. CARLA (flüstert zu Dr. Böhm) Entschuldigung, aber was soll das hier? DR. BETTINA BÖHM (flüstert) Waren Sie bei der Befragung nicht dabei?! Während die Kinder an die Tafel kommen, gehen die anderen Lehrer an die Bänke und schauen in die Portemonnaies. Sie gucken hinein, und wenn es keine auffälligen Beträge sind, legen sie sie wieder zurück. THOMAS LIEBENWERDA Wer sitzt hier?
10. LUKAS Oskar sitzt da. THOMAS LIEBENWERDA Wo ist Dein Portemonnaie Oskar? OSKAR Ich habe keins. CARLA Du musst es nicht zeigen, wenn Du nicht willst, Oskar. OSKAR Ich hab doch gerade gesagt, dass ich keins habe. MILOSZ DUDEK Und das hier? Er hält ein Portemonnaie in die Luft. Und rund 80 Euro, die darin enthalten sind. THOMAS LIEBENWERDA Wessen Platz ist das? Stille. DR. BETTINA BÖHM Frau Nowak? CARLA Das ist… der Platz von Ali. Alle gucken zu ALI (12). Die Angst steht ihm ins Gesicht geschrieben. Carla blickt zu Lukas. Der wendet den Blick ab. MILOSZ DUDEK Komm mal mit Ali, deine Sachen kannst du ruhig liegen lassen. DR. BETTINA BÖHM Danke Leute, ihr könnt Euch wieder setzen. Frau Nowak, Sie können weitermachen. Damit sind sie aus der Tür. Sie gehen an den Mädchen vorbei, die draußen warten. Irritierte Blicke. THOMAS LIEBENWERDA Ihr könnt alle wieder reingehen. Die Mädchen gehen wieder ins Klassenzimmer und setzen sich. Alis Platz bleibt leer.
11. 4
INT. BÜRO BÖHM - TAG
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Nach dem Unterricht: Alis Eltern sind in die Schule gekommen. Sie sitzen neben ihrem Sohn, der schweigend alles über sich ergehen lässt. Ihnen gegenüber sitzen Dr. Böhm und Carla. DR. BETTINA BÖHM Ein Geburtstagsgeschenk? MUTTER VON ALI Ich habe ihm das Geld am Morgen gegeben, damit er später noch das Geschenk kauft. Für seinen Cousin. DR. BETTINA BÖHM Darf ich fragen, was er kaufen sollte? MUTTER VON ALI Ich glaube ein Computerspiel. Oder? Ali, konuşsana! ALI Ja, für'n Computerspiel halt. Es klopft an der Tür. Die Sekretärin FRIEDERIKE KUHN (47) betritt den Raum. Eine unscheinbare Frau, mit leicht antiquiertem Modegeschmack. Sie hält einige Unterlagen in der Hand. DR. BETTINA BÖHM Danke Frau Kuhn, einfach ablegen. Frau Kuhn bleibt noch einen Moment im Raum stehen, Neugierde im Blick. DR. BETTINA BÖHM (CONT’D) Sonst noch was? Frau Kuhn sammelt sich, verlässt den Raum. CARLA Lieber Ali, Frau Yılmaz, Herr Yılmaz, ich denke wir haben jetzt Klarheit und können erstmal einen Haken hinter die Sache setzten. Carla blickt rüber zu Dr. Böhm. Die nickt nur flüchtig. MUTTER VON ALI Wie kommen sie überhaupt darauf? Bitte?
CARLA
MUTTER VON ALI Warum mein Ali?
12. CARLA Naja, er war derjenige, der überdurchschnittlich viel Geld in der Tasche hatte. MUTTER VON ALI Na und? Was, wenn ich eine Mutter bin, die ihrem Kind gern Geld in die Tasche steckt? Ja.
CARLA
MUTTER VON ALI Geld in der Tasche zu haben, ist doch keine Straftat. CARLA Das stimmt. DR. BETTINA BÖHM Frau Yilmaz, wir haben hier an unserer Schule eine sogenannte Null-Toleranz-Politik. Das bedeutet in seiner Kurzform, dass wir jeder Kleinigkeit auf den Grund gehen. MUTTER VON ALI Aber was denken jetzt die anderen über ihn? Sie wissen doch wie Kinder sind. DR. BETTINA BÖHM Frau Yilmaz, machen Sie sich keine Sorgen, wir werden das richtigstellen. MUTTER VON ALI Richtigstellen? DR. BETTINA BÖHM Jawohl, richtigstellen. Im Grunde können wir alle froh sein, dass sich der Verdacht nicht erhärtet hat, weil dann hätten wir jetzt ein ganz anderes Problem. CARLA Es tut uns leid, dass Sie kommen mussten. DR. BETTINA BÖHM Ja, das tut uns leid. Der Vater von Ali spricht jetzt seine Frau direkt an.
13. VATER VON ALI (auf Türkisch) Wegen so 'ner Scheiße schleppst du mich hierher? MUTTER VON ALI (auf Türkisch) Wieso, das ist doch wichtig, was die hier sagen. VATER VON ALI (auf Türkisch) So wichtig, dass sie uns jetzt wieder nach Hause schicken. MUTTER VON ALI (auf Türkisch) Hör jetzt auf, hier eine Szene zu machen. VATER VON ALI (auf Türkisch) Du erklärst dann meinem Chef, warum ich mitten in der Schicht… MUTTER VON ALI (unterbricht, auf Türkisch) Es geht hier um unseren Sohn, Hikmet. Außerdem haben die uns beide hergebeten. VATER VON ALI (auf Türkisch) Schwachsinn, als wenn Du das hier nicht alleine hättest machen können. Dr. Böhm räuspert sich. DR. BETTINA BÖHM Ich würde Sie doch bitten Deutsch zu sprechen. Bitte. VATER VON ALI (in akzentfreiem Deutsch) Ich soll Deutsch sprechen? Gut, dann merken Sie sich das: Wenn Ali klaut, dann breche ich ihm die Beine. Ali klaut nicht. Nie. Haben wir uns verstanden? Mit so einer Ansage haben die Pädagoginnen nicht gerechnet. Alis Vater packt seinen Sohn an der Jacke und schiebt ihn aus dem Raum.
14. 5
INT. LEHRERZIMMER - TAG
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Im Anschluss: Einige Kolleg*innen sind im Lehrerzimmer versammelt. Neben Thomas Liebenwerda und Milosz Dudek, ist dort auch LORE SEMNIK (49), - Deutsch- und Musiklehrerin. Scharf in der Beobachtung. Sachlich im Umgang. Sie ist zugleich auch Vertrauenslehrerin. Neben ihnen steht eine weitere Kollegin, VANESSA KÖNIG (42), eine attraktive Französischlehrerin mit auffälligen Strumpfhosenmustern und leichtem Hang zur Selbstinszenierung. Carla steht an der Teeküche, gießt sich etwas Filterkaffee in die Tasse, schmeißt 50 Cent in das dortige Sparschwein, während sie den Kolleg*innen zuhört. THOMAS LIEBENWERDA …es ist einfach so, die Kinder haben zuhause keine Eltern, die sie als Respektpersonen anerkennen. MILOSZ DUDEK Und deswegen müssen wir hart sein? THOMAS LIEBENWERDA Das hast Du gesagt. MILOSZ DUDEK Aber Du hast es impliziert. THOMAS LIEBENWERDA Ich sag nur: wir dürfen uns nicht auf der Nase rumtanzen lassen. LORE SEMNIK Wer genau tanzt Dir denn auf der Nase rum, Thomas? Frau Kuhn steht an den Fächern des Kollegiums und legt diverse Zettel hinein. Carla geht an ihr vorbei. FRIEDERIKE KUHN Frau Nowak, in ihrem Fach liegt der neue Vertretungsplan. Frau Holbach ist die ganze Woche krankgeschrieben. CARLA Danke Frau Kuhn, hab's schon mitbekommen. Frau Kuhn sortiert noch einen Moment, geht dann wieder ins Büro, Carla setzt sich nun zur Runde, die in der Zwischenzeit weiterdiskutiert hat. THOMAS LIEBENWERDA Das versuchen wir ja herauszufinden.
15. LORE SEMNIK Aber nicht so. Überlegt euch mal, was das mit den Kindern macht, wenn sie im Unterricht gefilzt werden. THOMAS LIEBENWERDA Im echten Leben ist es auch nicht anders. Außerdem wurden sie nicht gefilzt! Es war freiwillig. CARLA Nichts davon war freiwillig Herr Liebenwerda, das wissen Sie aber auch. Und es wäre nur kollegial gewesen, wenn Sie mich vorgewarnt hätten. THOMAS LIEBENWERDA Frau Nowak, ich verstehe Ihre Empörung, aber Sie wissen nicht, wie lange das hier schon geht. Es gibt an dieser Schule Menschen, die klauen, was ihnen zwischen die Finger kommt! Einfach so. Und wir müssen handeln, wenn sich die Gelegenheit ergibt. VANESSA KÖNIG Sind die Bleistifte eigentlich wieder aufgetaucht? Nein.
MILOSZ DUDEK
Dudek kaut auf einem Brötchen, das er mit lauwarmem Filterkaffee runterspült. Carla beginnt ihre Sachen zu packen. THOMAS LIEBENWERDA 1000 Bleistifte! Wer braucht 1000 Bleistifte?! Erklär mir das mal einer. VANESSA KÖNIG Ich bin ja immer noch der Meinung, dass das angefangen hat, seitdem hier diese neue Firma putzt. LORE SEMNIK Die Frauen sind total nett, da wär ich echt vorsichtig, Vanessa. VANESSA KÖNIG Gibt auch nette Diebe, glaub mir. THOMAS LIEBENWERDA (halb im Spaß) Was ist mit einem Privatdetektiv!? (MORE)
16. THOMAS LIEBENWERDA (CONT’D) Das können wir Böhm doch nochmal vorschlagen. LORE SEMNIK Genau, dann sitzt da so ein Typ mit Pfeife und Loch in der Zeitung auf'm Pausenhof und überführt unsere Diebe? THOMAS LIEBENWERDA Im Einzelhandel machen sie es doch auch. Rund um die Uhr. VANESSA KÖNIG Dafür gibt's eh kein Geld. LORE SEMNIK Wie wär's, wenn wir stattdessen mal lieber paar anständige Tablets kaufen würden? MILOSZ DUDEK Den Antrag haben wir vor drei Monaten schon gestellt. CARLA Tschuldigung, aber wenn Ihr mir gerade nicht mehr braucht, würd' ich hiermit mal weiter machen. Handeln, nicht wahr, Herr Liebenwerda? Carla verlässt den Raum. Über ihrem Stuhl hängt ihre Jacke. 7
INT. SPORTHALLE - TAG
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Die großräumige Sporthalle der Schule. Die Schüler*innen stehen in einem Kreis. Mittendrin steht Carla, selbst in Sportklamotten. Eine Trillerpfeife baumelt um ihren Hals: Im Gleichschritt stampfen ihre Füße auf den Linoleumboden. Mit Händen und Füßen gibt sie einen Rhythmus vor, den alle mitmachen. Sie schnippt mit dem Finger, alle schnippen ihr nach. Sie klatscht in die Hände, alle klatschen mit. Musikalische Aufwärmübungen. 8
INT. SPORTHALLE - TAG
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Kleiner Zeitsprung: Die Kinder stehen in einer Reihe, Carla steht davor, teilt die Gruppe in zwei Teams ein, während jedes zweite Kind ein rotes Leibchen zugeworfen bekommt. KINDER Eins, zwei, eins, zwei, eins, zwei, eins, zwei, eins, zwei, eins, zwei, eins, zwei.
17. Auf einer Bank hinter Carla sitzen JIEUN (12) und LUISE (12). Jieun könnte auf den ersten Blick auch als Junge durchgehen. Luise dagegen ist ein zartes Mädchen mit blasser Haut, roten Haaren und Sommersprossen. [Sie sitzen sich gegenseitig auf dem Schoß.] Daneben noch zwei weitere Kinder, eins, das auf seine Einwechslung wartet. Ein anderes, das sein Sportzeug vergessen hat. Beide tragen Alltagskleidung und nehmen nicht am Sportunterricht teil. Sie tuscheln untereinander. Immer wieder kichern sie. Wenig später spielen die Kinder Basketball. Als es zwischen Ali und Lukas zu einem Zweikampf mit etwas zu viel Körpereinsatz kommt, pfeift Carla ab. CARLA Immer sportlich bleiben Leute! ALI Aber Frau Nowak! CARLA Was ist los Ali? Das kann schonmal passieren, komm steh auf! Er zeigt hinter sie. ALI Ich hab kein Bock mehr. Luise und Jieun machen auch was sie wollen. Als sich Carla umdreht, sind Jieun und Luise weg. Carla schaut sich in der Halle um, doch keine Spur von den Mädchen. Die Tür zur Halle ist einen spaltbreit offen. CARLA Jenny, komm' mal bitte her. CARLA (CONT’D) Der Rest kann weiterspielen. Freiwurf für die rote Mannschaft. Sie pfeift das Spiel wieder an. CARLA (CONT’D) (zu Jenny) Schaust Du bitte mal wo die beiden bleiben? Jenny trottet aus der Halle. Das Spiel läuft weiter,immer wieder wandert Carlas Blick zu Tür. Wo bleiben die nur? Eine gefühlte Ewigkeit vergeht. Carla wendet sich an eins der Kinder auf der Bank.
18. CARLA (CONT’D) Jonas, machst Du kurz mal den Schiri? Bin gleich wieder da. Sie gibt dem Jungen die Pfeife und geht hinaus. 9
INT. FLUR DER SPORTHALLE - TAG
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Carla geht durch den leeren Flur der Sporthalle. CARLA Jieun? Luise? Keine Antwort. Der Flur liegt im Dunklen. Aus der Halle dringt das Gekreische der Kinder zu ihr durch. Carla geht ein paar Schritte in den Flur. In dem Moment erscheinen Jieun, Luise und Jenny am Ende des Flurs. Die Mädchen kommen auf sie zu. Sie sprühen sich im Gehen noch mit Deo ein. Carla sieht wie Luise etwas hinter ihrem Rücken verschwinden lässt. CARLA (CONT’D) Kommt ihr wieder rein? LUISE Tschuldigung Frau Nowak, wir waren nur kurz frische Luft schnappen. CARLA Luise, zeigst du mir bitte einmal, was du gerade hinterm Rücken versteckt hast? Nichts.
LUISE
CARLA Komm, zeig's her. Carla schaut sie eindringlich an. Luise öffnet die Hand: ein edles Zippo-Feuerzeug. Carla nimmt es ihr ab. CARLA (CONT’D) (CONT’D) Habt ihr geraucht? LUISE Nee. Wir doch nicht. CARLA Und warum dann das Feuerzeug? JIEUN Um das Heroin heiß zu machen. Luise und Jenny kichern.
19. CARLA Jieun, das ist nicht witzig. JIEUN Ich find schon. CARLA Leute, Ihr habt mir gesagt, dass es euch nicht gut geht und ich habe euch geglaubt. Aber wenn ihr euch derartig aufführt,…[werd' ich in Zukunft nicht so nett sein.] JIEUN (unterbricht) Wir waren wirklich nur kurz auf der Toilette. JENNY Ich kann das bezeugen. CARLA Okay. Dann kommt ihr jetzt bitte wieder mit in die Halle. Sie zeigt den Mädchen den Weg. LUISE Was ist mit meinem Feuerzeug? CARLA Das bleibt vorerst bei mir. Wie lange?
LUISE
CARLA Bis ich mit Deinen Eltern darüber geredet habe. LUISE Bitte reden Sie nicht mit meinen Eltern darüber. Luise steht die Angst ins Gesicht geschrieben. LUISE (CONT’D) Es ist ein Geschenk für meinen Vater. Er hat morgen Geburtstag. Lügt sie? Carla zögert. CARLA Meinetwegen. Aber das nächste Mal meldet Ihr Euch ab, bevor Ihr einfach die Halle verlasst, verstehen wir uns?
20. LUISE Und das Feuerzeug? CARLA Verstehen wir uns? LUISE Ja Frau Nowak.
JIEUN Ja wir verstehen uns.
CARLA Gut, das Feuerzeug kannst Du Dir am Ende des Tages bei mir abholen. Und jetzt rein mit Euch. Die Mädchen gehen in die Halle, Carla blickt ihnen hinterher. 9A
INT. SEKRETARIAT - TAG
9A
Später: Carla kommt ins Sekretariat. Oskar kommt gerade raus. Hey Oskar!
CARLA
Er lächelt knapp, geht wortlos an ihr vorbei. Hinter dem Tresen sitzt Frau Kuhn. Und ein zweiter Sekretär ein junger Auszubildender namens DIRK (23). CARLA (CONT’D) Hallo, in der Sporthalle lag das hier noch rum - von meinen Schüler*innen gehört es niemandem glaub das ist ein Tagebuch von einer... Steffi - kein Nachname, leider. FRIEDERIKE KUHN Ein Tagebuch?! Haben sie schon reingelesen? Seien Sie ehrlich. CARLA Würd' ich nie tun. FRIEDERIKE KUHN Ich auch nicht. Kuhn hält Carla eine Kiste hin, auf der Lost&Found draufsteht. Carla legt den Schlüsselbund hinein. CARLA Und ich hatte gestern immer noch Probleme mit meinem Mailaccount. Aha.
FRIEDERIKE KUHN
21. CARLA Könnten Sie bei der IT vielleicht mal nachhaken, ob die Zugangsdaten richtig sind? FRIEDERIKE KUHN Ne, tut mir leid, das kann ich nicht. CARLA (irritiert) Wieso? FRIEDERIKE KUHN Weil's Dirk schon gemacht hat. Liegt alles in Ihrem Fach. CARLA Ah, toll! Danke! An Sie beide. Dirk und Frau Kuhn lächeln. Carla auch. Ein Telefon klingelt. Dirk geht ran. DIRK (O.S.) Emmy Nöther Gymnasium, guten Tag… Krankmeldung? Oje, gute Besserung. Ich geb's weiter… Na klar… Frau Kuhn nutzt den Moment, während Dirk weiterredet. FRIEDERIKE KUHN (leise) Sagen Sie, es steht mir vielleicht nicht zu das zu fragen, aber ist mit Ali alles in Ordnung? Mit Ali?
CARLA
FRIEDERIKE KUHN Sah ja so'n bisschen nach dicker Luft aus gestern. CARLA War ein Missverständnis. Aber wir haben es glücklicherweise geklärt. FRIEDERIKE KUHN Ich frag nur, weil mir Oskar zuhause auch nix erzählt. -Und wie war's heute in der Schule? -OKAY. -Wie ist deine neue Lehrerin? -OKAY. CARLA Immerhin zwei Silben.
22. FRIEDERIKE KUHN Aber von der anstehenden Klassenfahrt hat er erzählt. Da freut er sich drauf! Macht er auch im Unterricht mit? CARLA Doch, schon. Wir müssen nur aufpassen… [dass er sich nicht langweilt]. In dem Moment kommen MITRA (16) und KRISSI (16) ins Sekretariat, zwei Mädchen aus der Oberstufe. KRISSI (zu Carla) Hallo. Hallo.
CARLA
KRISSI (Blick zu Dirk, dann leise) Ähm, Frau Kuhn, ich bräuchte mal 'nen Hygieneartikel. Halbwegs dringend. Frau Kuhn versteht sofort, geht an einen Erste-Hilfe-Schrank. T oder B? T bitte.
FRIEDERIKE KUHN KRISSI
MITRA (zu Carla) Und wir sehn uns ja auch bald. CARLA Ihr seid von der Schülerzeitung? Genau.
MITRA
CARLA Ja, total, hab's aufm Schirm. FRIEDERIKE KUHN (zu Mitra) Für dich auch? MITRA Danke, bin gut. Frau Kuhn gibt Krissi das Tampon.
23. KRISSI Tschuldigung, wir haben Sie unterbrochen oder? CARLA Passt schon. Das Telefon klingelt, Kuhn geht wieder an ihren Platz. FRIEDERIKE KUHN Unterbrechung ist mein zweiter Vorname. (nimmt ab) Emmy Nöther Gymnasium, guten Tag. 10
INT. FOYER / SCHULKANTINE - TAG
10
Große Pause: Carla steht mit einem Joghurt und einem Mineralwasser an der Kasse der Schulkantine. Sie kramt in ihrer Geldbörse nach Kleingeld. Hinter ihr stehen einige Kinder an. CARLA Drei siebzig… drei achtzig… Ne, müssen wir anders machen. Sie wendet die Geldbörse, um nach einem Schein zu greifen. Aber das Fach ist leer. CARLA (CONT’D) Oh. Ich glaube… Die Kantinenmitarbeiterin schaut sie erwartungsvoll an. Carla durchsucht Hosen- und Jackentaschen: nix. CARLA (CONT’D) Fürchte den Joghurt muss ich hier lassen. KASSIERER Den können Sie auch morgen noch bezahlen. Moment.
CARLA
Während Carla sucht, warten schon die nächsten hinter ihr. CARLA (CONT’D) Ihr könnt vor. Sie lässt die Schüler*innen hinter sich vor. Im Vorbeigehen mustern sie Carla, die nochmal in ihrer Tasche sucht. Gründlich. KASSIERER Wie gesagt - Sie können…
24. In dem Moment findet Carla das Geld: in der Gesäßtasche ihrer Hose. Sie hält die zwei Scheine in die Luft. CARLA (erleichtert) Dachte schon… KASSIERER Nicht soviel denken. Carla: Thumbs up! 10A
INT. SCHULHOF - TAG
10A
Carla sitzt auf einer Holzbank, löffelt ihren Joghurt aus. Vor ihr der belebte Schulhof. Carlas Blick bleibt an den Lehrern hängen, die ihrer Aufsichtspflicht nachgehen: sie beobachtet aus der Ferne wie sie untereinander spaßen. Ungefragt setzt sich Milosz Dudek neben Carla. Er isst einen Apfel. Hey na? Hallo.
MILOSZ DUDEK CARLA
Sie gucken sich einen Moment an - Dudek unsicher, was er sagen soll. Carla wartet ab. Für einen Moment guckt Sie sich die spielenden Kinder auf dem Schulhof an. MILOSZ DUDEK Also, ich wollte nochmal sagen, dass ich Dir einen geschmeidigeren Einstieg gewünscht hätte. Das neulich war blöd. CARLA Ich wüsste es halt gern, wenn ihr in großer Mannschaft meinen Unterricht stürmt. MILOSZ DUDEK Naja, 'ne Stürmung war das jetzt nicht? Carla guckt ihn an: nicht? Einige Kinder spielen Ball und benutzen Schimpfwörter dabei. MILOSZ DUDEK (CONT’D) (ruft) Kian, Imi - Sprache! Die Kinder spielen weiter.
25. MILOSZ DUDEK (CONT’D) Streng, freundlich, kumpelhaft. Alles schon durch. Manchmal verstehen Sie nur Brief. CARLA Was meinst Du? Mit seinem Fuß zeigt er auf Reste von Sonnenblumenkernen, die vor ihm liegen. MILOSZ DUDEK (auf Polnisch) Allein der Müll hier - wenn ich sowas wieder sehe… CARLA Ist jetzt aber auch nicht das Ende der Welt, oder? Sie hebt schnell ein paar der Schalen auf und sammelt sie in ihrem leeren Becher. CARLA (CONT’D) So, alles wieder wie vorher. MILOSZ DUDEK Bin gespannt, ob Du das in 10 Jahren auch noch machen wirst. Tja.
CARLA
MILOSZ DUDEK (Polnisch) Also wenn wir es nicht hinkriegen den Schülern wenigstens das zu vermitteln, dann haben wir irgendwas falsch gemacht? CARLA Ich finde wir machen schon einiges falsch. MILOSZ DUDEK (polnisch) Mein Vater hätte mir für so eine Nummer links und rechts eine geschmiert. Was meinst Du? CARLA Mhm. Bin sicher Du warst ein richtig guter Sohn. MILOSZ DUDEK (polnisch) Glaubst Du?
26. CARLA Dein Vater ist doch sicher stolz auf Dich?! Milosz guckt sie an: Verarscht Du mich? CARLA (CONT’D) Ist er nicht stolz auf dich? Doch.
MILOSZ DUDEK
CARLA Na dann warst Du auch ein guter Sohn! MILOSZ DUDEK Aber Du wolltest doch gerade auf was anderes hinaus. Sie lächelt und hält ihm den Becher hin, um den Rest seines Apfels zu entsorgen. Er legt ihn hinein. Danke.
MILOSZ DUDEK (CONT’D)
CARLA Gerne. Übrigens, Du hast da was zwischen den Zähnen. 10B
INT. LEHRERZIMMER - TAG
10B
Carla kommt ins Lehrerzimmer. Eine Kollegin steht unbeobachtet in der Teeküche. Gerade hat sich die Kollegin einen Kaffee eingeschenkt und hantiert nun mit dem Sparschwein. Doch statt etwas in die Kaffeekasse hineinzuwerfen, holt sie einen Schein heraus und steckt ihn ein. Sie dreht sich um, bemerkt Carla und setzt ein Lächeln auf. KAFFEETRINKERIN Wechselgeld. Ohne weiteren Kommentar geht sie an Carla vorbei. Carla geht an die Spüle. Dreckige Kaffeetassen stapeln sich darin. Sie beginnt die Tassen, in die Spülmaschine zu legen. Beobachtet dabei die Kollegin an ihrem Fach. 11
INT. KLASSENZIMMER - TAG
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Die Klasse schreibt eine Prüfung. Es ist still. Carla geht durch das Klassenbuch. Immer wieder blickt sie prüfend in die Klasse. Soweit sind alle in ihre Arbeiten vertieft. Dann: Oskar steht auf und legt seine Arbeit auf das Lehrerpult.
27. CARLA (leise) Oskar, bist du schon fertig? Oskar nickt. CARLA (CONT’D) Willst Du die Zeit nicht nutzen, um nochmal Deine Antworten zu prüfen? OSKAR Kann ich rausgehen? CARLA Wenn Du meinst. Aber leise bleiben, ne? Oskar nickt, verlässt den Raum. Dann ein Rascheln - Carla dreht den Kopf und bemerkt, dass Tom gerade etwas unter der Tischbank verschwinden lässt. Carla geht an seinen Tisch. Sie beugt sich vor und sieht einen kleinen Zettel auf dem Boden liegen, sie greift danach: ein Spickzettel. CARLA (CONT’D) (enttäuscht) Ach Tom. TOM Der gehört mir nicht. Sie nimmt ihm die Arbeit weg, legt die Arbeit auf ihr Pult. Ey!
TOM (CONT’D)
CARLA Nein? Ich sehe aber, dass es Deine Handschrift ist. ALI Er hat doch grad gesagt, dass es ihm nicht gehört. CARLA Ali, Ruhe jetzt - ich rede mit Tom! TOM Ey, das ist voll unfair. Einzelne Schüler*innen drehen sich um, die Klasse wird unruhig. Carla nimmt ein neues, leeres Blatt vom Pult, geht zurück zu Tom.
28. CARLA (leise) Nimm dieses Blatt und fang einfach von vorn an. Du hast noch zwanzig Minuten. Sie hält ihm das Blatt hin, er nimmt es nicht. TOM Ey zwanzig Minuten?! Das schaffe ich doch nie. CARLA Du kannst es aber probieren. Andernfalls ist das ein Täuschungsversuch und 'ne Sechs. TOM (laut) Der Zettel gehört mir aber nicht. CARLA Tom. Wir müssen nicht diskutieren. Sie hält ihm das Blatt noch einmal hin. Widerwillig beginnt Tom die Arbeit von Neuem. 12
INT. KLASSENZIMMER - TAG
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Später: Die Schulklingel läutet schon. Die Kinder geben ihre Arbeiten ab und strömen bereits aus dem Klassenzimmer. Nur Tom und zwei andere Kinder schreiben noch. CARLA Tom, Lukas, Vera. Stifte hinlegen, ihr kommt jetzt bitte auch zum Ende und gebt ab. Die Kinder legen die Stifte hin, geben die Arbeiten ab. CARLA (CONT’D) Tom. Bleibst Du bitte noch einen Moment hier? Kurzer Blick zwischen Tom und Lukas, der einen Basketball in der Hand hält. LUKAS Ich warte draußen. Lukas geht hinaus, will die Tür schließen. CARLA Lass bitte offen, Lukas. Die Tür bleibt offen.
29. CARLA (CONT’D) Also Tom, ich finde es nicht in Ordnung, wie Du Dich vorhin verhalten hast. TOM Was hab ich denn gemacht? CARLA Erstmal hast Du gespickt. Und dann wolltest Du diskutieren. Und damit hast Du deine Mitschüler*innen abgelenkt. Tom meidet ihren Blick. CARLA (CONT’D) Ich habe mir Deinen Spickzettel angeschaut. Also wenn Du Dir schon die Mühe machst, so einen Zettel zu schreiben, dann schreib wenigstens das Richtige drauf. Du hast die Fehler eins zu eins in Deine Arbeit abgeschrieben. Und dann willst Du mir erklären, dass es nicht Dein Zettel war. Wie fändest Du es, wenn ich dich anlügen würde? Tom zuckt mit den Schultern. CARLA (CONT’D) Das fändest du doch sicher nicht so toll oder? Beat. Tom?
CARLA (CONT’D)
TOM Was wollen Sie, dass ich sage? CARLA Ich möchte, dass Du verstehst, dass Dein Verhalten unfair den anderen gegenüber ist. Es gibt Regeln und daran müssen sich alle halten. TOM (murmelt) Ja Ok. Ja Ok?
CARLA
TOM Tschuldigung.
30. CARLA Okay. "Tschuldigung" angenommen. TOM Kann ich jetzt gehen? CARLA Du kannst jetzt gehen. 13
INT. LEHRERZIMMER - TAG
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Wenig später: Carla sitzt in einer Ecke des Lehrerzimmers und spricht über Skype mit einem englischen Kollegen. CARLA Yes, right. We'll pass it on to the parents. TIM Alright, that's great. When do you think you'll have a list of the participants? CARLA Hope to have it by the end of next month. Is that good for you? TIM Sure. We still have more than enough time. CARLA But most of them are very much interested anyway. TIM Well, rainy Manchester in autumn. Hope they aren't disappointed. Carla wird aus den Gedanken gerissen, als sich Vanessa König nähert. VANESSA KÖNIG Guten Morgen Carla! CARLA (in den Laptop) Just a second, Tim. (zu Vanessa) Hallo Vanessa. VANESSA KÖNIG Du bist gleich in der Halle oder? Richtig.
CARLA
31. VANESSA KÖNIG Okay. Ähm. Ich wollte eigentlich nur fragen, ob wir später noch kurz über einen Deiner Schüler sprechen können? CARLA Klar. Um wen soll's gehen? Um Ali.
VANESSA KÖNIG
CARLA Schon wieder? Was ist mit ihm? VANESSA KÖNIG Das war letztes Halbjahr schon superknapp bei dem, wenn er so weitermacht, wird er bei mir nicht durchkommen. Oh.
CARLA
Thomas Liebenwerda kommt dazu. Moin.
THOMAS LIEBENWERDA
VANESSA KÖNIG Wir reden gerade über Ali. THOMAS LIEBENWERDA Oh ja. Schwierig. CARLA Wieso schwierig? THOMAS LIEBENWERDA Was soll ich sagen? Schwierig eben. Ich würd sogar sagen versetzungsgefährdet. CARLA Moment. (in den Laptop) Tim, we'll have to catch up some other time. I have go now. TIM Alright, don't worry. I think we got most of it covered for the moment anyway. Ok, bye.
CARLA
32.
Bye.
TIM
Sie schließt das Videofenster. CARLA Also. Worum geht's? Um Alis Mündliche? Auch.
THOMAS LIEBENWERDA
CARLA Aber das Halbjahr hat doch gerade erst angefangen. Vielleicht macht er sich ja noch? Habt ihr schon mit den Eltern darüber gesprochen? VANESSA KÖNIG Noch nicht. THOMAS LIEBENWERDA Wisst ihr eigentlich, was die Eltern beruflich machen? VANESSA KÖNIG Der Vater fährt Taxi, glaube ich. CARLA Was tut das zur Sache? VANESSA KÖNIG Na, Du glaubst ihnen oder? CARLA Den Eltern? VANESSA KÖNIG Wegen neulich. CARLA Geht's um Ali's Noten oder um die Diebstähle? Ich check's gerade nicht. THOMAS LIEBENWERDA Quatsch - das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun. CARLA Eben. Aber um deine Frage zu beantworten, liebe Vanessa: ja, ich glaube den Eltern. Ich glaube, das sind integere Menschen. Und ich glaube auch, dass Ali nichts geklaut hat.
33. VANESSA KÖNIG Ja gut, war ja nur 'ne Frage. Carlas Blick: Frag nicht so 'ne Scheiße. THOMAS LIEBENWERDA Gut, dann gehen wir mal alle wieder… unserer Arbeit nach. Betretene Blicke. Vanessa und Thomas gehen ab. Carla blickt ihnen hinterher, aber die Wut steht ihr ins Gesicht geschrieben. Es arbeitet in ihr. An den Schließfächern steht ein Kollege, der sein Fach abschließt, doppelt und dreifach kontrolliert - im Vorbeigehen nickt er Carla zu. Sie lächelt zurück, aber das Lächeln ist kein echtes. Dann fällt ihr Blick wieder auf ihren Laptop. Sie öffnet in einem kleinen Fenster das Bild ihrer Webcam. Sie schiebt den Computer leicht nach rechts. So beobachtet sie, was sich hinter ihr abspielt. Dann holt sie ihre Geldbörse aus der Tasche und wirft einen Blick hinein. Es sind fünfzig Euro in mehreren kleinen Geldscheinen darin - frisches Geld aus dem Automaten. Sie steckt die Geldbörse in ihre Jackentasche und zieht sie noch einmal ein wenig heraus, sodass diese für einen potenziellen Dieb gut zu sehen ist. Die Jacke hängt sie über den Stuhl. Carla setzt sich wieder zurück an den Laptop. In dem Bild der Webcam ist nun die Jacke auf dem Stuhl zu sehen. Sie drückt den roten Aufnahmeknopf in der Software der Webcam, dann minimiert sie das Fenster und kramt das Laptopschloss aus ihrer Tasche. Sie befestigt den Computer am Tischbein und steht auf. Bevor sie geht, blickt Carla ein letztes Mal auf den Computer: Ihr Desktophintergrund zeigt einen paradiesischweißen Sandstrand mit Hängematte. 14
INT. SPORTHALLE / UMKLEIDE DER LEHRER - TAG
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Carla steht in der Lehrerinnen-Umkleide. Sie zieht ihre Bluse aus, greift nach einem T-Shirt, streift es sich über. Sie zieht sie die Jalousien hoch, hinter der Scheibe öffnet sich der Blick in die Sporthalle, wo bereits die ersten Kinder hineinlaufen. Carla greift nach ihrer Stoppuhr, legt sie sich um den Hals. Sie bindet sich die Haare zum Zopf, nimmt einen Schluck von ihrem Wasser, horcht für einen Moment in die Stille.
34. Bevor sie den Raum verlässt, schaltet sie das Licht aus, um wenig später auf der anderen Seite des Fensters in der Halle zu erscheinen. Dumpf hört man die Stimmen der Kinder. Aus der Dunkelheit beobachten wir das Geschehen durch das quadratische Fenster. Während die anderen Kinder in der Halle rumrennen, stellt sich Oskar vor die Scheibe und guckt hinein ins Dunkel. 15
INT. LEHRERZIMMER - TAG
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Carla kommt zurück ins Lehrerzimmer, es sind nur wenige Lehrkräfte anwesend. Ihr Laptop steht nach wie vor an seinem Platz. Als erstes klappt sie das Gerät zu. Dann geht sie an ihren Mantel und überprüft ihr Portemonnaie, indem sie die verbliebenen Scheine zählt. Schnell wird klar: ein Teil des Geldes ist weg. Der Täter hat wieder zugeschlagen. Nervös steckt sie das Portemonnaie zurück. Sie nimmt ihren Laptop und setzt sich in eine Ecke des Lehrerzimmers. Sie stoppt die Aufnahme, lädt das Video und drückt PLAY. Eine ganze Weile passiert nichts, sie spult vor. Kolleg*innen wischen durchs Bild, doch ihr Mantel bleibt unangetastet. Carla?
MILOSZ DUDEK (O.S.)
Carla klappt erschrocken den Laptop zu. Milosz steht vor ihr. Hat er was gesehen? Scheinbar nicht. Hey.
CARLA
MILOSZ DUDEK (auf Polnisch) Du, ich wollte nur sagen, dass es mir leid tut, wegen gestern. CARLA Was meinst du? MILOSZ DUDEK (auf Polnisch) Na dass der Eindruck entstanden ist, ich würde Dich nicht ernst nehmen. CARLA Schon okay. Schwamm drüber. Sie lächelt ihn an. Kommt noch was? Milosz überlegt. Aber Carla kommt ihm zuvor.
35. CARLA (CONT’D) Und tust Du mir einen Gefallen: lass uns doch bitte hier auf der Arbeit Deutsch reden. MILOSZ DUDEK Wieso? Schämst Du Dich? CARLA Was? Nein, ich denke nur, es wäre besser wegen der Kolleg*innen. MILOSZ DUDEK Okay, wie Du meinst. Keine Geheimnisse. Sie stehen sich einen Moment verlegen gegenüber. CARLA Entschuldige bitte. Sie nimmt den Laptop und geht aus dem Lehrerzimmer in die -16
INT. TOILETTE - TAG
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Carla sperrt sich mit dem Laptop in die Kabine der Damentoilette ein. Sie setzt sich auf den Klodeckel, klappt das Display auf, drückt erneut auf PLAY. Wieder sehen wir zunächst nur ihren Mantel. Vereinzelt gehen Leute durch das Lehrerzimmer - aber niemand geht an ihre Jacke. Gebannt schaut Carla weiter, bis sie schließlich den Moment gefunden hat: jemand greift ihre Jacke und geht damit kurz aus dem Bild. Kurze Zeit ist die Person nicht zu sehen. Dann wird die Jacke wieder auf den Stuhl geworfen. Das Bild schneidet die Person am Hals ab. Wer die Person ist, erkennt Carla nicht mehr. Alles, was sie ausmachen kann, ist eine helle Bluse mit kleinem gelben Sternenmuster. Carla scrollt die Timeline des Videos durch, aber da kommt nichts mehr. Noch einmal schaut sie sich den Moment des Diebstahls an, zoomt heran: Ein Arm. Ein Muster. Damit geht sie zurück in den Flur. 17
INT. FLUR VOR DEM LEHRERZIMMER - TAG
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Carla kommt mit ihrem Laptop unter dem Arm aus der Toilette und geht den Flur in Richtung des Lehrerzimmers. Einzelne Kolleg*innen kommen ihr entgegen. Carla mustert sie im Vorbeigehen: ein weißes Hemd, ein grauer Pulli, eine senfgelbe Weste.
36. 18
INT. LEHRERZIMMER - TAG
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Carla kommt zurück ins Lehrerzimmer. Sie geht an ihr Fach, wühlt durch diverse Unterlagen, doch in Wahrheit beobachtet sie weiter die Kolleg*innen und deren Kleidung. Auch hier ist niemand mit einem vergleichbaren Kleidungsstück zu sehen. Dann bemerkt sie Frau Kuhn. Die Sekretärin ist gerade mit HERRN STAHLMANN (59) im Gespräch. Sie trägt eine Bluse mit kleinen gelben Sternen drauf. 19
INT. SEKRETARIAT - TAG
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Carla steht an der Tür zum Sekretariat, sie wartet einen Moment, weil noch Stahlmann mit Frau Kuhn im Gespräch ist. STAHLMANN …achso und Frau Kuhn und die Drucker streiken auch schon wieder. Papierstau. FRIEDERIKE KUHN Streiken schon wieder? Da müssen wir wohl ein Wörtchen mit dem Betriebsrat reden. Haben Sie mal die Klappe an der Seite geöffnet, da steckt manchmal was fest? STAHLMANN Ich hab doch zwei linke Hände bei sowas und muss gleich auch noch in den Unterricht, bei Ihnen geht das doch immer ganz schnell. FRIEDERIKE KUHN (unterbricht) Ja, Herr Stahlmann, wir kümmern uns sobald sich eine Sekunde ergibt. STAHLMANN Super. Weil ich brauche noch Kopien für den Physikunterricht später. Kuhn nickt vielsagend. Stahlmann versteht und geht. Carla steht immer noch in der Tür, unterm Arm der Laptop. Sie geht nun langsam hinein. FRIEDERIKE KUHN Frau Nowak. Was kann ich für Sie tun? Carla räuspert sich, aber sie kriegt kein Wort raus. Kuhn blickt sie erwartungsvoll an.
37. FRIEDERIKE KUHN (CONT’D) Frosch im Hals? Kuhn hält Carla ein Bonbon hin. CARLA Nein, danke. Frau Kuhn, wissen Sie, ich habe ein riesiges Problem. FRIEDERIKE KUHN Ach ja? Wie kann ich helfen? CARLA Also, wie drück ich das jetzt elegant aus? Mir wurde… Carla bricht ab, wendet sich an Dirk, der gerade über einer Mail sitzt. CARLA (CONT’D) (zu Dirk) Entschuldigung dürften Frau Kuhn und ich vielleicht unter vier Augen sprechen? Irritierte Blicke. DIRK Ähm. Ja - klar. Möchten Sie, dass ich rausgehe? FRIEDERIKE KUHN Dirk, schau doch bitte mal nach den Druckern. Anscheinend reicht ein Physikstudium nicht aus, um das Problem zu bewältigen. Dirk steht auf und geht hinaus. Carla zieht die Tür zu. Jetzt ist es ein Vier-Augen-Gespräch. Das Lächeln von Frau Kuhn weicht einem ernsten Ausdruck. CARLA Also Frau Kuhn, ich war im Sportunterricht und meine Jacke hing im Lehrerzimmer. Aha. Ja.
FRIEDERIKE KUHN CARLA
FRIEDERIKE KUHN Und? Was ist mit der Jacke? CARLA Also, die Jacke ist noch da.
38. FRIEDERIKE KUHN Okay. Und was ist jetzt genau das Problem? CARLA In der Jacke war mein Portemonnaie und darin war… Carla macht eine Handbewegung, die Frau Kuhn den Rest des Satzes aussprechen lässt. Geld?
FRIEDERIKE KUHN
CARLA Richtig. Geld. WAR. FRIEDERIKE KUHN Sie meinen jemand von den Kollegen? CARLA Wie kommen Sie jetzt auf die Kollegen? FRIEDERIKE KUHN Naja, wenn's im Lehrerzimmer passiert, dann waren es sicher nicht die Schüler, oder? Ein PAKETBOTE kommt rein. Kuhn nimmt das Päckchen entgegen. Sie unterschreibt etwas. Danke.
FRIEDERIKE KUHN (CONT’D)
Der Paketbote verlässt das Zimmer. FRIEDERIKE KUHN (CONT’D) Also Herr Liebenwerda, der war hier. Frau Semnik auch. Und natürlich Dirk. CARLA Liebenwerda, Semnik, Dirk. Aha. Richtig.
FRIEDERIKE KUHN
CARLA Und Sie können sich das bei denen vorstellen? Frau Kuhn zuckt mit den Schultern, ihr Blick sagt: vorstellen kann ich mir viel. CARLA (CONT’D) Frau Kuhn… haben Sie mir vielleicht etwas zu sagen?
39. FRIEDERIKE KUHN Was meinen Sie? CARLA Ihre Bluse - die hab ich zuvor noch nie gesehen. FRIEDERIKE KUHN Wie bitte? Meine Bluse? CARLA Also, das ist mir jetzt wirklich total unangenehm. Aber es gibt sehr ernstzunehmende Hinweise, dass Sie es waren. FRIEDERIKE KUHN Dass ich was war? Das ist jetzt ein Witz oder? CARLA Ich möchte nicht, dass das hier Wellen schlägt. Wirklich nicht. Geben Sie mir das Geld zurück, versprechen Sie, dass das aufhört und wir vergessen die Sache - hier und jetzt. FRIEDERIKE KUHN Ich glaub bei Ihnen hackt's wohl?! Was fällt Ihnen eigentlich ein? Nein?
CARLA
FRIEDERIKE KUHN Verschwinden Sie. Raus hier! Diese Reaktion hat Carla nicht erwartet. CARLA Verstehen Sie es doch als Chance, das Ganze hier zu beenden. Denken Sie… [doch mal an die Konsequenzen, die auf Sie zukommen.] FRIEDERIKE KUHN (unterbricht) Sie unverschämte Person. Raus hab ich gesagt! Mit dem Laptop unter dem Arm verlässt Carla das Zimmer. 20
INT. FLUR - TAG
20
Carla geht hinaus in den Flur, in ihrer Hand immer noch der Laptop. Dirk steht vor der Tür.
40. DIRK Darf ich wieder rein? Aber Carla kann gerade nicht antworten. Sie wendet sich ab, muss fast schon bitter lachen über die Dreistheit von Frau Kuhn. Sie geht ins -20A
INT. LEHRERZIMMER - TAG
20A
-- und überlegt einen Moment. Dann fasst sie einen Entschluss. 21
INT. FLUR VOR BÜRO BÖHM - TAG
21
Carla steuert auf die Tür von Dr. Böhms Büro zu. Sie hält einen Moment inne, bevor sie an der Tür klopft und öffnet. Aber Dr. Böhm telefoniert. Sie gibt ihr ein Zeichen: warten sie eine Minute! Carla schließt die Tür. Wartet nun ungeduldig davor. Ihr Blick geht nochmal in Richtung Sekretariat. Dort sieht sie Frau Kuhn, die ihrerseits nun auch am Hörer hängt: reden die beiden miteinander? DR. BETTINA BÖHM (O.S.) Jupp, Sie können jetzt reinkommen. Carla betritt das Büro von Dr. Böhm. 22
INT. BÜRO BÖHM - TAG
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Carla steht im Büro von Dr. Böhm, weiß für einen Moment gar nicht, was sie tun soll. DR. BETTINA BÖHM Carla Nowak. Was liegt Ihnen auf dem Herzen? CARLA Darf ich Ihnen was zeigen? Sie hält ihren Laptop in die Luft. 23
INT. BÜRO BÖHM - TAG
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Kleiner Zeitsprung: Während Carla noch im Büro von Dr. Böhm wartet, tritt diese hinaus in den Flur. Carla ist sichtbar bedrückt. Sie sieht, wie Dr. Böhm ins Sekretariat geht und mit Frau Kuhn spricht. Auch Oskar steht dort und wartet auf den Feierabend seiner Mutter.
41. DR. BETTINA BÖHM Frau Kuhn, lassen Sie bitte mal eben alles liegen und folgen Sie mit in mein Büro. Frau Kuhn erhebt sich von ihrem Platz, folgt Dr. Böhm ins Büro. FRIEDERIKE KUHN (zu Oskar) Bin gleich bei Dir. Die beiden kommen ins Büro, Böhm schließt die Tür. Kurzer Blickkontakt zwischen Carla und Oskar, bevor die Tür zufällt. DR. BETTINA BÖHM (zu Kuhn) Nehmen Sie Platz. Frau Kuhn setzt sich auf einen der zwei Stühle, die dem Schreibtisch von Böhm gegenüberstehen. Sie würdigt Carla keines Blickes. DR. BETTINA BÖHM (CONT’D) Also Frau Kuhn - Sie können sich ja denken, worum es geht. Wollen Sie uns etwas sagen? FRIEDERIKE KUHN Wüsste nicht, was ich dieser Person noch zu sagen hätte. Und es ist eine absolute Frechheit, dass Sie mir diese Unterstellungen machen. DR. BETTINA BÖHM Gut, aber wir haben hier ein Problem und darüber müssen wir reden. Das sind noch keine Unterstellungen. FRIEDERIKE KUHN Was denn sonst? Oder haben Sie irgendwelche Beweise? Blickwechsel Carla-Böhm. DR. BETTINA BÖHM Tja, wie es der Zufall so will… Dr. Böhm dreht den Laptop zu Friederike Kuhn und zeigt ihr den kritischen Ausschnitt aus dem Video. Carla versucht aus Frau Kuhns Miene etwas abzulesen. Als der Arm ins Bild kommt, pausiert Böhm das Video. DR. BETTINA BÖHM (CONT’D) So wie ich Sie kenne, kann ich gar nicht glauben, was ich hier sehe.
42. FRIEDERIKE KUHN Das ist Ihr Beweis? Da ist doch niemand zu erkennen. DR. BETTINA BÖHM Aber Sie sehen doch die Bluse hier. Ja.
FRIEDERIKE KUHN
DR. BETTINA BÖHM Und was ist das für ein Muster? FRIEDERIKE KUHN Wollen Sie mich verarschen? DR. BETTINA BÖHM Wenn mich nicht alles täuscht, ist das doch genau die Bluse, die Sie gerade tragen? FRIEDERIKE KUHN Aja. Und Sie haben schon geprüft, ob keiner der 75 anderen Kollegen auch diese Bluse haben könnte? DR. BETTINA BÖHM Frau Kuhn, die Hälfte der Kollegen sind Männer, die tragen sowas nicht. Die andere Hälfte ist im Unterricht oder krank. Dr. Böhm klappt den Laptop zu - Ende der Diskussion. DR. BETTINA BÖHM (CONT’D) Also wenn sich hier und jetzt keine gemeinsame Lösung findet, muss ich das Geschehene leider melden. FRIEDERIKE KUHN Was denn für eine Lösung? DR. BETTINA BÖHM Eine gemeinsame Lösung. Böhm guckt Carla und Kuhn in die Gesichter. Stille. DR. BETTINA BÖHM (CONT’D) Ein Anfang wäre zum Beispiel Frau Nowak ihr Geld zurückzugeben. FRIEDERIKE KUHN Sie scheinen Ihr Urteil ja schon gefällt zu haben. Frau Kuhn kämpft nun mit den Tränen. Böhm greift nach einem Zettel, schreibt etwas auf.
43. [DR. BETTINA BÖHM Am Besten, Sie nehmen sich ein paar Tage Urlaub und in der Zwischenzeit…] [Ausprobieren: Kuhn schüttet den kompletten Inhalt ihrer Handtasche auf den Tisch von Dr. Böhm - "Hier, hab nichts zu verbergen. Könnt Euch alles angucken! Könnt mich auch filzen, ist ja mittlerweile an der Tagesordnung, etc."] Aber Kuhn steht abrupt auf, und verlässt den Raum, ohne Böhm aussprechen zu lassen. Carla geht ihr hinterher. 24
INT. SEKRETARIAT/FLUR - TAG
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Carla eilt Frau Kuhn hinterher. Sie sieht, wie Frau Kuhn hastig ihre Sachen zusammenpackt. Dirk und Oskar stehen irritiert daneben. CARLA Frau Kuhn, können wir bitte einen Moment noch miteinander reden? Kuhn wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, um Fassung bemüht. Sie wirft sich ihre Jacke über, greift Oskar grob an der Schulter. FRIEDERIKE KUHN Los, wir gehen. Sie zerrt Oskar aus dem Raum. Die beiden laufen schnurstracks in Richtung Ausgang. Carla hinterher. CARLA (ruft) Frau Kuhn! Bleiben Sie doch bitte kurz stehen! Oskar blickt über seine Schulter, aber Frau Kuhn zerrt ihn weiter. Als sie an die Ausgangstür gelangen, ruft Carla noch einmal. CARLA (CONT’D) Frau Kuhn! Ich bitte Sie! Jetzt bleibt Frau Kuhn stehen. Sie dreht sich zu Carla um, schaut sie an. Der Eyeliner ist verlaufen. Carla blickt zu Oskar, der unsicher neben seiner Mutter steht. Frau Kuhn schüttelt kaum merklich den Kopf, macht kehrt und lässt Carla alleine im Flur stehen. Hinter der Glasscheibe dringen Wortfetzen zu Carla durch. OSKAR Mama, was ist denn?
44. FRIEDERIKE KUHN Nichts mein Schatz, komm jetzt. Als sich Carla umdreht, stehen dort irritierte Kolleg*innen, unter ihnen auch Lore Semnik. Fragende Blicke. Aber Carla ignoriert die Kolleg*innen und geht zurück ins -25
INT. BÜRO BÖHM - TAG
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Carla kommt zurück ins Büro von Dr. Böhm, gerade als Dirk zerknirscht herauskommt. Milosz Dudek und Böhm beraten sich. CARLA (zu Böhm) Können wir unter vier Augen sprechen? DR. BETTINA BÖHM Sie können frei reden, Frau Nowak. Auch in Anwesenheit von Herrn Dudek. CARLA Ich glaub, wir machen gerade einen Riesenfehler. Achso?
DR. BETTINA BÖHM
CARLA Strenggenommen ist das Video kein eindeutiger Beweis. DR. BETTINA BÖHM Für Angst vor der eigenen Courage ist es leider zu spät. MILOSZ DUDEK Es gibt noch ein ganz anderes Problem, Carla. Das Video verstößt gegen Persönlichkeitsrechte. Und nicht nur gegen die von Frau Kuhn, sondern auch des ganzen Kollegiums. CARLA Scheiße. Ich wünschte, wir hätten ihr das Video nicht gezeigt. DR. BETTINA BÖHM Verschüttete Milch, Frau Nowak, verschüttete Milch… Carla sieht zu Milosz, dessen Blick sagt: Es ist wie es ist.
45. CARLA Was passiert jetzt? DR. BETTINA BÖHM Ich ruf gleich mal bei der Rechtsberatung an. Die werden dann anraten, das Video der Polizei zu übergeben und vorerst Anzeige gegen Unbekannt zu stellen. Bis dahin… CARLA (unterbricht) Polizei?! Wieso denn Polizei?! Ist das wirklich notwendig? DR. BETTINA BÖHM Bis dahin halten wir uns alle an eine Sprachreglung - ein Wording, ja? - und verbitten uns jederlei Vorurteile, Anschuldigungen, Verdächtigungen. Herr Dudek? MILOSZ DUDEK Ist angekommen. Wird kommuniziert. DR. BETTINA BÖHM (zu Carla) Verstanden? CARLA Und was ist mit Oskar? 25A
INT. LEHRERZIMMER - DÄMMERUNG
25A
Carla sitzt am späten Nachmittag im leeren Lehrerzimmer. Sie korrigiert die Klassenarbeiten der letzten Matheklausur und stapelt sie nach Sitzordnung. Immer wieder blättert sie eine Seite um, markiert Fehler aber oft auch Lob. Als sie bei der Klausur von Oskar ankommt, legt sie den Stift aus der Hand, sieht sich das Blatt genauer an…
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INT. SCHULE - AULA - TAG
26
Ein neuer Tag: Carla steht in der großen Aula der Schule und beobachtet aus der Ferne, wie Lore Semnik, am Flügel sitzend, mit den Kindern ein Lied singt ("Bring Me Little Water, Silvy"). KLASSE Bring me little water Silvy Bring me little water now Bring me little water Silvy Every little once in a while.
46. Carla sieht auch Oskar. Der singt aus voller Kehle mit. 27
INT. SCHULE - AULA - TAG
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Wenig später: die Kinder haben die Aula verlassen, Lore Semnik packt ihre Sachen zusammen. Eine Frau, die vom Erscheinungsbild eine recht liberale Pädagogin abgibt. Einige Kinder stehen noch um sie herum, sie notiert was ins Klassenbuch und gibt es den Kindern, die dann gehen. Carla tritt heran. CARLA Hey, hast Du eine Sekunde? LORE SEMNIK Ich hab gleich noch ein Elterngespräch, aber… Sie blickt auf ihre Armbanduhr, ein unaufdringliches, elegantes Modell. LORE SEMNIK (CONT’D) Drei Minuten hätte ich. CARLA Das Gespräch ist nicht zufällig mit der Mutter von Oskar? Nein.
LORE SEMNIK
CARLA Also, Du hast ja gesehen, dass es gestern kurz mal turbulent wurde. LORE SEMNIK Ja, was war denn da los eigentlich? CARLA Tja, Frau Kuhn und ich hatten eine Meinungsverschiedenheit. Mhm…?
LORE SEMNIK
CARLA Mir geht es eigentlich um Oskar. Er hat mitbekommen, dass die Mama geweint hat. Und dass ich damit zu tun habe. Lore Semnik reagiert nicht gleich. Sie schraubt eine Thermosflasche auf, trinkt einen Schluck von ihrem Tee. Ganz nebenbei mustert sie Carla - sie sieht, dass es in ihr rumort, dass ihr unwohl ist, dass sie ein Geheimnis hat.
47. CARLA (CONT’D) Wer weiß, was sie ihm zuhause erzählt. Hast Du ihn heute irgendwie anders erlebt? LORE SEMNIK So wie immer, würd' ich sagen. Kinder können da ja manchmal mehr wegstecken als man denkt. CARLA Mhm… Und was würdest Du tun, wenn Du ein Problem mit der Mutter hättest? LORE SEMNIK Schwer zu sagen, dazu müsste ich schon wissen, was genau passiert ist. CARLA Ich habe einen Fehler gemacht. Lore Semnik sieht, dass Carla zutiefst verunsichert ist. LORE SEMNIK Ich kann mir vorstellen, dass Dich das jetzt mitnimmt. Aber Du bist die Klassenlehrerin - und damit auch eine wichtige Bezugsperson. Sei erstmal nicht so hart zu Dir selbst. Damit fängt es an. Carla nickt. LORE SEMNIK (CONT’D) Ging es in dem Streit um den Jungen? Carla schüttelt den Kopf. LORE SEMNIK (CONT’D) Oder um die Diebstähle? Carla bleibt stumm. Lore macht ein Gesicht: verstehe. Carla schaut auf die Uhr. CARLA Drei Minuten. LORE SEMNIK Oja, richtig. Ich behalte den Jungen im Auge und wir bleiben dazu im Austausch. Danke.
CARLA
48. Lore Semnik hat parallel Räucherwerk aus der Tasche gekramt, zündet es nun an und pustet den Rauch drei Mal kräftig in Carlas Richtung. LORE SEMNIK Gegen böse Geister. Nicht frei von Selbstironie, hebt Lore die Arme, wie es Geister wohl tun würden. Carla: Hat die Alte 'nen Knall? Oder ist sie einfach nur cool? 28
INT. KLASSENZIMMER - TAG
28
Der Ton einer Klangschale. Carla steht vor der Klasse, erwartungsvoll schauen die Kinder zu ihr. Sie hält die Klassenarbeiten in der Hand. Ein Blick zu Oskar: er wirkt unverändert, ruhig und konzentriert. Carla beginnt den Stapel Arbeiten in der Klasse zu verteilen. ALI Boah geil 'ne Drei!! LUKAS Fuck, nur 'ne Vier. CARLA Jenny, Hatice. Beide nicht schlecht. Jieun, auch gut. ALI Was habt ihr? JENNY 'Ne Zwei. Naja… Ich auch.
JIEUN
ALI Ey freu dich doch! Carla geht zu Oskar, mustert ihn. Erwartungsvoll schaut er sie an. Sie überreicht ihm die Arbeit. CARLA Glückwunsch Oskar, die Eins gehört Dir. ALI Oha, krass Mann!
49. LUKAS Oskar, Du Streber. Lukas boxt Oskar auf die Schulter. Der kann ein kleines Lächeln nicht verbergen. Carla geht weiter. CARLA Tom, wir haben ja schon gesprochen. Du wirst da noch ein bisschen was tun müssen. Sie gibt Tom dessen Arbeit zurück. Es ist eine Fünf. CARLA (CONT’D) Sagst Du Deinen Eltern bitte nochmal, dass ich sie später zum Elternabend erwarte? Ja, Ok.
TOM
CARLA Gut. Und bei den anderen? Ich hatte Euren Eltern eine Mail geschrieben, wegen der Anzahlung zum EnglandAustausch? Vielleicht könnt ihr da nochmal Bescheid geben - Hey!! Die Kinder sind Carla zu laut. Sie klatscht 4x in die Hände. Die Kinder klatschen 2x zurück - und Ruhe! Carla blickt zu Oskar. Keine Reaktion. 29
INT. KLASSENZIMMER - TAG
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Kleiner Zeitsprung: Die Pausenklingel ertönt, die Kinder springen auf und strömen hinaus. CARLA Leute, stellt ihr bitte die Stühle hoch?! Die Kinder stellen ihre Stühle hoch. Nur Oskar bleibt reglos an seinem Platz sitzen. Carla notiert noch etwas ins Klassenbuch, übergibt es Vera. Merkt, dann, dass sich Oskar nicht rührt. Sie geht an seinen Tisch. CARLA (CONT’D) Oskar, wartest Du auf etwas? Oskar schaut sie an. Sein kindliches Gesicht hinter dicken Brillengläsern.
50. CARLA (CONT’D) Du kannst total stolz auf Dich sein, Du hast eine super Arbeit geschrieben. Oskar zuckt mit den Schultern. Carla kramt einen Rubik's-Cube aus ihrer Tasche. CARLA (CONT’D) Hier schau mal, den wollte ich Dir noch geben. Weißt du, was das ist? Oskar schüttelt den Kopf. CARLA (CONT’D) Das ist ein Zauberwürfel. Hat aber nichts mit Magie zu tun, sondern mit Mathematik. Oskar richtet sich auf, nun ist sein Interesse geweckt. CARLA (CONT’D) Es gibt Algorithmen, mit denen man den Würfel in Null Komma Nichts lösen kann. Weißt Du, was das ist, ein Algorithmus? Oskar schüttelt den Kopf. CARLA (CONT’D) Das ist eine eindeutige Handlungsabfolge, um für ein Problem eine Lösung zu finden. Hier: Mit ein paar flinken Handgriffen dreht sie paar Runden an dem Würfel. Und zack: hat sie zwei Seiten bereits in eine einheitliche Farbe gebracht. CARLA (CONT’D) Willst Du mal probieren? Sie hält Oskar den Würfel hin. Er nimmt ihn und dreht behutsam an einer Seite. CARLA (CONT’D) Wenn Du möchtest, kann ich Dir den ausleihen. OSKAR Danke. Was muss ich denn machen? CARLA So lange drehen, bis alle Seiten eine einheitliche Farbe haben. Oskar dreht an dem Würfel. Er merkt schnell, dass es nicht so einfach ist, die Seiten einheitlich zu kriegen.
51. OSKAR Es wird nur schlimmer. Er will ihn zurück geben. CARLA Behalt' ihn doch, bis du ihn gelöst hast - was hältst du davon? Du musst erstmal ein Gefühl für den Würfel kriegen. Oskar dreht behutsam weiter. Hört dann aber auf. Er guckt sie an: Will er ihr was sagen? CARLA (CONT’D) Und wenn Dich irgendwas bedrückt, kannst Du's mir jederzeit erzählen, das weißt Du oder? Oskar steckt den Würfel ein, nickt. [Ausprobieren: Ali, Lukas oder Tom stehen an der Tür und bekommen mit, wie Oskar dieses kleine Geschenk gemacht wird] CARLA (CONT’D) Und Du weißt auch, dass Du zu Frau Semnik gehen kannst? Sie ist ja Eure Vertrauenslehrerin… [ich meine, falls Du lieber mit ihr reden möchtest.] OSKAR (unterbricht) Warum hat meine Mama gestern geweint? CARLA Hat sie nicht mit Dir darüber gesprochen? OSKAR Ne, ich hab sie gefragt, aber sie wollte nichts sagen. Und heut' morgen war sie krank. Verstehe.
CARLA
OSKAR Haben Sie sich mit ihr gestritten? 30
INT. BÜRO BÖHM - TAG Kurz darauf: Carla sitzt am Tisch von Dr. Böhm, sie nimmt einen Schluck von dem Wasser, das vor ihr steht. Auch Lore Semnik ist zugegen.
30
52. CARLA Was ist mit dem Vater? DR. BETTINA BÖHM Meines Wissens nach gab es mal 'nen Erzeuger - aber keinen Vater. LORE SEMNIK Wir müssen schon die Mutter involvieren. Sie ist ja Teil des… Problems? Dilemmas.
DR. BETTINA BÖHM LORE SEMNIK
DR. BETTINA BÖHM (zu Carla) Gut. Dann reden Sie mit ihr? Als Klassenlehrerin? Dr. Böhm nimmt den Telefonhörer ab und hält ihn Carla hin. CARLA Achso, ich dachte Sie als… Schulleiterin? DR. BETTINA BÖHM Kann ich machen, aber Sie haben ja gesehen, wie Frau Kuhn hier neulich rausgestürmt ist. Die wird sich nicht freuen, mich am Hörer zu haben. LORE SEMNIK Sonst kann ich's auch probieren? Die Frauen blicken sich gegenseitig an. Dr. Böhm wählt eine Nummer. DR. BETTINA BÖHM Ich mach schon. Über die Freisprechanlage hört man es lange klingeln. Kuhn?
FRIEDERIKE KUHN (O.S.)
DR. BETTINA BÖHM Guten Tag Frau Kuhn, Bettina Böhm am Apparat. Vor mir sitzen Frau Semnik und Frau Nowak und wir müssten mit Ihnen mal über… [Oskar sprechen.] KLICK - Kuhn legt auf. Irritierte Blicke.
53.
Na sowas.
DR. BETTINA BÖHM (CONT’D)
[Alternative drehen: Kuhn nimmt nicht ab. Es klingelt und klingelt und alle gucken sich ratlos an.] 31
INT. FLUR VOR BÜRO BÖHM - TAG
31
Carla tritt vor die Tür, dort sitzt Oskar allein auf der Treppe. Er dreht an dem Zauberwürfel. Bei dem Anblick huscht ein Lächeln über Carlas Gesicht. CARLA Oskar? Kommst Du kurz rein. 32
INT. BÜRO BÖHM - TAG
32
Oskar und Carla betreten das Zimmer. Lore Semnik erhebt sich. DR. BETTINA BÖHM Hallo Oskar. Komm rein, setz Dich. Oskar schüttelt den Kopf. LORE SEMNIK Hallo Oskar. DR. BETTINA BÖHM Also, wir haben versucht, Deine Mama zu erreichen, aber sie geht nicht ans Telefon. Magst Du einen Bonbon? Böhm zeigt auf eine Schale, die randvoll mit Bonbons gefüllt ist. Oskar greift sich eins, schiebt es gleich in den Mund. OSKAR Sie ist nur krank. DR. BETTINA BÖHM Ja, aber ist sie so krank, dass sie nicht aus dem Bett kommt? OSKAR Sie hat heut morgen geschlafen und wollte nicht reden. DR. BETTINA BÖHM Wär' es Dir möglich, sie über Dein Handy anzurufen? Diese Idee missfällt Lore Semnik, sie schüttelt kaum merklich den Kopf. Aber Oskar hat es bereits gezückt und wählt schon. OSKAR Was soll ich ihr sagen?
54. DR. BETTINA BÖHM Dass wir sie sprechen müssen. Oskar lauscht dem Klingeln. Frau Kuhn nimmt ab. OSKAR Hallo Mama! Ich bin hier bei Frau Dr. Böhm im Büro, sie sagt, dass sie mit Dir sprechen will. Am anderen Ende der Leitung redet Frau Kuhn eine ganze Weile. Die Erwachsenen blicken sich gegenseitig an. OSKAR (CONT’D) Okay. Ja, Mama. Tschüss. Oskar legt auf. Fragende Blicke. DR. BETTINA BÖHM Ja, und? Was hat sie gesagt? OSKAR Dass sie… sie will nicht mit Ihnen sprechen. Und… Und?
CARLA
OSKAR Und dass Sie sich nicht einmischen sollen. Beat. OSKAR (CONT’D) Hat meine Mama was Falsches gemacht? LORE SEMNIK Das müssen andere beurteilen, aber es wäre einfach sehr wichtig, wenn du ihr nochmal sagen könntest, dass sie sich bei uns melden soll. Und warum?
OSKAR
LORE SEMNIK Es ist besser, wenn Deine Mutter das mit Dir bespricht. OSKAR Warum? Sagt's doch einfach. Die Erwachsenen gucken sich an. Ratlosigkeit liegt in der Luft. Ein Zustand, den eine Dr. Bettina Böhm nicht duldet.
55. DR. BETTINA BÖHM Gut, Oskar, du bist ein großer Junge, und am Ende des Tages wirst es eh erfahren: Deine Mama wird vorerst nicht mehr zur Arbeit kommen. Ich sage ganz bewusst vorerst, weil sich noch klären muss, was genau passiert ist. OSKAR Aha. Und was ist passiert? DR. BETTINA BÖHM Ich sage ja: das muss sich noch klären. OSKAR Ja, aber ich würde es jetzt gern wissen. DR. BETTINA BÖHM Oskar, ich kann Dir im Moment nicht viel mehr dazu sagen. OSKAR Hat es was mit den Diebstählen zu tun? DR. BETTINA BÖHM Wie kommst Du denn jetzt auf die Diebstähle? Davon war doch überhaupt nicht die Rede. Oskar guckt die Runde an. OSKAR Naja, sie verschweigen mir doch Dinge und sie sagen, dass meine Mama nicht mehr zur Arbeit kommt. LORE SEMNIK Vielleicht ist es das Beste, wenn Du einen Moment mit mir rauskommst. Sie steht auf. Oskar bleibt sitzen, stiert Dr. Böhm an. DR. BETTINA BÖHM Schau mich nicht so an Oskar. OSKAR Sie war's nicht. DR. BETTINA BÖHM Das hat auch niemand gesagt. Niemand beschuldigt hier Deine Mama, Oskar. Wir müssen aber mit ihr sprechen. Sag ihr das bitte.
56. LORE SEMNIK Kommst Du jetzt? Lore Semnik berührt ihn leicht an der Schulter, aber Oskar zuckt weg. Er steht auf und verlässt den Raum. Semnik hinterher. Carla und Dr. Böhm bleiben zurück. CARLA Das war so unnötig. DR. BETTINA BÖHM Ja, das war unnötig. CARLA Ich dachte, wir wollen die Sache kleinhalten? Warum das ganze Theater, wenn Sie es dem Jungen eh sagen? DR. BETTINA BÖHM Erstens: Ich habe nichts gesagt, außer dem, was er eh schon wusste! Zweitens: waren Sie es, die den Jungen hierher gebracht haben! CARLA Aber doch nicht um ihm vage Andeutungen aufzutischen! Das ist doch genau das… [was wir vermeiden wollten.] DR. BETTINA BÖHM (unterbricht) Darf ich Ihnen mal was sagen Frau Nowak: seit vierzig Jahren bin ich Lehrerin, fünfzehn davon Schulleiterin. Sie würden sich selbst einen Gefallen tun, meiner langjährigen Erfahrung etwas mehr Vertrauen zu schenken. CARLA Erfahrung hin oder her. Der Junge ist doch total verwirrt. Sehen Sie das nicht? DR. BETTINA BÖHM Der Junge ist glasklar. Der kann eins und eins zusammenzählen. Wir sind diejenigen, die verwirrt sind. Carla blickt aus dem Fenster. Oskar trottet vom Schulhof.
57. 33
INT. PLATZ VOR DER SCHULE - TAG
33
Mit einem Kaffee in der Hand, stellt sich Carla zu Lore Semnik, die in einer abgelegenen Ecke vom Schulgelände eine Zigarette raucht. Sie gibt ihr Feuer. Danke.
CARLA
Wortlos rauchen die zwei Lehrerinnen für einen Moment. Lore Semnik greift in ihre Tasche und holt eine Thermoskanne raus, aus der sie einen tiefen Schluck nimmt. LORE SEMNIK Der Junge hat Angst. Beat. LORE SEMNIK (CONT’D) Der denkt: "wenn Mama ins Gefängnis muss, geh ich ins Heim". Ich hab ihm gesagt, dass das Quatsch ist. Carla nickt. Semnik drückt die Zigarette aus. LORE SEMNIK (CONT’D) Hast Du es eigentlich mal mit Absatzschuhen probiert? Carla irritiert. Lore haut mit ihren Absätzen zweimal auf den Boden. Ein Klacken ertönt. LORE SEMNIK (CONT’D) Macht was aus. Besonders bei Elternabenden. Sie geht ab. Carla blickt ihr hinterher. Ihr ist die Anspannung anzusehen. 34
INT. KLASSENZIMMER - NACHT
34
Carla steht im leeren Klassenzimmer und putzt sich die Zähne. Wenig später: In eine Vase lässt sie etwas Wasser ein, um dann einen kleinen Blumenstrauß hineinzulegen. Sie stellt den Strauß an verschiedene Stellen ihres Lehrerpults, guckt, wo er am Besten steht. Vorbereitungen für den Elternabend. Dann geht sie ans Fenster, öffnet, um zu lüften. Windböen bewegen die Baumwipfel gegenüber. Ein Donnern aus der Ferne. 35
INT. KLASSENZIMMER - NACHT 35 Mittlerweile regnet es in Strömen. Rund 20 Eltern haben auf den viel zu kleinen Stühlen ihrer Kinder Platz genommen und hören der Klassenlehrerin zu.
58. Größtenteils Mütter, die gekommen sind. Nasse Regenschirme sind im Raum verteilt. Der Platz von Oskar ist leer. CARLA Die Kinder sind toll. Sie sind freundlich und helfen sich gegenseitig. Es ist eine ausgesprochen kooperative Klasse. Aber natürlich ist da auch noch Luft nach oben, wenn Sie wissen was ich meine. Es klopft an der Tür. Noch telefonierend kommt der VATER VON TOM (48) in den Raum, er trägt einen grauen Anzug, der sagt: Chefetage eines mittelständischen Unternehmens. VATER VON TOM Du, ich muss jetzt Schluss machen… Ja. Ok bis später. Mit einem halbherzigen Entschuldigungsblick in Richtung Carla setzt er sich. Hallo.
CARLA
VATER VON TOM Nauhaus mein Name. Vater von Tom. CARLA Aja, nehmen Sie Platz. Ich war gerade dabei, ein wenig über meine Eindrücke zu sprechen. Und wie wichtig es ist, dass die Kinder auch in Eigeninitiative arbeiten. Sie reicht dem Vater von Tom eine Broschüre. CARLA (CONT’D) Hier noch Infos zur Klassenfahrt ich hatte dazu auch noch eine Mail geschrieben. Danke.
VATER VON TOM
MUTTER VON JIEUN Jieun meinte, dass die letzte Klassenarbeit in Mathe insgesamt nicht so gut ausgefallen wäre? CARLA Das stimmt leider. MUTTER VON JIEUN Aber dann ist das vielleicht nicht das Versagen der Kinder? Oder?
59. CARLA Ich würde das nicht so werten Versagen ist ein zu starkes Wort. VATER VON TOM Also wenn ich mir die Aufgaben anschaue, dann versteh ich auch nur Bahnhof. Das sind doch keine Aufgaben für einen Zwölfjährigen. CARLA Naja, das ist eben der Stoff der siebten Klasse und ich halte mich da eigentlich nur an die Lehrpläne. Ein kurzer Moment der Stille. Die MUTTER VON JENNY (42) steht von ihrem Platz auf. Eine Frau, die eine gute Gewerkschaftsvertreterin abgeben könnte. MUTTER VON JENNY Frau Nowak, ich habe nochmal ein anderes Thema. Bitte.
CARLA
MUTTER VON JENNY Jenny hat erzählt, dass es ein Verhör gab. Und dass Sie genötigt wurde, Informationen über ihre Mitschüler preiszugeben. Ich weiß nicht, inwiefern das bei allen angekommen ist, weil wir hatten es ja eigentlich auch in der Whatsapp-Gruppe der Eltern thematisiert. Aber vielleicht können Sie dazu nochmal was sagen. CARLA Also genötigt wurde niemand. Wir haben ein Gespräch mit den Klassensprecher*innen geführt. Und nur gefragt, ob Sie uns in dieser einen Sache weiterhelfen können. MUTTER VON JENNY Und das ist keine Denunziation? CARLA Frau Haubrichs, auch hier finde ich die Wortwahl sehr drastisch. Wir haben die Kinder um Hilfe gebeten. MUTTER VON JENNY Indem Sie sie dazu gebracht haben, ihre Mitschüler zu verpfeifen. Und obendrein den Mund dazu zu halten. (MORE)
60. MUTTER VON JENNY (CONT’D) Können sie sich vorstellen, was das für ein psychologischer Druck ist? CARLA Eben diese Verschwiegenheit sollte ja gerade dafür sorgen, dass die Schüler*innen ohne Druck frei sprechen können. Ein geschützter Raum. Aber wir können gern im Anschluss an die große Runde über dieses Thema sprechen. Unter vier Augen. MUTTER VON JENNY Aber das Thema betrifft doch alle. MUTTER VON ALI Genau. Und mein Junge wurde zu Unrecht verdächtig! CARLA Das stimmt. Und es tut mir leid, Frau Yilmaz, dass es so gekommen ist. Carla räuspert sich. Gerade als sie ansetzen will, klopft es an der Tür. Herein.
CARLA (CONT’D)
Die Tür öffnet sich: Friederike Kuhn, vom Regen komplett durchnässt, steht davor. Carla rutscht das Herz in die Hose, sie sucht nach den richtigen Worten. CARLA (CONT’D) Hallo Frau Kuhn. Frau Kuhn schließt die Tür hinter sich, bleibt stehen. CARLA (CONT’D) Wollen Sie sich nicht auch setzen? FRIEDERIKE KUHN Machen Sie weiter. CARLA Okay, ähm… Wo waren wir stehen geblieben? MUTTER VON JIEUN Was genau ist mit Ali passiert? Ich hab's irgendwie nicht mitbekommen.
61. MUTTER VON ALI (zu Carla) Wollen Sie lieber? Carla holt tief Luft. Im Augenwinkel Frau Kuhn. CARLA Nun, wie Sie vielleicht wissen, gab es in letzter Zeit eine Reihe von… ähm… Ungereimtheiten an unserer Schule. MUTTER VON JENNY Ungereimtheiten? Sie meinen die Diebstähle? CARLA Es gab da ein Vorgehen, das ich selber nicht Okay fand. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir die Probleme mittlerweile im Griff haben. MUTTER VON ALI Was heißt das? CARLA Wie gesagt, alles weitere dann gern im persönlichen Gespräch. Stille. FRIEDERIKE KUHN (zu Carla) Warum erzählen Sie nicht den Rest der Geschichte!? MUTTER VON ALI Welchen Rest? FRIEDERIKE KUHN Die Eltern haben doch ein Recht zu wissen, was wirklich passiert ist. CARLA Ich denke, das ist jetzt nicht… FRIEDERIKE KUHN (fährt ihr über den Mund) Sie sollten doch wissen, dass die Klassenlehrerin ihrer Kinder vor Gericht landen wird! Ein Raunen geht durch den Raum. ELTERN (vereinzelt) Was? / Wie bitte?
62. CARLA Ach Frau Kuhn, das ist doch jetzt total unangebracht. FRIEDERIKE KUHN (zu den anderen Eltern) Sie möchten doch wissen, was passiert ist! Oder nicht? MUTTER VON JENNY Auf jeden Fall wollen wir das wissen. CARLA Frau Kuhn, hier ist jetzt nicht der richtige Ort, nicht die richtige Zeit. Das ist eine Sache zwischen uns… FRIEDERIKE KUHN (unterbricht, laut) Von Ihnen lass ich mir gar nichts mehr sagen, damit das mal klar ist! Frau Kuhn geht jetzt einen Schritt in die Klasse rein. FRIEDERIKE KUHN (CONT’D) Diese Frau hat heimliche Videoaufnahmen in der Schule gemacht! Stellen sie sich das mal vor?! Bespitzelung, Verleumdung, Rufmord - alles was dazu gehört! CARLA Frau Kuhn, bitte… FRIEDERIKE KUHN Schämen Sie sich! Schämen Sie sich! Sie unverschämte Person. VATER VON TOM Also Frau Kuhn, das Ganze geht sicher auch sachlicher, oder? MUTTER VON JIEUN Ja, jetzt beruhigen Sie sich mal wieder. FRIEDERIKE KUHN Ach was wissen Sie schon? Hier werden komplette Existenzen vernichtet, aufgrund bloßer Vermutungen… An Ihrer Stelle würde ich dieser Frau kein Wort mehr glauben! Frau Kuhn zeigt abschätzig auf Carla. Stille im ganzen Raum. Ihre Stimme zittert, das Ganze geht auch ihr an die Substanz.
63. FRIEDERIKE KUHN (CONT’D) Ich warne Dich: wenn Du meinem Kind noch eine weitere Lüge über mich erzählst, dann… Die Eltern und Carla warten gebannt auf die nächsten Worte von Fr. Kuhn: dann was? Fr. Kuhn guckt Carla an. Ihr Blick sagt: "Dann bring ich dich um!" Damit ist Frau Kuhn aus der Tür. Carla (und einige Eltern): kreidebleich. Die Stille im Zimmer wird durch ein Handy-Klingeln gebrochen. Fluchtartig verlässt Carla den Raum.
35A
INT. FOYER - NACHT
35A
[Ausprobieren: Carla flüchtet durch das Foyer Richtung Toiletten. Sie stellt sich ins Dunkel einer abgeschiedenen Ecke und nimmt die Hände vor die Brust - betet Sie? Oder macht sie sich einfach unsichtbar, wie Kinder, die daran glauben nicht gesehen zu werden, wenn sie die Augen schließen. Eine Person erscheint im Hintergrund. Im Dämmerlicht ist sie zunächst nicht auszumachen. STIMME Frau Nowak? Carla steht weiter im Dunkel, schließt die Augen, reagiert nicht. Die Person nähert sich. STIMME (CONT’D) Frau Nowak? Aus dem Halbdunkel erscheint Frau Kuhn hinter Carla. FRIEDERIKE KUHN Ist alles in Ordnung? Ich hab Ihnen die Vertretungspläne ins Fach gelegt. Sie weinen ja? Carla nickt, sie hat die Augen immer noch geschlossen. Frau Kuhn nähert sich von hinten und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. FRIEDERIKE KUHN (CONT’D) Wird schon. Frau Kuhn streichelt Carla über die Wange und verschwindet.]
64. 36
INT. TOILETTE - NACHT
36
Carla stürmt in die Toilette. Sie atmet unkontrolliert: Hyperventilation. Sie probiert, die Luft anzuhalten, doch es wird nicht besser. Aus einem Mülleimer holt sie eine Tüte und verschwindet damit in einer der Kabinen. Immer wieder atmet sie in die Tüte, die sich rhythmisch auf- und abbläht. Langsam werden ihre Atemzüge ruhiger. Jemand kommt in den Raum. STIMME (O.S.) Frau Nowak? Alles in Ordnung? CARLA Alles OK. Geht gleich weiter. Carla hört, wie eine Tür zufällt. Sie atmet tief durch, sammelt sich. Geht zurück. 37
INT. KLASSENZIMMER - NACHT
37
Carla kommt zurück ins Klassenzimmer und findet eine heftig diskutierende Elternschaft vor. Als die Eltern sie bemerken, wird es plötzlich ganz still. Alle Augen auf ihr. [Ausprobieren: CARLA Also, falls Sie Fragen haben - hier bin ich. VATER VON TOM Vielleicht machen wir lieber mit den Einzelgesprächen weiter. Oder? Carla nickt. Alle anderen auch.] 38
INT. KLASSENZIMMER - TAG
38
Der nächste Tag: Ein Flugzeug hinterlässt Kondensstreifen am strahlendblauen Himmel. Es ist ein wolkenfreier Tag. VERA (O.S.) Man hielt es für ein Zeichen von Unheil. Und man dachte göttliche Mächte würden die Menschen strafen, indem sie die Sonne verdunkelten. Man wusste es einfach nicht besser. Aber dann kam so jemand wie Thales von Milet. Thales war ein Mathematiker. (MORE)
65. VERA (O.S.) (CONT’D) Und er wusste, dass eine Sonnenfinsternis dadurch entsteht, dass sich der Mond zwischen Sonne und Erde schiebt. Ein Beamer projiziert die schematische Darstellung von möglichen Sonnenfinsternissen an die Wand. Zwei Schüler*innen stehen vorne und tragen vor. Carla steht und guckt zu. LUISE Dabei gibt es eine partielle, eine ringförmige und eine totale Sonnenfinsternis. Und mithilfe mathematischer Berechnungen konnte Thales genau voraussagen, wann die nächste Sonnenfinsternis stattfinden würde. Das Unberechenbare wurde berechenbar. Danke. Ende. Das Referat ist zu Ende. Carla klopft auf den Tisch, die Schüler*innen tun es ihr nach. CARLA Danke Leute, ihr könnt Euch wieder setzen. Die Kinder setzen sich. CARLA (CONT’D) Was meint ihr? Was hat das mit den Menschen gemacht, dass das Unberechenbare berechenbar wurde? Carla guckt zu Oskar. Der meldet sich nicht, sondern sitzt nur schweigend auf seinem Stuhl. Jieun hebt den Arm. Jieun?
CARLA (CONT’D)
JIEUN Die Menschen haben nicht mehr an Gott geglaubt? Carla bemerkt, dass Lukas von seinem Handy abgelenkt ist. Sie geht zu ihm hin, nimmt es ihm aus der Hand. CARLA Danke Lukas, das Telefon kannst Du Dir später bei mir abholen. Sie legt das Telefon aufs Lehrerpult. CARLA (CONT’D) Nicht mehr an Gott geglaubt. Ja, da ist was dran, Jieun. (MORE)
66. CARLA (CONT’D) Durch einen neuen kritischen Geist hat Thales sowas wie die moderne Astronomie eingeläutet. Astronomie, sagt Euch was, oder? LUISE Sowas mit Sternzeichen? CARLA Du meinst die Astrologie. Das ist was anderes. Wer weiß was Astronomie bedeutet? HATICE Irgendwie was mit Sternenforschung oder so. CARLA Genau. Die Astronomie ist die Wissenschaft der Himmelskörper. Menschen haben die Phänomene der Welt nicht mehr mit Gott oder einer höheren Macht erklärt. Sondern sie haben nach einer universell überprüfbaren Wahrheit gesucht. Das bildet die Grundlage für die moderne Wissenschaft. Lukas meldet sich. Ja, Lukas?
CARLA (CONT’D)
LUKAS (mit Blick zu Oskar) Können Sie mein Telefon bitte in Ihre Tasche legen, sodass es niemand klauen kann? Ali und Tom kichern. Carla blickt zu Oskar. Der verzieht keine Miene. CARLA Keine Sorge, Lukas. Dein Telefon ist in dieser Klasse sicher. LUKAS Da wär ich mir nicht so sicher. CARLA Okay, willst Du das mal ausführen? Was meinst Du denn damit? ALI Er meint mich. Aber ich war's ja nicht.
67. CARLA Richtig. Ali hat nichts verbrochen, das hat sich im Gespräch mit seinen Eltern geklärt. LUKAS Aber wir haben in Bio gelernt, dass bestimmte Eigenarten vererbbar sind. CARLA Das verstehe ich jetzt nicht. Das musst Du mir erklären. LUKAS Naja, von Mutter zu Sohn zum Beispiel. Wenn Sie fette Eltern haben, dann wird das Kind wahrscheinlich auch fett. Lukas grinst. Einige Schüler*innen lachen. CARLA (zu Lukas) Na so einfach ist es nicht, aber offensichtlich geht es Dir ja um etwas anderes. Erklär doch mal, was Du damit meinst - wer hat denn hier wem was vererbt? Oskar guckt zu Carla. LUKAS Ach ne, ist jetzt auch egal. CARLA Du willst dazu nichts mehr sagen? LUKAS Ne, machen Sie einfach weiter. CARLA Okay. Schade, dass Du uns jetzt nicht weiter an Deinen Gedanken teilhaben lässt. Aber… vielleicht ist es auch besser so… 39
INT. LEHRERZIMMER - TAG Carla sitzt über einem Telefon, wählt eine Nummer. Es klingelt eine ganze Weile, bis… Hallo?
MUTTER VON LUKAS (O.S.)
CARLA Hallo spreche ich mit Frau Wizorek?
39
68.
Ja, bitte?
MUTTER VON LUKAS (O.S.)
CARLA Hier ist Carla Nowak, ich bin die Klassenlehrerin von Lukas. Haben Sie grad' 'ne Sekunde, um zu sprechen? MUTTER VON LUKAS (O.S.) Ich bin in der Mittagspause - aber eigentlich ist es super, dass sie gerade anrufen. Können Sie mir mal erklären, was da gestern beim Elternabend passiert ist? CARLA (zögert) Mhm, schade, dass Sie es nicht geschafft haben. MUTTER VON LUKAS (O.S.) In unserem Eltern-Chat schrieb jemand, dass Sie die Situation überhaupt nicht im Griff haben. Und was noch alles geschrieben wurde, wollen Sie gar nicht wissen. CARLA Okay. Aber ich rief eigentlich an, um…[über Lukas zu sprechen]. MUTTER VON LUKAS (O.S.) (unterbricht) Also vielleicht wissen Sie es schon, aber wir werden von Elternseite nochmal das Gespräch mit der Schulleitung suchen. CARLA Verstehe. Bei der Gelegenheit sollten wir dann auch über Lukas' Verhalten in der Klasse sprechen. MUTTER VON LUKAS Was ist denn mit seinem Verhalten in der Klasse? In dem Moment sieht Carla, dass Oskar im Lehrerzimmer steht. Er blickt sie ernst an. CARLA (zur Mutter) Eine Sekunde. Carla legt eine Hand auf die Ohrmuschel.
69. CARLA Oskar, was machst Du hier? Du darfst hier nicht sein. Oskar reglos. CARLA Frau Wizorek, ich muss das Gespräch gerade beenden, aber ich melde mich bei erster Gelegenheit zurück. Entschuldigen Sie bitte. MUTTER VON LUKAS (O.S.) Was? Sie haben mich doch gerade angerufen. Was ist jetzt mit Lukas' Verhalten? [Ausprobieren: Carla legt einfach auf.] CARLA Tut mir wahnsinnig leid, Frau Wizorek. Ich melde mich am Nachmittag nochmal, ja? 40
INT. KLASSENZIMMER - TAG
40
Ein leeres Klassenzimmer, Carla hat Milosz Dudek dazu geholt. OSKAR Wieso sind sich alle so sicher? CARLA Niemand ist sich sicher, Oskar. Das Ganze wird noch überprüft. OSKAR Und wieso kommt meine Mutter dann nicht mehr zur Arbeit? MILOSZ DUDEK Offiziell ist sie im Urlaub. OSKAR Haben Sie einen Beweis? Wofür?
MILOSZ DUDEK
OSKAR Für Ihre Anschuldigung. MILOSZ DUDEK Es gibt ernstzunehmende Hinweise, aber darüber können wir momentan nicht sprechen.
70. OSKAR Und was für Hinweise? CARLA Oskar, das können wir Dir nicht sagen. OSKAR Wieso nicht? MILOSZ DUDEK Vergiss es, Oskar. Ende der Diskussion. OSKAR (zu Carla) Und was hast Du damit zu tun? MILOSZ DUDEK Sie. Was haben Sie damit zu tun? OSKAR (zu Milosz Dudek) Könnte ich mit Frau Nowak kurz allein sein? MILOSZ DUDEK Ähm. Warum jetzt? Carla gibt Milosz Dudek zu verstehen: ist in Ordnung. Dudek verlässt den Raum. Die zwei bleiben allein zurück. Oskar holt einen Geldbeutel aus der Tasche, zählt Geld auf den Tisch. Viele, viele Münzen. CARLA Was ist das? OSKAR 63 Euro, 45 Cent. Das ist mein Erspartes. Können Sie haben… CARLA Hat Deine Mama gesagt, dass Du mir das geben sollst? Oskar schüttelt den Kopf. CARLA (CONT’D) Oskar, es geht nicht ums Geld. OSKAR Worum dann?
71. CARLA Darum, dass geklaut wurde. Es spielt keine Rolle, ob 1 Cent oder 100 Euro. Es geht darum, dass man ehrlich ist. Oskar stiert sie an. CARLA (CONT’D) Komm, pack das Geld wieder ein. Aber Oskar ignoriert sie. Carla beginnt die Münzen in seinen Geldbeutel zurück zu legen. OSKAR Meine Mama war's nicht. CARLA Okay. Ich hab's verstanden. OSKAR Es geht aber nicht darum, dass Sie es verstehen, sondern, dass Sie es sagen. CARLA Was soll ich sagen? OSKAR Ich will, dass Sie es sagen. Ja, was?
CARLA
OSKAR Dass sie unschuldig ist. CARLA Deine Mama ist unschuldig Oskar. Zufrieden? OSKAR Öffentlich! Ich will, dass Sie sich öffentlich bei Ihr entschuldigen und das Ganze wieder geradebiegen. CARLA Sorry Oskar, aber das werd' ich nicht tun. OSKAR Doch, das werden Sie, weil sonst… Sonst was?
CARLA
OSKAR Sonst werden Sie es bereuen.
72. CARLA Drohst Du mir etwa? OSKAR Vielleicht. CARLA Okay, das hab ich jetzt mal überhört und Du solltest jetzt… [besser gehen.] OSKAR (unterbricht) Sie werden bei bei meiner Mama entschuldigen. Sie werden sich öffentlich bei Ihr entschuldigen, sonst werden Sie ja sehen was sie davon haben! Oskar steht er auf und verlässt den Raum, vorbei an Milosz Dudek, der am Türrahmen steht. MILOSZ DUDEK (zu Carla) Wir müssen hier 'ne Lösung finden. 40A
EXT. SCHULHOF - TAG
40A
Ein wolkenloser Himmel. Die Sonne steht hoch auf zwölf Uhr und wirft harte, steile Schatten. Gruppenweise stehen Kinder und Lehrer*innen auf dem Schulhof. Carla steht bei ihrer 7-B. Auch Oskar ist da. STIMME Es geht los! Alle schauen zum Himmel. Die Kinder setzen ihre selbstgebastelten Schutzbrillen auf. Auch Carla schaut empor: langsam verdunkelt sich ihr Gesicht. Vor das gleißende Rund der Sonne schiebt sich langsam die dunkle Scheibe des Mondes. Alles wird ruhig. Gebannt schauen alle der Sonnenfinsternis zu. Ein Raunen geht durch die Menge. Während alle anderen nach oben gucken, nimmt Carla ihre Brille ab und lässt den Blick über die Köpfe ihrer Kinder schweifen. Sie sind neugierig und fasziniert von diesem Naturspektakel. Es sind Kinder, die die Welt entdecken und Carla ist ein Teil dieser Entdeckungsreise. Ein stiller Moment unter all den Kindern, der sie daran erinnert, warum sie diesen Beruf ergriffen hat. Aus dem OFF (der nächsten Szene) hört man ein Telefonfreizeichen. Eine Nummer wird gewählt, es klingelt --
73. 41
INT. LEHRERZIMMER - TAG
41
Carla steht hinter einer Scheibe, ihr Handy am Ohr. Es klingelt am anderen Ende. Von oben blickt sie auf den Pausenhof runter. Dort ist Oskar zu sehen, der mit Jenny und Hatice spricht. Was sie besprechen ist nicht zu hören. Die drei gehen ein Stück weiter und sprechen Jieun und Vera an. Währenddessen klingelt es weiter. Dann nimmt jemand ab. Kuhn.
FRIEDERIKE KUHN (O.S.)
CARLA Hallo Frau Kuhn. Carla Nowak hier, haben Sie einen Moment, um zu sprechen? FRIEDERIKE KUHN (O.S.) Ich wüsste nicht, was wir noch zu besprechen hätten, Frau Nowak. CARLA Es geht auch nicht um uns, sondern um Oskar. FRIEDERIKE KUHN (O.S.) Machen Sie Ihre Arbeit, dafür werden Sie bezahlt. KLICK - Noch bevor Carla reagieren kann, hat Frau Kuhn aufgelegt. Irritiert steht sie für einen Moment da, als sie aus den Gedanken gerissen wird. VANESSA KÖNIG Carla, möchtest Du auch vom Kuchen? CARLA Oh, gibt's was zu feiern? VANESSA KÖNIG Ist mein Geburtstag. CARLA Herzlichen Glückwunsch. Carla nimmt sich ein Stück vom Kuchen, beißt aber nicht hinein. VANESSA KÖNIG Ja und ausgerechnet heute liegt noch so viel rum. Muss noch zig Kopien machen und die Räume für die morgige Elternvertretung vorbereiten. Und ich glaub die Drucker sind auch wieder… naja.
74. CARLA Kann ich Dir was davon abnehmen? VANESSA KÖNIG Nee passt schon. Aber das war wohl 'ne ziemliche Show, neulich oder? CARLA Was meinst Du? VANESSA KÖNIG Na beim Elternabend. CARLA Ehrlich gesagt, möchte ich nicht darüber reden. Liebenwerda ist herangetreten, nimmt sich ein Stück Kuchen, doch beißt nicht rein. VANESSA KÖNIG Kann ich verstehen. THOMAS LIEBENWERDA Worum geht's? Um Kuhn.
VANESSA KÖNIG
THOMAS LIEBENWERDA À propos! Ich habe mich ja entschieden, juristisch gegen Frau Kuhn vorzugehen. Carla hört auf zu kauen. THOMAS LIEBENWERDA (CONT’D) Und von dem, was man so hört, gibt es ein Video? CARLA Moment. Nur weil Frau Kuhn mich bestohlen hat, heißt es ja nicht, dass sie Sie auch bestohlen hat. Das kann ja jemand anderes gewesen sein, oder? VANESSA KÖNIG Das stimmt allerdings. THOMAS LIEBENWERDA Also haben Sie ein Video gemacht, ja oder nein? Carla zuckt mit den Schultern. THOMAS LIEBENWERDA (CONT’D) Können wir das sehen?
75. CARLA Im Moment nicht, nein. VANESSA KÖNIG Blöde Frage vielleicht, aber: warum nicht? CARLA Weil es für die Polizei bestimmt ist? Ich kann das nicht einfach rumzeigen. THOMAS LIEBENWERDA Einfach rumzeigen? Hören Sie, ich gehöre zu den Opfern. Ich wurde auch beklaut. Und Sie verweigern mir jetzt die Hilfe, oder wie muss ich das verstehen? CARLA Das eine hat aber mit dem anderen nichts zu tun. VANESSA KÖNIG Ja, das mag sein, aber ich fühle mich ehrlicherweise unwohl dabei, dass hier heimliche Videoaufnahmen gemacht wurden. Wer war denn noch auf dem Video zu sehen? CARLA Ich kann Dir garantieren Vanessa, dass Du nicht drauf bist. VANESSA KÖNIG Ich finde es trotzdem nicht gut. CARLA Okay. Ist notiert. Dudek kommt dazu. MILOSZ DUDEK Gibt's noch Kuchen? Vanessa gibt ihm ein Stück - Dudek ab. THOMAS LIEBENWERDA Ich kann mir vorstellen, dass das alles gerade ein bisschen viel für Sie ist. Vielleicht sind Sie auch überfordert. Aber denken Sie doch bitte…
76. CARLA (unterbricht) Nein, Herr Liebenwerda, ich bin überhaupt nicht überfordert. Ist alles gut. THOMAS LIEBENWERDA - aber denken Sie doch bitte mal drüber nach, ob wir nicht gemeinsam gegen Frau Kuhn vorgehen wollen. CARLA Sagen Sie, reicht es Ihnen nicht, dass die arme Frau ihren Job verliert? THOMAS LIEBENWERDA Die arme Frau? Ist das ihr Ernst? CARLA Ob das mein Ernst ist. Sieht das hier nach Spaß aus? VANESSA KÖNIG Dein Mitgefühl für Frau Kuhn in allen Ehren Carla, aber ich finde, dass Du auch uns gegenüber auch eine Verantwortung hast? CARLA Ja und gerade wegen dieser Verantwortung kann ich Euch im Moment nicht weiterhelfen. Tut mir leid. THOMAS LIEBENWERDA Unglaublich. CARLA Herr Liebenwerda, darf ich Sie daran erinnern, dass Sie derjenige waren, der hier einen Privatdetektiv ins Kollegium schleusen wollte. THOMAS LIEBENWERDA Das war ja wohl ein Scherz. VANESSA KÖNIG Außerdem es gibt einen entscheidenden Unterschied, Carla. Bei 'nem Privatdetektiv hätten alle Bescheid gewusst. Doch das was Du gemacht hast, ist hinter unserem Rücken passiert. Beat.
77. DIRK Entschuldigung, Frau Nowak, ich störe wirklich nur ungern, aber hier sind ein paar Ihrer Schüler*innen für Sie. Carla macht ein Gesicht: ich muss dann mal, lächelt und geht an den beiden vorbei. 42
INT. FLUR - TAG
42
Vera und Hatice warten vor dem Lehrerzimmer als Carla dazu kommt. MARKUS Hallo Frau Nowak.
HATICE Hallo Frau Nowak.
CARLA Hallo Leute. Was kann ich für Euch tun? MARKUS Sie wollten uns doch ein Interview geben? Für die Schulpostille. CARLA Ja, aber hatten wir uns nicht für nächsten Dienstag verabredet? HATICE Wir müssen doch schon früher in den Druck, weil unser Raum wegen der anstehenden Projektwoche belegt sein wird. Dauert auch nur 15 Minuten. Carla guckt ins Lehrerzimmer. König und Liebenwerda stehen immer noch dort. Nun bemerkt Carla, das sie immer noch das Stück vom Geburtstagskuchen in der Hand hält. CARLA Wollt ihr Kuchen? Die Mädchen nicken. Carla reicht es ihnen. 43
INT. KLASSENZIMMER / AG-RAUM - TAG Carla folgt den Kindern in einen Raum, wo weitere Redakteur*innen der Schülerzeitung "SCHULPOSTILLE" auf sie warten. Es sind zum Teil ältere Schüler*innen, Jugendliche aus den oberen Stufen. An den Wänden hängen Plakate von vergangenen Projekten und die letzten Ausgaben der Schülerzeitung. Einige Tische sind zusammengestellt.
43
78. HATICE Das sind Paul, Andrea, Daniel, Bine und Krissi. Carla nickt der Gruppe zu. Sie alle sind älter als Hatice und Markus. KRISSI und PAUL. Er hält eine warme Tasse Tee in der Hand. Carla erkennt die beiden wieder: Sie waren im Sekretariat, um sich von Frau Kuhn helfen zu lassen. Hi. Hallo!
KRISSI CARLA
KRISSI Yo. Danke, dass Sie hier mitmachen. Klar.
CARLA
Man sieht Carla an: sie hatte die Runde kleiner erwartet. PAUL Setzen Sie sich doch bitte. Carla nimmt Platz, die Kinder ihr gegenüber. Einige von ihnen holen Zettel mit Fragen raus und legen sie vor sich. CARLA Ok schießt los, was wollt Ihr wissen? PAUL Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir das Gespräch aufzeichnen? Er schiebt sein Handy in die Mitte des Tisches. PAUL (CONT’D) Ist nachher einfacher für uns. Ja, okay.
CARLA
Er drückt einen Aufnahmeknopf und nickt Hatice zu, damit sie beginnt. HATICE Okay Frau Nowak. Sie sind ja erst seit Anfang des Halbjahres bei uns an der Schule - wie gefällt es Ihnen hier? CARLA Ich fühle mich wohl, und die Schüler*innen sind sowieso alle total nett. (MORE)
79. CARLA (CONT’D) Das Kollegium ist auch toll, auch wenn's mal Meinungsverschiedenheiten gibt… aber… ich wurde herzlich in der Schulfamilie aufgenommen, würde ich sagen. HATICE Was sind das dann für Meinungsverschiedenheiten? CARLA Was im Lehrerzimmer passiert, bleibt im Lehrerzimmer. Carla lächelt. Hatice nickt, sie schaut zu Markus, die die nächste Frage von ihrem Zettel abliest. MARKUS Warum sind Sie Lehrerin geworden? CARLA Weil ich in meiner Schulzeit unerträgliche Lehrer*innen hatte und nach der Schule immer nur dachte: "Da geh ich nie wieder hin". Aber dann hat es mich doch gereizt, es besser zu machen. MARKUS Okay, nächste Frage: Ich hoffe, wir treten Ihnen damit nicht auf den Schlips. CARLA Keine Sorge, ich hab ein dickes Fell. MARKUS Nowak - das ist doch ein polnischer Nachname, oder? CARLA Das stimmt. Aber ich bin gebürtige Westfälin und meine Eltern sind Ende der 80er Jahre aus der Nähe von Danzig nach Deutschland gekommen. HATICE Sprechen Sie polnisch? CARLA (auf polnisch) Was die Katze umbrachte, war ihre Neugier. (Ciekawość zabiła kota)
80. HATICE Was heißt das? CARLA Das gehört zu Eurer Recherche. MARKUS Haben Sie Tattoos? Und wenn ja wo? CARLA Ich wollte mal eins, war aber immer zu feige. Zum Glück. Die Schüler*innen schmunzeln. Carla bemerkt wie Paul etwas ins Ohr von Krissi flüstert. HATICE Haben Sie einen Tipp für ihr jüngeres Selbst? CARLA Oje, wie formuliere ich das jetzt, ohne altklug zu wirken. Die Unsicherheiten, die man als junge Person hat, sind ganz normal. Die anderen sind genauso unsicher. Ich wünschte, mir hätte damals jemand gesagt, dass alles gut wird. Oder dass alles gut ist und dass ich öfter mal auf's Bauchgefühl hören darf. Also auf meine Intuition. Jetzt schalten sich die Älteren ein. KRISSI Da muss ich kurz einhaken. Sie haben am Anfang des Gesprächs gesagt, dass Sie sich an unserer Schule wohl fühlen. Mein Bauchgefühl kann das ehrlich gesagt nicht so ganz nachvollziehen, denn ich finde, an unserer Schule herrscht im Moment eine ungute Atmosphäre. CARLA Okay. Wie meinst Du das? MITRA Naja, es ist ja kein Geheimnis, dass an unserer Schule geklaut wird. Carla schaut zwischen den Schüler*innen hin und her.
81. PAUL Können Sie denn sagen, wie es dazu kam, dass der Verdacht auf die Schüler*innen viel? Das waren ja offensichtlich falsche Anschuldigungen. Und am Ende auch nicht fair, oder? CARLA Ja, da habt ihr recht. Das war nicht richtig. Aber es musste etwas getan werden, auch um diejenigen zu schützen, die mit der Sache nichts zu tun hatten. Es tut mir wirklich sehr leid, dass da zwischendurch die Falschen verdächtigt wurden. PAUL Ja, das beantwortet aber noch nicht die Frage. Deswegen nochmal: also wie kam es dazu, dass wir Schüler*innen verdächtigt wurden? CARLA Es gab konkrete Hinweise, aber die waren nicht zielführend. Nochmal: das ist nicht gut gelaufen. KRISSI Stimmt es, dass Frau Kuhn nach 14 Jahren im Dienst nicht mehr zur Arbeit kommen darf? CARLA Das kann ich leider nicht sagen. Das ist Sache der Schulaufsicht. MITRA Also, wurde Frau Kuhn suspendiert, weil Sie geklaut hat? Carla schaut auf das Handy, das noch in der Mitte des Tisches liegt und das Interview weiter aufzeichnet. CARLA Wie gesagt: mir steht es nicht zu, das zu kommentieren. PAUL Aber stimmt es denn, dass es eine heimliche Videoüberwachung in der Schule gegeben hat? CARLA Auch dazu kann ich leider nichts sagen.
82. PAUL Weil Sie es nicht wissen? Oder weil Sie nicht wollen? KRISSI Oder weil Sie nicht dürfen? CARLA Ich dürfte wohl schon, aber ich glaube es wäre nicht gut. Für alle Beteiligten. MITRA Meinen Sie nicht, dass wir Schüler*innen auch beteiligt sind? CARLA Ja, klar, sicher. Carla sieht, wie die jüngeren Schülerinnen unruhig auf ihren Stühlen herumrutschen - ihnen ist es sichtlich unangenehm. Krissi schreibt etwas in ihren Notizblock. CARLA (CONT’D) Okay, wenn ihr keine anderen Fragen mehr habt… KRISSI (unterbricht) Doch haben wir. Stimmt es, dass Oskar Kuhn an eine andere Schule wechseln soll? CARLA Was… wo habt Ihr das denn her? Tja.
KRISSI
CARLA Nein ehrlich, wer behauptet das? KRISSI Der Buschfunk eben. PAUL Und Sie werden verstehen, dass wir unsere Quellen schützen müssen. CARLA Eure Quellen?! Leute hört bitte auf, solche Gerüchte in die Welt zu setzen. Das ist total unseriös. Krissi und Paul schauen sich an. Paul nimmt das Handy an sich und stoppt die Aufnahme.
83. PAUL Also, kein Vorwurf, aber wir wollen halt wissen, was an unserer Schule vor sich geht. KRISSI Yo. Ich glaube wir sind dann auch durch. Sie wendet sich an die jüngeren Schülerinnen. KRISSI (CONT’D) Oder habt ihr noch eine Frage? Sie schütteln den Kopf: Nö. PAUL Haben Sie vielen Dank Frau Nowak. HATICE & MARKUS Danke Frau Nowak. CARLA (zu Krissi) Schickt Ihr mir das Interview bevor ihr es druckt?! Es ist keine Frage, eher eine Aufforderung. Klar. Wann?
KRISSI CARLA
KRISSI Sobald wir's geschrieben haben. Carla mustert Krissi. PAUL Achso, wir bräuchten noch ein Foto von Ihnen. Darf ich Sie schnell mal fotografieren? Paul hält das Telefon hoch. Carla weiß: Da muss sie jetzt durch. 44
INT. FLUR - TAG
44
Carla kommt raus in den Flur. Eine Kollegin grüßt sie im Vorbeigehen: Sie trägt eine helle Bluse mit gelben Sternen die gleiche Bluse, die auf dem Beweisvideo zu sehen war. Gerade noch ist die Kollegin zu sehen, bevor sie um die Ecke biegt - es war eindeutig die gleiche Bluse!
84. Carla geht schneller, der Kollegin hinterher. Sie biegt um die Ecke. Einige Kinder kommen ihr entgegen, sie schaut zu ihnen hinunter: auch die Kinder tragen die gleiche Bluse. Ein Tinnitus, der immer lauter wird. Ungläubig blickt Carla den Flur hinab, es ist das Ende der großen Pause und sowohl Schüler*innen als auch Lehrer*innen strömen in die Klassenzimmer. Jede*r einzelne trägt die gleiche helle Bluse mit gelbem Sternenmuster. Von immer mehr Personen wird Carla umringt, wie ein Strom wird sie erfasst von der Masse aus gelben Sternen. Das Pausenklingeln setzt ein. Es dröhnt in Carlas Ohren. 44A
INT. FLUR - TAG
44A
[Alternative zu 44] CARLA Tschuldigung! Entschuldigung! Die Kollegin bleibt stehen, dreht sich um. KOLLEGIN Ja? Nowak richtig? Sie sind neu. Carla fehlen die Worte. Die Kollegin schaut sie freundlich und erwartungsvoll an. Ähm. Ja.
CARLA
KOLLEGIN Brauchen Sie was? Ich würde sonst gleich in den Unterricht. CARLA Ja, also nein, ist alles ok. Ich… ich hab Sie verwechselt. Carla dreht sich um, lässt die Kollegin stehen. 45
INT. KLASSENZIMMER - TAG
45
Ein neuer Tag: Carla kommt ins Klassenzimmer, legt ihre Tasche aufs Pult. Sie bemerkt die ungewöhnliche Ruhe in der Klasse. Es gibt verschwörerische Blicke zwischen den Schüler*innen. Einige Kinder flüstern untereinander. CARLA Guten Tag, liebe Klasse.
85. Das Begrüßungsritual bleibt aus: die Klasse reagiert nicht. CARLA (CONT’D) Okay. Nochmal: Guten Tag, liebe Klasse. Wieder: Keine Reaktion. CARLA (CONT’D) Meinetwegen, zumindest ist es ruhig. Dann lasst uns mal die Hausaufgaben durchgehen. Wer möchte beginnen? Carla blickt in die Klasse, niemand meldet sich. Ali will seinen Arm heben, doch sein Sitznachbar raunt ihm etwas zu. Ali nimmt den Arm wieder herunter. CARLA (CONT’D) Ali, Du wolltest was sagen? ALI Nee, doch nicht. Carla schaut in die Klasse, einige der Schüler*innen halten ihrem Blick stand, doch die meisten meiden ihn. CARLA Wenn sich keiner meldet, muss ich Euch einzeln auffordern. Jieun, was ist mit Dir? Hast Du die Hausaufgaben gemacht? Jieun ignoriert die Frage, indem sie schweigt. Jieun?
CARLA (CONT’D)
Jieun nickt ihr freundlich zu, sagt aber nichts. CARLA (CONT’D) Okay. Hatice? Du vielleicht? Auch Hatice bleibt stumm, blickt Carla nichtssagend an. CARLA (CONT’D) Spielen wir jetzt Spielchen, oder was? Beat. CARLA (CONT’D) Gut. Dann setz ich mich jetzt auch hin und wir schweigen uns gegenseitig an.
86. Carla setzt sich. Sie mustert die Schüler*innen alle einzeln. Es ist so still, fast schon friedlich, dass man von draußen die Vögel zwitschern hört. Darunter liegt aber eine für Carla kaum erträgliche Spannung. CARLA (CONT’D) Meine Güte, jetzt sagt endlich was los ist! JENNY Stimmt es, dass Sie Oskar von der Schule schicken wollen? CARLA Jenny, keine Ahnung, wo ihr dieses Gerücht hergenommen habt. Aber, wenn's jemand wissen würde, dann doch Oskar selbst, oder? Willst Du dazu vielleicht was sagen, Oskar? Sie blickt zu Oskar. Keine Reaktion. CARLA (CONT’D) Scheinbar nicht. Dann würde ich jetzt gern mit den Hausaufgaben weitermachen. JENNY Wir machen nicht weiter, bevor Sie uns sagen, was passiert ist und was noch passieren wird. CARLA Jenny, wenn Ihr ein Thema habt, über das Ihr reden wollt, dann könnt Ihr es im Klassenrat anbringen. Aber jetzt machen wir Unterricht. JENNY Wir haben ein Recht darauf zu wissen, was los ist. ALI Ja, bei mir hat sich auch noch keiner entschuldigt, Frau Nowak. Einige Kinder kichern. Scheinbar gibt es einige, für die das alles nur ein Spaß ist. CARLA Das stimmt nicht Ali, ich habe mich bei Dir entschuldigt und Dr. Böhm ebenso. Bei ihr im Büro, erinnerst Du Dich? ALI Und was ist jetzt mit dem Video?
87. CARLA Es gibt kein Video, Herrgott. Alle Schüler reden durcheinander: Aber doch! Die ganze Schule weiß es doch! Lügen sie uns nicht an! Carla wird laut. CARLA (CONT’D) Ruhe jetzt. Gebt mir Eure Hausaufgabenhefte. Oskar kritzelt etwas in sein Heft. Carla geht durch die Reihen und sammelt die Hausaufgabenhefte ein. Einige Kinder halten ihr die Hefte hin, bei anderen bedarf es einer weiteren Aufforderung. CARLA (CONT’D) Lukas, her damit! Lukas gibt ihr widerwillig sein Heft. Carla wirft einen Blick hinein. CARLA (CONT’D) Lukas, wo ist die Hausaufgabe? Sie schüttelt den Kopf und geht weiter. Tom wirft Oskar einen bösen Blick zu. LUKAS (zu Oskar) Alles nur wegen dir! OSKAR Dann mach halt Deine Hausaufgaben. LUKAS Du bist so ein Opfer. CARLA Ruhe hab ich gesagt! Oskar hat sein Heft an den Tischrand gelegt. Carla nimmt es wortlos mit. Sie legt die Hefte aufs Pult. CARLA (CONT’D) Also, wer kommt jetzt nach vorne und rechnet die Hausaufgabe vor? Tom meldet sich. CARLA (CONT’D) Tom! Sehr gut. Sie stellt den Beamer an. TOM Ich muss dafür in mein Heft gucken.
88. Carla sucht Toms Heft aus dem Stapel heraus, hält es ihm hin. Das hier?
CARLA
Tom nimmt das Heft, geht an die Dokumentenkamera und beginnt, seine Hausaufgabe zu übertragen. Verräter.
STIMME
CARLA Wer war das? Carla lässt ihren Blick schweifen, das Licht des Beamers auf ihrem Gesicht. CARLA (CONT’D) Wer hat Verräter gerufen? Ich war's.
JIEUN
CARLA Ich find das nicht in Ordnung Jieun. JIEUN Ja aber wir könnten auch mal solidarisch sein, untereinander. TOM Du hast ja auch gute Noten. Ich will einfach nicht sitzen bleiben. JIEUN Bist halt ein Verräter. CARLA Wenn Du noch einmal dieses Wort verwendest, dann muss ich Dich rausschicken, Jieun. TOM Wir reden und reden und alles nur wegen dem da. Tom zeigt auf Oskar. Der zeigt ihm den Stinkefinger. Tom zurück. CARLA Jetzt lass mal Oskar in Ruhe und mach bitte weiter mit der Aufgabe. TOM Oder besser gesagt, wegen seiner Verbrecher-Mutter.
89. CARLA Was hast Du gesagt? TOM Wegen seiner Verbrecher… [-mutter.] CARLA (unterbricht) Raus! Sie zeigt auf die Tür. Tom guckt ungläubig. TOM Hä? Ich bin der Einzige, der hier mitmacht. CARLA Raus hab ich gesagt! Tom schmeißt das Heft auf den Boden und geht. Die Klasse schweigt: Null Grad im Klassenzimmer. MARKUS Übrigens Frau Nowak, diese beknackte Begrüßungszeremonie, die machen wir nur für sie. KINDER Ja, die ist total Banane. Und echt peinlich. 46
INT. LEHRERZIMMER - TAG
46
Wenig später sitzt Carla im Lehrerzimmer, sieht die Hausaufgabenhefte der Schüler*innen durch. Als sie bei Oskars Heft ankommt, hält sie inne. In dem Heft steht nur das aktuelle Datum und: “MEINE MAMA IST KEINE DIEBIN, ABER FRAU NOWAK IST EINE LÜGNERIN” 47
INT. BÜRO BÖHM - TAG Dr. Böhm hält das Hausaufgabenheft von Oskar in der Hand. DR. BETTINA BÖHM Immerhin keine Rechtschreibfehler. CARLA Oskar soll auf eine andere Schule versetzt werden, stimmt das? DR. BETTINA BÖHM Behauptet wer?
47
90. CARLA Das habe ich jetzt ein Paar mal gehört, von Schüler*innen. DR. BETTINA BÖHM Es wird viel zu viel geredet, Frau Nowak. Aber wenn das das Beste für den Jungen ist, dann können wir es ihm nur wünschen. Beat. DR. BETTINA BÖHM (CONT’D) Wir alle müssen jetzt aufpassen, dass der Junge nicht in die innere Migration geht. Also wenn Sie Unterstützung brauchen, lassen Sie's mich bitte wissen. CARLA Unterstützung? DR. BETTINA BÖHM Manchmal hilft der Blick von außen. Sie sehen sich ja nicht selber beim Unterrichten. Carla macht ein Gesicht das sagt: don't state the obvious! DR. BETTINA BÖHM (CONT’D) Gib mir einen festen Punkt außerhalb des Erdkreises, so will ich die Erde aus ihren Angeln heben.
...?
CARLA
DR. BETTINA BÖHM Archimedes, Descartes, einer dieser irre schlauen alten Männer, ich weiß es nicht mehr genau, ein objektiver Standpunkt jedenfalls. Kann manchmal nicht schaden. 48
INT. SPORTHALLE - TAG
48
Die Kinder der 7B haben einige Turnmatten in die Mitte der Halle gezogen und sitzen in einem Kreis. Im Hintergrund steht Lore Semnik. Außerhalb des Kreises, stille Beobachterin des Ganzen. Die Stimmung ist gedrückt. CARLA Okay Leute, ich hab's ja schon erwähnt - die letzten Tage und Wochen waren nicht in Ordnung. (MORE)
91. CARLA (CONT’D) Und ich finde, es muss sich einiges ändern. Kann sich irgendjemand vorstellen, was ich damit meine? Ein Kind meldet sich, schnipsend. Ja?
CARLA (CONT’D)
KIND Machen wir heute noch Sport? CARLA Wir machen erst wieder Sport, wenn wir über einige Themen gesprochen haben. Ich finde nämlich, dass sich ändern muss, wie wir alle miteinander umgehen. Deshalb möchte ich heute mit Euch ein paar Übungen ausprobieren. Carla schiebt eine ca. 1qm große Holzkiste in die Mitte der Kreises. CARLA (CONT’D) Für diese erste Übung, benötige ich sechs Freiwillige. Wer hat Lust? Einige Kinder heben den Arm. CARLA (CONT’D) Gut, dann kommt mal vor. Jenny, Jieun, Ali, Vera, Luise und Lukas kommen in die Mitte. CARLA (CONT’D) Okay, Aufgabe ist es, dass ihr Euch alle auf diese Holzkiste stellt. Aber niemand darf runterfallen. Die Kinder stellen sich auf die Holzkiste, die für sechs Personen eigentlich zu wenig Fläche bietet. Sie balancieren für wenige Sekunden, doch fallen immer wieder runter. CARLA (CONT’D) Okay, die, die draußen sitzen. Habt ihr eine Idee, was man besser machen könnte? TOM Die müssten sich aneinander festhalten. CARLA Probiert es. Nun steigen die Kinder wieder aufs Holz, indem sie sich an den Schultern festhalten.
92. Das klappt besser, aber auch hier fallen sie nach wenigen Sekunden auseinander. Die Kinder nehmen es mit Humor. JENNY Es klappt nicht! CARLA Vielleicht gibt es noch 'ne andere Lösung? Oskar, Du hast doch bestimmt 'ne Idee? Oskar zuckt mit den Schultern. OSKAR Ist doch klar, wir müssen uns gegenseitig die Arme geben. CARLA Okay, zeig mal, wie Du das machen würdest? Oskar trottet in die Mitte und geht zu Tom. Oskar streckt seine Arme aus und bedeutet Tom, es ihm gleich zu machen. So stellen sie sich auf die Kiste und können sich dann zurücklehnen, sodass jeder nur einen Fuß auf der Kiste haben muss. CARLA (CONT’D) Das sieht doch ganz gut aus. Und jetzt die anderen dazu! Die anderen Kinder machen es ihnen nach, sodass bald alle sechs Platz auf der Kiste gefunden haben. CARLA (CONT’D) Ja! Ihr habt die Lösung gefunden. Super. In dem Moment lässt Oskar ganz bewusst den Arm von Tom los. Dieser fällt unschön hintenüber. Die Kinder schreien auf. Tom rappelt sich auf, läuft auf Oskar zu und stößt ihn von der Kiste. Carla und Lore Semnik gehen dazwischen, reißen die beiden Jungs auseinander. Aber Oskar lässt sich nicht beruhigen. CARLA (CONT’D) Raus Oskar! Du wartest jetzt draußen, bis Du Dich wieder beruhigt hast. Oskar geht raus in den Flur der Sporthalle. Vor der Umkleide der Lehrerinnen, steht ein Feuerlöscher. Er nimmt ihn in die Hand.
93. 49
INT. FLUR DER SPORTHALLE/UMKLEIDEKABINE - TAG
49
Carla und die Kinder hören ein Klirren. Die Glastür zur Umkleidekabine der Lehrer*innen ist zerbrochen. Carla sieht Oskar durch den Türrahmen. Er hat ihren Laptop aus der Tasche geholt, ihn aufgeklappt (und sucht nun nach dem Video). Carla geht bestimmt auf ihn zu, als er sie bemerkt, klappt er den Laptop zu und umklammert ihn. CARLA Hast Du Sie noch alle?! Er rennt er los, sie versucht, ihn festzuhalten, er macht sich mit einer Bewegung frei, bei der Carla am Auge erwischt wird. Sie rennt ihm hinterher, hinaus auf die -50
EXT. STRASSE VOR DER SPORTHALLE - TAG
50
Carla kommt aus der Halle, das Sonnenlicht blendet sie für einen Moment, sie rennt Oskar hinterher. CARLA (im Rennen, ruft) Oskar! Sie rennen über eine Straße, sie rennen über eine Straße und gelangen an eine Brücke. CARLA (CONT’D) Oskar! Hey!! Oskar bleibt nun stehen. Der Laptop in seiner Hand. Er guckt Carla an. CARLA (CONT’D) Gib mir den Laptop! Sie geht einen Schritt auf ihn zu. Doch in dem Moment schmeißt Oskar den Laptop über die Brücke und rennt davon. Oskar!
CARLA (CONT’D)
Aber Oskar dreht sich nicht mehr um. Er verschwindet hinter der nächsten Ecke. Carla sieht, wie der Laptop in den Tiefen des Wassers verschwindet. 50A
INT. AG-RAUM - TAG
50A
Wir sehen die Arbeit der Schüler*innen an der SCHULPOSTILLE. Letzte Tippfehler werden in Testausdrucken korrigiert, Artikel am Bildschirm neu positioniert.
94. Schließlich wird die finale Datei auf einen USB Stick kopiert. Hatice und Markus gehen damit in den Kopierraum. Mit großen Papierstapeln in den Händen kommen Hatice und Markus zurück in die Redaktion. Hier werden die Ausdrucke nun in Akkordarbeit zusammengelegt, gefaltet und getackert. Die fertige Schulpostille wird in kleinen Paketen in Kartons gelegt. 51
INT. BESPRECHUNGSRAUM - TAG
51
Der nächste Tag: In einem Besprechungsraum hat sich ein Gremium, die Klassenkonferenz, eingefunden: Zwei Elternsprecher*innen, vier Lehrkräfte von Oskar darunter Stahlmann, Liebenwerda und König, und die Klassensprecher*innen Jenny und Lukas, nebst der Schulleiterin und ihrem Stellvertreter Milosz Dudek - der Protokoll führt. Carla, der man im Gesicht die Spuren der Auseinandersetzung mit Oskar noch ansieht, hört aufmerksam ihrer Kollegin Lore Semnik zu. LORE SEMNIK (liest aus einem Gutachten) Die Geschehnisse um seine Mutter erzeugen einen enormen psychologischen Druck und auch wenn er von einem Teil der Klasse Beistand erfährt, wird er von anderen Schülern gemobbt. Dies führt zu Unruhe und zum Teil auch zu einer Arbeitsverweigerung innerhalb der Klasse. Zudem äußert sich der Frust des Schülers in einer erhöhten Gewaltbereitschaft, die sich physisch manifestiert. Meine Empfehlung wäre zunächst über einen Klassenwechsel nachzudenken. Sollte sich die Situation für den Schüler nicht bessern, könnte man einen Schulwechsel in Erwägung ziehen. Einen Neuanfang, den wir allerdings mit der Mutter abstimmen müssten. DR. BETTINA BÖHM Danke. Frau Nowak, Sie haben als Klassenlehrerin von Oskar nun das Wort.
95. CARLA Ich halte es für eine absolute Bankrotterklärung den Schüler auf eine andere Schule zu schicken. Es muss doch möglich sein, das wir das Problem anders lösen. Blicke. DR. BETTINA BÖHM Gut, aber auch wenn wir den Schüler in eine Parallelklasse stecken, haben wir es hier immer noch mit jemandem zu tun, der 1.) die Klasse zum Boykott anstiftet, der 2.) seinen Mitschüler verprügelt und der 3.) Scheiben einschlägt, um Laptops zu stehlen. CARLA Den Laptop wollte er nicht stehlen. Sondern?
DR. BETTINA BÖHM
CARLA Er wollte seine Mutter schützen. DR. BETTINA BÖHM Wenn Sie das sagen, dann glaube ich Ihnen das mal. Dennoch macht das ja alles andere nicht ungeschehen. Und Sie wissen, dass unsere Schule eine sogenannte Null-Tole… CARLA (unterbricht) Null-Toleranz-Politik, ja ich weiß Dr. Böhm. Aber hier geht es doch um eine persönliche Sache zwischen Oskar und mir. Ganz sicher, habe ich auch Fehler gemacht, das will ich gar nicht leugnen. Aber offensichtlich sieht Oskar bei mir die Verantwortung dafür, dass seine Mutter nicht mehr bei uns arbeiten darf. Ich halte es für einen großen Fehler, den Schüler durch Isolationsmaßnahmen aus seinem sozialen Kontext zu reißen. Wir bestrafen ihn für ein mögliches Vergehen seiner Mutter. Das ist Sippenhaft.
96. DR. BETTINA BÖHM Ich möchte klarstellen, für alle: es geht hier einzig und allein um Oskars Verhalten. Das hat weniger mit seiner Mutter zu tun. CARLA Ja, aber wir diskutieren leider immer nur aus einer Perspektive. VANESSA KÖNIG Perspektive? Kannst Du das vielleicht etwas genauer ausführen Carla? CARLA Na unser Ansatz geht immer nur in eine Richtung: Was können wir mit dem Schüler tun, um das Problem zu beheben? Ja?
DR. BETTINA BÖHM
CARLA Heißt: die Konsequenzen tragen immer die anderen. Ich finde das darf nicht sein. JENNY (leise, eher zu sich) Find ich auch. Bitte?
DR. BETTINA BÖHM
JENNY (lauter) Finde ich auch. Also, dass die Konsequenzen immer die anderen tragen. Also meistens wir Schüler. Dr. Böhm wendet sich wieder an Carla. DR. BETTINA BÖHM Gut, was schlagen Sie vor? CARLA Da ich eine eindeutige Mitschuld an der ganzen Sache trage… sollte es nicht Oskar sein, der gehtSondern?
DR. BETTINA BÖHM
CARLA Sondern ich.
97. ALLE ERWACHSENEN Das ist doch Unsinn. // Quatsch. ELTERNVERTRETERIN Frau Nowak, die Schule ist doch eh schon total unterbesetzt. Die Kinder haben gefühlt nur noch Vertretungsunterricht. STAHLMANN Ja, fast ein Drittel des Kollegiums ist in Krankschreibung, und wenn Sie jetzt auch noch gehen, tja dann… THOMAS LIEBENWERDA Dann können wir hier bald dicht machen, allerdings. Carla blickt in die Runde. Niemand findet ihren Vorschlag gut. DR. BETTINA BÖHM Ich würde gerne mit der Abstimmung weitermachen. Wir haben uns das Gutachten von Frau Semnik angehört. Wir haben Frau Nowak die Gelegenheit gegeben. CARLA Und jetzt entscheiden wir über den Kopf des Schülers einfach hinweg. Wir schieben das Problem ab. DR. BETTINA BÖHM Erstens: wir schieben nicht das Problem ab, sondern wir finden Lösungen indem wir darüber demokratisch abstimmen. Zweitens: Oskar und seine Mutter sind völlig uneinsichtig was ihre Verfehlungen angeht. Sie hatten die Möglichkeit, hier und heute Stellung zu nehmen, aber sie haben jede Kommunikation verweigert. (zu Dudek) Das ist protokolliert, hoffe ich? MILOSZ DUDEK Selbstverständlich. Stille. DR. BETTINA BÖHM Also, wenn es keine weiteren Fragen mehr gibt, würde ich gern zur Abstimmung kommen.
98. THOMAS LIEBENWERDA Tschuldigung, ich muss jetzt aber noch eine Sache ansprechen. Bitte.
DR. BETTINA BÖHM
THOMAS LIEBENWERDA Frau Nowak, was ist das eigentlich für ein Veilchen, unter ihrem Auge? CARLA Bin hingefallen. Wie eingangs erklärt. Carla guckt zu Lore Semnik. Die schüttelt unmerklich den Kopf. THOMAS LIEBENWERDA Schon bewundernswert, wie sie den Jungen schützen. LORE SEMNIK Thomas, was hat das jetzt mit unserer Sache zu tun? THOMAS LIEBENWERDA Ich will ja nur wissen, dass der Junge keine Lehrer schlägt. Ist für so eine Abstimmung nicht ganz unerheblich, oder? CARLA Sein Sie sicher, Herr Liebenwerda, Oskar schlägt niemanden. Liebenwerda hebt die Arme: "Hab ja nur gefragt" MILOSZ DUDEK Okay, dann stimmen wir jetzt mal ab. Hat jemand was, gegen eine offene Abstimmung? THOMAS LIEBENWERDA Klar, kein Problem. Blick zu Jenny und Lukas: die beiden nicken auch. VANESSA KÖNIG Also, ich würd's gern anonym halten. Carla guckt sich um. Dudek beginnt Zettel und Stifte zu verteilen. DR. BETTINA BÖHM (O.S.) Gut, Frau König möchte es anonym halten. (MORE)
99. DR. BETTINA BÖHM (O.S.) (CONT’D) Dann stimmen wir nun darüber ab, ob Oskar Kuhn eine 10-tägige Suspendierung vom Unterricht bekommt. Sowie darüber, ob er an der Klassenfahrt nach England teilnehmen darf oder nicht. Ein einfaches JA oder NEIN genügt. Das Rascheln von Zetteln und Stiften. Carla bekommt einen Zettel vorgelegt. DR. BETTINA BÖHM (O.S.) (CONT’D) Falls sich die Situation nach dieser Abstimmung nicht bessern sollte, müssen wir erneut zusammenkommen und über schärfere Maßnahmen, bis hin zum Schulwechsel, beraten. Kleiner Zeitsprung, von draußen, hinter der Scheibe: Dudek ließt die Zettel vor. Dann löst sich die Runde auf. Sie alle gehen an Carla vorbei, doch diese bleibt noch einen Moment sitzen. Lore Semnik flüstert ihr im Vorbeigehen etwas ins Ohr. Danke.
CARLA
Wir merken: Die Abstimmung ist nicht in ihrem Sinne ausgegangen. 52
INT. FOYER - TAG
52
Carla tritt hinaus ins Foyer der Schule und sieht aus einiger Entfernung den Stand der Schülerzeitung. Paul, Vera und Yaw stehen dort und bereiten den Verkauf vor. In einem großen Karton liegen die Zeitungen. Hinter dem Stand hängen die Kinder große Werbeplakate auf: SCHULPOSTILLE, 2€ pro Exemplar. Paul erblickt Carla aus der Ferne. PAUL Frau Nowak! Carla kommt auf die Gruppe zu. CARLA Geht's schon los? PAUL Na am Montag erst. Aber wir bereiten schonmal vor. VERA Wollen Sie auch eins? Nur zwei Euro.
100. CARLA Zwei Euro, ist das nicht ein bisschen teuer für 'ne Schülerzeitung? YAW Naja, wir haben schon auch 'n paar Aufwände: Druckkosten, Recherchekosten, Technik, Milch und Kaffee - Kosten eben. CARLA Wolltet Ihr mir nicht noch den Text schicken? Paul und Yaw gucken sich gegenseitig an: Ratlosigkeit. PAUL Das müsste Krissi gemacht haben. CARLA Ich hab nichts bekommen. YAW Hm. Na dann bekommen Sie ein Vorabexemplar. Für Umme. Er hält ihr eine Zeitung hin. Carla nimmt sie entgegen. Danke.
CARLA
Sofort fällt Carla die Titelseite der Zeitung auf: ein großes Bild von Friederike Kuhn und gleich daneben ihr eigenes Foto. Während Carla die Zeilen überfliegt, beobachten Paul und Vera ihre Reaktion. CARLA (CONT’D) Ist das Euer Ernst? PAUL Wieso? Wir haben nur geschrieben, was wir… Carla sieht den großen Karton auf dem Boden. In einer Übersprungshandlung greift sie ihn sich und prescht davon. Ey!
YAW
Wortlos und ohne sich umzudrehen, läuft Carla weg. Als sie schon im Flur steht, hält sie inne: was mache ich hier gerade? Aber sogleich sammelt sie sich und geht in den --
101. 53
INT. AG-RAUM - TAG
53
Carla betritt den Redaktionsraum der AG und knallt den Karton auf den Tisch von Krissi und Mitra. CARLA Das geht so nicht. Ihr müsst die Seiten austauschen. KRISSI Hä? Und wieso? CARLA Weil ihr hier Dinge verdreht. Weil ihr Aussagen aus dem Kontext reißt. Weil das 'ne Sache zwischen mir und Frau Kuhn ist, die sonst niemanden etwas angeht! Die anderen Schüler*innen im Raum haben ihre Arbeit gestoppt und lauschen dem Gespräch. MITRA Das ist Ihre Meinung. Wir haben eine andere. Nennt man auch Journalismus. CARLA Das ist kein Journalismus. Vor allem nicht, weil Du mir eine Abnahme versprochen hast. KRISSI Wir lassen doch nicht zu, dass Sie unseren Text zensieren, um besser dazustehen. CARLA Wir hatten 'ne Abmachung, es geht nicht darum besser dazustehen. Nicht?
MITRA
CARLA Und es geht auch nicht um Zensur, sondern um Fakten. KRISSI Die Sie uns verweigert haben. Wir haben nur die Kehrseite beleuchtet. CARLA (irritiert) Ihr habt mit Frau Kuhn geredet?! KRISSI Na was denken Sie?
Na klar.
MITRA
102. Carla atmet einmal tief durch. CARLA Okay Leute, ihr schießt hier komplett übers Ziel hinaus. Und dieser Text ist total unseriös! Ihr wisst gar nicht, wieviel ihr Schaden dadurch… [anrichtet.] KRISSI (unterbricht) Wir bringen die Wahrheit ans Licht. MITRA Wenn Sie diese nicht aushalten, dann ist das Ihr Problem. CARLA Die Wahrheit? Krissi zeigt auf ein Schild, das hinter Carla hängt: VERITAS OMNIA VINCULA VINCIT! (Die Wahrheit überwindet alle Grenzen) MITRA Alles andere ist PR. [CARLA Was sagt man dazu? Am Ende tragt für Euer Tun selbst die Verantwortung. KRISSI Ja. Keine Sorge, die tragen wir schon.] 54
INT. LEHRERZIMMER - TAG
54
Carla setzt sich in eine Ecke des Lehrerzimmers. Sie nimmt ihren Kopf in die zittrigen Hände. Sie sucht nach Lösungen, aber ihr fallen keine ein. LORE SEMNIK (O.S.) Möchtest du reden? Lore Semnik steht bei ihr. CARLA Könntest du mich mal umarmen? Lore lächelt ihr wärmstes Lächeln. Die beiden umarmen sich und bleiben eine ganze Weile so stehen. Carla kullert eine Träne über die Wange.
103. [Ausprobieren - Esoterischer Ansatz: Lore Semnik schnipst dreimal mit den Fingern vor Carlas Gesicht und pustet ihr die Sorgen aus der Stirn // Sie tippelt mit den Fingern auf ihre Stirn] 55
INT. FOYER - TAG
55
Der nächste Morgen: Schüler*innen strömen durch die große Eingangstür in die Schule. Auch Carla geht durch die Halle, vorbei an dem Stand der Schulpostille, vorbei an Krissi und Hatice, die die Zeitung verkaufen. Eine kleine Traube hat sich vor dem Stand gebildet: alle wollen die Zeitung! 56
INT. LEHRERZIMMER - TAG
56
Carla kommt ins Lehrerzimmer, in dem bereits einige Kolleg*innen in die Zeitung vertieft sind. Sie alle blicken Carla an, als diese erhobenen Hauptes an ihr Fach geht. Wie erwartet, kommen schon die Ersten auf sie zu. THOMAS LIEBENWERDA Frau Nowak, ich frage mich ja manchmal, was in Ihrem Kopf so vor sich geht. Ach ja?
CARLA
Liebenwerda liest aus der Zeitung vor. THOMAS LIEBENWERDA "Die Schule ist im Optimalfall ein geschützter Raum für Kinder und Jugendliche. Nicht so an unserer Schule. Im Zuge einer Diebstahlserie wurden uns Schüler*innen Dinge zugemutet, die man sonst nur aus Unrechtsstaaten kennt. Unser Mitschüler Ali Yilmaz wurde in einer razziaähnlichen Stürmung aus dem laufenden Unterricht gerissen und zu Unrecht verdächtigt. Involvierte Lehrer waren Milosz Dudek und Thomas Liebenwerda." -also meine Wenigkeit. "Ein Kind von Eltern mit Migrationshintergrund ohne Beweise derart zu verdächtigen, zeigt den strukturellen Rassismus, der scheinbar auch vor unserer Schule nicht halt macht! Doch das war erst der Anfang: Ohne konkrete Beweise, bla bla, die gute Seele unserer Schule, Friederike Kuhn, des Dienstes suspendiert."
104. [Ausprobieren: Während Liebenwerda den Text runterrattert: Carla macht eine irrational-kindhafte Bewegung: eine Fratze? Sie hält sich kurz die Ohren zu? Sie geht mit dem Kopf an die Wand und dreht sich einmal im Kreis? Sie äfft ihn nach?] CARLA (unterbricht) Herr Liebenwerda, ich kenne den Text, sie müssen ihn nicht nochmal vorlesen. Carla bemerkt die anderen Kolleg*innen, die der Konfrontation nun zuhören. THOMAS LIEBENWERDA (ignoriert sie) "Scheinbar mussten einfach Köpfe rollen, um dem Treiben ein schnelles, scheinheiliges Ende zu setzen. Die Methode, die dabei verwendet wurde, ist nichts für schwache Nerven: eine versteckte Kamera!" - siehe da! "Da Frau Nowak unsere Vermutungen in Bezug auf geheime Videoüberwachung an der Schule nicht entkräften konnte, sprachen wir direkt mit der Betroffenen. Frau Kuhn bestätigte das Vorgehen…" Und so weiter und so fort. Liebenwerda schaut Carla ins Gesicht. Sie zuckt mit den Schultern: was willst du von mir?! THOMAS LIEBENWERDA (CONT’D) Wie kann es eigentlich sein, dass Sie uns Kollegen die Zusammenarbeit verweigern, aber mit einer Gruppe von geltungsbedürftigen Pubertierenden über das Video sprechen? CARLA Herr Liebenwerda ich halte es immer noch für besser, über Dinge zu sprechen, als über sie zu schweigen. Und wenn Sie den Text aufmerksam gelesen hätten, hätten Sie auch mitbekommen, dass ich über das Video eben nicht gesprochen habe. THOMAS LIEBENWERDA Sie sind echt 'ne Nummer, oder? Um jeden Preis von den Schülern gemocht werden wollen, aber nicht begreifen, dass Sie uns alle in die Scheiße reiten. (MORE)
105. THOMAS LIEBENWERDA (CONT’D) Wissen Sie eigentlich wievielen Eltern wir alle heute noch erklären müssen, was hier vor sich geht. Liebenwerda wendet sich an die restlichen KollegInnen. THOMAS LIEBENWERDA (CONT’D) Sagt ihr bitte einer, was das hier bedeutet? Milosz Dudek und Dr. Bettina Böhm betreten den Raum. Carla dreht sich um. Dudek und Böhm halten jeweils ein Exemplar der Schülerzeitung in der Hand. DR. BETTINA BÖHM Dürfte ich einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Sie haben bestimmt schon mitbekommen, dass es da einen unglücklichen Artikel in der Schülerzeitung gibt, die seit heute morgen verkauft wird. Ich habe mich mit Herrn Dudek und der Rechtsabteilung der Schulbehörde besprochen und wir sehen uns leider gezwungen, den Verkauf dieser Ausgabe auf dem Schulgelände zu verbieten. Die Kolleg*innen werfen sich kritische Blicke zu. MILOSZ DUDEK Wir kümmern uns um den Stand im Foyer, würde Sie aber alle bitten, jede Weiterverbreitung der Zeitung zu unterbinden. THOMAS LIEBENWERDA Was ist mit der Online-Ausgabe? MILOSZ DUDEK Die IT hat es schon runtergenommen. Zumindest von der Seite der Schule. Dr. Böhm nickt ihm zu. DR. BETTINA BÖHM Der Schulfrieden ist momentan massiv gestört. Deswegen untersage ich Ihnen ab sofort, weiter über dieses Thema zu sprechen. Das gilt für alle! Sie schaut in die Runde. Dann wendet sie sich an Carla. DR. BETTINA BÖHM (CONT’D) Und mit Ihnen sprechen wir später noch. Im Beisein des Personalrats.
106. Carla stoisch. Böhm geht ab. Die verbleibende Runde um rund 15 Lehrer*innen guckt sich verdutzt an. Im Hintergrund geht eine Lehrerin vorbei, die eine Sternenbluse trägt, identisch zu der von Frau Kuhn. Niemand bemerkt sie. THOMAS LIEBENWERDA Gut, was heißt das jetzt? Wird uns jetzt der Mund verboten, oder was? MILOSZ DUDEK Thomas, wir bitten Euch jetzt nur, kurz mal Füße still zu halten. Wir müssen nun geschlossen auftreten. Auch wenn es weiterhin Differenzen untereinander gibt. Carla und Thomas gucken sich an. THOMAS LIEBENWERDA Ich werde mich bestimmt von niemandem Rassist nennen lassen. Und das solltest Du auch nicht, Milosz. MILOSZ DUDEK (schaut auf die Uhr) Lass uns jetzt bitte einfach unserer Arbeit nachgehen. THOMAS LIEBENWERDA (im Gehen, verärgert) Unserer Arbeit nachgehen! Die Masse durchschleusen, sie auf unseren Nasen rumtanzen lassen und ihnen dafür noch unseren Applaus schenken! Dafür haben wir studiert, dafür sind wir hier. Liebenwerda geht verärgert ab. Carla und Milosz blicken ihm hinterher. MILOSZ DUDEK (leise, polnisch) Du hättest echt mal was sagen können. CARLA Was meinst du? MILOSZ DUDEK (polnisch) Das Interview. CARLA Oskar steckt dahinter.
107. MILOSZ DUDEK Du musst den Jungen vergessen. CARLA Das scheint echt die wichtigste Eignung für diesen Beruf zu sein. Danke für den Tipp. Sie geht ab. MILOSZ DUDEK (ruft ihr hinterher) Es geht um die anderen Kinder, für die Du auch noch eine Verantwortung trägst! Aber Carla ist schon aus der Tür. 57
INT. FOYER - TAG
57
Es klingelt bereits zur ersten Stunde. Carla geht über einen Flur. Aus der Ferne sieht sie, wie zwei Kollegen die Schüler*innen auffordern, den Verkaufsstand zu räumen. Sie sieht, wie die Zeitungen eingesammelt werden. 58
INT. KLASSENZIMMER - TAG
58
Carla kommt ins Klassenzimmer. Der Platz von Oskar ist leer. CARLA Okay Leute, entschuldigt die Verspätung. Darf ich Euch alle mal bitten, kurz aufzustehen? Die Schüler*innen stehen auf. Fragende Blicke. CARLA (CONT’D) Ich will, dass wir jetzt alle mal so laut schreien, wie wir nur können. Achtung. Fertig. Los! AAAAARGHHHH!!! Aber nur die Hälfte macht mit, einige öffnen nur ihren Mund ohne wirklich zu schreien. CARLA (CONT’D) Kommt, alle zusammen! Traut Euch! AAAAARGHHH!!! Die ganze Klasse schreit aus einer Kehle. Es wird richtig laut. Und plötzlich ganz ruhig. Carla hat die Augen geschlossen. Nun öffnet sie sie wieder. Sie blickt durch den Raum.
108. CARLA (CONT’D) Bevor wir mit dem Unterricht beginnen, vielleicht noch ein paar klärende Worte: Was neulich in der Sporthalle passiert ist, habt ihr ja alle mitbekommen. Oskar wird nun für zehn Tage vom Schulbesuch suspendiert. Und darf auch nicht an der Klassenfahrt teilnehmen. JIEUN Was heißt das, suspendiert? CARLA Das heißt, er darf für die nächsten 10 Tage nicht zur Schule kommen. Die Klasse lässt diese Info für einen Moment sacken. CARLA (CONT’D) Außerdem: Die Schülerzeitung hat im Kollegium für einigen Unmut gesorgt. Und die Schulleitung hat daraufhin die Verbreitung auf dem Schulgelände verboten. Ich bitte Euch deswegen, die Zeitung zumindest auf dem Schulgelände wegzupacken. JENNY Krass. Das ist ja Zensur! CARLA Das stimmt, Jenny. Ich find's auch krass, dass an unserer Schule solche Maßnahmen ergriffen werden. JENNY Also ich werde meine Zeitung bestimmt nicht verstecken. CARLA Ich find's prinzipiell richtig toll, wie ihr Euch in der Zeitung organisiert und solidarisiert habt, auch wenn ich den Text inhaltlich höchst fragwürdig finde. Hatice meldet sich. Ja?
CARLA (CONT’D)
HATICE Es tut mir leid Frau Nowak, das war nicht gegen Sie.
109. CARLA Danke Hatice. Es klopft an der Tür. Herein.
CARLA (CONT’D)
Oskar tritt in den Raum und geht ohne ein Wort auf seinen Platz. Er hat einen dunklen Hoodie an, hat sich die Kapuze über den Kopf gestülpt und sieht dadurch leicht gefährlich aus. CARLA (CONT’D) Oskar! Was machst Du denn hier? Oskar sagt nichts. CARLA (CONT’D) Deine Mutter müsste einen Brief bekommen haben. LUISE Was denn für einen Brief? CARLA Na ich hab es Euch doch eben erklärt. CARLA (CONT’D) Oskar, Du hast einen Schulverweis. Ist das bei Euch nicht angekommen? Oskar zuckt mit den Schultern. Carla geht an seinen Tisch. CARLA (CONT’D) (leise) Oskar, das geht so nicht. Komm lass uns bitte mal rausgehen. Aber Oskar holt seine Schulsachen heraus: Mäppchen und Schulbücher. Er legt sie sorgfältig auf sein Pult. CARLA Hey, Oskar, bitte hör auf damit. Pack deine Sachen wieder ein. Demonstrativ spitzt Oskar seinen Bleistift an. Lukas zieht seine Wollmütze übers Gesicht. LUKAS Ich bin Oskar und ich lauf gleich Amok! Einige Kinder lachen. Lukas! Ey!
CARLA
110. Carla packt Oskar an der Schulter und schüttelt ihn leicht. Oskar schaut kurz zu ihr auf, zeigt aber keine weitere Reaktion. CARLA (zu allen) Okay Leute, ihr bleibt bitte ruhig, ich bin gleich wieder da. Die Kinder schauen Carla hinterher: Was passiert jetzt? 59
INT. FLUR VOR DEM LEHRERZIMMER - TAG
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Carla läuft über den Flur ins Lehrerzimmer. 60
INT. LEHRERZIMMER - TAG
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Der einzige Lehrer, der gerade nicht im Unterricht ist: Thomas Liebenwerda. Vor ihm seine Tupperdose mit geschmierten Broten. Carla überwindet sich. CARLA Herr Liebenwerda, darf ich Sie kurz um Hilfe bitten? 60A
INT. FLUR - TAG
60A
Liebenwerda und Carla gehen gemeinsam über einen Flur. LIEBENWERDA (im Gehen) Wollen wir uns nicht lieber Duzen? Ich bin der Thomas. CARLA Oh, Danke. Ich weiß das Angebot total zu schätzen. Aber was wir miteinander haben, das ist so besonders. Lassen sie uns das nicht verwässern. 61
INT. FLUR / KLASSENZIMMER - TAG Wenig später: Carla und Thomas Liebenwerda gehen über den Flur und gelangen ins Klassenzimmer. Die Klasse verstummt. CARLA So Leute, wir werden jetzt einmal umziehen. Also, bitte packt Eure Sachen, wir gehen in den Nebenraum und Herr Liebenwerda wird hier bei Oskar bleiben.
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111. TOM Wieso müssen wir jetzt wegen dem woanders hin? CARLA Tom, der Klügere gibt nach, das weißt Du doch. Die Kinder packen ihre Sachen, und verlassen das Klassenzimmer. Carla wirft einen Blick zurück zu Liebenwerda, der ihr zu verstehen gibt: Mach Dir keine Sorgen. Carla verschwindet mit den Schüler*innen in der Nebenklasse. 62
INT. NEBENKLASSE - TAG
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Die Schüler*innen finden sich in der Nebenklasse ein. CARLA Macht Euch keine Sorgen, Herr Liebenwerda ist jetzt bei Oskar. Es ist alles gut. Aber nichts ist gut. Das wissen Klasse, wie auch Lehrerin. Kritische Blicke. Carla blättert im Mathebuch. CARLA (CONT’D) Wisst ihr was, schlagt mal bitte Seite 46 auf und besprecht mit Euren Sitznachbarinnen die Aufgabe 13, A bis F. Bin gleich wieder da. Carla schreibt die Aufgabe im Mathebuch hastig an die Tafel, fischt das Handy aus ihrer Tasche und verlässt den Raum. 63
INT. FLUR - TAG
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Unruhig geht Carla auf und ab. Sie hält das Telefon ans Ohr. Sie linst durch die Scheibe der Tür ins Klassenzimmer, dort sitzen Liebenwerda und Oskar. Es klingelt und klingelt. Endlich nimmt jemand ab. Kuhn?
FRIEDERIKE KUHN (O.S.)
CARLA Hallo Frau Kuhn, Carla Nowak hier. FRIEDERIKE KUHN (O.S.) Sie haben immer noch den Nerv, bei mir anzurufen?!
112. CARLA Frau Kuhn es geht um Oskar. Haben Sie den Brief von der Schulleitung nicht erhalten? FRIEDERIKE KUHN (O.S.) Hab ich. Und? Meinen Sie wir lassen so mit uns umgehen? CARLA Nein, aber es bringt doch nichts, Oskar für eine Sache zwischen uns beiden zu instrumentalisieren. FRIEDERIKE KUHN (O.S.) Wer instrumentalisiert hier wen? Oskar von der Schule schmeißen und damit das Problem loswerden? CARLA (lauter) Ich habe mich für Oskar stark gemacht, Frau Kuhn! FRIEDERIKE KUHN (O.S.) Gratuliere. Das hat ja prima funktioniert. CARLA Aber Sie hätten zu der Verhandlung auch mal erscheinen können. FRIEDERIKE KUHN (O.S.) Jetzt bin ich die Schuldige? CARLA Es geht doch nicht um Schuld, Frau Kuhn. Es geht darum nach vorn… [zu blicken und jetzt eine Lösung zu finden.] Die Tür der Nebenklasse geht auf: Jieun und Luise kommen raus, blicken neugierig in Richtung Carla. FRIEDERIKE KUHN (O.S.) (unterbricht) Doch! Es geht um Schuld. Sie sind schuldig, Frau Nowak! Sie haben das alles zu verantworten! Und Sie wollen es immer noch nicht wahrhaben. Wie wär's mal mit 'ner Entschuldigung?!
CARLA (CONT’D) (zu den Schülerinnen) Leute, geht ihr bitte wieder in die Klasse?!
LUISE Wir müssen aber auf die Toilette.
113. CARLA Ja Ok, dann geht. Aber bitte schnell wieder zurück. FRIEDERIKE KUHN Hören Sie? Eine Entschuldigung daran mal gedacht? CARLA Ich bitte Sie jetzt den Jungen abzuholen. FRIEDERIKE KUHN (O.S.) Wenn Oskar möchte, kann er selber nach Hause kommen. Wenn ER möchte! CARLA Ja, wir haben ihm schon gesagt, dass er bitte gehen soll. Aber er… [tut nicht, was wir ihm sagen.] Jetzt sieht Carla, wie Dr. Böhm und Milosz Dudek in die Klasse gehen, wo auch Oskar und Liebenwerda sitzen. Carla setzt sich in Bewegung. FRIEDERIKE KUHN (O.S.) (unterbricht) Nicht mal das kriegen Sie hin. Wenn Sie als Lehrkraft versagen, Frau Nowak, dann ist das nicht mein Problem. CARLA Es geht um Ihren Sohn Frau Kuhn. Wenn wir versagen, dann gemeinsam. KLICK - Diesmal legt Carla auf. Sie ist sichtlich geladen und geht nun an die Tür zum Klassenzimmer. 64
INT. FLUR/KLASSENZIMMER - TAG
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Carla kommt zurück zum Klassenzimmer und wirft einen Blick hinein. Oskar sitzt immer noch an seinem Platz. Dr. Böhm und Milosz Dudek reden auf ihn ein. Liebenwerda kommt raus zu Carla. THOMAS LIEBENWERDA Wir kommen nicht durch zu ihm. Keine Reaktion, nada. Haben Sie die Mutter schon kontaktiert? Carla nickt. THOMAS LIEBENWERDA (CONT’D) Der Junge darf gar nicht hier sein. Wir können zur Not das Hausrecht durchsetzen.
114. CARLA Ich würde gern erst nochmal mit ihm reden. THOMAS LIEBENWERDA Okay, probieren Sie es. Carla geht ins Klassenzimmer. Dr. Böhm mitten im Monolog. DR. BETTINA BÖHM Oskar, Ihr hattet einen schönen Artikel in der Schülerzeitung - wir alle haben unser Fett wegbekommen. Das habt ihr prima gemacht. Herzlichen Glückwunsch, und jetzt ist aber mal gut. Wenn Du also nicht freiwillig gehst, dann kommt die Polizei und trägt Dich zur Not hier raus… Oskar ignoriert sie. CARLA Oskar, schaust Du mich mal an? Oskar guckt Carla ins Gesicht. CARLA (CONT’D) Ich hätte mir gewünscht, dass alles anders gekommen wäre. Und es tut mir ehrlich leid, was passiert ist. Aber wenn Du jetzt nicht einsichtig bist und von alleine wieder nach Hause gehst, wird alles nur noch schlimmer. Oskar fängt nun an, leise zu weinen. Oskar?
CARLA (CONT’D)
Milosz Dudek legt Oskar die Hand auf die Schulter, aber der haut sie ruckartig weg. Böhm guckt Dudek und Carla an. DR. BETTINA BÖHM Kollegen, lassen Sie uns mal kurz vor die Tür gehen, bitte? Das Trio setzt sich in Bewegung. Aber als sie an die Tür kommen, lässt Carla die beiden rausgehen und schließt die Tür hinter ihnen zu. DR. BETTINA BÖHM (CONT’D) (durch die Scheibe) Frau Nowak? Frau Nowak, kommen Sie bitte auch raus?
115. Carla hebt die Hand, gibt Böhm zu verstehen: Alles unter Kontrolle! Sie dreht sich um und geht zurück zu Oskar. Nun sind sie die beiden allein. Ratlosigkeit vor der Tür. 65
INT. KLASSENZIMMER - TAG
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Carla rückt sich einen Stuhl zurecht und setzt sich neben Oskar. Sie holt einige Hefte aus ihrer Tasche raus und beginnt zu arbeiten. Sie korrigiert Hausaufgaben. Oskars Blick schweift immer mal wieder herüber zu ihr. Er versucht sein Interesse zu verbergen. Als Carla zu ihm rübersieht, schaut er wieder weg. Ein Pausenklingeln ertönt. 66
INT. KLASSENZIMMER - TAG
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Später: Carla steht am Fenster und dehnt sich. Oskar sitzt immer noch in derselben Pose. Die beiden harren aus. Im Hintergrund sehen wir Mitschüler*innen, die das Schulgebäude verlassen. Einige gucken neugierig durch die Fensterscheiben. Carla sieht sie, aber geht nicht darauf ein. Plötzlich klingelt ein Telefon. Es kommt aus dem Rucksack von Oskar, der sich aber nicht rührt. CARLA Oskar, willst Du nicht rangehen? Ist bestimmt Deine Mama. Es klingelt und klingelt. Aber Oskar legt einfach nur den Kopf auf den Tisch. Das Klingeln hört auf. 67
INT. KLASSENZIMMER - NACHMITTAG
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Es ist schon später Nachmittag, die Sonne ist fast weg. Carla steht am Wasserhahn und füllt ein Glas mit Wasser. Sie stellt es Oskar auf den Tisch. Er rührt es nicht an. Dann klopft es an der Tür. Herein.
CARLA
Davor steht eine Reinigungskraft. CARLA (CONT’D) Bitte bitte, kommen Sie ruhig rein, Sie stören nicht.
116. Die Reinigungskraft beginnt mit der Arbeit. Sie stellt die Stühle auf die Tische und geht mit einem Feger durch den Raum, während sich Carla Oskar gegenüber setzt. Er guckt sie an. Sie guckt ihn an. Schließlich beugt er sich herunter, kramt etwas aus seiner Tasche heraus. Es ist der Rubik's-Cube, den er nun in der Hand hält und konzentriert nach einer Lösung sucht. Das Drehen am Würfel erzeugt ein rhythmisches Klacken. Immer mehr Felder ordnen sich. Noch ist die Lösung nicht in Sicht, doch Carla weiß in diesem Moment, dass sie als Lehrkraft etwas richtig gemacht hat. 68
ABSPANN
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Das leere Schulgebäude. Verwaiste Klassenzimmer, Flure, Konferenzräume und das Lehrerzimmer liegen in Stille. Musik setzt ein: Bring Me Little Water, Silvy gesungen von einem Kinderchor. Oskars Oberkörper kommt ins Bild. Scheinbar schwebt er durch die Gänge, schwebt die Flure entlang, Treppen herunter. Wir sehen, dass zwei Polizist*innen ihn auf seinem Stuhl aus der Schule tragen. Hinaus aus der Enge der Räume, durch die große Tür. Dem Licht entgegen. ENDE