S T E R B E N
Auch eine Komödie
Drehbuch für einen Film von Matthias Glasner
Drehfassung vom 11. 10. 2022
glasner@sw-film.com
VORBEMERKUNG ZUR FASSUNG DER DEUTSCHEN FILMAKADEMIE:
Dies ist die Drehfassung, alle Szenen wurden auch tatsächlich gedreht. Der erste Rohschnitt war knapp 6 Stunden lang, der Feinschnitt immer noch 4 Stunden und 30 Minuten.
Daraufhin haben wir den Film im Schnitt vollkommen neu strukturiert und dabei nicht nur eine neue Reihenfolge der Szenen entworfen, sondern auch ganze Handlungsstränge rausgeschnitten. Der Final Cut des Films hat jetzt eine Länge von 3 Stunden.
Wir haben jedoch vor, in der schon immer geplanten Serien-Fassung von STERBEN, die ursprüngliche Struktur wieder herzustellen. Auch die im Kinofilm fehlenden Handlungsstränge sollen dann wieder in die Serie integriert werden.
Matthias Glasner, März 2024
Als Marivaux einmal einen alten Priester danach fragte, was er in all den Jahren der Beichte über die Menschen gelernt habe, antwortete dieser:
"Zwei Dinge. Erstens, dass die Menschen alle viel unglücklicher sind, als wir denken. Und zweitens, dass niemand jemals erwachsen wird."
Eine Montage von Fotos, aufgenommen bei einem Geburtstagsfest. Darüber liegt die Stimme von Lissy. Sie klingt müde und heiser.
LISSY (V.O.)
Als Gerd 60 geworden ist, sind wir * sehr schön essen gegangen. Wir haben einen Tisch beim “Heidepeter” reserviert, das ist das beste Restaurant in der Lüneburger Heide, wirklich, das sagen alle, da kommen die Leute sogar aus Hamburg um da Essen zu gehen...
Schnappschüsse eines Familienessens, noch analog aufgenommen, verwackelt, unscharf. Jemand betrachtet sie mit einer LUPE.
LISSY (V.O.)
... Tom ist aus Berlin gekommen und Ellen aus Hamburg. Sie wohnt ja eigentlich in der Nähe und könnte schon öfter mal nach Hanstedt kommen, finden wir, aber...
Bilder von Lissy, damals Ende 40, mit ihrem Mann Gerd und ihren Kindern Tom, damals 26 und Ellen, 23.
LISSY (V.O.)
... Na, jedenfalls durfte sich jeder bestellen, was er wollte, Tom hatte ein Wildgulasch, Ellen das Rumpsteak mit Kroketten und Gerd und ich haben uns die Ente mit Rotkohl geteilt...
Alle sehen soweit ganz zufrieden aus auf den Bildern, aber es ist sicherlich nicht grad ein rauschendes Fest. Und ausser der kleinen Familie ist da niemand sonst, um den 50sten Geburtstag des Ehemanns und Vaters zu feiern.
LISSY (V.O.)
... Allen hat es sehr gut geschmeckt und wir hatten einen sehr netten Tag, das haben alle gesagt * hinterher, das weiss ich noch...
Man sieht die jungen Gesichter unserer Protagonisten, deren Geschichte in diesem Film 15 Jahre später einsetzen * wird: Tom Lunies, ein bisschen sehr ernst für den Anlass, aber das ist seine Physiognomie, da kann er nichts für... Ellen Lunies, lacht meist, vielleicht etwas zu offensichtlich und gleichmässig um ganz echt zu sein; und ihr Gesicht zeigt erste Spuren ihres emotional ausschweifenden Lebensstils... Lissy Lunies lächelt distanziert aus ihrem schönen Gesicht, dem man ansieht, das es sich schlecht entspannen kann. Wenn man genau
hinsieht, fällt auf, dass sie mit niemandem auf den Fotos körperlichen Kontakt hat... Und Gerd Lunies versprüht die Freundlichkeit und den vorwitzigen Schalk, mit dem er sich sein Leben lang die Melancholie, die darunter lauert, vom Leib gehalten hat.
LISSY (V.O.)
... Und trotzdem... Trotzdem haben wir danach nie wieder alle zusammen an einem Tisch gesessen. Und ich weiss wirklich nicht, warum nicht. Wirklich nicht! *
Unter der Szene lag von Beginn an eine dunkle Orchestermusik, zunächst fast unhörbar leise. Langsam drängte sie sich immer weiter in den Vordergrund und schiebt Lissys Stimme schliesslich expressiv beiseite... *
TOM (OFF)
Stop! Not like that...
EINBLENDUNG:
KUNST UND KINDER
INNEN. BERLIN - PROBERAUM - TAG 2 2 *
Der Dirigent. TOM, jetzt 46 und merklich zerfurchter, oder vielleicht einfach konzentriert. Sieht in die Gesichter des Orchesters vor ihm.
Um die 60 Musiker sehen ihn an. Es ist ein * internationales, junges Ensemble, mit Musikern aus allen Erdteilen. *
NAH: Toms Gesicht. Die Einsamkeit des Dirigenten vor seinem Orchester.
TOM
Okay, you are doing this very, very, really very... but not too much at the start, please. We have to earn the “pathos” at the end by being humble at the beginning...
Er dreht sich unruhig in den Saal, wo BERNARD (45) sitzt, die Beine über die Lehne vor sich gelegt, Notenblätter im Schoß. Auch er sieht nicht glücklich aus. Aber sein Unglück ist grundsätzlicher Natur und hat sich tief in seine Gesichtszüge geschrieben.(Es heisst ja, ab 40 ist jeder selbst für sein Gesicht verantwortlich.) *
Die Assistentin RONJA (32) kommt schnell rein, läuft auf * Tom zu und flüstert ihm etwas ins Ohr... *
TOM (CONT’D) (verwirrt)
Auf meinem Handy? Wo... Wieso hab ich denn nicht... Danke Ronja! *
Sie hält ihm sein Handy hin... Er steigt vom Pult und * läuft Richtung Ausgang. Bernard stellt sich ihm in den * Weg...
TOM (CONT’D)
... Geht jetzt nicht, Partner, ich muss zu Liv, es ist soweit...
... Bernard! Red du mit ihnen, ist dein Stück...
BERNARD
... Partner, wenn du das so anlegst, geht die Welt schon unter, bevor...
Er lässt Bernard - dessen Namen er französisch aussprichtmit dem Orchester im Saal allein zurück.
Bernards unglücklicher Blick fällt auf die koreanische Cellistin, MI-DO, (35). Sie lächelt ihm aufmunternd zu... *
AUSSEN. VOR PROBERAUM - DÄMMERUNG 2A 2A *
... Ronja rennt Tom nach draussen hinterher... *
RONJA
Tom, die Sponsoren fragen wegen der Länge... Über 2 Stunden ist auch vertraglich ein Problem...
TOM Ja ja ja...
INNEN/AUSSEN. BERLIN / AUTO - DÄMMERUNG 3 3
Tom fährt eilig durch die Stadt, hält sein Handy im Schoss und hört auf “Laut” Nachrichten auf seiner mailbox ab.
LIV (OFF)
Hey, ich glaube, es geht bald los, also, keine Ahnung, aber es fühlt sich so an, als ob es bald losgehen könnte, ich weiss, du hast Probe, aber komm doch bald her bitte... PIIIIIEP!... Tom, meine Fruchtblase ist grad geplatzt. Wieso gehst du
Pink (mm/dd/yyyy) 4.
LIV (OFF) (CONT'D)
nicht an dein Handy? Ich würd jetzt gern wirklich bald... Ahh! (schmerzenslaut, stöhnen)... PIIIEP... Tom, es sind jetzt nur noch 5 Minuten zwischen den Wehen, du könntest jetzt langsam mal, (laut) ALSO ECHT! Du kannst doch drei Tage nach Termin nicht nicht an dein Handy gehen und AHHHHH!!! (heftige Wehe)... PIIIIEP... (intensives Stöhnen, erschöpfte Stimme) Tom, wenn du nicht in 5 Minuten hier bist, dann Gnade dir... ICH BRING DICH UM... PIIIIEP...
... Plötzlich eine ganz andere Stimme auf der mailbox. müde und brüchig...
LISSY (OFF)
... Ist das jetzt... Tom?... Bist du... Tom?... Hier ist deine Mutter. Ruf mich mal an bitte, es geht um Papa...
Tom legt auf und kämpft sich durch den Abendverkehr... *
INNEN. BERLIN - WOHNUNG LIV - NACHT 4 4 *
... Tom kommt nervös in die Wohnung, ESTHER (60) erwartet * ihn mit ihrem Hund TINKA (12 und sehr groß).
Esthers lange, graue Haare hängen strähnig an ihrem * dünnen, anämischen Körper herunter. Sie hat vor 35 Jahren beschlossen, ein schüchterner Hippie zu werden und ist bei dieser Entscheidung geblieben.
ESTHER
... Ich bin jetzt hier, weil Liv das unbedingt wollte und du nicht da warst aber ich hab euch gesagt, dass ich das eigentlich nicht...
TOM
... Ich hatte mein Handy am Pult aber der Empfang...
... Ich muss meine Mutter mal zurückrufen...
Tom drängelt sich an ihr und dem Hund vorbei ins Schlafzimmer, wo Liv (38) sehr schmerzverzerrt und sehr apathisch und sehr schwanger eine Tasche packt.
LIV
... Wir fahren! JETZT!
TOM (CONT’D)
... Okay, wir hatten eigentlich vereinbart, das deine Mutter nicht dabei ist, wenn... aber ich verstehe, dass du...
... JETZT!!!
LIV (CONT’D)
Tom fügt sich, hilft mit dem packen...
TOM
Ich muss meine Mutter mal... egal, mach ich später...
INNEN/AUSSEN. BERLIN / AUTO - NACHT 5 5
... Im Auto durch die Stadt. Tom konzentriert sich am Steuer, während Esther die auf dem Rücksitz in den Wehen liegende Liv beruhigt.
Der große Hund sitzt auf dem Beifahrersitz und beäugt Tom misstrauisch. Tom nimmt über den Rückspiegel Esthers ruhigen, aber irgendwie auch glasigen Blick auf.
ESTHER
Fahr langsam...
Liv stöhnt zwischen den Wehen.
LIV (CONT’D)
Sie kommt! Sie...
LIV
... Ja, Tom, schneller...
Wir sind gleich da!
ESTHER (CONT’D)
Tom!
TOM
Ja?! Was denn!?!
Der Hund bellt Tom aggressiv an. Tom bellt aggressiv zurück, während er bei Rot eine Kreuzung überquert.
TOM (CONT’D)
Weiß Moritz bescheid?
LIV UND ESTHER
JA!
INNEN. KRANKENHAUS - NACHT 6 6
Tom, Liv, Esther und der Hund durchqueren einen Krankenhaus-Gang.
SCHWESTER
Sie können hier nicht...
Wir haben keine Kapazitäten...
... Dann kommt es auf dem Gang...
TOM Klar können wir!
... Das Baby kommt!...
Tom sieht sie mit flehendem Blick an.
*
TOM (CONT’D)
... BITTE!
Die Schwester hasst ihn, aber kann ihm doch nicht widerstehen.
SCHWESTER
Warten sie hier...
Liv schreit schmerzverzerrt auf.
SCHWESTER (CONT’D) Sie müssen warten!
INNEN. KRANKENHAUS / ZIMMER - MORGENS 7 7
Tom steht vor Liv am Bett, sie kniet vor ihm auf dem Bett, umarmt ihn, die Hebammen begutachten ihren nackten Unterleib.
LIV
Geh nicht so weit weg!
Doch!
TOM Tu ich nicht!
Tatsächlich könnte er keinen Zentimeter näher stehen. Liv umklammert ihn.
Tom umklammert sie... und sucht doch den Blick nach unten, zwischen ihre Beine, wo jetzt der Kopf eines neugeborenen Babys auftaucht...
... Dann liegt es da. Müde von der beschwerlichen Reise durch den Unterleib in die Welt hinaus.
Und fängt an zu schreien.
Die Hebammen legen es der erschöpften Liv in den Arm. Sie und Tom lächeln sich verschwitzt an.
Esther nähert sich überfordert von hinten...
ESTHER
Die Schwester sagt, der Vater... Ich weiß nicht... Moritz ist da...
Tom sieht Liv fragend an. Liv nickt, lächelt ihn dankbar an, ihre Hand sucht seine Hand... Sie drücken sich.
LIV (leise)
Ruf deine Mutter an...
... Dann geht Tom raus...
... Und sieht MORITZ (40), der sofort von der Bank aufsteht, als er Tom sieht.
Ist es...?
MORITZ
Wie ist der Stand, sind sie...?
TOM
... Du kannst jetzt rein.
Baby ist da. Atmet, schreit... Alles gut...
Moritz fängt an zu schluchzen, Tränen laufen... Tom sieht sich das eine Weile an, dann packt er ihn.
TOM (CONT’D)
Geh rein! Da drin wartet dein Kind!
Moritz nickt, reißt sich zusammen, geht an ihm vorbei... Verschwindet im Zimmer.
Tom setzt sich müde auf die Bank, starrt an die graue Wandfarbe ihm gegenüber.
Greift nach seinem Telefon. Scrollt durch die Nummern...
DETAIL AUF HANDY: "MAMA"
Er starrt drauf, scrollt dann weiter. Sieht den merkwürdig leeren Gang hinunter. Die plötzliche Stille greift nach ihm. Also entscheidet er sich endlich für eine Nummer.
Eine nüchterne Stimme teilt ihm mit, dass der angerufene Teilnehmer grade nicht erreichbar ist, aber eine Nachricht hinterlassen werden kann... PIIIIP!
TOM (CONT’D)
(ins Telefon)
Hallo Ellen, hier ist dein Bruder... Keine Ahnung, wo du steckst, aber... Ich glaube, Papa geht es nicht gut... Mama hat angerufen, aber ich hab sie nicht zurückgerufen, bei mir ist grad... Viel los und ich wäre dir wirklich wirklich dankbar, wenn du dich mal bei ihr melden könntest... Ich weiss ja nicht, wie euer Stand grad ist, aber ich... (lacht leise) ja, ich bin grad so ne Art Vater geworden, oder jedenfalls hab ich ein Kind zur Welt gebracht oder war dabei als eins zur Welt gekommen ist, nicht meins, aber... Na ja... Ich hoffe einfach mal, es geht dir gut...
Er schweigt kurz...
... FLASHES DER GEBURT... Das zerknautsche, verschmierte Baby...
TOM (CONT’D)
So eine Geburt... ist so unglaublich... so... unfassbar...
Er starrt den Gang hinunter, ihm fehlen die Worte und er schweigt in die stille Leitung... die sich dann mit einem erneuten, erbarmungslosen PIIIEP abmeldet.
Er lässt das Handy sinken.
INNEN. IRGENDWO/FRÜHSTÜCKSRAUM - MORGENS 9 9
Eine Stimme sagt etwas in einer Sprache, die osteuropäisch klingt... oder chinesisch... oder was dazwischen... ein HANDY wird ins Blickfeld geschoben... Eine andere Hand schiebt es wieder weg.
Ein Gesicht sieht hoch, taucht hinter Haaren auf... ELLEN, jetzt 43, immer noch sehr attraktiv, aber die Gesichtszüge beginnen, zu verrutschen und die Haut hat Schaden genommen über die Jahre.
Sie sieht sich irritiert um. KINDERGESICHTER sehen sie interessiert an.
MANN
(Sagt unverständliche Sachen, lächelt dabei aber freundlich)
Ellen lächelt einfach mal zurück, denn der Mann sitzt ihr gegenüber. Sie sitzen also zusammen an einem Tisch. Das spricht dafür, dass sie sich kennen.
Sie sieht sich um... Ein Buffet, Menschen essen an Tischen.
ELLEN Wie spät ist es...?
Der Mann sieht sie an, er versteht sie nicht... Sie sieht sich um... Die gierigen Menschen am All-InclusiveBuffet... Die Reste des Frühstücks, die vom Tisch auf den grob gemusterten Teppichboden fallen und niemanden kümmern.
MANN
(Mehr unverständliches, aber freundliches Gerede, er schiebt ihr ein GLAS hin)
Ellen greift gierig nach der trüben Flüssigkeit, vermutlich eine Saftschorle. Leert sie in einem Zug.
Sie lächelt den Mann, der ihr gegenüber sitzt dankbar an. Der kriegt grade Ärger mit einer FRAU - vermutlich seinerdie neben ihm bei den Kindern sitzt.
Eins der Kinder tritt Ellen unablässig unter dem Tisch. Ellen tritt zurück. Das Kind sieht sie erstaunt an, sagt aber nichts.
Sie wühlt in ihren Hosentaschen. Sie hat eine Jeans an, das ist eine gute Nachricht. Findet einen Schlüssel mit einer Nummer dran: "361"...
Sie steht auf, murmelt irgendetwas entschuldigendes wie "hab einen anstrengenden Tag muss jetzt wirklich los, aber danke fürs Frühstück..." und taumelt aus dem Frühstücksraum.
Sie spürt die Blicke aller in ihrem Rücken...
INNEN. HOTELFAHRSTUHL / GANG - TAG 10 10
... Ellen versucht die seltsamen Bilder und Buchstaben in dem Fahrstuhl zu entziffern. Ein Bild zeigt eine alte Burg auf einem Hügel.
ELLEN
Wo bist du, Burg?
Der Fahrstuhl öffnet sich und sie schlendert raus in den dunklen Gang.
Ellen stolpert irritiert in den schmalen Gang, der ins dunkle Nichts zu führen scheint...
ELLEN (CONT’D)
Ich verweigere die Existenz dieses Hotels in seiner gegenwärtigen Form...
Sie kämpft sich den Gang runter... *
INNEN. HOTELZIMMER - TAG 11 11
Ellen betritt das Hotelzimmer. Es ist in einem Zustand, der auf eine wilde Nacht schliessen lässt.
Sie setzt sich auf das zerwühlte Bett. Mustert skeptisch die Spermaflecken auf der Matratze.
Greift zum Telefon, wählt die "9" für Rezeption. Eine Stimme meldet sich und spricht leise irgendetwas unverständliches...
ELLEN
... Yes, äh... Sorry, but... where am I?... Where...? Lithuania...?!
Pink (mm/dd/yyyy) 10.
ELLEN (CONT’D)
Why?!... Sorry, forget it... Where is my... No, forget that also... What? Check-out is now...?... But it is only 9... something... Oh... 11...?
Ellen starrt überfordert in das Chaos um sie herum. Auf dem Nachttisch liegt ein Flugticket nach Hamburg, sie steckt es erleichtert ein.
ELLEN (CONT’D)
(in den leeren Raum) Danke, Arschloch!
Ihr Handy klingelt, sie kramt es aus der Hosentasche...
... "THE MOTHER" steht auf dem Display. Ellen starrt drauf, steckt es dann wieder ein.
INNEN. FLUGHAFEN LITAUEN - TAG 12 12
Ellen torkelt über einen modernen Flughafen durch den Duty Free Bereich, sie isst einen Chickenwrap.
Menschen kaufen Zeug aller Art in den zahllosen shops.
Ellen hört ihre mailbox ab. Als sie Tom hört, der über ihre Mutter spricht, legt sie sofort auf.
Sie setzt sich auf eine Wartebank neben ein müdes, junges Pärchen, kaut an ihrem Wrap...
Das Pärchen streitet leise auf deutsch miteinander, Ellen kann nicht anders, als Fetzen mitzubekommen...
PAAR
... Riga ist einfach das neue Berlin... Mal was anderes als nur * Sex, echt jetzt... Die Menschen hier * haben doch ganz andere Probleme... Man muss aufhören, sich essen zu lassen, wenn es am besten schmeckt...
Oh, Gott, denkt Ellen, jetzt bitte nicht auch noch ein philosophierendes Berliner Hipsterpaar. Auf den Flughafenmonitoren laufen Bilder vom Krieg, irgendwo auf der Welt ist ja immer Krieg.
Ellen findet, dass das alles eindeutig zu viel für ihren jetzt schon wieder erschreckend nüchternen Magen ist.
Sie steht auf und kauft eine Flasche Wodka in einem DutyFree-Store... Verschwindet damit in der Toilette.
Nimmt dort in einer Kabine einen kräftigen Schluck direkt aus der Flasche. *
INNEN. FLUGZEUG - TAG 13 13
Ellen sitzt in einem startenden Billigflieger, als die Flugbegleiterin sie - wohl nicht zum ersten Mal - genervt auffordert, sich anzuschnallen.
Sie ist dazu kaum in der Lage, zu betrunken, ihr ist schwindlig. Ihr Handy KLINGELT in ihrer Hosentasche. Die neben ihr Sitzenden sehen sie böse an. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen, lässt es klingeln...
INNEN. WOHNUNG LISSY - TAG 14 14
... LISSY, jetzt Ende 60, nur mit einem Nachthemd bekleidet, liegt leicht verdreht auf dem Boden in ihrem Hausflur, hat das Handy in der Hand, auf dessen Display “ELLEN” steht und jetzt verlöscht. Sie atmet schwer. Wässrige, schmutzige Schleifspuren (Kot?) ziehen sich aus dem offen stehendem Badezimmer bis zu ihr. Sie hat sich bis hierher geschleppt. Jetzt kann sie nicht mehr.
Es ist still. Nur ihr Atmen ist laut.
Stimmen im Garten. Lissy wendet den Kopf, sieht durch die Scheiben draußen schemenhaft Menschen... GERD, jetzt 70, der unten rum nackt ist... Eine Nachbarin, SUSANNE (65) klopft an die offen stehende Tür...
SUSANNE Hallo...?!
LISSY Ich bin hier...
Susanne kommt in den Flur, sieht Lissy da liegen, weiß nicht, was sie tun soll...
SUSANNE (CONT’D)
Ihr Mann hat schon wieder bei mir geklingelt...
... Ich habe ihn nicht verstanden...
... Aber er hatte keine Hose an und ich hab mir Sorgen...
... Kann ich ihnen helfen...?
LISSY (CONT’D)
Gerd wollte Hilfe holen...
... Ich hab ihm gesagt, er soll das nicht, aber...
... Uns geht es...
... Nein, müssen sie nicht, ich...
Sie wehrt Susanne ab, die sich jetzt runterbeugt um ihr hoch zu helfen...
LISSY (CONT’D)
Nein... Ich muss noch kurz ausruhen...
SUSANNE (CONT’D) ... Meinetwegen.
Stille. Das Atmen. Susanne sieht das Handy in Lissys Hand.
SUSANNE (CONT’D)
Haben Sie einen Arzt gerufen?
LISSY
Ja.
Die Nachbarin sieht sie skeptisch an. Na gut. Ein Arzt wird kommen und sich um alles kümmern. Zeit, zu gehen.
Hinter ihr taucht Gerd auf, er schlurft durch den Flur ins Bad. Sieht weder seine Frau, noch die Nachbarin.
Lissy... ?!
GERD
LISSY
Ich bin hier, Gerd...
Aber er scheint sie nicht zu hören. Verschwindet im Bad und schließt die Tür hinter sich.
Lissy und die Nachbarin sehen sich stumm an.
SUSANNE
Das geht aber auch nicht mehr lange so weiter, Frau Lunies...?
... Oder?
LISSY (CONT’D)
Danke, wir kommen klar...
Danke...
Die Nachbarin steht langsam auf. Und geht. Schließt die Tür hinter sich.
Lissy hört Geräusche im Bad.
Sie richtet sich auf, kommt auf alle viere, es kostet sie wahnsinnig viel Kraft.
Sie geht ins Bad, wo Gerd im Hemd unter der Dusche steht und sie gerade anstellen will, aber Lissy kann es verhindern.
LISSY (CONT’D)
Was soll das denn, Gerdi? Du willst doch jetzt garnicht duschen!
GERD
Wir müssen doch los...
Sein krächzende Stimme ist kaum zu verstehen.
LISSY
Los?! Wohin denn?! Jetzt komm da raus, du machst doch alles nass!
Er lässt sich von ihr aus der Dusche ziehen.
Lissy bringt ihn in die Küche, sie stolpern beide mehr, als dass sie gehen.
Schliesslich sitzt er am Tisch.
LISSY (CONT’D)
Willst du was trinken? Hast du deine Tabletten genommen?
GERD
Ja...
Er deutet auf ein Tablett mit verschiedenen Fächern, die nach Tagen beschriftet sind. In jedem Fach liegen verschiedene Tabletten in verschiedenen Farben und Formen. Einige Tabletten liegen aber auch daneben... Und einige auf dem Boden.
Er zwinkert ihr lächelnd zu, als hätte er irgendetwas cleveres gemacht. Sein Schalk ist immer noch da. Nur kommt er aus der Leere und geht in die Leere.
Lissy hebt die Tabletten unter Schmerzen auf. Hat keine Ahnung, welche Tablette in welches Fach gehört. Wirft sie einfach irgendwo rein. Währenddessen verlässt Gerd die Küche.
GERD (CONT’D) (ruft ins Wohnzimmer) Lissy...? Wo bist du denn...?
Lissy schüttelt erschöpft den Kopf. Ihr HANDY klingelt. Sie geht ran.
Hallo Tom...
LISSY
(unterschnitten mit:)
INNEN. WOHNUNG LIV - TAG 15 15
... Tom steht beim telefonieren im Flur. Im Schlafzimmer kümmert sich Moritz um Liv und das Baby. In der Küche macht Esther etwas zu Essen für alle. Aus dem Wohnzimmer beobachtet der Hund Tom.
TOM
... Hallo Mama, entschuldige, es ist grad sehr viel los bei mir, ähm... wie geht es euch? Hat Ellen sich gemeldet?
LISSY
Papa geht es nicht gut. Er rennt ständig raus ohne sich was anzuziehen. Ich kann nichts dagegen machen. Er hört nicht auf mich.
TOM
Mhm, ist es schlimmer geworden...?
LISSY
Viel schlimmer.
TOM
Scheisse. Okay... Bei mir ist grad echt... Livs Baby ist da...
LISSY
Mhm... Geht es ihr gut? Und dem Baby?
TOM
Ja... ja... allen geht es gut. Ich war dabei. Ich habs zur Welt gebracht!
Moritz hat das gehört, sollte er vielleicht auch. Die beiden Männer sehen sich an.
LISSY
Ja... Schade, dass es nicht dein Kind ist...
... Seid ihr denn jetzt wieder zusammen?
... Und kann sie den richtigen Vater immer noch nicht leiden?
... Entschuldigung, Tom, ich wollte nicht... Aber das ist ja auch alles nicht schön, oder?
TOM (CONT’D)
... Mama, das... ist doch...
... Wir sind seid 10 Jahren nicht mehr zusammen, das...
... Okay, Mama, kann ich dir irgendwie...
Er atmet tief durch. Der nächste Satz fällt ihm ungeheuer schwer...
TOM (CONT’D)
... Mama, soll ich kommen?
LISSY
Geht das denn? Musst du nicht arbeiten?
TOM
Ich muss immer arbeiten. Aber... lass mich mal... Ich muss hier ein paar Sachen klären, dann ruf ich dich wieder an, ja?... Ich ruf dich morgen, spätestens übermorgen an und dann machen wir was aus, ja?
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LISSY
Ja, gut, Tom, das machen wir. Danke, dass du angerufen hast...
... Ja, machs gut, Tom!
Ja... Machs gut!
TOM (CONT’D)
Klar, ich melde mich, ja, Mama?
... Ja, bis morgen...
... Du auch, Mama. Bis morgen!
Er legt auf. Atmet tief durch. Das Telefonat hat ihn ungeheuer angestrengt. Esther beobachtet ihn aus der Küche.
TOM (CONT’D) (zu Esther)
Ich hasse es, wenn sie sich immer so verabschiedet, als wäre das hier unser letztes Telefonat. Als würden wir nie wieder miteinander sprechen.
Esther hält ihm eine Schüssel mit einem gesunden, veganen Porridge hin.
Er nimmt es, isst. Im Schlafzimmer wickelt Moritz das Baby. Liv schläft.
ESTHER
Bleibst du heute Nacht hier? Liv will ja nicht, dass Moritz...
Er nickt müde.
ESTHER (CONT’D) Schön.
Nachts liegen Tom und Liv schlafend im Bett, zwischen ihnen liegt das Baby an Livs Brust.
Tom wacht auf, starrt an die Decke. Steht dann leise auf und geht...
INT.
... Tom kommt im Morgengrauen in seine große Altbauwohnung, die in einem störrischen Zustand ist. Als wollte sie jedem Eindringling mitteilen: “Ja, er wohnt zwar schon seit 20 Jahren hier, aber er kann auch jederzeit woanders von vorn anfangen!”
Er ist zu aufgedreht, um zu schlafen. Setzt sich ans Klavier und spielt ein paar Takte aus “STERBEN” (Bernards
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Komposition vom Anfang). Summt sie zweifelnd vor sich hin, spielt sie nochmal, anders...
Ronja, die Assistentin aus der Probe, taucht verschlafen im Slip neben ihm auf.
RONJA
Guten Morgen...
TOM (überrascht)
Oh, ich wusste nicht, dass du hier bist...
RONJA
Ja, ich hab hier geschlafen weil bei mir heute Morgen die Handwerker sind... Ist okay?
TOM
Klar!
RONJA
Ich muss auch gleich los... Wie war die Geburt? *
TOM
Unbeschreiblich. Es war... erzähl ich dir später, ja?
RONJA
Unbedingt.
Sie geht den Flur runter in Richtung Bad. Tom sieht ihr nach. Sie ist schön, wundervoll, aber sie ist kein “Star”. Und sie will auch keiner sein. Das macht sie für Tom so angenehm im Umgang.
TOM (ruft ihr nach) Oder wollen wir noch kurz...?
Ronja dreht sich um, er lächelt sie an. Ronja denkt über den Vorschlag nach...
RONJA
Yoah... Könnten wir...
TOM
Muss auch nicht sein...
RONJA
Hm...
Sie lächeln sich vage an und beschliessen dann in freundlichem Einvernehmen, dass es jetzt wirklich nicht sein muss, aber überhaupt kein Problem ist.
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Ronja verschwindet im Bad, Tom arbeitet weiter am Klavier.
AUSSEN. HAMBURG - VOR ZAHNARZTPRAXIS - TAG
Ellen geht am Morgen durch St. Georg, das Hamburger Bahnhofsviertel, das man wahlweise heruntergekommen oder auf morbide Weise romantisch finden kann. Junkies, die sich mitten auf dem Gehweg die Spritze setzen. Prostituierte drücken sich noch immer mit ihren Zuhälter in Eckkneipen rum, obwohl die Gentrifizierung ihnen das Leben schwer macht.
Ellen verschwindet in einem Eingang mit einem etwas verwitterten “ZAHNARZT”-Schild an der Tür.
INNEN. ZAHNARZTPRAXIS/TECHNIKRAUM - TAG
Ellen reinigt Zahnarztutensilien im Technikraum der Zahnarztpraxis.
Neben ihr sind zwei weitere, jüngere ZAHNARZTHELFERINNEN beschäftigt und unterhalten sich leise.
Ellen hört ihren Kolleginnen zu...
ZAHNARZTHELFERINNEN
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... Er ist doch noch in der Probezeit... Der bleibt! Die Patientinnen lieben ihn... Kein Wunder... Dieses LÄCHELN! (Teenager- * Kichern)... Hat er denn nun eine Wohnung hier?... Ich hab gehört, er fährt immer noch am Wochenende nach München... Was macht er denn hier in dieser Praxis...?!... Muss doch irgendwie Dreck am Stecken haben... * Meinst du, er hat da Familie?...
Ellen mischt sich ein...
ELLEN
Er ist verheiratet. Und er hat 3 schwerbehinderte Kinder. Am Wochenende besucht er aber immer seine Mutter im Knast...
Ellens Kolleginnen grinsen erst, dann entgleisen ihnen die Gesichtszüge. Hinter Ellen ist SEBASTIAN (48), ein auf etwas schludrige Art attraktiver Zahnarzt, aufgetaucht, was Ellen nicht bemerkt. Er hört ihr interessiert zu...
ELLEN (CONT’D)
... Die hat nämlich im Wahn seine * Geschwister massakriert, war son’n * schwedisches Sektending... Ihn hat * sie nicht erwischt, er ist übers
Pink (mm/dd/yyyy) 18.
ELLEN (CONT’D)
Dach entkommen. Aber daher hat er die kleine Narbe an seinem Kinn, an der er sich immer kratzt, ohne es zu merken, wenn er in Gedanken ist...
Sebastian zieht überrascht die Stirn zusammen: das wusste er garnicht. Er fasst sich instinktiv an die Narbe an seinem Kinn.
ELLEN (CONT’D) (drohend)
... Also, Finger weg! Der ist nix für euch!
Ellen bemerkt die Blicke ihrer Kolleginnen und dreht sich um. Sebastian sieht sie an. Beiden ist die Situation etwas unangenehm, ihm, weil er gelauscht hat, ihr, wegen dem, WAS er belauscht hat...
SEBASTIAN
Ellen, Dr. Kienzle sagt, Sie könnten kurz mal bei mir einspringen...? Ich hab Laura grad nach Hause geschickt, sie hat Magen-Darm...
ELLEN
Laura hat Probleme. Ich komme...
INNEN. ZAHNARZTPRAXIS/FOYER - CONTINOUS 20 20
Ellen folgt Sebastian durch die leicht modrige Praxis.
ELLEN (leise)
Entschuldigung, bin grad ein bisschen neben der Spur. Mein Vater... ist ziemlich krank...
Sebastian reagiert nicht. Vielleicht hat er sie nicht gehört.
ELLEN (CONT’D)
... Eigentlich... liegt er im sterben...
SEBASTIAN *
... Holen sie Herrn Breitkreuz doch schon mal rein, ich komme gleich...
ELLEN
... Klar, Sir. Mach ich, Sir. Breitkreuz, Sir.
Er sieht sie leicht irritiert an, dann verschwindet er im Gang. Ellen stöhnt leise und steckt dann den Kopf ins Wartezimmer. Dort sitzen Patienten, die den Querschnitt
dessen darstellen, was wir eben auf der Strasse gesehen haben.
DR. KIENZLE (50) geht etwas verschlafen an ihr vorbei.
ELLEN (CONT’D)
Guten Morgen, Chef!
DR. KIENZLE
IST es denn ein guter Morgen, Ellen?
Er sieht sie mit einer Art spöttischer Eindringlichkeit an. Ellen grinst und antwortet nicht, ihr Chef hat auch keine Antwort erwartet. Sie kennen und verstehen sich.
Ellen wendet sich ins Wartezimmer.
ELLEN
Herr Breitkreuz...?
INNEN. ZAHNARZTPRAXIS/BEHANDLUNGSZIMMER - TAG 21 21
Ellen und Sebastian über Herrn Breitkreuz gebeugt. Breitkreuz ist ein hagerer Junkie mit vergilbter Haut.
Sebastian ist am bohren, Ellen am saugen. Das schlabbern des Saugers vermischt sich mit dem fiesen Sirren des Bohrers.
SEBASTIAN (zu Breitkreuz)
So, jetzt an was schönes denken... Strand... Palmen... das blaue Meer...
Ellen betrachtet Breitkreuz, der still und panisch an die Decke starrt.
SEBASTIAN (CONT’D)
Das war nicht meine Mutter...
Ellen sieht ihn an. Er redet, während er sich auf den Mund von Breitkreuz konzentriert...
SEBASTIAN (CONT’D)
... Die Narbe mein ich. Das war eine Ex-Freundin. Sie hat mit einer Flasche nach mir geworfen.
ELLEN
Gabs nen guten Grund?
SEBASTIAN
Ich war 16. Da gibts immer Gründe mit ner Flasche nach einem zu werfen, oder?
ELLEN
Was für ne Flasche?
Er sieht kurz hoch zu ihr.
SEBASTIAN
Wie bitte...?
ELLEN
Was das für ne Flasche war, die sie geworfen hat.
SEBASTIAN
Moskovskaja, russischer Direktimport. Leer...
Er muss jetzt tiefer bohren. Breitkreuz stöhnt. Ellen sieht Sebastian verliebt an.
SPÄTER:
Sebastian verabschiedet Breitkreuz, während Ellen aufräumt. Als sie allein sind, beobachtet Sebastian Ellen, während sie putzt. Sie spürt seinen Blick.
SEBASTIAN (CONT’D)
Schlimm...? Ihr Vater mein ich...
ELLEN
Oh... danke. Ja, er hat Parkinson... Also, daran wird er jetzt nicht sterben, nicht direkt... aber es gibt natürlich... Begleiterscheinungen...
Sie stockt.
SEBASTIAN
Tut mir leid. Wenn ich was für Sie tun kann, dann...
ELLEN (schnell)
... Ja, sie könnten heute abend mit mir was trinken gehen. Morgen muss ich da hin, hab ich versprochen. Der Prüfer von der Krankenkasse kommt und sie brauchen Unterstützung, ist sonst keiner da... Meine Mutter fand immer, Freundschaft wird generell überbewertet...
Sie dreht sich zu Sebastian um, der sichtlich zögert.
ELLEN (CONT’D)
... Ich verspreche, nicht mit leeren Wodkaflaschen zu werfen.
Pink (mm/dd/yyyy)
ELLEN (CONT’D)
Allerdings... Wenn ich ne Tequilaflasche in die Hand kriege...
Sie lächelt ihn an. Hofft inständig, dass er zurück lächelt. Er tut ihr den Gefallen.
22
INNEN. HAMBURG - BAR - NACHT
22
Ellen und Sebastian kommen in ein altes Etablissment, halb * Bar, halb Kneipe. Viele Sessel, aber das interessiert *
Ellen nicht. Sie setzt sich an den Tresen, als käme etwas * anderes garnicht in Frage. Sebastian setzt sich neben sie.
Der Barkeeper nickt Ellen grüssend zu. Sie kennen sich, was Ellen jetzt aber nicht betonen will.
ELLEN (zu Sebastian)
Okay, Wein? Oder was richtiges?...
... Ja, ich will auch nicht völlig neben der Spur sein... also Wein!
SEBASTIAN
Ich hab morgen früh eine nicht ganz einfache OP...
Ellen beobachtet Sebastian, der sichtlich mit sich ringt. Ellen gefällt das.
ELLEN (CONT’D)
Okay, ich hab gelogen, ich WILL morgen möglichst VÖLLIG neben der Spur sein...
Der Barkeeper legt die Karte vor sie auf den Tresen, aber Ellen bestellt sofort...
ELLEN (CONT’D)
Zwei sehr trockene Martinis, für * mich mit Lemon Twist. Herr Doktor...?
SEBASTIAN
... Olive.
Der Barkeeper packt die Karten wieder ein. Die beiden lehnen sich zurück.
SEBASTIAN (CONT’D)
Einen!... Ich darfs nicht übertreiben...
ELLEN
Einen!... Ich pass auf Sie auf...
Die Stimmung zwischen ihnen ist leicht angespannt, fremd, sie fühlen sich nicht wohl in ihrer Haut.
Dann kommen die Drinks... Sie lassen beide den eiskalten Gin die Kehle runterlaufen.
Ellens Gesichtszüge lösen sich schon nach wenigen Sekunden. Die Anspannung löst sich und macht einem wohligen Selbstbewusstsein Platz... Es ist ein herrlicher * Moment.
Sie sieht Sebastian mit blitzenden Augen an.
ELLEN (CONT’D)
Ich liebe den ersten Schluck! Wenn der Gin die Kehle runter läuft... Wie flüssiges Eis!
Sebastian nickt. Er weiss genau, was sie meint.
SPÄTER:
Sie sind betrunken. Es geht ihnen gut. Die Bar hat sich kaum gefüllt, es ist Montag.
Ein Song läuft: Bill Fay, "Garden Song". Ellen singt mit, Sebastian hört ihr zu...
ELLEN (CONT’D)
"I'm planting myself in the garden... Believe me... Between the potatoes and parsley
... Believe me...
... And I'll wait for the rain to anoint me...
... And the frost to awaken my soul...
... I'm looking for lasting relations...
... With a greenfly, spider or maggot..."
SEBASTIAN
Das ist schön, kenn ich nicht.
ELLEN
Bill Fay, Garden Song. Von 1970, ist damals völlig untergegangen. Dann hats 30 Jahre später jemand wieder ausgegraben. Bill arbeitete inzwischen als Erntehelfer, Gärtner, Putzmann, in der Fischabteilung eines Supermarkts... (singt mit) "Tell me something I don't know..."
SEBASTIAN
Du hast ne schöne Stimme...
Ellen winkt ab.
SEBASTIAN (CONT’D)
... Doch, wirklich. Mal überlegt, Musik zu machen?
...Dirigent, wow!
... Zahnarzt...
ELLEN
Mein Bruder ist Dirigent...
... Ja, genau WOW! Das fanden immer alle WOW! Deshalb hab ich mir überlegt, ich mach das am wenigsten WOW-mässige, was mir einfällt. Irgendwas, was alle HASSEN...
... Genau... Nur ohne “Arzt”...
Sie leeren ihre Drinks. Sehen sich zögernd an - und bestellen eine weitere Runde...
SPÄTER:
Sind sind jetzt sehr betrunken. Und sehr gut drauf. Sie sind die letzten in der Bar. Dem Barkeeper ist das netter Weise egal. Er sitzt hinten und liest in seinem Laptop.
ELLEN (CONT’D)
... Du bist perfekt...
Nee, warte, lass mich mal...
Alle, ALLE in der Praxis...
Klar hast du’n dunkles Geheimnis. JEDER den Kienzle in seiner Praxis des Grauens einstellt, hat’n Geheimnis...
Wo hast ihn kennengelernt? AA?...?
Okay: Was ist dein DUNKLES Geheimnis...?
SEBASTIAN (CONT’D)
Shut up...
Shut UP!...
Weil keiner mein Geheimnis kennt, mein DUNKLES Geheimnis...
... Und was ist dein...
... Nee, sowas brauch ich nicht...
Er schüttelt den Kopf, plötzlich packt Ellen ihn heftig, Sebastian rutscht überrascht vom Hocker... Schlägt dabei mit dem Kinn auf dem Tresen auf, schreit auf.
Er liegt am Boden, Ellen hockt sich neben ihn.
ELLEN (CONT’D) Tschuldigung!
Sebastian greift sich in seinen Mund, aus dem er blutet.
ELLEN (CONT’D) Was jetzt...? Zahn...?
23
SEBASTIAN
Der war eh schon kaputt... Der muss jetzt raus!
ELLEN
Was? Hier?
SEBASTIAN
Klar! Ich brauch nur ne fähige Assistenz...
ELLEN
Kein Problem!
Ellen hilft Sebastian hoch, winkt den Barmann zu sich.
ELLEN (CONT’D)
Rolf, wir brauchen mal kurz deine Küche... INNEN.
In der kleinen Küche der Bar räumen die beiden Betrunkenen rabiat alles beiseite, platzieren einen Stuhl in der Mitte.
Sebastian findet unter dem Kochbesteck alles, was er braucht. Messer, Käsehobel, Sparschäler, etc.
Er setzt sich, Ellen legt die “Instrumente” neben sich zurecht, nachdem sie sie mit Alkohol aus der Wodkaflasche gereinigt hat.
Sie hält Sebastian einen Spiegel vor den Mund... Reicht ihm die Instrumente an... Er fuhrwerkt in seinem Mund herum... Blut fliesst... Er stöhnt.
Und holt sich schliessend einen blutigen Zahn aus dem Mund. Triumphierend hält er ihn hoch, grinst Ellen an.
Ellen küsst ihn auf seinen blutverschmierten Mund. Er küsst sie gierig zurück...
23
... Ellen und Sebastian kommen in ihre Wohnung... Nach einer kurzen Führung durch die unspektakulären 2 Zimmer, Küche, Bad, landen sie im Bett und haben spektakulär guten Sex...
25 25
INNEN.
... Draußen vor dem Fenster beginnt in Altona langsam der Tag.
26
Sebastian weckt Ellen vorsichtig. Die ist völlig hinüber und kriegt kaum die Augen auf.
SEBASTIAN
Hey... Guten Morgen, Sunshine! Deine Eltern warten...
ELLEN (kaum hörbar)
Lass ich ausfallen...
SEBASTIAN
Du fährst wohl nicht gern zu deinen Eltern...?
ELLEN
Wer fährt schon gern zu den Eltern...
SEBASTIAN
Ich mag meine Eltern... Zumindest meine Mutter...
ELLEN
Das spricht jetzt auch nicht nur für dich...
SEBASTIAN
Hey! Nichts gegen meine Mutter!
Er lächelt und küsst sie. Sie dreht sich grunzend weg und vergräbt das Gesicht im Kissen.
AUSSEN. HANSTEDT - TAG
Lissy kommt mit einer vollen Einkaufstüte aus dem Supermarkt und reagiert, als sie eine Autohupe hört.
Gerd sitzt hinterm Steuer eines Honda Civic auf dem Parkplatz und winkt ihr zu. Sie geht überrascht zu ihm.
LISSY
Gerdi, du sollst doch nicht mehr fahren!
GERD (lächelnd)
Ich dachte, ich dreh nochmal ne Runde.
Lissy sieht seine zitternden Hände die ziellos übers Lenkrad wandern.
LISSY
Na komm, rutsch mal rüber!
26
27
Gerd klettert mühsam rüber auf den Beifahrersitz, Lissy klettert ebenso mühsam auf den Fahrersitz.
Danach fahren sie langsam los. Es ist offensichtlich, dass Lissy sehr schlecht sieht. Deshalb muss Gerd das für sie übernehmen.
An der Ausfahrt vom Parkplatz zur Strasse sagt er deshalb:
GERD
Jetzt langsam... Von rechts kommt ein Fahhradfahrer... Jetzt noch ein Smart von links... So, jetzt kannst du...
Lissy tut, was er sagt. So fahren sie im Schneckentempo durch die Kleinstadt. Gerd hat die - halbwegs - gesunden Augen, Lissy die - halbwegs - stabilen Gliedmassen.
Als ein Kind über die Strasse rennt, weist sie Gerd schnell daraufhin hin und Lissy tritt so heftig auf die Bremse, dass beide nach vorn kippen.
Danach fahren sie einfach weiter nach Hause.
Sie erreichen ihr Mietshaus, dreistöckige Reihenhäuser in einer ruhigen Seitenstrasse, parken den Honda in der Garage und gehen dann sehr langsam ins Haus...
INNEN. HANSTEDT / WOHNUNG LISSY - TAG
27
... Als sie in die Wohnung kommen, sieht Lissy, was Gerd in ihrer Abwesenheit im Wohnzimmer getrieben hat. Er ist mitten drin, die bisher weißen Wände neu zu streichen. In bunt. *
Lissy schleppt sich zum Sofa, das Zimmer wurde nur notdürftig mit Zeitungspapier abgedeckt. Überall ist schon Farbe auf den Boden getropft.
LISSY
Gerdi, was machst du denn...?
Er grinst sie schelmisch an.
GERD
Der Mann von der Krankenkasse wird sich wundern...
Lissy sitzt da und sieht verspannt der Farbe beim trocknen zu.
INNEN. HANSTEDT - WOHNUNG LISSY - TAG 28 28
Später. Es klingelt an der Tür, Lissy macht auf. Vor der Tür steht der PRÜFER VON DER KRANKENKASSE (40), daneben
ihre Nachbarin Susanne, die dem Mann neugierig über die Schulter guckt.
PRÜFER
Guten Tag, Frau Lunies! Na, wie gehts heute...?
LISSY
Ganz gut, kommen Sie rein...
SUSANNE
Soll ich auch reinkommen? Kaffee machen?
LISSY
Ach, das geht schon...
Aber Susanne hat sich mit dem Prüfer in die Wohnung gedrängelt und geht schnurstracks in die Küche. Lissy folgt ihr irritiert.
LISSY (CONT’D)
Ich kann mich schon selbst um den Besuch kümmern...
SUSANNE (verschwörerisch)
Das ist kein Besuch, Frau Lunies! Das ist ein Mann von der Krankenkasse. Und der kommt jetzt schon zum wievielten Mal...?
LISSY
... Zum dritten Mal...
SUSANNE
... Dann begreifen Sie doch bitte, dass sie einen schlechten und keinen guten Eindruck machen müssen, wenn Sie mehr Geld wollen. Und Sie brauchen mehr Geld!... Was ist das denn...?
Sie sieht erstaunt über Lissys Schulter ins Wohnzimmer, wo der Prüfer sich zwischen den Farbeimern grad einen Weg zum Sofa bahnt.
LISSY
Gerd streicht das Wohnzimmer neu.
SUSANNE
Wollte ihre Tochter nicht heute dazu kommen? Und ihnen ein bisschen unter die Arme greifen?
Lissy zuckt die Achseln, geht ins Wohnzimmer.
SPÄTER:
Lissy, Gerd und der Prüfer sitzen zusammen im Wohnzimmer, jeder eine Tasse Kaffee vor sich. Die Wände sind völlig chaotisch und nur halb fertig gestrichen.
Der Prüfer ignoriert das. Er hat Unterlagen vor sich ausgebreitet und trägt Zahlen in Tabellen ein.
In der Tür zum Flur steht Susanne angelehnt und hört zu.
PRÜFER
... Und wie lange für die Körperpflege jeden Tag?
LISSY
Vielleicht... eine halbe Stunde... Oder eine Stunde...
SUSANNE
Herr Lunies kann nicht mehr alleine duschen. Beide eigentlich nicht, oder, Frau Lunies?
Der Prüfer ignoriert Susanne weitgehend während des ganzen Gesprächs. Lissy nickt. Gerd sagt nichts. Er wirkt völlig in sich versunken, man hat nicht das Gefühl, das er etwas von dem Gespräch mitbekommt.
PRÜFER
Eher eine halbe oder eine ganze Stunde?
Lissy zuckt mit den Achseln.
PRÜFER (CONT’D)
Dann trage ich mal 45 Minuten ein... Sie gehen aber allein auf Toilette, oder?
LISSY
Ja.
Susanne sieht sie mit hochgezogenen Augen an, gibt einen missmutigen Laut von sich. Lissy ärgert das. Der Prüfer sieht Lissy fragend an.
LISSY (CONT’D)
Ja! Und ich brauche dafür im Durchschnitt 2 Minuten wenn ich Klein muss und 8 Minuten wenn ich Groß muss.
Der Prüfer trägt die Daten ein. Susanne schüttelt seufzend den Kopf.
PRÜFER
Es tut mir leid, aber ich sehe schon, es wird wieder nicht reichen für eine Erhöhung der Pflegestufe...
LISSY
... Es ist schlimmer geworden. Ich... ich brauche Hilfe...
PRÜFER
... Die bekommen Sie ja auch von uns schon jetzt. Immerhin 364 Euro im Monat. Aber für eine Erhöhung müsste der Bedarf höher sein... Ich muss ja auch noch eine gewisse Toleranz abziehen...
LISSY
Was für eine “Toleranz”...?
... Sie meinen, ich lüge...?
... “Individuell” heisst Lüge...
PRÜFER (CONT’D)
Die Versicherten neigen in solchen Gesprächen natürlich dazu, ihr Leiden etwas verstärkt darzustellen, was ja auch...
... Nein, natürlich nicht, aber jede Wahrnehmung ist individuell...
... Das habe ich nicht gesagt und ich muss Sie bitten, sich jetzt nicht aufzuregen, Frau...
Der Prüfer sucht in seinen Unterlagen nach dem Namen Lissys...
SUSANNE
(zum Prüfer)
“Lunies” heissen die beiden... Wie naiv sind sie eigentlich?! Sehen Sie nicht, dass diese Frau genau das Gegensteil macht? Dass sie sich zusammenreisst, um einen guten Eindruck zu machen? Weil Sie sich schämt, dass sie sich jede Nacht in die Hosen scheisst?
Der Prüfer sieht Lissy an. Lissy ärgert sich über die Bemerkung ihrer Nachbarin.
LISSY
Das stimmt doch garnicht, dass ich mir jede Nacht...
PRÜFER
Ist das so? Dass Sie sich zusammenreissen, für unsere Gespräche um einen guten Eindruck zu hinterlassen?
Lissy reagiert nicht.
SUSANNE
Natürlich ist das so!
29
PRÜFER
Ich frage, weil, nach unserer Auffassung ist ein Mensch, der in der Lage ist, für andere einen “Guten Eindruck” herzustellen, eben auch grundsätzlich in der Lage, für sich selbst zu Sorgen.
Schweigen. Susanne bleibt vor Ärger die Spucke weg. Lissy fängt an zu zittern. Jetzt wird Gerd wach, betrachtet Susanne misstrauisch und spricht leise Lissy an.
GERD
Wann geht die Frau wieder, Lissy...?
LISSY
Gleich, Gerdi, gleich...
INNEN/AUSSEN. BERLIN - AUTO LIV - TAG
... Liv sitzt am Steuer, Tom bespasst hinten das Baby (JESSIE) im Maxicosi. Es ist jetzt schon etwa 2 Monate alt. Sie fahren eilig durch den morgendlichen Berufsverkehr.
Tom beobachtet die kleine Jessie distanziert, während er gleichzeitig versucht, sie zum Lachen zu bringen. Er will die Bestätigung, dass er es kann. Es gelingt ihm nur so la la... Jessie sieht skeptisch zurück. Tom fühlt sich durchschaut.
TOM
Das mach ich nicht!
... Hä? Du kannst doch nicht zu deiner eigenen "Babyshower" nicht nicht kommen?!
... Ja, SEIN Kind, bei SEINER Familie und SEINEN Freunden!
LIV
... Dann komm ich auch nicht!
... Das ist nicht meine, sondern Moritz’ Idee! ER will das Kind bei Familie und Freunden einführen!
Das Baby greint, Tom hält es mit Babysprache halbwegs bei Laune.
29
LIV (CONT’D)
Meine Freunde und Familie kommen auch...
... Du hast keine Freunde! Und eigentlich auch keine Familie, oder?...
... Tschuldigung... Aber wann hast du deine Eltern das letzte Mal gesehen?
TOM (CONT’D)
Meine aber nicht...
... Was soll das denn jetzt?!
... Ich weiss, nicht, was das jetzt soll?!
Liv verstummt. Tom spricht leise mit dem Baby, das trotzdem anfängt zu schreien.
TOM (CONT’D)
Ich habs dir gesagt, du hättest ihr erst noch die Brust geben sollen...
... Ja ja, schon gut. Hast ja recht...
LIV (CONT’D)
Dann hättest du deine Probe verpasst... Du, entschuldigung!
Sie nähern sich der Philharmonie...
AUSSEN. BERLIN - VOR PROBERAUM - TAG 30 30 *
... Liv hält direkt vor der ehemaligen Kirche, in der sich * der Proberaum befindet. Tom steigt aus. Sie verabschieden * sich durch das Fahrerfenster.
LIV
Ich wünsch euch viel Erfolg...
Sei nett zu Bernard!
Kommst du am Sonntag?... Bitte! Es ist auch dein Kind...
Du weisst, was ich meine! Du musst dich mal entscheiden, was du willst!
(hat ihn nicht verstanden) Wie bitte...?
TOM Ja...
Bin ich immer...
Ach ja...?
Ich muss los... (leise) Ich wollte nur helfen...
Er rennt in Richtung Proberaum... Dann fällt ihm etwas * ein, er rennt zurück zum Auto.
TOM (CONT’D)
Liv...!
Und sag mir gleich bescheid... Nach der Untersuchung...
... Klar...
... Trotzdem, ja?
LIV (CONT’D)
Ja...
Da wird nix sein... Der Arzt hat gesagt, es ist nur zur Sicherheit...
Mach ich!
Er sieht zum Baby und versucht noch ein letztes Mal, es zum Lachen zu bringen. Es gelingt ihm nicht.
INNEN. PROBERAUM - TAG 31 31
Tom arbeitet vom Pult aus mit dem Orchester. Er arbeitet konzentriert und genau. Das Orchester folgt ihm aufmerksam. Man spürt, wie sehr sie ihn respektieren und schätzen. Er ist ein guter Dirigent.
(Genauer Dialog abhängig von Komposition.)
Diesmal sitzt Bernard direkt hinter ihm. Er ist sehr unglücklich mit der Probe.
Tom unterbricht das Orchester...
TOM
Yeah, pretty good, but from Takt 63 the strings have to echo the wood a bit stronger...
BERNARD (unterbricht)
... Sorry, Partner, aber ich fand das nicht "ganz gut". Oder, ja, es war vielleicht "ganz gut", aber wollen wir das, "ganz gut"?! The name of the composition is "STERBEN", not "MITTAGSPAUSE"! Thats how you are performing! As if you already having lunch!
Die Musiker verziehen sich in die innere Emigration.
TOM
Bernard, du übertreibst, lass mich mal bitte...
BERNARD (ist nicht zu stoppen)
... Sag, mal, äh, Javier... ja du!
JAVIER, (28) ein stolzer Latino mit Wuschelkopf an der 1. Violine, sieht hoch...
BERNARD (CONT’D)
Du you like my work??
TOM
Das ist doch jetzt völlig egal...
BERNARD
... Das ist mir überhaupt nicht egal! Jetzt komm schon, Javier, what are you thinking?! Don’t sit there like Orchesterzombies everybody! Whats your OPINION about this?!
Tom sieht Bernard, der jetzt erregt aufgesprungen ist, etwas besorgt von der Seite an...
JAVIER
I don’t like it very much.
BERNARD Aha. And why?
JAVIER
It sounds good. But it seems pointless to me. There is no hope. And it is way too long. I mean, nearly 2 hours for... this!? Really...?!
Tom beobachtet Bernard, der sichtlich getroffen ist von den harten, knappen Sätzen.
TOM
The hope lies in the fact, that we * are playing it, Javier. All of us together. In doing something together, experiencing the wonder of creating soemthing together, lies the only honest hope for an artist.
Javier sieht zu Boden. Er ist nicht überzeugt. Bernard dreht sich um und verlässt wortlos den Saal.
TOM (CONT’D)
Okay, again from Takt 56...
AUSSEN. BERLIN - VOR PROBERAUM/INVALIDENSTRASSE - TAG 32 32 *
Tom und Bernard kommen aus der Kirche, laufen durch den * Verkehr. Bernard gibt ein eiliges Tempo vor, Tom folgt ihm dicht auf. Während des Gesprächs überqueren sie Strassen ohne gross auf die Autos zu achten. Grossstädter beim walking and talking...
TOM
Bernard!... Partner!
Bernard reagiert nicht, läuft einfach weiter...
TOM (CONT’D)
Kannst du mal bitte stehen bleiben, Mann!
Bernard redet jetzt halb zu sich, halb zu Tom...
BERNARD
... Lass es uns einfach wegschmeissen... Schon dieser Titel: "STERBEN" So ein prätentiöser Scheiss!...
TOM
Den Sponsoren gefällts...
BERNARD
... Die Sponsoren! Ja, die wollen ein Stück über das Sterben im Gaza Streifen oder in Syrien oder in der * Ukraine oder wo auch immer... * Irgendwas ergreifendes, das du mit deinem Völkerverständigungsorchester tränendrüsenrührend hochkochen kannst... Stattdessen...
TOM
... Stattdessen was?! Stattdessen heisst dein Stück “sterben”, handelt aber eigentlich vom Leben angesichts des Todes. Ist doch toll.
Bernard verzieht schmerzhaft das Gesicht.
BERNARD
Warst du eigentlich immer schon so banal und ich habs 20 Jahre nicht gemerkt oder hat der Kulturbetrieb dich so verblödet, dass du mir jetzt mit solchen Kalendersprüchen kommst?
Tom packt ihn und zwingt ihn zum stehenbleiben.
TOM
Glaubst du, ich würd dein Stück machen, wenn ich es nicht gut finden würde?! Das wird auch mein erstes * Konzert in der Philharmonie!
Bernard sieht Tom verzweifelt an.
BERNARD
... Partner, in “sterben” ist alles, was ich hab. Mehr geht nicht. Und wenn das nicht reicht, dann hab ich sonst nichts... Ich hab nicht wie du jetzt'n Baby mit dem ich mir einen Sinn im Leben vorgaukeln kann...
TOM (CONT’D)
... Ich hab ein halbes Baby... Oder ein viertel... 'n achtel eigentlich...
Bernard bleibt stehen, fixiert Tom.
BERNARD (CONT’D)
Ich hoffe, du hast das Kleingedruckte in unserem Deal nicht vergessen...?
Tom verstummt. Bernards Blick lässt ihn nicht los.
Ein osteuropäischer, humpelnder Bettler will Geld von ihnen. Tom wühlt in seiner Hosentasche, während er weiter spricht.
TOM
Das war deine Schnapsidee der ich nie zugestimmt habe und...
BERNARD (CONT’D) (wütend)
Ach, Nein!? Jetzt erinnerst du dich auf einmal nicht mehr daran,ja...?! Was du mir versprochen hast?!
TOM (CONT’D)
'N Scheiß hab ich dir versprochen! Sowas kann man garnicht versprechen. Das ist... ja schon legal garnicht möglich...
Bernard schubst Tom heftig von sich weg. *
BERNARD
Die Premiere wird verschoben. Mindestens ein halbes Jahr! Das Stück ist noch nicht fertig.
TOM
Wir können nicht einfach...
Bernard verschwindet zwischen den Menschen. Tom sieht ihm verstört nach... Der Bettler hilft ihm hoch, Tom gibt ihm ein paar Münzen.
INNEN. WOHNUNG LIV - NACHT 33 33
In der Nacht schläft Tom bei Liv im Wohnzimmer auf dem Sofa, als er plötzlich geweckt wird.
Liv steht müde und erschöpft vor ihm, mit dem quengelnden Baby im Arm.
LIV
Kannst du sie mal nehmen? Sie beschwert sich die ganze Zeit, ich weiss nicht worüber... Ich muss morgen früh in den Laden, Kaffee rösten...
TOM
Klar, ich nehm sie...
Er steht auf und nimmt Liv das Baby ab. Liv verschwindet sofort zurück in ihr Schlafzimmer, macht die Tür hinter sich zu.
Tom trägt die kleine Jessie im Arm auf und ab durchs dunkle Zimmer. Sie windet sich. Er singt leise und beobachtet ihr rundes Babygesicht
Der Blick zwischen den beiden ist ernst. Als würden sie sich gegenseitig prüfend mustern. Sie streckt ihm ihre grossen Füße entgegen. Er knetet sie.
TOM (CONT’D)
Na, du Hobbit? Was denkst du, hm?
Jessie sieht ihn unverwandt an.
TOM (CONT’D)
Ja ja... Nicht soviel denken. * Einfach spielen. Hast ja recht.
Er muss lachen und singt leise weiter.
ABBLENDE...
EINBLENDUNG:
INNEN.
Ellen und Sebastian auf einem Rock-Konzert. (Am liebsten BLUMFELD mit “So lebe ich”.)
Die Musik zieht alle in dem ausverkauften Club in einen verschwitzten Tunnel aus Sound und Licht und Schweiss.
Ellen und Sebastian trinken abwechselnd aus einer Wodkaflasche. Sie küssen sich, streicheln sich, die Hände wandern über ihre verschwitzten Körper.
Jochen Distelmeyer singt...
JOCHEN DISTELMEYER
... So schlägt mein Herz... Es schlägt in mir... Stunde um Stunde... Es schlägt für sich... für dich und mich... Jede Sekunde... So lebe ich... einer von vielen... kein Einzelfall...
AUSSEN. HAMBURG - VOR CLUB/HINTERHOF - NACHT 35 35
Ellen und Sebastian torkeln beseelt aus dem Club. Laufen durch die Strassen, können kaum voneinander lassen.
Ellen zieht ihn in einen Hinterhof, wo sie sich gegenseitig soweit ausziehen, dass Sebastian von hinten in sie eindringen kann, während sie sich nach vorne über die abgestellten Fahrräder beugt.
Sie vögeln intensiv, aber nicht hektisch. Lassen sich Zeit... Bis beide kommen.
Schwer atmend rutschen sie ineinander verschränkt auf den Boden, als sie eine Stimme von oben hören...
MANN (OFF)
Das war aber schön!
Sie sehen hoch. Im 2. Stock beugt sich ein JUNGER MANN aus dem Fenster und lächelt sie an. Sie lächeln zurück.
ELLEN
Ja...
MANN Schöne Restnacht noch!
SEBASTIAN ... Fanden wir auch!
ELLEN Danke, dir auch! Und süße Träume!
Ellen und Sebastian rappeln sich auf und ziehen sich grinsend an.
INNEN. WOHNUNG ELLEN - NACHT 36 36
Mitten in der Nacht wacht Ellen auf, greift um sich, spürt Sebastian nicht neben sich... setzt sich auf.
Sebastian sitzt nackt auf einem Stuhl am Fenster. Sieht sie an.
ELLEN
Was ist los?
SEBASTIAN
Ich bin verheiratet. Hab zwei Kinder, 12 und 15. In München, also, in der Nähe von München... (sarkastisch) Im schönen Fürstenfeldbruck, um genau zu sein...
Ellen starrt ihn lange an. Sie ist natürlich immer noch betrunken.
ELLEN
Müssen wir jetzt darüber reden?
... Dann komm zurück ins Bett und schlaf...
SEBASTIAN (CONT’D)
Nein. Aber das geht jetzt schon seit Wochen mit uns und ich dachte...
Sie lässt sich nach hinten fallen. Er steht auf und kriecht neben sie ins Bett.
Ellen fängt leise an zu singen. Sie singt wirklich schön.
SEBASTIAN (CONT’D)
Ich liebe es, wenn du singst.
Nach einer Weile dreht sie sich zu ihm.
ELLEN
Seid ihr... eine glückliche Familie?
SEBASTIAN
Wäre ich dann hier...?
Sie drückt sich in ihn hinein. Sie schlafen miteinander... Als gäbe es kein Morgen.
INNEN/AUSSEN WOHNUNG LISSY / GARTEN / NACHBARWOHNUNG - 37 37 NACHT
Lissy liegt im Bett und schläft, neben ihr schläft Gerd.
Nach einer Weile hört Lissy plötzlich auf zu atmen... Eine Weile liegt sie ganz still da.
Dann schreckt sie hoch, atmet wieder, aber es fällt ihr schwer... Fasst sich an die Brust... Alles ist eng.
Sie versucht die Panik zu unterdrücken, aber es gelingt ihr kaum... Kann sich nur schwer bewegen.
Sie rüttelt an Gerd, der wird wach, sieht sich verwirrt um...
LISSY (kann kaum sprechen) Arzt, Gerd... Telefon...
Gerd steht verwirrt langsam auf...
GERD
Ja... ja...
Sie sieht, wie er aus dem Zimmer schlurft. Aber er geht nicht zum Telefon. Er geht auf die Toilette, schliesst die Tür hinter sich.
Lissy kriecht schliesslich zum Fenster über dem Bett und öffnet es...
... Ruft raus in die Nacht...
LISSY Hilfe!... (erst schwach, dann immer stärker) HILFE!
Bei der Nachbarin geht Licht an. Kurz darauf kommt Susanne im Bademantel durch den Garten ans Fenster...
SUSANNE
Was ist los?
... Können Sie mich reinlassen...? Wo ist ihr Mann?
... Gehen Sie beiseite!
LISSY (CONT’D)
Ich kriege keine Luft...
... Weiss nicht... Ich kann es...
Lissy kriecht beiseite, Susanne hangelt sich am Fenster hoch und schiebt sich mühsam durch das Fenster, bis sie schwer atmend neben Lissy im Bett landet.
Susanne krabbelt aus dem Bett, macht das Licht an und untersucht Lissy, die nach wie vor kaum Luft kriegt...
SUSANNE (CONT’D) Herzinfarkt...? Oder Schlaganfall...? Ich fahr Sie ins Krankenhaus... Ich hol schnell das Auto aus der Garage...
Sie verlässt das Zimmer. Lissy bleibt allein zurück. Sie will nicht ins Krankenhaus. Aber zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie Todesangst.
Gerd bleibt auf der Toilette versteckt.
38
INNEN.
Im Morgengrauen wacht Ellen auf. Irgendetwas fühlt sich seltsam an. Sie verzieht das Gesicht, aber im halbdunkeln können wir es kaum erkennen.
Sie dreht sich um. Sebastian schläft schnaufend neben ihr.
Mühsam klettert sie aus dem Bett und schleppt sich ins Badezimmer... schaltet das brutal helle Licht an und sieht mit einem Auge ihr Gesicht im Spiegel:
Das offene Auge blinzelt aus einer grünlich weiss aufgequollenen Masse hervor.
Sie stösst einen kleinen Schockschrei aus... Rennt aus dem Bad... Kämpft sich im Schlafzimmer in ihre Klamotten.
Sie sieht zu dem noch immer schlafenden Sebastian... Und verlässt dann, ohne ihn zu wecken, die Wohnung...
38
39
AUSSEN.
40
... Ellen drängelt sich durch die schlecht gelaunten Menschen auf dem Weg zur Arbeit... Sie weichen ihr aus, denn Ellen sieht aus wie der Elefantenmensch... INNEN.
... Ellen kommt in eine Arztpraxis, vorbei an den Wartenden, die sie erschreckt mustern, zum Empfang.
Die Schwester sieht weiter auf ihren Computer...
SCHWESTER
Ja...? Oh!
Jetzt hat sie hochgeguckt.
SCHWESTER (CONT’D)
Haben Sie einen Termin...?
ELLEN (vorwurfsvoll)
Nn...!
41
INNEN.
Der ARZT (45), ein gutaussehender Iraner, sieht sich Ellen, die vor ihm sitzt, erstaunt an.
ARZT
Was haben Sie denn angestellt?
39
40
41
ELLEN
Ch knn dn Mnd nch fmchn.
ARZT
Ja, das sehe ich auch...
ELLEN
KgrNNph...
ARZT
Ja ja... aber da muss ich wohl mal in ihre Kehle schauen...
Er holt einen kleinen Spachtel und eine winzige Taschenlampe und setzt sich direkt vor sie.
ELLEN
Wrd ds whtn?
ARZT
Könnte ein bisschen wehtun, ja...
Er greift ihr Kinn und führt den Spachtel in Ellens Mund.
ELLEN ScchAAH!
Ellen tritt den Arzt, der weicht mit einem schmerzhaften Gesichtsausdruck zurück.
ELLEN (CONT’D)
Tut mur luud...
ARZT
Kann ja sein, dass Ihnen das leid tut, aber ich glaube, dass ihre Kehle zu schwillt, verstehen Sie?
Er rutscht wieder zu ihr ran.
ARZT (CONT’D)
Deshalb muss ich da jetzt einen genaueren Blick reinwerfen. Also halten Sie still! Ich weiss selbst, dass es wehtut...
ELLEN Wsn Sni...
Er schiebt den Spatel in ihren Mund. Sie schreit auf.
ARZT
Gleich vorbei... Seltsam. So was * hatte ich noch nicht... Ist doch * auch ganz schön, oder? Wenn man was * besonderes ist...? *
42
INNEN. HANSTEDT - TREPPENHAUS - TAG
Die Nachbarin Susanne kommt die Treppe zu ihrer Wohnung hoch - und entdeckt Gerd, der dort hilflos vor ihrer Tür steht.
Er trägt nur ein schmutziges Hemd, unten rum ist er nackt.
SUSANNE
Herr Lunies! Sie sollten doch...
... Im Krankenhaus! Die haben wir doch ins Krankenhaus gebracht, weil sie einen Herzinfarkt...
... Doch, aber Sie sollten doch in der Wohnung warten...
... Kommen Sie mal mit!
GERD
Wo ist denn Lissy...?
... Krankenhaus...? Nein...
42
... Aber Lissy ist doch... ist doch...
Sie zieht den widerstrebenden Mann mit sich die Treppe runter.
GERD (CONT’D)
Ich muss mich doch um Lissy kümmern. Es geht ihr nicht so gut.
Ich weiss...
SUSANNE
Gerd bleibt stehen und sieht sie an.
GERD
Ich glaube, sie hatte einen Herzinfarkt.
SUSANNE
Ja, das stimmt. Sie hatte einen Herzinfarkt. Wollen wir jetzt erstmal runtergehen und etwas anziehen, Herr Lunies...?
Unglücklich lässt Gerd sich nach unten führen.
GERD
Deshalb muss ich mich jetzt um Lissy kümmern...
Lissy liegt im Krankenhaus im Bett eines Doppelzimmers. Neben ihr liegt ein schwer atmender, alter Mann. An seiner Seite sitzt eine ebenfalls alte Frau. Sie strickt.
Susanne kommt ins Zimmer, grüßt in den Raum und stellt sich zu Lissy ans Bett. Die beiden Frauen sehen sich still an.
SUSANNE
Gehts besser?
Bevor Lissy antworten kann, dringt ein dumpfer Laut aus Lissys Gesäß. Er hält etwa 4 Sekunden an. Was in einem stillen Zimmer ganz schön lang ist.
Lissy stöhnt hasserfüllt. Susanne betrachtet sie ruhig.
SUSANNE (CONT’D)
Nur Luft, oder doch was festes...?
Lissy reagiert nicht. Susanne setzt sich.
SUSANNE (CONT’D)
Das kommt von den Tabletten. Hatte meine Mutter auch.
LISSY
Wo ist Gerd?
SUSANNE
Wir haben ihn in ein Heim gebracht, direkt um die Ecke, beim roten Kreuz. Erstmal in Kurzzeitpflege. Hat sein eigenes Zimmer. Es geht ihm gut.
Lissy bezweifelt das, aber sie sagt nichts. Schliesst die Augen und würgt etwas.
SUSANNE (CONT’D)
Ist Ihnen schlecht?
Lissy nickt.
SUSANNE (CONT’D)
Kommt auch von den Medikamenten. War bei meiner Mutter auch so.
Lissy sieht Susanne aus schmalen Schlitzen an.
LISSY (leise)
Danke...
SUSANNE
Ich kann Ihnen helfen in Zukunft. Ich bin ja immer in der Nähe. Ich könnte jeden Tag dreimal nach Ihnen sehen und sie können mich natürlich jederzeit anrufen, wenn... Ich kann einkaufen, vielleicht auch putzen, und...
Lissy sieht sie prüfend an.
LISSY
Sind Sie denn Krankenschwester gewesen?
SUSANNE
Nein, Friseurin.
LISSY
Mhm... Dann können Sie mir ja wenigstens ab und zu mal die Haare machen.
SUSANNE
Ich kann es nicht ganz umsonst machen... Mein verstorbener Mann war selbstständig, er hat mir keine Witwenrente überlassen. Ich brauch nicht viel, aber...
Lissy hebt die Hand. Susanne versteht, sie ist still.
LISSY
5 Euro die Stunde.
SUSANNE
10.
LISSY 8.
SUSANNE
Es geht mir nicht ums Geld. Ich muss einfach... Na gut, 8.
Lissy nickt. Und legt sich dann erschöpft auf die Seite.
Sie sieht jetzt der strickenden Frau am Nachbarbett in ihr ruhiges Gesicht. Neben ihr röchelt ihr Mann, der sichtlich in den letzten Zügen liegt. Es ist ein Stilleben, eine seltsame Mischung aus Francis Bacon und Vermeer.
Lissy dreht sich zu Susanne, winkt sie zu sich. Susanne beugt sich zu ihr, so dass ihre Gesichter ganz nah beieinander sind.
Sie sprechen flüsternd.
44
LISSY
Die da drüben...
SUSANNE
Ja...?
LISSY
Das ist das schrecklichste, was ich je gesehen hab.
Susanne betrachtet das Ehepaar auf der anderen Seite des Raumes ohne sichtliche Wertung.
LISSY (CONT’D)
Aber... auch ganz schön, oder?
Susanne mustert Lissy überrascht.
SUSANNE
Das können Sie auch haben, wenn sie möchten. Mit ihrem Mann, mein ich.
LISSY
Nee, kann ich nicht.
SUSANNE
Warum denn nicht?
LISSY
Ich kann nicht stricken.
Die Andeutung eines Lächelns auf ihren Gesichtern.
INNEN. BERLIN - BOOT / VERANSTALTUNGSRAUM - ABEND
Tom und Bernard betreten eine alte Barkasse, die stillgelegt an der Spree liegt und für Veranstaltungen genutzt wird.
Sie kommen in den Veranstaltungsraum, wo ein Büffet aufgebaut wurde. Die Gäste bestehen aus Freunden und Familie von Moritz, der mit allen freudig palavert. Einige haben Kinder und Babys mitgebracht, die sich in der Menge fröhlich und/oder schreiend tummeln.
Moritz präsentiert stolz das Baby. Liv steht etwas distanziert daneben.
Bernard bedient sich reichlich am Büffet und setzt sich dann neben Tom, der einen Platz ganz am Rand der Veranstaltung gefunden hat.
BERNARD
44
Sie sieht immer noch wahnsinnig gut aus... *
TOM
Wer?... Liv...? Ja. Schönste Frau * der Welt. *
BERNARD
Das war schon sehr cool von mir, dass ich dir das damals nicht übel genommen hab... dass du mir Liv ausgespannt hast.
TOM (lacht)
Erstens hab ich sie dir nicht ausgespannt sondern sie hat dich verlassen. Und zweitens hast du es mir wahnsinnig übel genommen. Du hast die Scheiben meiner Wohnung mit Steinen eingeworfen weil du dachtest, sie wäre bei mir... War sie übrigens auch...
BERNARD
Ja...?! Keine Ahnung, ich erinnere mich an nichts... Ward ihr damals schon offiziell ein Paar?
Tom sieht Liv melancholisch an, während er weiter redet.
TOM
Liv und ich waren lange kein Paar... Wir wurden erst eins... Am Tag, als sie unser Kind abgetrieben hat...
Bernard sieht ihn überrascht und fragend an.
TOM (CONT’D)
Als sie schwanger wurde, waren wir jung, unsere Beziehung war schwierig, jeder von uns allein war schwierig... Alles war schwierig...
INNEN. BERLIN - ALTE WOHNUNG LIV - TAG 45 45
RÜCKBLENDE: In einer kleinen, schäbigen Küche in einem Kreuzberger Hinterhof steht der 20 Jahre jüngere Tom am Fenster und grübelt.
TOM (V.O.)
... Eigentlich war ich dafür, es zu * kriegen, aber Liv war so... Sie * liebte mich einfach nicht. Also * entschied ich an diesem Nachmittag, * dass es besser sei, abzutreiben... *
Die 20 Jahre jüngere Liv kommt in die Wohnung, betritt lächelnd die Küche... Tom dreht sich zu ihr... Spricht ernst mit ihr (wir hören es nicht).
46
TOM (V.O.)
... Es war wochenlang hin - und her * gegangen, seit wir es wussten. Liv * war immer die skeptische gewesen, * sie sei zu jung, sie wüsste noch
* garnicht, wo es in ihrem Leben längs * gehen soll, sie sei zu instabil für * ein Kind... Doch als ich ihr an * diesem Nachmittag sagte, dass eine
* Abtreibung wohl besser sei, holte
* sie ein Buch aus ihrer
*
* Plastiktüte...
Liv holt ein Buch aus der Tüte und legt es vor Tom auf den Tisch: “Das grosse Buch der Schwangerschaft”
TOM (V.O.)
... Sie hatte sich an diesem
* Nachmittag für das Kind * entschieden...
Liv verlässt wortlos die Küche. Tom sieht bestürzt auf das Buch... Folgt ihr...
TOM (V.O.)
*
... Aber jetzt war es vorbei. Meine * Worte haben sie so tief verletzt, da * gab es keinen Weg mehr zurück... *
SPÄTER IM SCHLAFZIMMER: Liv liegt weinend im Bett... Tom hockt weinend daneben...
TOM (V.O.)
... Am nächsten Morgen machte sie * einen Termin bei einem Arzt in Köln, * den ihr eine Freundin empfohlen * hatte. Ich konnte sie nicht mehr * umstimmen... Ehrlich gesagt fehlte * mir wahrscheinlich auch die Kraft * und die Überzeugung dafür... *
INNEN/AUSSEN. ZUG - TAG
RÜCKBLENDE: Die 20 Jahre jüngeren Tom und Liv sitzen sich stumm und ohne sich anzusehen in einem Zug, der durch die Landschaft fährt, gegenüber.
TOM (V.O.)
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... Liv wollte nicht, dass ich * mitkomme, aber ich habe darauf * bestanden. Wir hatten einen * furchtbaren, hasserfüllten Streit... * Aber ich bin mitgefahren... Wir * haben auf der ganzen Fahrt kein Wort * gesprochen... Uns nicht einmal * angesehen... 5 Stunden lang... *
INNEN. KÖLN - WARTERAUM ARZTPRAXIS - TAG
47 47
RÜCKBLENDE: Der 20 Jahre jüngere Tom sitzt allein in einem Wartezimmer unter anderen Frauen.
TOM (V.O.)
... Ich sass im Wartezimmer. Es war * ganz klar, dass dies das Ende * unserer Beziehung sein würde. Völlig * klar. Ich überlegte, wo ich nach der * Abtreibung hingehen würde, was ich * jetzt, allein, mit meinem Leben * anstellen würde... Als die Schwester * reinkam und sagte, Liv würde mich * bitten, reinzukommen... Wenn ich * will... *
Eine Schwester taucht im Wartezimmer auf und spricht (stumm) mit Tom... Der steht unsicher auf und folgt der Schwester langsam aus dem Zimmer...
INNEN. BEHANDLUNGSZIMMER - TAG 48 48
RÜCKBLENDE: Im Behandlungszimmer liegt Liv mit gespreizten Beinen auf dem gynäkologischen Stuhl...
Tom setzt sich neben sie. Der freundliche Arzt spricht (stumm) mit beiden...
TOM (V.O.)
... Der Arzt erklärte uns, was jetzt * passiert... Ich hörte kein Wort... * Liv und ich sahen uns an... nahmen * uns an die Hand... *
Tom und Liv nehmen sich bei der Hand... Sind ganz nah beieinander... Verborgen hinter einem Tuch nimmt der Arzt die Ausschabung vor...
TOM
... Ich konnte nicht sehen, was er * da unten tat... Aber es war das * größte und intensivste was ich bis * zu diesem Moment in meinem Leben * erlebt hab... Es war... Wie eine * Geburt... Nur umgekehrt. *
INNEN. BERLIN - BOOT / VERANSTALTUNGSRAUM - ABEND
49 49
... Zurück im Jetzt und auf dem Boot. Bernard sieht Tom mit offenem Mund an.
TOM
... An dem Tag wurden Liv und ich ein Paar. Und blieben es für 7
TOM (CONT’D)
Jahre. Aber wir wurden nie wieder schwanger.
Tom hat während der ganzen Erzählung den Blick nicht von Liv genommen, die ihn jetzt entdeckt und anlächelt, ohne zu wissen, was er da gerade erzählt hat.
Sie nimmt Moritz das Baby aus dem Arm und kommt zu Tom und Bernard, die aufstehen.
Bernard ist immer noch so mitgenommen, von dem, was er grad erfahren hat, dass er kaum sprechen kann.
Liv begrüsst beide Männer herzlich und mit der Vertrautheit, die im besten Fall zwischen Ex-Lovern entstehen kann.
LIV
(leise zu Tom) Danke, dass du gekommen bist...
TOM
Klar, kein Problem... (leise) Was hat der Arzt gesagt?
LIV
Ich krieg nächste Woche die Ergebnisse. Aber er sagt, ich soll mir keine Sorgen machen...
Tom nimmt Jessie auf den Arm, spricht in Babysprache mit ihm. Das Baby behält seinen skeptischen Blick.
BERNARD
Oh Gott, wenn ich euch drei jetzt hier mit dem Baby zusammen sehe... muss ich fast weinen...
LIV (erstaunt) Warum?
TOM
(mit warnendem Blick zu Bernard) Weil er eine Heulsuse ist!
Moritz kommt auf sie zu...
MORITZ
Ich will jetzt echt keinen Streit an diesem Tag, der ein Ehrentag für meine Tochter ist, aber ich finde es nicht in Ordnung, dass Tom hier auftaucht...
... Ja, ich weiss, Tom macht, was du sagst, aber er hätte das Feingefühl haben können...
LIV
Ich hab ihn eingeladen, nein, ich hab darauf bestanden, dass er kommt...
LIV (CONT’D)
Tom gehört hier her! Er ist AUCH Jessies Vater!
Der Satz hat gesessen. Auch Tom sieht Liv überrascht an. Moritz läuft rot an. Die anderen Gäste kriegen mit, was da los ist, tuscheln interessiert... *
MORITZ
Tom, siehst du das auch so?
Tom weiss nicht, was er sagen soll.
Toms Handy klingelt, er sieht auf das Display und reagiert überrascht. Er drückt Moritz das Baby in den Arm...
TOM
Das müsst ihr miteinander klären! Ich wollte nur helfen, Liv! Das weisst du!
Liv sieht ihn enttäuscht an. Tom wendet sich ab.
Er drängelt sich durch die neugierigen Zaungäste und geht an sein Handy.
TOM (CONT’D) Elly...?
... Ich bin am Telefon...
... Ich weiss, Elly! Was ist los?
... Was hast du? Kannst du etwas lauter sprechen, ich kann dich kaum verstehen!
ELLEN
Ist Tom da...?
... Hier ist Ellen...
... Es geht mir nicht gut. Irgendwas ist mit mir nicht in Ordnung. Ich bin...
Er beobachtet gleichzeitig Moritz, Bernard und Liv beim streiten.
Aus dem Telefon kommt nur eine Art rauschen oder schluchzen...
50
TOM (CONT’D)
Elly, was ist los? Weinst du?
Hast du getrunken?
... Nee, natürlich nicht... * *
... Weisst du was, Ellen, trinkt doch einfach mal nichts und wenns dir dann nicht besser geht rufst du wieder an, okay?...
ELLEN (CONT’D)
Tom, es geht mir nicht gut. Bitte. Ich weiß nicht...
... Ja, ich hab getrunken, aber das ist nicht das Problem...
... Nein! Ich, ich brauche nur...
Er legt sauer auf, wundert sich, warum er eigentlich so wütend ist und sofort explodiert, wenn seine Schwester anruft.
Er sieht rüber zu Liv, die immer noch mit Moritz diskutiert und Tom sanft aus der Ferne mustert... *
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... Ellen liegt im Bett, ihr Gesicht ist immer noch * geschwollen, aber nicht mehr ganz so grotesk.
Sie muss weinen, das will sie aber nicht, also wählt sie eine neue Nummer auf ihrem Handy...
(unterschnitten mit Sebastian im Bett:)
51
51
... Sebastian wird von seinem Handy geweckt. Er liegt auf einem Futon in einem fast leeren Raum, in dem nur ein paar Taschen herum stehen.
SEBASTIAN A-ahhh...
... Ich weiß nicht, wie spät ist es?
... Ja. Du bist so leise, was ist los? Wo bist du?
ELLEN
Bist du das? Bastian?
... Warum, bist du zu manchen Tageszeiten jemand anders?
Beide liegen im Bett, halten das Handy nah ans Ohr. Die KAMERA bleibt bei beiden nah, so wirkt es, als lägen sie nebeneinander im Bett.
Ellen fällt es sichtlich leichter, mit Sebastian zu * sprechen, als mit ihrem Bruder. Vielleicht reisst sie sich * aber auch einfach nur mehr zusammen.
SEBASTIAN (CONT’D)
Du hast mich heut morgen allein gelassen... das war nicht nett. Ich bin allein in deiner Wohnung aufgewacht...
Ellen lächelt, sagt nichts. Es ist schön, seine Stimme zu hören.
SEBASTIAN (CONT’D) Bist du sauer? Weil ich...?
ELLEN
... Weil du verheiratet bist? Nein, bin ich nicht. Ich musste heute morgen nur schnell... zum Arzt...
SEBASTIAN
Warum?
ELLEN
Ich hatte einen Ausschlag, im ganzen Gesicht, es war total geschwollen, ich sah aus wie der Elefantenmensch...
SEBASTIAN
Ohhh... Ne allergische Reaktion?
ELLEN
Vielleicht... Aber nicht darauf das du verheiratet bist! Ich sags jetzt * noch einmal und dann nie wieder: Ich habe kein Problem damit, okay?
SEBASTIAN
Okay... Ich dachte heute morgen, du hast mich verlassen. Also, wirklich “verlassen” mein ich...
ELLEN
Ich kann dich garnicht verlassen.
SEBASTIAN
Warum nicht? Weil ich... verheiratet bin, also, mit jemand anderem...?
Ellen seufzt.
ELLEN
Können wir von was anderem reden?
SEBASTIAN Klar. Worüber?
ELLEN
Über was lustiges... Deinen Penis. *
SEBASTIAN
Du findest meinen Penis lustig?! *
ELLEN *
Ich finde deinen Penis sehr schön. *
SEBASTIAN *
Na immerhin. *
ELLEN *
Ehrlich gesagt finde ich jeden Penis * schön... *
SEBASTIAN *
... Oh... *
ELLEN *
... Ich mag einfach Penisse... * Schlimm? *
SEBASTIAN * Nein. *
ELLEN
Ich mag Penisse angucken. Mochte ich schon immer.
Sebastian lacht.
ELLEN (CONT’D)
Wenn ich beim Onanieren “YouPorn” gucke, gucke ich immer Männer, die sich einen runterholen.
SEBASTIAN
Es gibt ein dickes Penis Buch, das heisst “das grosse Penis-Buch” oder so, da sind hunderte von Penissen abgebildet.
ELLEN
Toll.
SEBASTIAN
Das schenk ich dir.
ELLEN
Das ist sehr lieb von dir.
SEBASTIAN
Alles, was dich glücklich macht, my Love...
Sie lächeln still und glücklich in die Dunkelheit.
INNEN. PROBERAUM - TAG 52
Tom und Bernard arbeiten intensiv mit dem Orchester an “sterben”.
Bernard hat eine neue Schlusssequenz mitgebracht. Tom dirigiert sie mit den Musikern zu einem ersten Höhepunkt.
52
Diesmal ist ein KinderChor dabei. *
Tom stimmt die verschiedenen Instrumentengruppen und Chorstimmen immer feiner miteinander ab, bis auf einmal sowas wie ein magischer Moment entsteht. *
Die Komposition endet mit einem Ausdünnen des Orchesterapparates, bis nur noch die langsam verwehende Kadenz des Solo-Cellos übrig bleibt. Mi-Do spielt das konzentriert und genau... Alle hängen an ihrem Klang und erst nach dem letzten Ton atmet der ganze Saal erlöst aus.
Die Stimmung ist gut. Endlich scheint etwas zu gelingen.
Bernard und Tom umarmen sich stürmisch.
BERNARD
Das war...
... Ja, oder...? Also...
... Ja, ich fand auch... ich war richtig... berührt, als wäre es nicht von mir! (lacht)
Ja, tolles Orchester... Nur der Chor... war natürlich ne Schrottidee, völliger Kitsch, schmeiss ich wieder raus...
... Ist schon gestrichen...
TOM
... toll! Es war...
... Da geht was, Bernard! Da geht absolut was!!!
...Ist es aber! Das bist alles du... Und dieses Orchester natürlich!...
... (erschreckt) Du willst den Chor wieder...?!
... Jetzt lass bitte mal den Chor...
Tom packt Bernard heftig, aber Bernard entzieht sich und geht raus...
INNEN. PROBERAUM - GÄNGE - TAG 53 53 *
Tom läuft nach der Probe durch die Gänge, Ronja schliesst * zu ihm auf.
TOM
Das war doch richtig gut, oder?
RONJA
Ja, schon, aber...
TOM
Kein “Aber” jetzt bitte!...
RONJA
... Es ist nur noch 23 Minuten * lang... Ich muss mal den Vertrag checken, aber ich glaube, das könnte Ärger mit den Sponsoren geben... Und ich hab gehört, Bernard will den Chor wieder streichen, ich weiss nicht, ob das so eine eine gute Idee ist...
Tom entdeckt etwas entfernt Bernard und Mi-Do, die junge Cellistin aus dem Orchester, in einer Nische stehen.
TOM
Ja, ich weiss, ich red mit ihm...
Tom lässt Ronja stehen und geht auf Bernard und Mi-Do zu.
Bernard redet intensiv auf sie ein. Mi-Do nickt eingeschüchtert. Plötzlich schlägt Bernard sie mitten ins Gesicht. Mi-Do wehrt sich nicht, auch nicht, als Bernard wieder zuschlägt... *
TOM (CONT’D) (laut)
Bernard!
Bernard lässt von Mi-Do ab, geht weg, will an Tom vorbei, der ihn festhält...
TOM (CONT’D) Spinnst du?!
BERNARD (wütend, verzweifelt stotternd)
Sie ist so... sie versteht es einfach nicht mit ihrer verdammten Virtuosität... Die Musik muss sich auflösen, aber sie wird einfach nur immer leiser...
TOM (drohend) Wenn du sie noch einmal schlägst, dann...
BERNARD
Wir verschieben die Premiere nochmal! So geb ich das Stück nicht frei!
Bernard macht sich heftig los und rennt raus.
Tom geht zu Mi-Do, die sich das Gesicht reibt.
TOM
Alles okay? *
MI-DO
Sei nicht so streng mit ihm, Tom.
TOM Nicht so streng...?
MI-DO Es geht ihm nicht gut.
TOM
Das ist kein Grund, auf dich einzuschlagen!
MI-DO
Es war nicht so schlimm.
TOM
Doch, Mi-Do! Das ist schlimm! Und es ist schlimm, dass du das nicht schlimm findest! Ist das irgendwie so eine... koreanische Unterwürfigkeit, oder was?! Tut mir leid, aber das ärgert mich wirklich!
Sie sieht ihn ernst an.
MI-DO
Weisst du, heute war schön... Aber manchmal guckst du mich so an, während der Proben... weisst du?
TOM
Nee, weiss ich nicht. Wie guck ich dich denn an?
MI-DO
... With a she-is-not-as-good-as-shethinks look...
Tom stöhnt genervt...
MI-DO (CONT’D)
... Das ist schlimmer als eine Ohrfeige.
TOM
So ein Quatsch! Du projizierst deine Selbstzweifel in mein komisches Gesicht, dafür kann ich nichts!
Sie geht. Tom bleibt stehen. Sieht hoch zur Decke, schüttelt genervt den Kopf. Warum kann das Leben nicht einfach mal 5 Minuten gut zu ihm sein?
EINBLENDUNG:
1 2 3
DER SCHMALE GRAT
EXT. - AUTO SUSANNE - TAG 54 54
Lissy sitzt mit ihrer Reisetasche aus dem Krankenhaus im Auto neben Susanne, die sie abgeholt hat und nach Hause fährt.
Im Radio läuft ein Schlager, der Lissy gefällt. Sie summt * ihn mit.
INNEN. HANSTEDT / WOHNUNG LISSY - TAG 55 55
Der Schlüssel dreht sich in der Wohnungstür und kurz darauf kommt Lissy langsam in die Wohnung, sie stellt eine Reisetasche ab.
Es ist aufgeräumt, sauber. Nur die Wand im Wohnzimmer ist noch immer so chaotisch unfertig gestrichen. Aber die * Farbeimer sind verschwunden.
Susanne kommt hinter ihr rein, etwas ausser Atem...
SUSANNE
... Wer parkt da eigentlich neuerdings immer direkt vor dem Haus, das ist keiner von hier...
Lissy setzt sich an das Klavier, das im Wohnzimmer steht und spielt etwas tastend, dann immer sicherer, den * Schlager aus dem Radio. Susanne hört ihr zu. *
SUSANNE (CONT’D)
Ich wusste garnicht, dass du Klavier spielen kannst.
LISSY
Kann ich auch nicht. Ich hatte nie Unterricht oder sowas, dafür hatten wir kein Geld. Aber wenn ich was im Radio höre, kann ich es sofort spielen. Konnte ich schon immer.
Susanne sieht sie beeindruckt an.
LISSY (CONT’D)
Das hat Tom von mir, die Musik. Gerd trifft ja keinen Ton beim Singen. Weihnachten in der Kirche hab ich mich immer von ihm weggesetzt, weil er es ja auch einfach nicht lassen konnte, obwohl alle immer schon so geguckt haben... (singt sehr laut und sehr falsch) OH DU FRÖHLICHE! OH DU SELIGE! GNADENBRINGENDE WEIHNACHTSZEIT!
SUSANNE (lächelnd)
Aufhören! Tee?
LISSY
Ich mag keinen Tee.
SUSANNE
Was anderes? Saftschorle?
LISSY
Ja.
Es ist ihr egal. Sie hat keinen Durst. Starrt auf die Farbschlieren an der Wand, während Susanne die Schorle * macht und dann damit zurück kommt. Sie setzt sich zu Lissy.
SUSANNE
Eins noch, Lissy...
Sie duzt Lissy neuerdings...
SUSANNE (CONT’D)
... Der Gerd kommt öfters aus dem Heim rüber...
LISSY
Wieso... Warum...? *
SUSANNE
Er hat ja jetzt einen festen Platz da, das weiss er auch, aber er kommt trotzdem oft her und will in die Wohnung. Ich lass ihn manchmal...
LISSY
Wie oft kommt er denn?
SUSANNE
Eigentlich fast jeden Tag...
LISSY
Darf er das denn?
SUSANNE
Natürlich darf er das, ist ja kein Gefängnis das Heim, im Gegenteil: Die dürfen ihn da garnicht festhalten. Wenn er gehen will, geht er eben. Ich wär nur froh, sie würden darauf achten, dass er sich was warmes anzieht, wenn er rausgeht. Wird ja langsam immer kälter jetzt... Er freut sich bestimmt, dass du wieder da bist!
Lissy nickt stumm. Sie sieht nach draussen. Später Herbst. Der Wind zerrt an den kahlen Ästen.
INNEN/AUSSEN. WOHNUNG LISSY/BAD/SCHLAFZIMMER/VOR DEM HAUS - 56 56 * NACHT
Lissy putzt sich im Bad die Zähne. Sieht sich im Spiegel an. Sie sieht nicht gut aus, man kann es nicht anders sagen. Das Alter und die Krankheit haben sie ausgezehrt.
Aber sie sieht hin. Betrachtet all ihre Falten und Flecken. Und wenn man will, kann man ein ganz kleines * Lächeln der Akzeptanz erkennen.
Dann löscht sie das Licht und geht ins Bett.
Nach einer Weile klingelt es an der Tür. Sie richtet sich * auf. Horcht in die Dunkelheit. Wieder klingelt es, dreimal hintereinander.
Sie reagiert nicht. Auch nicht, als es wieder klingelt. Sie hört Geräusche aus dem Treppenhaus. Richtet sich auf und sieht aus dem Fenster.
Draussen ist die Strasse schlecht beleuchtet. Gerd taucht auf. Er ist wohl aus dem Haus gekommen. Langsam und ein wenig ziellos läuft er durch die Nacht.
Er ist viel zu dünn angezogen, ohne Jacke, in einem Hemd mit kurzen Ärmeln. Es regnet. Er ist völlig durchnässt.
Lissy sieht zu, wie er in der Dunkelheit verschwindet.
57
INNEN. HAMBURG - ZAHNARZTPRAXIS - TAG
Ellen und Sebastian behandeln eine Patientin. Ihrem Outfit nach ist es eine Prostituierte. Sehr kurzer Rock, Stilettos und ein knappes Oberteil, aus dem die Brüste ragen.
ELLEN (leise)
Hat man sich nicht früher ein bisschen schick gemacht, wenn man
57
ELLEN (CONT’D)
zum Arzt ging? Na ja, hat sie ja vielleicht...
SEBASTIAN
Sie hatte keine Zeit, sich umzuziehen. Hat auf irgendwas hartes gebissen und die Krone ist rausgebrochen...
ELLEN
Auf irgendwas hartes gebissen, so so...
Sie grinst Sebastian an, aber der sieht nur mit dunklem Gesichtsausdruck in den Mund der Patientin, die langsam wegnickt...
SEBASTIAN
Scheisse, jetzt schläft sie mir hier auch noch ein!
ELLEN
Was hast du denn so schlechte Laune? Die noch und dann ab in die Bar!
SEBASTIAN
Genau deshalb hab ich schlechte Laune.
Ellen sieht ihn überrascht an. Sebastian redet weiter, ohne die Behandlung zu unterbrechen.
SEBASTIAN (CONT’D)
Mir ist klar geworden... das mir das ernst ist mit dir. Mit uns.
Er sieht sie kurz prüfend an. Sie lächelt vorsichtig.
ELLEN
Und das macht dir schlechte Laune...?
SEBASTIAN
Die Bar macht mir schlechte Laune. Ich würde gern... Heute mal nichts trinken. Sondern... mal zusammen ins Kino gehen oder ins Theater...
ELLEN (erschreckt)
Ins Theater... Oh Gott?!
SEBASTIAN
Na gut, nein, nicht ins Theater... Ach Scheisse, einfach mal einen Abend nichts trinken und zusammen sein. Aber ich fühl mich schuldig
(MORE)
58
SEBASTIAN (CONT’D)
bei dem Gedanken, dir gegenüber. Ist doch pervers!
ELLEN
Musst du ja auch nicht.
SEBASTIAN
Tu ich aber.
ELLEN
Na, dann verbringen wir eben heute den Abend zusammen und trinken nichts.
SEBASTIAN
Echt?
ELLEN
Ja klar. Ist doch kein Problem...
Er lächelt sie dankbar an. Gibt ihr über die eingeschlafene Patientin hinweg einen Kuss.
ELLEN (CONT’D)
Und dann erklärst du mir, was das heissen soll: Das es jetzt ernst wird... Ok?
SEBASTIAN
Yo!
Er gibt ihr noch einen Kuss. Dann wendet er sich wieder den Zähnen der Prostituierten zu.
Ellen hält ihr den Absaugschlauch in den Mund. Ihre Stirnfalten ziehen sich zusammen. Das Gespräch hat sie nervös gemacht.
INNEN. HANSTEDT - PFLEGEHEIM - TAG
Gerd liegt in einem kleinen, 14 qm. grossen Zimmer in seinem Bett. Es ist völlig kahl an den Wänden. Es gibt einen Tisch, zwei Stühle, eine Kommode. Alles aus Pressholz. Man kann nicht umhin, an eine Gefängniszelle zu denken.
Er liegt auf dem Rücken, den Kopf merkwürdig nach hinten gekrampft, der Mund steht weit auf, seine Augen sind geschlossen, der Atem geht unregelmässig: Er scheint nicht zu schlafen.
Als die Zimmertür aufgeht, macht er die Augen auf. Es ist Ellen, sie kommt langsam ins Zimmer.
Hallo, Papa!
ELLEN
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Er reagiert nicht. Sein eingefallenes Gesicht, sein dürrer Körper, das Zimmer... das ist alles ein Schock für Ellen, aber sie hat nicht vor, das zuzugeben. Nicht mal vor sich selbst.
ELLEN (CONT’D)
Na? Hab ich dich geweckt?
Sie setzt sich zu ihm ans Bett. Er sieht sie an, zeigt aber kein Erkennen.
Ellen sieht sich um.
ELLEN (CONT’D)
Soll ich mal... das Fenster aufmachen? Bisschen frische Luft?
Sie steht auf, öffnet das Fenster, setzt sich dann auf den Stuhl am Tisch.
Gerd dreht den Kopf langsam, damit er sie sehen kann, aber er zeigt nach wie vor keine Spur des Erkennens.
Eine Weile sitzen sie so da.
Dann steht Gerd auf und schlurft langsam zum Badezimmer.
Schliesst die Tür hinter sich.
Ellen sitzt still in dem leeren Zimmer und rührt sich nicht.
ÜBERBLENDE: Zeit ist vergangen, draussen ist es dämmrig geworden. Ellen sitzt noch immer auf dem Stuhl. Gerd ist noch immer im Bad verschwunden.
Schliesslich steht sie auf und geht aus dem Zimmer.
AUSSEN. HANSTEDT / VOR PFLEGEHEIM - DÄMMERUNG
Draussen kommt Ellen aus dem funktionalen Neubau am Rande von Hanstedt, geht über der Parkplatz und steigt in einen Mietwagen.
Dort sitzt Sebastian. Er hat am Steuer auf sie gewartet. Er sieht sie von der Seite an.
SEBASTIAN
Na...? Wars gut...? ELLEN
Ja.
SEBASTIAN
Siehst du, hab ich doch gesagt.
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ELLEN
Ja. Hast du gesagt.
SEBASTIAN
Jetzt noch deine Mutter...?
ELLEN
Na, wir wollen es mal nicht übertreiben... Was ist mit der versprochenen Überraschung?
SEBASTIAN
Okay, fahren wir hin... Ich hatte die Wahl zwischen der grössten Wellness-Oase in ganz Norddeutschland oder der bestsortiertesten Hotelbar im Umkreis von 300 Kilometern...
ELLEN
... Und du hast dich natürlich für das Wellness-Paradies entschieden!
SEBASTIAN
Natürlich! Ok, oder...?
Er grinst sie an, mit einer leichten Unsicherheit im Blick...
ELLEN
Halleluja! Auf ans Werk, ihr reinigenden Kräfte!
Sebastian startet den Wagen.
Als sie den Parkplatz verlassen, sieht Ellen hoch zu den Fenstern, hinter denen überall der gleiche, graue Vorhang hängt.
INNEN. BERLIN - WOHNUNG LIV - ABEND
Tom füttert Jessie, die jetzt schon fast ein Jahr alt ist und damit ein kleiner Mensch. Sie hat Hunger und reisst den Mund weit auf, wenn sie den Löffel nur kommen sieht.
Es klingelt an der Tür. Er geht in den Flur und macht auf. Es ist Moritz...
TOM
Komm rein! Wir essen grad noch, dann kannst du sie haben. Sie haut jetzt richtig ein, Dinkelflocken! Liebt sie!
MORITZ
Ich weiss...
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Als sie in die Küche kommen und Jessie Moritz sieht, fängt sie an zu weinen. Tom nimmt das befriedigt zur Kenntnis.
Toms Handy gibt einen Signalton von sich. Er schaut drauf und runzelt die Stirn...
TOM
Ich geh dann jetzt, okay?
Moritz füttert Jessie.
MORITZ
Jetzt gleich? Wir hatten ne halbe Stunde Übergangszeit ausgemacht, damit Jessie nicht denkt, dass jede neue Betreuung immer gleichzeitig auch ein Abschied ist...
TOM (seufzend)
Na gut...
Er setzt sich gegenüber von Moritz. Sieht zu, wie Moritz
Jessie füttert. Es läuft so la la. Nach einer Weile nimmt
Tom sich auch einen Löffel und versucht ebenfalls, Jessie zu füttern.
Ein stummer Zweikampf um die Gunst des Babys beginnt, den Jessie interessiert beobachtet. Sie findet das jetzt viel spannender, als zu essen, was die Sache für die Männer nicht einfacher macht. Stück für Stück verfallen sie in Babysprache, während Jessie verwundert von einem zum anderen blickt...
Dann meldet sich Toms Handy wieder mit einer Nachricht. Er sieht angespannt drauf...
TOM (CONT’D)
Ich muss jetzt wirklich los...
Zerknirscht muss er die Schlacht geschlagen geben und das Feld räumen.
INNEN/AUSSEN. BERLIN / AUTO - ABEND
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Tom fährt durch die dämmrige Stadt. Wieder summt er “STERBEN” vor sich hin, diesmal eine andere Stelle. Wieder * in verschiedenen Versionen. Er ist mit keiner ganz glücklich.
INNEN. BERLIN - WOHNUNG BERNARD - NACHT
Mi-Do macht Tom die Tür von Bernards Wohnung auf, er kommt in die schlampige Künstlerbehausung.
62
TOM
Tut mir leid, ging nicht schneller... Wo ist er?
MI-DO
Im Schlafzimmer. Er will nicht rauskommen. Und ich darf nicht rein.
Er mustert die erschöpft wirkende Mi-Do skeptisch.
TOM
Hat er dich wieder geschlagen?
... Na...?
MI-DO (CONT’D)
Nein...
... NEIN!
Tom geht an ihr vorbei zum Schlafzimmer, er weiss, wo das ist.
TOM (CONT’D)
Partner? Ich komm jetzt rein, okay?
Keine Antwort. Er öffnet die Tür und geht rein. Schliesst die Tür hinter sich.
Bernard hockt auf dem Bett. Er sieht verheult aus, sieht apathisch ins Leere.
Tom setzt sich zu ihm. Sagt nichts. Lässt ihn einfach spüren, dass er da ist.
Nach einer Weile beginnt Bernard zu sprechen...
BERNARD
Wir müssen es abbrechen, Partner...
TOM
Was abbrechen? Die Proben?
BERNARD
Ja. Es ist sinnlos... Ich treff ihn einfach nicht...
TOM
Wovon redest du denn? Wir hatten tolle Proben in letzter Zeit! Du musst nur den Chor drinnen lassen!... Wen triffst du nicht?
BERNARD
Den schmalen Grat.
TOM
Niemand trifft den schmalen Grat. Das wissen wir doch.
BERNARD
Das muss man aber, Partner, sonst... bleibt am Ende nur Kitsch. Entweder Kitsch für die Massen oder Kitsch für die Schlauberger. Und ich weiss nicht, was schlimmer ist...
TOM
“Kitsch”... was heisst das schon? Ist auch nur so ein Wort...
BERNARD
... Kitsch ist, wenn das Gefühl die Wirklichkeit nicht erreicht. Und das ist mein Problem.
TOM
Weisst du eigentlich, dass ich dein Stück jede Minute höre in meinem Kopf? Immer! Die ganze Zeit!...
BERNARD
... Ganz ehrlich: In den Proben klingt es wie Tütensuppe...
TOM
Ach so, vielleicht dirigier ich es verkehrt? Willst du das sagen?!
BERNARD
Na siehst du: Beschissenes Stück. Beschissener Dirigent. Beschissene Musiker. Lass es uns vergessen...
TOM (CONT’D)
... Und beschissenes Spiessbürgerpublkum und beschissene Kunstkritiker und und und... passt doch.
Tom grinst. Bernard sieht ihn aus verheulten Augen an.
BERNARD (CONT’D) Es tut mir leid...
TOM
Was?
Alles...
BERNARD
TOM
Na, das ist aber ne Menge...
Er nimmt Bernard in den Arm. Der heult leise los. Tom hält ihn. Sein Blick fällt auf Mi-Do, die still in der Tür steht und sie beobachtet.
TOM (CONT’D)
Ich hol uns’n Glas Wein, dann sehen * wir weiter...
Er steht auf und geht zur Tür, wo Mi-Do ihn fragend ansieht...
MI-DO (leise)
Welchen schmalen Grat will er treffen...?
TOM (leise)
Du musst als Künstler den ganzen Kram, den du loswerden willst, soweit vereinfachen, dass ihn irgendjemand versteht, ohne den Kram zu verfälschen. Oder: Du bist einfach komplett authentisch, keiner versteht dich, und du endest einsam und verloren in der Klapse. Dazwischen ist der schmale Grat... Seine Worte, nicht meine. Er mag Pathos.
Tom verschwindet im Flur. Mi-Do sieht Bernard mitfühlend an.
Tom kommt zurück...
TOM (CONT’D)
... Also, ich weiss nicht ob ich mich klar ausgedrückt hab, aber es geht darum: Wieweit muss ich mich dem Publikum anbiedern, damit es mir noch folgen kann, aber gleichzeitig...
MI-DO (unterbricht)
Ich habs verstanden!
Tom sieht sie erstaunt an.
TOM
Echt? Oh. Na siehst du. Der schmale Grat.
Er verschwindet wieder...
INNEN. WOHNUNG TOM - NACHT 63 63
In der Nacht haben Tom und Ronja Sex in seinem Bett. Sie berühren sich geübt an ihren Geschlechtsteilen, das Vorspiel. Es läuft okay, sie kennen sich gut genug.
Aber nach einer ganz guten Phase erschlafft Tom in Ronjas Hand wieder.
Alles okay?
RONJA
TOM
Ja ja, sorry... bin weggedriftet.
Ronja stützt sich auf und sieht ihn an. Der Mann will offensichtlich reden.
TOM (CONT’D)
Es ist einfach zu viel. Morgen muss ich in das Heim, in dem mein Vater jetzt lebt. Und das ist... so beschämend. Und meine Mutter ist auch todkrank. Und Bernard droht die ganze Zeit mit dem Exitus...
RONJA
Macht er doch nicht...
TOM
... Nein, macht er natürlich nicht, aber trotzdem, das zerrt an einem. Und die Ärzte von Jessie treiben uns auch zum Wahnsinn, weil sie Liv ständig im unklaren über den Gesundheitszustand des Babys lassen... Sie wissen nichts über das Gehirn eines Babys, garnichts, das ist die Wahrheit.
Er sieht Ronja an, die ihn unverwandt ansieht.
TOM (CONT’D)
Sorry, ich will dich nicht langweilen, es ist nur absurd viel grad...
(überrascht)... Wie? Was will ich...?!
Ronja mustert ihn kritisch.
RONJA
... Was willst du eigentlich?
RONJA (CONT’D)
Ja, okay, du hast viel um die Ohren. Aber ehrlich gesagt wirkst du dabei immer so... ein bisschen “reaktiv”, sag ich mal. Ich frage mich manchmal, was DU eigentlich wirklich willst...?
TOM
Meinst du... so allgemein? Oder uns?
RONJA
Nee, ich mein nicht uns. Dass das zwischen uns nicht die ganz große Liebe ist, wissen wir ja beide. Ich
(MORE)
Pink (mm/dd/yyyy) 69.
RONJA (CONT’D)
meine mehr den Fakt, dass du die ganze Zeit wie ein aufgescheuchtes Huhn rumrennst, ohne... Oder, eigentlich schlimmer noch, wie ein Huhn, dem man den Kopf abgeschlagen hat und das trotzdem immer weiterrennt.
Schweigen.
TOM
Darüber muss ich nachdenken.
RONJA
Tu das... * Wollen wir noch was gucken?
TOM
Ja... lass uns noch was gucken.
RONJA Ich hol das iPad. *
Sie geht aus dem Zimmer. Tom sieht ihr unglücklich nach.
INNEN. HANSTEDT - PFLEGEHEIM/ZIMMER GERD/ESSENSRAUM/GANG - 64 64 * TAG
Gerd räumt in seinem kargen Zimmer Dinge herum, es ist nicht zu erkennen, zu welchem Zweck. Er wirkt völlig eingefallen, geht gebeugt und in Zeitlupe. Er ist nur noch Haut und Knochen.
Eine Schwester kommt herein, ohne zu klopfen...
SCHWESTER
So, Herr Lunies, kommen Sie? Es gibt Abendbrot.
Er schüttelt den Kopf..
SCHWESTER (CONT’D) Wieder keinen Hunger? Das geht aber nicht, Sie müssen mal was essen, sonst machen Sie uns hier noch schlapp!
Er lässt sich widerstandslos nach draussen führen in den Flur. Hier hängen bunte, selbstgemalte Bilder an den hellen Wänden. Sie sehen aus, wie in einem Kindergarten. Vermutlich von den Bewohnern gemalt.
Sie kommen in den Gemeinschaftsraum, in dem Tische zusammengestellt wurden. Einige der Bewohner sitzen hier schon beim Abendessen. Der Fernseher läuft.
Gerd wird an den Tisch gesetzt. Die Bewohner sitzen alle etwas entfernt voneinander, Männer und Frauen. Keiner redet mit dem anderen.
Niemand scheint grossen Hunger zu haben. Es herrscht eine vollständige Apathie in diesem Raum. Als wäre jedes Leben schon entwichen.
Gerd sieht hoch zu den Glasfenstern, die in den Gang sehen.
Dort steht jetzt Tom. Gemeinsam mit Lissy...
... Und das ist das Bild, das sich Tom von seinem Vater darbietet. An diesem Ort. In diesem Raum. Es erschlägt ihn fast in seiner Grausamkeit.
Er sieht, dass Gerd ihn erkennt, ihm zuwinkt. Tom winkt * zurück und geht zu ihm. Nimmt ihn hilflos in den Arm. Gerd lächelt, freut sich, seinen Sohn zu sehen.
SPÄTER:
Sie sitzen zusammen in Gerds Zimmer. Tom und sein Vater auf den beiden Stühlen am Tisch. Lissy hinter Gerd auf dem Bett.
Tom sieht sich um. Es ist das trostloseste Zimmer, das er je gesehen hat.
TOM
Soll ich dir einen Fernseher besorgen, Papa?
GERD
Nein... Nein.
LISSY
Ist doch eine gute Idee von Tom, Gerdi. Dann kannst du wieder Fussball gucken.
Gerd reagiert nicht.
TOM
Ich mach das. Lass ich dir schicken, mit Amazon, ist überhaupt kein Problem.
GERD
Mhm.
Er lächelt Tom an. Tom glaubt nicht, dass er ihn wirklich verstanden hat. Gerd spricht in der ganzen Szene mit ganz schwacher Stimme, fast tonlos. Es ist gespenstisch, seine schattenhafte Stimme zu hören.
LISSY
(zu Tom)
Sag ihm doch mal, dass er sich wärmer anziehen soll, wenn er rausgeht. Auf dich hört er besser als auf mich.
TOM
Papa, wenn du rausgehst, zieh bitte eine dicke Jacke an, ja? Es ist saukalt draussen.
LISSY
Er verliert auch immer alles, sein Portemonnaie und so... das bringen mir dann die Nachbarn. Ich gebs ihm schon garnicht mehr wieder, er kriegt ja hier Taschengeld im Heim, das überweise ich.
GERD
(zu Tom)
Die geben mir kein Geld hier. Dabei muss ich doch... soviel bezahlen...
LISSY
Er will auch immer Geld bei der Bank abheben, aber er hat keine Karte mehr. Und unsere Filiale ist doch garnicht in Hanstedt, trotzdem läuft er da immer hin. Letztens ist er gestürzt und hat dann stundenlang auf der Treppe gesessen. Hat mir auch die Nachbarin erzählt.
Tom nickt. Er sieht seinen zusammengesunkenen Vater an. Versucht zu lächeln. So hilflos hat er sich in seinem ganzen Leben noch nicht gefühlt.
Plötzlich steht Gerd auf und geht zur Kommode. Bleibt dann einfach davor stehen, die Hände leicht erhoben.
TOM
Was ist denn, Papa? Suchst du was?
LISSY
Bleib doch mal mal sitzen, Gerd! Du brauchst doch jetzt nichts, unterhalt dich doch mit Tom, der ist extra gekommen.
GERD
(leise)
Ich muss... die Versicherung...
TOM
Was musst du...?
GERD
Die Autoversicherung... muss ich bezahlen... aber die geben mir kein Geld hier...
LISSY
Er sagt immer, die geben ihm kein Geld hier, aber das Taschengeld ist ständig alle, also müssen sie ihm doch Geld geben.
TOM
Papa, du hast kein Auto mehr, du musst keine Versicherung mehr bezahlen.
LISSY
Das weiss er doch, ich weiss nicht, warum er immer so redet...
Gerd nimmt einen Plastikordner aus dem Regal und gibt ihn Tom...
GERD
Da sind die ganzen Rechnungen drinnen, ich hab denen auch schon geschrieben, weil ich kein Geld bekomme...
Er blättert den Ordner auf, in dem sich nur ein paar leere, weisse Blätter befinden. Er sucht den Brief, findet ihn natürlich nicht.
TOM
Papa, ich glaube, da ist kein Brief, du musst dich auch um nichts mehr kümmern, ich kümmere mich um alles, okay? Du musst nichts mehr bezahlen, ich bezahle alles.
LISSY
Er hört einfach nicht. Und bei mir wird er dann aggressiv. Hier im Heim auch, zu den anderen Bewohnern. Deshalb haben sie ihn auch auf diese Station gesteckt, wo alle ja schon völlig weggetreten sind. Und dann läuft er immer halbnackt raus und die können nichts machen, weil sie ihn nicht festhalten können.
Tom sieht seine Mutter ärgerlich an. Er wünschte, sie würde nicht so über seinen Vater reden: als wäre er nicht im Raum. Gerd reagiert aber auf nichts, was sie sagt.
LISSY (CONT’D)
Wenn das nicht besser wird mit dem rauslaufen, dann muss er vielleicht
LISSY (CONT’D)
doch bald in ein geschlossenes Heim... Hat die Leiterin hier zu mir gesagt. Aber das ist dann ne Irrenanstalt.
TOM
Ja, Mama, ist gut. Da muss er nicht hin.
LISSY
Das sagst du so... Aber vielleicht will die ihn auch nur loswerden. Ich glaube, die will mehr Geld. Ständig will sie für alles mehr Geld. Ich glaube, andere bezahlen mehr. Das sagen alle hier in der Gegend, dass die Leiterin geldgierig ist.
TOM
Mama, ich bezahl genau das hier, was alle bezahlen. Das sind ganz offizielle Sätze. Glaub ich...
LISSY
... Aber ein bisschen geldgierig ist die trotzdem. Das merkt man einfach. Das sagen alle.
GERD
(zu Tom)
Das ist schön, dass du wieder da bist. Gestern war Ellen da und hat mich besucht.
LISSY
Ellen?! Bestimmt nicht!
TOM
Ja, Papa? Und? War es schön.
GERD
Ja, sehr schön.
LISSY
Gerdi, Ellen war schon lange nicht mehr da!
GERD
Und du warst auch da, letzte Woche. Mit deiner Freundin.
TOM
Ähm, nein Papa, letzte Woche war ich nicht da... Und ich hab auch keine Freundin... nicht wirklich. Aber ich * hab ein Baby! Also, ein bisschen hab * ich ein Baby, soll ich dir ein Bild zeigen?
Er holt sein Handy raus und zeigt Gerd Babybilder... Sein Vater sieht sie lächelnd an.
GERD
Schön... das es dir so gut geht, Tom.
TOM
Ja, Papa, es geht... mir gut. Und du? Gehts dir auch gut hier?
GERD
Ja.
LISSY
Tom hat jetzt ein eigenes internationales Orchester. Stimmt doch, oder?
TOM
Es ist nicht mein Orchester. Es ist ein Jugendorchester und ich dirigier es... ab und zu. Für ein Konzert, finanziert von einer Stiftung für den Frieden.
LISSY (enttäuscht)
Ach so.
Tom sieht Gerds leeren Blick an die Wand. Es bricht ihm das Herz. Er muss unbedingt raus hier.
TOM
Ich muss jetzt bald wieder los, aber ich komme bald wieder, okay?
Gerd nickt.
TOM (CONT’D)
Brauchst du noch irgendwas? Soll ich dir noch was organisieren?
GERD
Nein... nichts.
TOM
Ich besorg dir auf jeden Fall einen Fernseher.
GERD
Ja... Eins noch vielleicht...
TOM
Ja...?
GERD
Ich freu mich, wenn du das nächste mal kommst... Da freu ich mich immer.
Er lächelt Tom wieder an. Tom weiss nicht, was er machen soll. Der Kloss in seinem Hals fängt an, ihn zu würgen. Er nimmt die knochigen, faltigen Hände seine Vaters.
TOM
Das mach ich, Papa! Ich komm bald wieder!
GERD
Und dann kannst du ja vielleicht auch Lissy mitbringen...
TOM
Ja, ähm... aber Mama ist ja jetzt auch da, das weisst du, oder? Die sitzt hinter dir auf dem Bett.
Jetzt wird Tom klar, dass sein Vater tatsächlich während der ganzen Zeit nicht zu Lissy geguckt hat. Auch jetzt tut er es nicht. Stattdessen nickt er nur stumm.
Lissy sagt nichts.
Tom steht auf, beugt sich zu seinem Vater runter, umarmt ihn.
TOM (CONT’D)
Machs gut, Papa! Bis bald!
GERD
Ja, da freu ich mich... Ich bring dich noch raus...
Er steht auf. Die drei verlassen den Raum... *
... Draussen im Gang dreht sich Lissy zu ihrem Mann und * verabschiedet sich von ihm, ohne ihn zu berühren.
LISSY
Tschüß, Gerdi, ich komm nächste Woche wieder, ja? Ich kann ja so schlecht laufen...
Gerd nickt. Tom stützt Lissy, sie gehen den Gang hinunter.
Tom dreht sich zu seinem Vater um, der ihnen, krumm und gebeugt, nachsieht.
LISSY (CONT’D)
Papa hat sich gefreut dich zu sehen.
Tom sagt nichts. Der Kloss versperrt jetzt jeden Weg in seiner Kehle.
LISSY (CONT’D)
Ich freu mich auch, wenn du mal wiederkommst. War ja nur so kurz diesmal, aber du hast ja auch bald deine Aufführung, das ist ja auch wichtig... Auch wenn es nicht dein Orchester ist...
Mit einem letzten Blick auf seinen Vater führt Tom seine Mutter raus auf den Parkplatz.
INNEN. ZUG - TAG
65 65
Tom sitzt im Zug und starrt nach draussen in die vorbei ziehende Landschaft. Leere, Angst, Ekel.
ABBLENDE...
INNEN. BERLIN - CAFÉ - NACHT 66 66
Tom kommt in ein Café in Kreuzberg, in dem Liv am Fenster sitzt. Jessie liegt im Kinderwagen neben ihr.
Tom setzt sich ihr gegenüber.
TOM
Sorry, ich wäre gern mit beim Arzt gewesen, aber ich bin nicht so schnell von der Probe weggekommen... So kurz vor der Premiere liegen echt die Nerven blank, Bernard hat sich heute während der Probe nackt ausgezogen und...
Er stockt... Sieht, das Liv leise weint.
TOM (CONT’D) Was ist los?
LIV
Jetzt muss ich mir wohl doch Sorgen machen.
Tom sieht instinktiv zum Kind, das friedlich schläft.
LIV (CONT’D)
Er sagt, es gibt einen Schatten...
... Im Kopf...
... Ja... Im Gehirn...
TOM
Einen Schatten... Und das heisst...?
... Im Kopf...
... Mhm... Ein Schatten im Gehirn...
Sie schweigen. Tom lehnt sich vor, nimmt ihre Hand.
67
Toms Blick wandert immer wieder zu Jessie im Wagen. Sie schlägt die Augen auf und sieht Tom direkt an. Skeptisch... Er nimmt sie hoch und hält sie auf dem Arm.
LIV (CONT’D)
Wir müssen zu einem Spezialisten. Er wird weitere Tests machen. Weitere Röntgenaufnahmen. Das ist nicht gut für sie...
TOM
Hast du schon mit Moritz gesprochen?
LIV
Nein... ich will erst mit Dr. Josephi sprechen.
TOM
Dr. Josephi verschreibt Zuckerkügelchen in denen nichts drin ist. Glaubst du wirklich, das hilft gegen...
LIV
Tom, sie ist nicht blöd! Sie weiss auch, dass Homöophatie nicht gegen einen Tumor hilft! Aber... sie * ist... klug... *
Sie verstummt. Jetzt ist das Wort Tumor gefallen. Tom sieht Jessie an, spielt in Baby-Blubber-Sprache mit ihr, worauf Jessie sich kaum einlässt... wendet sich dann wieder zu Liv.
TOM
Vielleicht ist es kein Tumor. Bis jetzt ist es nur ein Schatten auf einem Foto... Oder?
Liv nickt, sich in die Hoffnung fügend... *
INNEN. BERLIN - / WARTERAUM - TAG
Tom, Liv, Moritz und Esther (mit Hund Tinka) sitzen im Wartezimmer einer diesmal sehr modernen, gestylten Arztpraxis. Die ultramoderne Einrichtung soll signalisieren: Vorsprung durch Technik.
Die neugierig herumstrampelnde Jessie krabbelt von einem zum nächsten, von Moritz zu Liv zu Tom... Niemand spricht.
Als die Assistentin sie zum Arzt bittet, übergibt Liv ihrer Mutter das Kind. Die anderen gehen in das Zimmer des Arztes.
67
INNEN. BEHANDLUNGSZIMMER BERLIN - TAG
Im Arztzimmer nehmen die drei Platz. Der JUNGE ARZT (30) sieht etwas irritiert zwischen den beiden Männern hinund her.
JUNGER ARZT
(zu Liv)
Sie sind die Mutter, nehme ich an... (Liv bejaht, Arzt zu den beiden Männern:) Und sie sind...?
MORITZ
Ich bin Jessies Vater.
Der Arzt sieht fragend zu Tom, der sich etwas an den Rand setzt.
LIV
Tom gehört zur Familie. Ich möchte, dass er dabei ist.
Der Arzt nimmt das hin. Er sieht auf die Röntgenbilder vor sich und reicht sie dann über den Schreibtisch, Moritz greift als erster zu.
Was ist das?
MORITZ
JUNGER ARZT
Das sind die neuesten Bilder ihrer Tochter. Ein HIGH-RESONANCE-TURBULARApparat hat sie geschossen. Also genauer gesagt, ist es eine sehr genaue Abbildung ihres jungen Gehirns.
Eine kurze Pause entsteht. Moritz und Liv sehen sich die Bilder an, Tom nicht.
TOM
(genervt zum Arzt)
Und was... wie schätzen Sie... können Sie bitte was sagen?!
JUNGER ARZT
Es ist nichts zu sehen. Also nichts, was auf einen Tumor hinweisen würde.
In der kurzen Stille, die auf diese Aussage folgt, wachsen Erleichtung und Angst geradezu explosionsartig im Raum.
LIV
Und... Ist sonst etwas zu sehen?
MORITZ
Etwas ungewöhnliches? Was da nicht hingehört?
*
JUNGER ARZT
Nein. Nichts.
TOM
Und was ist mit dem Schatten?
Der Arzt windet sich sichtlich...
JUNGER ARZT
Ja, das ist seltsam, ehrlich gesagt können wir uns das auch noch nicht so richtig erklären, er war da, auf zwei Aufnahmen... und jetzt ist er nicht mehr da...
... Nein, ein Tumor ist kein Nierenstein...
TOM (CONT’D)
... Das heisst, er hat sich aufgelöst? Oder ist abgegangen? So, wie ein Nierenstein?...
... Das weiß ich! Das war ein Beispiel!
Liv wirft Tom einen warnenden Blick zu: Er soll sich nicht aufregen.
Aber er regt sich auf...
TOM (CONT’D) (zum Arzt)
Wissen Sie, was ich glaube?
Das da einfach ein Arzt dem anderen noch ein bisschen Kohle rübergeschoben hat.
All diese schicken Apparate hier müssen ja schliesslich finanziert werden, oder? Da stellt der eine Arzt eine Diagnose die von einem zweiten verifiziert werden muss um dann vom dritten revidiert zu werden. Und alle verdienen dran...
... Unterbrich mich bitte nicht, Liv. Du bist da zu sehr emotional involviert um das von aussen betrachten zu können, aber das ist eine medizinische Industrie, die da auf dem Rücken unserer Ängste immer fetter und fetter wird!...
Und natürlich bist nicht nur du die emotional betroffene, aber...
LIV
Wir sind erst beim zweiten Arzt, Tom...
... Ach, nur ICH bin hier die emotional betroffene...?!
...Hey! Bin ich eigentlich die einzige hier, die sich darüber freut, das Jessie gesund ist!?!
Liv sieht sich vorwurfsvoll um. Tom verstummt. Moritz schüttelt den Kopf.
JUNGER ARZT
(leise in die Pause) Wir glauben inzwischen, es war ein technischer Defekt des ersten Aufnahmegeräts.
Alle sehen ihn perplex an. Tom sammelt sich...
TOM
Natürlich freue ich mich, Liv! Was denkst du denn?! Aber ich will mir dieses miese Verhalten der Ärzteschaft nicht länger gefallen lassen. Wahrscheinlich verdient er mit jeder Minute, die wir hier sitzen, mehr Geld. Deshalb...
Er steht auf und verlässt den Raum, ohne den Satz zu Ende zu sprechen.
JUNGER ARZT
Es tut mir leid, wirklich. Aber ich denke, die Mutter hat recht, wir sollten uns erstmal freuen, dass...
... Wie sicher ist was...?
... Es ist sehr wahrscheinlich, das wir davon ausgehen können, dass...
... Wir können nie ausschliessen, dass...
... Eher 99% würde ich sagen...
MORITZ
... Wie sicher ist das?
... Wie sicher sind sie, dass da nichts mehr ist... Oder nie was war...?
... Sehr wahrscheinlich? Oder ganz sicher...?
... 90%? 95%?...
Wieder Stille im Raum. Die Stille nimmt in dieser Szene ebenso viel Raum ein, wie das Gesprochene.
LIV (zum Arzt)
Sie sagen das jetzt, weil Sie das müssen, oder? Weil sie sich absichern müssen, oder? Wahrscheinlich müssen wir nachher noch unterschreiben, dass Sie uns auf jede Eventualität hingewiesen haben, oder?
69
JUNGER ARZT
Es gibt noch eine Möglichkeit der genaueren Bestimmung der Werte, aber die können wir hier nicht machen, da müssen Sie nach Frankfurt. Und sie * ist teuer und aufwändig...
MORITZ
Die machen wir...
LIV
... Nein, die machen wir nicht!
Sie funkelt Moritz wütend an.
LIV (CONT’D)
99% reichen mir!
MORITZ (sehr ruhig zu Liv)
Kann ich dich mal kurz draussen unter vier Augen sprechen?
Liv steht auf, verlässt den Raum. Moritz folgt ihr...
INNEN. ARZTPRAXIS BERLIN / WARTERAUM - TAG
... Sie gehen durch den Warteraum, wo Tom bei Esther sitzt, die Jessie im Arm hält.
Moritz sieht sich um, zieht Liv an Tom vorbei, der ihnen fragend nachsieht.
Sie kommen in einen schmalen Gang zu den Toiletten, Moritz zieht Liv kurzerhand mit sich auf das Herrenklo...
69
70
INNEN. ARZTPRAXIS BERLIN / HERRENKLO - TAG
... Er schliesst die Tür hinter ihnen. Sie lehnen sich in dem engen Raum an die Wand.
70
LIV
Ich will nicht noch mehr Tests und noch mehr warten und noch mehr Angst und nicht schlafen können und...
... Es gibt aber keine Sicherheit, es kann immer irgendwann was sein und damit gehen wir dann um, wenn...
... Was soll das denn? Ausgerechnet du! Du traust doch sowieso keinen Ärzten!...
Eben! Dann lass uns jetzt nach hause gehen und...
MORITZ
... Ich weiss... Ich weiss...
... Aber glaubst du denn, du schläfst besser, wenn du ständig über diesen Schatten nachdenkst der vielleicht da war oder vielleicht nicht da war...
... Wenn es zu spät ist...?
... Ich weiss, und der modernen Technik traue ich auch nicht...
... Ich kann jetzt aber nicht nach Hause gehen und so tun als wär nichts. Ich mein, ja, okay, wahrscheinlich ist ja auch nichts. Aber wir sind... sind jetzt diesen Weg gegangen, den die moderne Medizin uns bietet und wenn ich an was glaube, dann daran, dass man konsequent sein muss.
Schon wieder Stille.
MORITZ (CONT’D)
Ich will mir einfach später keine Vorwürfe machen müssen. Lass uns jetzt alles tun, was in unserer Macht steht. Und stark sein. Für Jessie. Und für uns.
Liv denkt darüber nach, als Tom das Klo betritt.
TOM Was macht ihr denn hier...?
LIV
Wir werden noch weitere Tests machen lassen.
Sie geht an Tom vorbei nach draussen. Tom sieht Moritz irritiert an...
TOM Tests? Was für Tests?
INNEN. BERLIN / STREETFOOD-MARKT - TAG 71 71 *
Tom und Liv schlendern mit Jessie im Arm über den Streetfood-Markt in der Markthalle 9. Gäste aus der ganzen * Welt essen hier. Berlin at it’s cosmopolitan best.
Plötzlich entdeckt Tom Ellen und Sebastian, die in der Nähe an einem Stand überlegen, was sie essen wollen.
Er geht auf sie zu, Jessie im Arm. Liv folgt ihm...
TOM (zu Ellen)
Hey! Was machst du denn hier...?
Ellen dreht sich zu ihm, Sebastian auch. Liv kommt dazu. Alle stellen sich gegenseitig vor, murmeln Begrüssungsfloskeln.
SEBASTIAN (zu Tom)
Du bist also Tom? Das ist ja lustig, dass wir dich hier treffen... Eigentlich sind wir wegen dir hier... Also in Berlin...
TOM
Wegen mir?
SEBASTIAN
Ja, ich hab Ellen Karten für das Konzert geschenkt, das du morgen dirigierst. Als Überraschung...
TOM (zu Ellen)
Da hat sie sich bestimmt gefreut...
Die Geschwister mustern sich leicht skeptisch...
SEBASTIAN
Ja... Verbunden mit einem gemeinsamen Wochenende in Berlin...
LIV
Das ist doch toll.
ELLEN
Auf jeden Fall... (zu Tom) Ist das dein halbes Kind?
Tom nickt. Jessie sieht Ellen lächelnd an.
ELLEN (CONT’D) Komisch, ich finde, es sieht dir ähnlich, Tom. Seid ihr sicher, dass du nicht doch der...?
Pink (mm/dd/yyyy)
TOM UND LIV
Ganz sicher!
LIV
Habt ihr schon was bestellt? Wollen wir zusammen essen?
Natürlich wollen sie. Wie sollten sie jetzt auch nicht wollen können...?
SPÄTER: Alle 4 sitzen zusammen auf Bänken zwischen den * anderen Menschen aus aller Welt und essen aus Pappschachteln.
Ellen sieht zu, wie Tom und Liv mit dem Kind spielen. Es stresst sie furchtbar.
SEBASTIAN
Das ist die beste Phase. Geniesst es! Bald kommt sie in das Alter, wo sie, sobald man sich umdreht, versucht, sich irgendwie umzubringen...
Tom und Liv sehen sich an.
TOM
Wir passen auf sie auf. *
Tom sieht zu, wie Ellen lustlos an ihrer Saftschorle nippt.
TOM (CONT’D) (zu Ellen)
Gut die Schorle...?
ELLEN
Das ist nicht nur ne Schorle. Das ist ein Symbol für ein neues Leben...
TOM
Mhm...
ELLEN
Sebastian hat nämlich beschlossen, seine Familie zu verlassen um mit mir eine “ernste Beziehung” anzufangen, wie er das ausdrückt.
Sebastian sieht sie verunsichert von der Seite an.
ELLEN (CONT’D)
Er meint das nicht so unromantisch, wie es klingt. Er redet nur so, wenn er nüchtern ist. Und das ist der Catch 22 an der Sache: Er will, dass wir diese neue Beziehung nüchtern
(MORE)
Pink (mm/dd/yyyy) 85.
ELLEN (CONT’D)
führen. As in: No drinks. At all. Cheers to that!
Sie leert ihre Schorle auf einen Zug. Setzt sie dann mit einem “Ahhhh...” ab, wie aus der Bierwerbung.
SEBASTIAN (lächelnd zu Tom)
Na, ich denke, Ellen wird’s überleben, oder?
Tom nickt zustimmend und versucht, sich seine Zweifel nicht anmerken zu lassen.
TOM
Klar... Ich freue mich, dass ihr ins Konzert kommt. Ist’n wichtiger Abend für mich.
Die Geschwister sehen sich an, auf Aussenstehende könnte der Blick geschwisterlich-freundlich wirken.
AUSSEN. STRASSEN VOR MARKTHALLE / BERLIN - TAG 72 72 *
Ellen und Sebastian verlassen die Markthalle, Ellen geht * unruhig voran.
SEBASTIAN
Der macht doch einen ganz netten Eindruck, dein Bruder...
Und das er sich um das Kind seiner Ex kümmert ist ziemlich cool...
... Was? Wieso denn?
Ellen geht ziellos weiter...
ELLEN (CONT’D) Weil das... extrem anstrengend war, oder?
... Alles, der ganze Hipsterscheiss, wie die * alle da so tun, als wär das Leben ein...
... Ich entscheide garnichts! Ich weiß nur nicht...
... Einfach mal WAS?!
ELLEN
Ich muss jetzt was trinken...
... Ich meine Alkohol!
SEBASTIAN (CONT’D)
Wieso, was denn? Dein Bruder... das Baby...?
... Okay, man kann sich auch fürs Unglück ent...
... Was weißt du nicht? Man muss auch nicht immer alles wissen, man kann auch einfach mal...
Sie stehen sich gegenüber. Sebastian lacht sie an.
SEBASTIAN (CONT’D) Singen!
ELLEN Singen?
SEBASTIAN
Ja, sing doch einfach! Hab ich grad * gedacht, als ich deinen Bruder gesehen hab. Das Musik machen glücklich macht. Und deine Stimme ist... ist flüssiges Gold!
Er grinst die perplexe Ellen an.
SEBASTIAN (CONT’D)
Na komm, sing! Für mich!
... Ja!
ELLEN Jetzt? Hier, oder was?!
Ellen findet das so dämlich, dass es schon wieder lustig ist. Sie grinst zurück - und fängt an zu singen. “Wandrin’ Star” von Lee Marvin.
Erst leise, dann immer lauter. Sebastian klatscht begeistert. Die Leute gucken beim vorbei gehen. Aber wir sind in Berlin, hier wundert sich keiner über garnichts.
Doch nach einem kurzen hoch am Anfang, schleicht sich schnell eine Verkrampftheit in ihre Stimme.
Auch Sebastian wird klar, dass das nicht wirklich gut klingt, obwohl er sich bemüht, weiter zu lächeln.
Aber Ellen merkt, dass es nicht funktioniert und bricht ab.
ELLEN (CONT’D)
Okay, gib mir einen Drink und dann... Nur einen!
Sebastian nickt geschlagen...
73 73
INNEN. BAR IN BERLIN - NACHT
... Nach einem harten Schnitt sehen und hören wir Ellen in einer Bar am Tresen singen. Sie ist sichtlich betrunken und manche Töne verrutschen, aber es gibt keinen Zweifel: Sie singt grandios.
Als sie fertig ist, wird sie von den Gästen in der Bar johlend gefeiert.
Sebastian geht mit glasigen Augen vor ihr auf die Knie und küsst ihre Füße in der Lache auf dem Boden...
AUSSEN. HANSTEDT / VOR ARZTPRAXIS - TAG
75 75 *
Susanne wartet vor einer Arztpraxis in Hanstedt. Ab und zu lächelt sie grüßend Passanten zu. Man kennt sich hier, selbst, wenn man nichts miteinander teilt, ausser den Wohnort.
Lissy kommt aus der Praxis. Sie geht aufrecht, aber nicht sehr stabil.
SUSANNE
Ich hole das Auto...
... Ja, gut, ich kann das Auto auch später...
LISSY
... Ich würde gern laufen...
... Brauch ein bisschen frische Luft...
Lissy geht voran, Susanne neben ihr her.
SUSANNE (CONT’D) Was sagt der Arzt?
LISSY
Es hängt alles an der Diabetes. Ich habe Wasser in den Beinen, die Durchblutung klappt nicht mehr. Ich kriege nur schwer Luft. Deshalb natürlich auch der Herzinfarkt...
Sie sieht Susanne an, die das alles stumm aufnimmt.
Lissy bleibt schwer atmend auf dem kleinen Platz vor der Kirche stehen. Susanne nimmt sie am Arm...
SUSANNE
Komm, wir setzen uns...
Sie setzen sich auf eine Bank. Zwei alte Frauen, die dem * Dorftreiben zusehen. Ein paar Kinder spielen Fussball. Jüngere Frauen kommen vom oder gehen zum nächsten * Supermarkt.
SUSANNE (CONT’D)
Aber das wird doch auch alles wieder besser, oder?
LISSY
Na... Das ist ja noch nicht alles. Ich habe Krebs. Vaginalkrebs. Sie wollen mir bald meine Schamlippen wegschneiden. Ausserdem ist mein linker Zeh praktisch abgefault, auch wegen der Diabetes. Sie müssen ihn amputieren. Das schlimmste aber ist die Dialyse, die jetzt ansteht. Meine Nieren funktionieren nicht mehr richtig. Das bedeutet drei mal *
LISSY (CONT’D) Pink (mm/dd/yyyy)
die Woche 4 Stunden auf einem Stuhl sitzen. Das Blut wird rausgeholt, in der Maschine gewaschen und dann wieder in meinen Körper zurückgepumpt. Dreimal die Woche! Ich hab den Arzt gefragt, wie lange ich das machen muss und er hat gesagt, für den Rest meines Lebens. Es sei denn, ich würde eine neue Niere bekommen, was in meinem Alter völlig illusorisch ist.
Sie schweigen eine Weile. Lissy beobachtet die Fussball spielenden Kinder. Die jungendliche Eleganz ihrer Bewegungen, ihr Ungestüm und ihre Leidenschaft im Spiel. Es gefällt ihr. Ihre Gesichtszüge lösen sich.
SUSANNE
Der Mensch gewöhnt sich an vieles. Und er ist stärker, als man denkt.
LISSY
Der “Mensch”... ich weiss nicht, was das ist. Ich jedenfalls nicht. Also, ich bin nicht so stark, soll das heissen. Die Dialyse macht müde, man fühlt sich elend und schlapp und wird depressiv. Das sagt jeder. Das * ist Folter. Das mache ich nicht. Das habe ich dem Arzt gesagt.
SUSANNE
Und was meinte er?
LISSY
Das ich dann sterben werde. Nierenversagen.
SUSANNE
Aber das geht doch nicht! Was ist denn mit deinem Mann? Der braucht dich doch!
Lissy schweigt.
SUSANNE (CONT’D)
Und deine Kindern? Wollte ich dich sowieso mal fragen, die lassen sich ja nie blicken...
LISSY
... Die sind missraten. Alle beide. Ich weiss auch nicht, warum. Tom war schon immer ein bisschen komisch... Und Ellen... ich glaube ja, dass sie lesbisch ist... Oder geworden ist...
76
Oh!
SUSANNE
LISSY
Ja. Gerd meint das auch. Er meint, man könnte da was machen. Dass es dafür Therapien gibt...
SUSANNE
Na, ich weiss ja nicht, Lissy... ich glaube, dafür gibts keine Therapien. Ist ja keine Krankheit, wenn man lesbisch ist.
LISSY
Ist ja auch egal. Geht mich ja auch nichts an. Ich hab einfach komische Kinder. Kann man nichts machen.
Der Fussball rollt auf sie zu. Lissy schiesst ihn zurück. Ihr Gesicht verzieht sich schmerzverzerrt. Vermutlich der faulige Zeh...
EINBLENDUNG:
DAS KONZERT
INNEN. BERLIN / PHILHARMONIE / SAAL - ABEND
Der Saal ist voll, die letzten Plätze werden eingenommen. Die Musiker kommen auf die Bühne und machen sich bereit.
76
Ellen und Sebastian betreten den Saal, sie sind spät dran, etwas ausser Atem und natürlich verkatert. Sie zeigen einer Platzanweiserin ihre Tickets, die junge Frau führt zu ihren Plätzen im seitlichen Rang, mitten in einer * Reihe, mit Blick auf den Dirigenten. Die anderen Gäste * müssen aufstehen, um die beiden durchzulassen.
Noch bevor sie sitzen, verdunkelt sich das Licht im Saal, die Bühne wird erhellt und Tom kommt durch den Seiteneingang in den Saal, Applaus brandet auf, während Ellen und Sebastian sich nervös arrangieren.
Bernard schlüpft unbemerkt hinter Tom in den Saal und nimmt in der ersten Reihe Platz, auch er ist sichtlich nervös. *
Tom, scheinbar die Ruhe selbst, betritt das Pult, verbeugt sich kurz vor dem Publikum, dreht sich dann zum Orchester. Die Gespräche im Saal verstummen. Tom hebt die Arme in der Stille...
... Und Ellen muss husten. Es ist nur ein kurzer Impuls, sie versucht, ihn zu unterdrücken, aber der Huster kommt doch heraus...
... Tom hat es gehört, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Beginnt das Konzert...
... Und Ellen muss wieder husten. Sie hält sich beide Hände vors Gesicht, aber es ist trotzdem unüberhörbar. Sebastian sieht sie alarmiert von der Seite an... Ellen zuckt die Achseln...
... Bernard beobachtet angespannt jede Bewegung des Orchesters. Sein Stück beginnt leise, zaghaft...
... Was auch Ellens nächsten Huster umso hörbarer macht...
... Aus der Reihe hinter ihr tippt ihr jemand leicht energisch auf die Schulter, sie dreht sich um, der Tippende reicht ihr einen Hustenbonbon... Sie sieht ihn gequält an, nimmt den Bonbon aber, wickelt ihn aus und schiebt ihn sich - hustend! - in den Mund...
... Sebastian rutscht nervös auf seinem Stuhl hin - und her, was Ellen nur noch unruhiger macht...
ELLEN
(leise zu Sebastian) Was ist denn...?
... Mal WAS?!
SEBASTIAN
Wie? Was ist denn... Kannst du nicht mal...!
Na, nicht husten...!
... Ellen sieht zur Bühne, wo der Schlagzeuger, der gerade nicht dran, sie neugierig beobachtet...
... Ihre nächste Hustenattacke erreicht nun auch Tom und reisst ihn aus seiner Konzentration...
... Er wirft einen kurzen Blick über die Schulter und sieht zu Ellen, die in diesem Moment ebenfalls hoch sieht... Ihre Blick treffen sich für eine Sekunde... Sie sehen sich an wie Duellanten vor dem Schusswechsel...
... Dann dreht sich Tom wieder nach vorn und dirigiert entschlossen weiter, während Ellen sich in einen ebenso entschlossenen Hustenanfall hineinsteigert...
Bernard sieht sich ärgerlich nach Ellen um...
... Der Nachbar neben Ellen reicht ihr ein Taschentuch. Was soll sie damit? Sie ignoriert es... Ihr Husten mischt sich jetzt mit einem langanhaltenden Röcheln...
... Murmeln im Saal...
... Der Gast hinter Ellen beugt sich nach vorn...
GAST
Vielleicht beruhigen sie sich erstmal draussen...?! *
Ein Gast VOR Ellen dreht sich daraufhin um...
2. GAST Ruhe bitte!
GAST
Ich wollte nur darum bitten...
SEBASTIAN
Lassen Sie uns in Ruhe, sie stören das Konzert!
... Die Unruhe breitet sich, von Ellens Husten ausgehend, in konzentrischen Kreisen, wellenartig, immer weiter durch den Saal, in dem nun kaum noch jemand auf die Musik achtet...
... Bernard bebt vor Wut und Verzweiflung... Er steht auf und geht den Gang hoch in Richtung Ellen...
... Ellen muss inzwischen husten UND würgen... Sebastian beugt sich zu ihr...
SEBASTIAN (CONT’D) Was ist los, Süsse?
ELLEN
Mir ist schlecht, ich glaub, ich muss kotzen...
SEBASTIAN
Dann gehen wir vielleicht besser mal...
Ein Gast legt Ellen die Hand auf die Schulter...
3. GAST
Es gibt draussen einen Arzt, der...
Ellen schlägt reflexartig seine Hand weg, Sebastian steht abrupt auf...
SEBASTIAN (laut)
Fassen sie meine Frau nicht an, ja! Sonst...
Ein weiterer, bulliger Gast aus der Reihe vor ihnen steht ebenfalls auf...
4. GAST
Keine Gewalt, ja?!
2. GAST
Gehen Sie bitte endlich!
... In diesem Moment erbricht Ellen sich auf die Gäste in der Reihe vor ihr... Kurze Schreie des Erschreckens und des Ekels sind die Folge...
... Tom verliert jetzt doch die Konzentration, er dreht sich in den Saal, wo Bernard sich durch die Reihe zu Ellen kämpft und Sebastian in ein Handgemenge mit einem der Gäste verwickelt wird...
... Das Orchester spielt orientierungslos weiter, zerfranst sich aber mehr und mehr...
... Bernard erreicht Ellen, die jetzt auf allen vieren auf dem Boden kniet und keucht, um sie herum haben sich die Gäste, besorgt um ihre Abendgarderobe, zurückgezogen. Bernard beugt sich zu ihr runter...
BERNARD
Was ist denn los? Brauchen Sie einen Arzt?
ELLEN
Nee, geht schon, nicht so schlimm, bin nur ein bisschen verkatert...
BERNARD
Nicht so schlimm?!?
Er reisst sie verärgert hoch, will sie durch die Reihe nach draussen drücken, doch Sebastian zerrt ihn von hinten zurück...
SEBASTIAN
Niemand fasst meine Frau an, ist das klar!
Bernard fährt herum und schlägt Sebastian mit der Faust ins Gesicht.
TOM (ruft durch den Saal) Bernard! Hör auf!
Das Orchester bricht ab.
Erstarrung im Saal. Nur noch Ellen ist zu hören - sie hustet...
Sebastian beugt sich runter zu Ellen, legt seinen Arm um ihre Schulter...
ELLEN
Ist es schon zu Ende? Ich hör keine Musik mehr...
SEBASTIAN
Ja, ich glaube, für uns ist es zu Ende...
ELLEN
(erleichtert) Okay... Ich glaub, mir gehts nicht so gut...
Sebastian hilft ihr hoch. Der ganze Saal sieht stumm zu, wie die beiden langsam durch die Reihe stolpern... Ellen sieht zur Bühne, sieht Tom in die Augen... Sie lächelt, wahrscheinlich ist es aufmunternd gemeint, aber in diesem Moment kommt es Tom eher zynisch vor...
Endlich verschwinden die beiden Störenfriede durch die Tür nach draußen...
TOM
(in den Saal)
Ich schlage vor, wir fangen einfach nochmal an!
Zögerlicher Applaus kommt auf, aber die Verstörung ist nicht so leicht zu vertreiben.
Tom und das Orchester beginnen das Stück erneut, diesmal aber deutlich fragiler als vorher.
Bernard setzt sich kraftlos in den Stuhl, in dem eben noch Ellen gesessen hat, vor ihm das Erbrochene zwischen seinen Füßen, aber das merkt er nicht.
EINBLENDUNG:
1 2 3 4 5 6 7
Liv und Moritz sitzen auf dem Flur eines Büros, schwer zu sagen, wo genau. Könnte eine Arztpraxis sein. Oder eine Anwaltskanzlei.
Sie sitzen sich gegenüber, auf Stühlen, die an der Wand stehen.
Niemand sagt etwas. Eine Frau (MEDIATORIN, 48), kommt aus der Toilette am Ende des Ganges und richtet sich an die beiden...
MEDIATORIN
Wollen wir anfangen?
MORITZ
Ja! LIV Wir warten noch!
MEDIATORIN
Wie sie möchten, wir sind bereit...
Die Mediatorin verschwindet in einem Büro.
Liv und Moritz bleiben still zurück. Moritz atmet tief durch.
MORITZ
Ich bin nicht dein Feind, Liv. Im Gegenteil.
Sie sieht ihn regungslos an. Als ob sie in Gedanken woanders ist.
Es klingelt an der Tür, ein Summer öffnet und Tom kommt rein, wieder etwas ausser Atem...
TOM
Sorry, aber wir hatten...
... Nein, keine Probe, wir hatten vor ein paar Tagen eine katastrophale Premiere, falls es dich...
LIV
MORITZ (CONT’D)
... Ja ja, ganz wichtige Probe bestimmt, wie immer...
... Ehrlich? Tut es nicht!
Tom! Lass es, ja? Bitte!
Sie steht auf und geht den Flur runter in das Büro, in dem die Mediatorin verschwunden ist.
77
Tom, Liv, Moritz, die Mediatorin und ein THERAPEUT (50) sitzen im Kreis in einem hellen, freundlichen Raum.
78
Sie sind mitten im Gespräch...
LIV
Ich kann dir nur eins sagen, Moritz: Wenn du das gemeinsame Sorgerecht gegen meinen Willen beantragst...
... Ja, das Gesetz vielleicht, aber... Dann gibts Krieg.
MORITZ
... Ich habe das gesetzliche Recht auf ein gemeinsames...
... Krieg?! (zu den Therapeuten) Ist das jetzt das Vokabular, in dem wir hier reden, oder verstehe ich hier irgendwas... (zu Tom) das kommt doch von dir!
Die Mediatorin antwortet sehr ruhig und sanft...
MEDIATORIN (zu Moritz)
Lassen Sie uns doch bitte bei unseren Verabredungen bleiben, Liv hat das Kissen und deshalb im Moment die Redeautorität...
... Das gilt auch für Sie, Tom!
TOM (zu Moritz)
Glaubst du wirklich, Liv braucht von mir die Idee zum Krieg führen? Kennst du sie so wenig...?
THERAPEUT (ebenfalls sehr sanft)
Ich finde auch, wir sollten Liv ausreden lassen. Also, Liv...?
Er lächelt sie aufmunternd an...
LIV
Ich glaub, mit dem Wort “Krieg” ist von meiner Seite dazu alles gesagt.
Die beiden Therapeuten wechseln einen kurzen Blick: das wird nicht leicht hier...
MEDIATORIN
Gut, das klingt vielleicht etwas hart, aber ich denke, wir sind hier, um auch unbequeme Gedanken erst einmal offen auszusprechen...
MORITZ (zu Liv)
Warum willst du nicht, dass wir uns gemeinsam über die Zukunft unseres Kindes austauschen und entscheiden? *
Ich bin schließlich kein Idiot, mit * dem man nicht reden kann und...
LIV (unterbricht)
... Doch, bist du. Also, nein, du bist kein Idiot, aber du bist... Wirr im Kopf, du...
Tom muss lachen, unterdrückt es aber schnell...
LIV (CONT’D)
... Du lebst in deiner Öko-Blase... oder, wahrscheinlich leben wir alle in unserer jeweiligen Blase, aber... Deine Blase ist besonders unrealistisch, so, wie du dir einbildest, dass wir uns mal geliebt haben, oder, schlimmer noch, immer noch lieben, ich würde es nur verdrängen und alles würde gut werden, wenn ich nur...
MORITZ
Das es Jessie gibt, ist doch kein Zufall! Das ist Schicksal! UNSER Schicksal!
Liv sieht ihn an, als wäre er verrückt.
LIV (leise)
In der Nacht, wo wir sie wahrscheinlich gezeugt haben, waren wir auf einer Party und ich hab mit drei Männern geflirtet. Einem arroganten Anwalt, auf den ich wahnsinnige Lust hatte, einem netten Musiker, auf den ich auch ziemlich Lust hatte, und ja, ein bisschen hab ich auch mit dir geflirtet, auf den ich eigentlich keine Lust hatte. Ich war eben in Flirtstimmung... Und ich hab im Stillen gedacht, na, bei meinem Glück lande ich wahrscheinlich am Ende mit dir im Bett - und so war es dann auch...
Moritz macht es völlig fertig, was er da hört...
MORITZ
Wovon redest du, Liv?! Wir waren zu dem Zeitpunkt seit drei Monaten ein Paar!
LIV
Ja, in deiner Vorstellung waren wir ein Paar. In meiner hatten wir einzweimal Sex gehabt - und der war nicht schlecht, das geb ich zu!aber ansonsten gingst du mir auf die
Pink (mm/dd/yyyy)
LIV (CONT’D)
Nerven mit deinem Gut-MenschenGelaber.
MORITZ
Du hast nie verhütet!
LIV (wird immer aggressiver)
Weil die Ärzte mir nach meiner Schilddrüsenoperation gesagt haben, dass ich wahrscheinlich nicht mehr schwanger werden kann und wenn, dann nur nach einer Hormontherapie! Und dann... ist es eben doch passiert! Und ich... fühlte mich verzweifelt. Und allein.
MORITZ
Aber du warst doch nicht allein!
Liv schüttelt den Kopf. Er versteht es einfach nicht. Tom mischt sich ein...
TOM
Stimmt. Das hab ich ihr auch gesagt.
Alle sehen ihn an, als ob sie denken: Ach ja, da ist ja noch jemand...
TOM (CONT’D)
Als Liv schwanger war, hat sie mich angerufen. Ich war an dem Morgen extrem verkatert, wir hatten ein tolles Konzert am Abend vorher und haben ein bisschen gefeiert.... Sie * hat geweint, gesagt, dass sie den dazu gehörigen Mann nicht will und dass sie kein Kind allein grossziehen kann und dass sie wohl abtreiben muss... Und ich hab gesagt, das kommt nicht in Frage. Ich wusste, dass sie sich im Grunde ein Kind wünscht und todtraurig war über die Aussage der Ärzte nach der Schilddrüsenoperation. Sie hat gesagt, “ich kann das aber nicht allein” und dann... hab ich... wie gesagt, ich war eigentlich noch betrunken... also hab ich gesagt: “Du bist ja nicht allein, ich bin ja auch noch da.”...
Er meditiert kurz über diesen Satz, der sein Leben verändert hat.
TOM (CONT’D)
... Tja... Und so wurde ich Jessies Vater!
... Vielleicht mehr, als du!
... Du kannst mir glauben, ICH wollte kein Kind!...
MORITZ
Du bist NICHT ihr Vater!
... Wenn du unbedingt ein Kind willst, dann mach dir selber eins, du...!
Die Therapeuten versuchen, die Kontrahenten zu beruhigen, aber dann geht Liv entschieden dazwischen.
LIV
Das stimmt nicht, Tom. Du bist nicht mehr als Moritz der Vater!
TOM (überrascht) Sondern?
LIV
Moritz ist Jessies biologischer Vater. Das wird er auch immer sein.
TOM
Und das bedeutet soviel? Wer da mal den Samen gespendet hat?
LIV
Es gibt eine Verbindung zwischen einem Kind und seinen leiblichen Eltern, ja, das glaub ich. Egal, ob * wir das wollen oder nicht. Und es ist wichtig für das Kind, dass man * sich darum bemüht, diese Verbindung aufrecht zu halten. Sonst geht etwas kaputt, was nicht zu reparieren ist.
MORITZ
Dann gib es doch zu: Wenn es wirklich darauf ankommt, dann weisst du genauso gut wie ich, dass ICH der Vater bin!
LIV
Ich weiss nicht, was das heisst: “Wenn es wirklich darauf ankommt”... Aber... ja. Du bist Jessies Vater. Deshalb sitze ich ja hier mit dir bei dieser seltsamen Veranstaltung, bei der diese Therapeuten mit uns in diesem sanften Singsang sprechen, als wären wir geistig behinderte Kinder.
Jetzt schauen die Therapeuten leicht beleidigt.
LIV (CONT’D)
(zu den Therapeuten) Sie wollten doch unbequeme Wahrheiten, oder?
Sie sieht zu Tom, der sie irritiert ansieht.
Liv dreht sich zu Moritz und fixiert ihn...
LIV (CONT’D)
Aber mach dir deshalb keine Illusionen, Moritz: Wenn du das gemeinsame Sorgerecht beantragst, gibt es Krieg!
INNEN. MEDIATION / FLUR - TAG 79 79
Später im Flur ziehen Tom, Liv und Moritz ihre Jacken an bzw. warten auf die anderen. Es ist nicht ganz klar, wer sich jetzt hier wie von wem verabschiedet.
Livs Handy klingelt, sie sieht aufs Display.
LIV (zu Tom)
Das ist ne Münchener Nummer...
MORITZ
Dann geh ran!
Liv geht ran...
LIV
Hallo...? Ja, das bin ich... Verbinden Sie mich doch bitte einfach mit dem Professor... Nein, ich kann jetzt nicht mal eben schnell in die Praxis kommen! Ich bin in Berlin! Bitte verbinden Sie mich mit dem Professor... Ja, jetzt!..
Eine etwas längere Pause folgt, in der Liv ein paar Schritte von Tom und Moritz weg macht, die sie angespannt beobachten und versuchen, in ihrem Gesicht zu lesen.
LIV (CONT’D)
... Guten Tag, Professor Scharfenberg... Ja, ich möchte * dieses Gespräch gern am Telefon führen... Der Vater ist bei mir, ja... Mach ich nicht... Ja?...
Es folgt wieder eine lange Pause. Tom und Moritz sehen sich an. Liv setzt sich auf einen Stuhl an der Wand.
LIV (CONT’D)
... “Etwas”? Was heisst “Etwas”?... Ja... ja... gut... ja... mach ich... Ja... danke... ich melde mich. Danke...
Sie legt auf. Tom geht langsam auf sie zu. Moritz rührt sich nicht. Liv sieht beide an, ganz ruhig.
LIV (CONT’D)
Wir müssen noch einmal mit Jessie nach Frankfurt. Sie wollen noch ein * paar Tests machen. Aber wahrscheinlich ist nichts. Sagt er.
TOM
Du hast “etwas” gesagt...
LIV
Was hab ich gesagt?
TOM
“Etwas”, du hast das Wort “etwas” benutzt.
LIV
Ja...? Ich weiß nicht...
MORITZ
Doch, hast du. Tom hat recht.
LIV (fast tonlos)
Wahrscheinlich ist nichts, hat er gesagt... Nur noch einen Test... Aber den werde ich nicht machen.
MORITZ
Liv, denk da erstmal...
LIV Nein!
Die beiden Männer sehen sich besorgt an. *
81
INNEN. ZAHNARZTPRAXIS/BEHANDLUNGSZIMMER - TAG
81
Ellen assistiert Sebastian bei der Behandlung eines * Patienten, sie beugen sich über dessen weit aufgerissenen * Mund, sind sich deshalb sehr nah.
Sebastian gibt knappe Kommandos, die Ellen stumm ausführt. Sebastian bohrt, Ellen saugt ab, der Patient stöhnt. Ellen * registriert, dass Sebastian ihrem Blick ausweicht. *
ELLEN (zum Patienten)
Vielleicht doch eine Anästhesie?
Der Patient schüttelt den Kopf, er gehört zu den Tapferen.
Als Sebastian zum Präparieren eines Provisoriums zum Tisch geht, tritt Ellen zu ihm...
ELLEN (CONT’D)
Sagst du mir jetzt, was los ist?
... Red nicht so mit mir, klar! Ich hasse es, wenn man mich für blöd verkauft!
SEBASTIAN
... Nichts ist los...
Sebastian lässt sie stehen und geht zurück zum Patienten, Ellen folgt ihm. Beide arbeiten am Patienten weiter, aber Ellen ist sauer und unkonzentriert...
ELLEN (CONT’D) (leise zu Sebastian) Also...?! Was ist los?
Wir haben im Anschluss drei weitere Patienten und sind jetzt schon 20 Minuten zu spät...
SEBASTIAN (CONT’D) (leise)
Spinnst du? Nicht jetzt!
Sie gerät mit dem Sauger zu tief in den Hals des Patienten, der röchelt und jammernd protestierend. Sebastian beruhigt ihn und sieht Ellen drohend an.
SEBASTIAN (CONT’D)
Jetzt reiss dich mal zusammen! ... Meine Frau ist schwanger...
ELLEN (CONT’D)
... Sonst was? Soll das ne Drohung sein? Mit was drohst du denn? Ich meine, mit welchen Konsequenzen willst du mir denn bitte...
Jetzt rutscht Ellen mit dem Sauger wirklich in den Rachen des Patienten, der hustet und spuckt. Sebastian kann ihn nur mit Mühe beruhigen... Ellen entschuldigt sich leise.
Dann setzen alle die Behandlung fort. Ellen versucht jetzt, sich wirklich auf den Patienten zu konzentrieren.
Stattdessen sieht jetzt Sebastian immer wieder zu ihr hoch, aber sie sieht ihn nicht an...
SEBASTIAN (CONT’D) (sehr leise)
Ich kann sie jetzt nicht allein
SEBASTIAN (CONT’D)
lassen... Das verstehst du doch, oder?
ELLEN
Du meinst, es ist von dir?
SEBASTIAN
Natürlich ist es von mir!
Ellen sagt nichts. Beide widmen sich jetzt schlecht gelaunt und leicht aggressiv der weiteren Behandlung.
INNEN. HANSTEDT / WOHNUNG LISSY - TAG 82 82
Lissy sitzt in ihrem Wohnzimmer und liest mit einer großen Lupe in der Hand die “Hamburger Morgenpost”. Ihre Augen werden immer schlechter.
Doch trotz der Lupe ist es anstrengend, die kleinen Buchstaben zu entziffern. Sie wirft die Lupe frustriert beiseite. Starrt nach draussen. Nimmt sie dann wieder und liest weiter.
Die Wohnungstür wird geöffnet und kurz darauf steht Susanne mit Einkäufen im Zimmer.
SUSANNE
Na, wie gehts heute?
LISSY
Mhm.
Susanne setzt sich vor sie.
SUSANNE
Ich war bei deinem Mann, hab ihm einen neuen Schlafanzug gebracht.
LISSY
Das ist gut, danke.
SUSANNE
Es geht ihm nicht gut, er hat ne Lungenentzündung...
... Ja, aber... ehrlich gesagt mach ich mir ein bisschen Sorgen...
... Furchtbar... Willst du nicht hinfahren...?
... Ich fahr dich auch...
LISSY (CONT’D)
... Das ist ja kein Wunder, so, wie er immer draussen rumläuft...
... Wie sah er denn aus...?
... Nein... das...
... Ich bin so schwach heute...
... Morgen... Morgen, ja? Wir fahren morgen...
83
Susanne mustert sie skeptisch. Setzt an, noch einmal für einen Besuch heute zu plädieren, lässt es dann aber seufzend. Sie steht auf...
SUSANNE (CONT’D)
Ich räum mal die Sachen ein...
LISSY
Danke!
Lissy starrt angespannt aus dem Fenster.
INNEN. HANSTEDT - PFLEGEHEIM - DÄMMERUNG/NACHT/TAG
Gerd liegt in seinem Zimmer im Bett unter einer Decke. Zwei Schwestern sind bei ihm. Sein röchelnder Atem klingt grausam.
1. SCHWESTER
Er klingt aber wirklich nicht gut. Sollen wir doch den Arzt nochmal holen?
2. SCHWESTER
Der kommt heute sowieso nicht mehr. Jetzt lassen wir ihn mal schlafen, ma gucken, wie es ihm morgen früh geht... Gute Nacht, Herr Lunies!
1. SCHWESTER
Gute Naaacht! Wenn Sie was brauchen, einfach den Notruf hier drücken, ja...?
Sie legen den Schlauch mit dem Notrufknopf neben ihn aufs Bett, gehen raus und unterhalten sich dabei...
ZWEI SCHWESTERN
Dass da von der Familie aber auch wieder nie einer kommt... Wieso? Seine Frau kommt doch manchmal... Das ist die Nachbarin... Ich glaub, seine Frau war auch manchmal da... Ja?...
Die Stimmen verschwinden langsam im Gang.
Gerd liegt allein da. Er ist wach. Seine Augen irren im Raum umher. Sein Atem rasselt unregelmässig.
Sonst passiert nichts. In einer langsamen Blende wird es NACHT im Zimmer.
Gerd liegt unverändert auf dem Rücken. Seine Augen sind jetzt geschlossen. Sein Atem setzt manchmal aus, kommt aber immer wieder.
83
84
Draussen heult jemand leise. Eine Schwester öffnet wohl eine Zimmertür, ihre Stimme spricht beruhigend, verschwindet aber, als sie die Tür schliesst.
Im Zimmer ist es wieder still, ausser dem Atem. In einer langsamen Blende kommt die MORGENDÄMMERUNG.
Gerds Atem setzt aus, er muss husten, bäumt sich schwach auf... Er hat Schwierigkeiten, zu atmen... Er müsste jetzt den Notrufknopf drücken, das tut er aber nicht... Stattdessen versucht er, sich aufzurichten, um wieder atmen zu können... Er will aufstehen, rollt auf die Seite... und damit aus dem Bett raus.
Er fällt ungebremst, knallt mit dem Kopf auf den Linoleumboden. Bleibt verrenkt liegen.
Er atmet wieder, aber sehr schwach. Er bewegt sich nicht. Noch eine Weile ist sein Atem zu hören, dann wird er immer schwächer.
Und hört dann ganz auf. Es ist ganz still im Zimmer.
In einer langsamen Blende wird es TAG. Eine neue Schwester kommt rein. Als sie Gerd am Boden liegen sieht, kniet sie sich schnell zu ihm, will ihn aufrichten, aber es geht nicht.
Sie lässt ihn liegen und läuft raus. Gerd bleibt in seiner Verrenkung liegen. Sein Gesicht ist hohl und grau. Seine Augen sind offen, wässrig und leer.
AUSSEN. RUHEFORST - TAG
Lissy steht mit Susanne auf dem Parkplatz vor einem Waldstück. Zusammen mit einem BESTATTER (55) und dem Betreiber des “Ruheforsts”, der aussieht wie ein Rentner, der mal GÄRTNER (60) war.
Sonst ist niemand da. Sie warten.
Schliesslich wendet Lissy sich an den Bestatter...
LISSY
Lassen Sie uns anfangen...
BESTATTER Und ihre...?
LISSY
... Kommen anscheinend nicht.
Sie bewegen sich zu dritt durch den Wald auf einen kleinen Platz zu, wo auf einem halbhohen Baumstumpf eine blaue, schnörkellose Urne steht.
84
Der Bestatter stellt sich vor die Urne, Lissy stellt sich etwas dahinter, der Gärtner bleibt im Hintergrund stehen, zusammen mit Susanne. Es wird bald regnen, vielleicht * regnet es auch schon, aber alle ignorieren es. *
BESTATTER
Wir sind heute hier zusammengekommen, um Gerd Lunies die letzte Ehre zu erweisen. Ein Dichter hat einmal gesagt, es gibt das Reich der Lebenden und das Reich der Toten. Was sie verbindet, ist die Liebe...
In diesem Moment klingelt Lissys Handy. Sie sieht auf das Display.
LISSY (zum Bestatter)
... Entschuldigung, da muss ich kurz ran, das ist mein Sohn...
Der Bestatter unterbricht seine Ansprache und wartet. Lissy geht umständich an das Handy.
(ab jetzt unterschnitten mit:)
AUSSEN. LANDSTRASSE - TAG 85 85
Tom steht auf einer Landstrasse mitten in der Lüneburger Heide. Neben ihm steht ein Car-Sharing-Elektro-Auto am Strassenrand.
Hallo Mama, sorry, das ich mich jetzt erst melde, ich hatte keinen Empfang...
... Ich steh hier auf der Landstrasse, mein Auto hat keinen Strom mehr...
... Nein, ich bin mit dem Zug nach Hamburg gefahren und hab mir dann am Bahnhof einen Carsharing Wagen genommen...
... Einen “Carsharing”... also, einen Mietwagen für nur kurz...
... Und jetzt ist mir auf halber Strecke der Strom ausgegangen, die Anzeige hatte eigentlich viel länger...
... Vielleicht verbraucht er mehr auf der Autobahn...
... Der fährt nicht mit Benzin, Mama, das ist ein Elektroauto und ich hab unterschätzt, dass es hier auf dem Land keine Aufladestationen gibt, ich such die ganze Zeit bei Google, aber... ach, egal... Es tut mir leid...
LISSY
... Wo bist du?
... Keinen Strom?... Ich versteh nicht... Bist du aus Berlin...?
... Einen was...?
... Für nur kurz...?
... Warum tankst du nicht?
Es gibt doch überall Tankstellen...
... Mhm...
Stille. Tom horcht ins Telefon.
TOM (CONT’D)
Seid ihr schon... Du bist auf dem Friedhof, oder?
... “Ruheforst...?”
... Und was...?
... Ohne Namen, mhm...
... Das ist aber jetzt kein Argument, Mama, das weisst du, oder? Ich bezahle für alles, das ist überhaupt...
Wieder Stille.
TOM (CONT’D)
... Hallo, Mama? Hörst du mich noch...?
... Du, Mama, ich glaube, die vom Abschleppdienst sind auf der anderen Leitung, ich ruf dich nachher nochmal an, ja...?
... Ist Ellen denn da?
... Okay... Bis später, Mama!
Sie legen auf.
LISSY (CONT’D)
Im Ruheforst, ja...
... Ruheforst, ja, kein Friedhof...
... Papa wollte das so. Man wird hier einfach in einem Wald unter die Erde gebracht. Es gibt keine Gräber, also keine Grabsteine, nur... den Wald... ohne Namen...
... Ja... Es ist natürlich auch viel billiger...
LISSY (CONT’D)
Und jetzt...? Sollen wir...?
... Ja, mach das. Tschüß Tom!... Bis nachher!
... Nein, ich hab nichts gehört von ihr...
... Bis später!
Tom starrt bewegungslos ins Leere. Da war kein Anruf auf der anderen Leitung.
Lissy lässt das Handy sinken.
SUSANNE Entschuldigung...?
Lissy wendet sich zu ihr...
SUSANNE (CONT’D)
... Du kannst schon ein Namensschild anbringen, an einem Baum, oder Stein...
... Ja?
LISSY
SUSANNE
... Das stand in dem Faltblatt, dass ich dir gegeben hab.
LISSY
Ah ja...
Sie wendet sich nervös an den Bestatter. Die lange Pause des Telefonats ist ihr unangenehm.
LISSY (CONT’D)
Können wir... Entschuldigung, waren Sie fertig?
Der Bestatter ringt mit sich, nickt dann.
BESTATTER
Wollen Sie noch ein paar Worte sagen...?
Er tritt zurück. Lissy bleibt stehen und fixiert die Urne.
LISSY
Du warst einer von den Guten. Danke dafür.
Sie geht zur Urne, nimmt sie hoch und trägt sie in den Wald. Susanne, der Bestatter und der Gärtner folgen ihr. *
INNEN. WOHNUNG LISSY - TAG 87 87
Tom klingelt an der Tür, Susanne öffnet. Sie begrüssen sich, stellen sich vor. Gehen ins Wohnzimmer, wo Lissy sitzt, auf dem Tisch stehen Kaffee und Kuchen.
TOM
Es tut mir wirklich leid, Mama...
Susanne registriert überrascht, dass Mutter und Sohn sich mit einem knappen Händedruck begrüssen, wie Geschäftspartner vor den Verhandlungen.
SUSANNE
Ich geh dann mal... Ich guck später nochmal rein, ja, Lissy?
LISSY
Ja...
Susanne geht und lässt die beiden allein.
Tom setzt sich...
TOM
Und Ellen...?
LISSY
Sie wollte kommen...
TOM
... Ist sie aber nicht.
LISSY
Noch nicht. Aber du bist ja auch zu spät.
Tom nickt zerknirscht. Lissy schenkt ihm Kaffee ein. Er bedankt sich und trinkt ihn.
SPÄTER...
Sie sitzen sich gegenüber am Tisch, der Kuchen ist gegessen, der Kaffee getrunken. Keine Ellen.
TOM
Soll ich nochmal versuchen, sie zu erreichen?
LISSY
Nein, lass ruhig. Sie ist ja alt genug um selbst zu wissen, was sie tut.
TOM
Vielleicht hatte sie einen Unfall...?
LISSY
Ach...
Sie winkt ab. Beide schweigen.
LISSY (CONT’D)
Das ist schön, dass du noch gekommen bist. Ich freu mich immer, wenn du kommst... obwohl du nicht so gut aussiehst heute, finde ich.
TOM Wieso?
LISSY
Letztes Mal sahst du besser aus.
TOM
Letztes Mal hast du gesagt, ich hätte zugenommen und das würde mir nicht stehen.
LISSY
Nein, das hab ich nicht gesagt!
TOM Doch.
LISSY
Nein, bestimmt nicht.
TOM
Ist ja auch egal.
Schweigen. Kaffee trinken.
LISSY
Ich muss dir etwas sagen. Also, es ist jetzt so, das ich auch bald sterben werde. Die Nieren versagen und ich will keine Dialyse. Das lohnt sich einfach nicht. So schön ist mein Leben nicht mehr, dass man es mit so einer Quälerei verlängern muss.
TOM Mhm.
Lissy sieht aus dem Fenster. Tom sagt nichts, weil er wirklich beim besten Willen einfach nicht weiß, was er dazu sagen soll, dass seine Mutter jetzt auch noch stirbt.
LISSY
Ich dachte, das solltest du wissen. Es gibt ein Sparbuch, es steckt im Mantel im Schrank im Schlafzimmer, in der Innentasche, darauf sind 5000 Euro ungefähr, für die Beerdigung und was sonst noch anfällt. Der Rest ist für dich.
TOM
Ich weiss nicht, was ich sagen soll, Mama. Ehrlich. Müssen wir denn jetzt darüber... Papa ist grad mal... Ich müsste jetzt irgendwas... Aber eigentlich ärgere ich mich schon wieder so über dich.
LISSY
Ärgern? Warum denn? Weil ich sterbe?
TOM
Weil ich hier bin, um... Können wir nicht über Papa reden? Ist das denn nicht sein Tag heute?
LISSY
Er ist ja schon tot.
TOM
Mir ist das alles... zuviel grad, ehrlich gesagt. Ausserdem ist meine Tochter vielleicht schwer krank und...
LISSY
... Es ist nicht deine Tochter... *
TOM
... Was soll das denn jetzt? Ich hab Liv durch die Schwangerschaft begleitet, ich war bei der Geburt dabei, hab Jessie zur Welt gebracht. Ich bin ständig da und trage es nachts durch die Wohnung, wenn es schreit. Anders wärs auch nicht, wenn es mein leibliches Kind wäre!
LISSY Doch, das wäre es.
TOM
Ach ja? Du meinst, dann würde ich es mehr lieben? So, wie du deine Kinder geliebt hast, weil es deine waren? Mann! Worum geht es hier eigentlich grad? Ich hab dir gesagt, dass sie vielleicht schwer krank ist und du...
LISSY
... Für Mütter ist es sowieso anders, als für Väter. Man hat eine so enge körperliche Verbindung von Anfang an...
TOM
... Ist das so, ja?
Er sieht sie skeptisch an. Lissy schweigt.
TOM (CONT’D)
Ich frage mich, welche Art von Gespräch das hier jetzt werden soll. Also, ob es sich lohnt, dass wir...
LISSY
.... Ich freu mich einfach, wenn wir miteinander reden.
TOM Freuen?! Du freust dich über dieses Gespräch?!
LISSY
Vielleicht haben wir nicht mehr so viele Gelegenheiten miteinander zu
LISSY (CONT’D)
reden. Ehrlich gesagt ist es mir egal, worüber.
Sie sieht raus, ganz ruhig.
LISSY (CONT’D)
Ich dachte immer, dass wir... Findest du nicht, dass wir eine ganz normale Familie waren?
TOM
“Ganz normal”... Was soll das heissen? Im Gegensatz zu was?
LISSY
Na ja, ganz normal eben, bei uns gabs keine Scheidungen, niemand musste ins Gefängnis... nichts asoziales mein ich. Oder?
Tom sieht sie lange an.
TOM
Also gut, reden wir miteinander...
LISSY
Ja...
TOM
Ich habe eine Frage. Etwas, was mir immer wieder durch den Kopf geht. Als ich klein war, so 8 oder so, schätz ich, da haben wir zusammen Mittag gegessen, du, Ellen und ich. Und ich hab irgendwas gesagt, was dich furchtbar geärgert hat. Du hast mich aufgefordert, mich zu entschuldigen. Ich wusste aber garnicht, was ich falsches gesagt hab, also konnte ich mich auch nicht entschuldigen. Du hast mich gezwungen, den ganzen Nachmittag neben dir auf einem Stuhl zu sitzen. Ellen hat sich ängstlich in ihr Zimmer verzogen. Egal, wo du in der Wohnung warst, ich musste mit dem Stuhl hinterher ziehen und mich daneben setzen. Sogar, als du Mittagsschlaf gemacht hast. Ich sass da, stundenlang, hab mich nicht getraut, mich zu bewegen. Du hast mich immer wieder aufgefordert, mich zu entschuldigen und ich hab dir immer wieder gesagt, das ich nicht weiss, wofür. Aber du hast es mir nicht geglaubt. Am Abend, als Papa kam, hat er mich erlöst. Und wir haben nie wieder darüber gesprochen.
LISSY
Warum erzählst du mir das?
TOM
Weil ich gern wüsste, wofür ich mich damals entschuldigen sollte.
LISSY
Das weiß ich doch jetzt nicht mehr, das ist so lange her! Ich erinnere mich überhaupt an nichts von dem, was du da erzählst. Es ist soooo lange her!
TOM
Na und? Ich erinnere mich doch auch!
LISSY
Ja, weil es für dich wichtig war. Aber für mich... war das nicht wichtig. Ich weiß nicht, vielleicht hatte ich einfach einen schlechten Tag. Es war anstrengend mit dir.
TOM
Na gut. Was war wichtig für dich? Was war für dich der wichtigste Moment zwischen dir und mir?
LISSY (leise)
Das... Kann ich dir nicht sagen.
TOM (überrascht)
Warum nicht? War es ein schöner Moment?
LISSY
Der schönste Moment war für mich, als sich herausstellte, dass du gesund und... normal warst. Das du keinen Schaden hattest.
TOM
Wann meinst du? Nach der Geburt?
LISSY
Nein, das war später... Ich will darüber nicht reden, bitte!
TOM
Na gut, dann reden wir eben nicht. Obwohl es... Ach, egal, muss auch nicht sein.
Er schweigt. Lissy ringt mit sich. Sieht ihn an.
LISSY
Ich bin so froh, dass du so gesund und stark bist.
TOM (misstrauisch)
Ja...?
LISSY
Du warst ein Schreibaby. So nannte man das früher, ich weiss nicht, ob man das heute noch so sagt. Du hast einfach immer geschrien...
Sie verstummt.
TOM
Ja, und? Weiter?
LISSY
Wir hatten kein Geld, dein Vater und ich, als du plötzlich kamst... Du warst ja ein Unfall, kein Wunschkind, das weisst du, oder...?
TOM
Ja. Hast du mir oft genug gesagt.
LISSY
Deshalb sind wir in die kleine Wohnung von seinen Eltern gezogen, da gab es ein winzig kleines Zimmer, das war das Zimmer für uns drei. Dein Vater war manchmal wochenlang unterwegs, ist über Land gefahren, als Vertreter von allem möglichen... Reisverschlüsse, Fotokopierer... Und ich sass mit dir in diesem kleinen Zimmer, das ich mich nicht getraut hab, zu verlassen, weil draussen war die Schwiegermutter und mit der hab ich mich nicht verstanden. Und du hast die ganze Zeit geschrien... Und dann... (unverständlich)... auf dem Boden...
TOM Was...? Was sagst du...?
... Du hast mich fallen lassen...?
... Was...? Du hast...?
... An die Wa...?! An die WAND?!?
LISSY (CONT’D)
... Du bist runtergefallen...
... Oder ich hab dich geworf...(unverständlich)
... An die Wa... (unverständlich)
Stille.
LISSY (CONT’D) Du bist runtergefallen!
TOM
Was denn nun? Ich bin runtergefallen oder du hast mich an die Wand geworfen?!
LISSY (spricht leise weiter) Ich bin aus dem Zimmer gelaufen und aus der Wohnung, bis ins Einkaufszentrum. Und da bin ich durch die Läden gelaufen, ich wollte irgendetwas kaufen... Ich hatte ja garkein Geld, aber ich hab ein Spielzeug für dich geklaut, bei Hertie. Einen Lastwagen. Einen gelben Lastwagen...
TOM
Ja... An den ich erinnere ich mich. Mit blauen Reifen.
LISSY
Als ich nach Hause kam, hatte meine Schwiegermutter dich im Arm. Du warst ganz ruhig. Sie hatte dich auf dem Boden gefunden und aufgehoben. Sie hat nichts gesagt, auch zu deinem Vater hat sie nichts gesagt. Aber sie hat mir das nie verziehen. Und ich hab die ganzen Jahre gewartet, ob man es irgendwann merkt... Ob du vielleicht irgendwann gelähmt wirst... Oder ob du einen Hirnschaden hast und niemals sprichst oder geistig behindert wirst... Aber du wurdest ganz normal. Aber... du mochtest mich nicht. Nie. Du wolltest immer nur mit deinem Vater sein. Aber ich habe das akzeptiert, denn... ich mochte dich ja auch nicht... Das hab ich an dem Tag begriffen, an dem ich dich an... Na, an dem Tag eben. Dass ich dich nicht liebe, denn wenn man jemandem liebt, dann... passiert das nicht. Egal, wie gestresst oder genervt man ist. Das passiert einfach nicht. Wenn man jemanden liebt. Aber ich konnte dich nicht lieben, du warst... einfach schrecklich. Als Baby. Aber...
Sie hält inne.
... Ja?
TOM (leise)
LISSY
Aber deshalb war ich nie enttäuscht darüber, dass du mich nicht magst. Ich war nur enttäuscht... als Ellen mich irgendwann auch nicht mehr mochte. Denn Ellen hab ich geliebt! Das weiß ich! Sie hat mich gebraucht, sie war so ängstlich und schüchtern, als sie klein war... Und dann ist sie einfach gegangen und unglücklich geworden. Aber das war nicht meine Schuld. Das nicht!
Tom registriert den Trotz in ihrer Stimme.
Er steht auf. Die beiden haben sich fast nicht geregt, während sie miteinander geredet haben. Jetzt macht Tom ein paar Schritte vom Tisch weg.
LISSY (CONT’D)
Du... Du bist so anders, als ich...
TOM
Nein... Nein, das ist es nicht. Es ist genau das Gegenteil. Ich bin dir so ähnlich. Genauso kalt.
LISSY
Das stimmt nicht. Du bist nur...
TOM
... Ach komm...
LISSY
... Du bist...
Sie sucht nach den richtigen Worten...
TOM
... Jetzt bloss nichts schlaues sagen wollen, Mama! Das wird sowieso nichts. Es ist ja okay, wenn man sein gesamtes Allgemeinwissen aus dem Lesen der “Hamburger Morgenpost” und der “Hörzu” hat, aber dann sollte man auch das philosophieren besser lassen!
Sie sehen sich an. Unversöhnlich traurig.
LISSY
Vielleicht hätten wir lieber zusammen Klavier spielen sollen, so wie früher...
TOM
Auch das hab ich von dir. Die Musik.
LISSY
Ja, wir haben beide das absolute Gehör!
Tom sieht sie überrascht an.
TOM
Haben wir nicht.
LISSY Doch!
Sie singt laut den Kammerton “A”.
TOM
Das ist kein “A”...
... Ist es nicht!
Hör schon auf!
Lissy verstummt.
LISSY (CONT’D)
Doch, ist es...
Doch! (singt den Ton nochmal)
LISSY (CONT’D) (leise)
Lieber nicht immer soviel reden. Alle reden immer soviel.
Dann wendet Tom sich an seine Mutter.
TOM
Trotzdem... Ich bin froh, dass wir reden.
LISSY
Ja...? Wirklich?
TOM
Ja. Weil ich grad das Gefühl hab, dass ich vielleicht doch irgendwann mal verstehe, warum diese Familie so ist, wie sie ist. Warum wir alle so furchtbare Menschen sind. Warum es mir zum Beispiel so egal ist, dass du so krank bist. Und das du bald stirbst. Ich finde es so schrecklich, dass ich nichts fühle. Das in mir so eine gähnende Leere ist, wenn es um dich geht. Jetzt wird mir langsam klar, dass ich mich deshalb nicht schlecht fühlen muss. Und dass ich mich auch nicht schlecht fühlen muss, dass ich es
eigentlich schon immer kaum aushalte, mit dir zu reden. In deiner Nähe zu sein. Dich zu besuchen. Dass es mir jedes Mal den Hals zuschnürt, wenn ich dich auch nur zurückrufen muss, weil du auf meiner mailbox warst.
Er sieht seine Mutter an.
LISSY (leise)
Und Papa...? Du hast ihn doch auch kaum besucht...
TOM
... Weil ich dann auch immer mit dir reden musste. Und ich ertrage es einfach nicht, Kontakt mit dir zu haben. Aber ja... dass ich nicht bei Papa war, als er gestorben ist... das werde ich mir nie verzeihen. Nie.
Lissy nickt. Sie versteht. Sie hat es ja immer gewusst.
LISSY
Vielleicht sollte mich das jetzt traurig machen. Aber es ist zu spät dafür. Und ich hab schon alle Traurigkeit aufgebraucht, als du jung warst... Ja, das stimmt, du musst deshalb kein schlechtes Gewissen haben. Ich dachte nur, es ist gut, wenn du weisst, wie es um mich steht... Und wo das Sparbuch ist.
Der Rest ist Schweigen.
INNEN. HAMBURG - SPÄTI - NACHT 88 88
Ellen torkelt in einen Späti. Wählt eine Nummer auf ihrem Handy, fast ohne Hinzusehen, mechanisch.
Am anderen Ende der Leitung geht die mailbox von Sebastian ran...
SEBASTIAN (O.S.) (auf mailbox)
“Ich bin gerade nicht...”
Ellen legt mechanisch auf, als sie die Stimme hört.
Sie kauft eine Flasche Wodka. Die Männer an der Kasse verkaufen ihn ohne Umstände, ihren Zustand nehmen sie nicht mal wahr.
89
Auf dem Weg nach draussen wählt sie die gleiche Nummer... Wieder Sebastians Stimme... Wieder legt sie auf...
AUSSEN. HAMBURG - STRASSE VOR SPÄTI - NACHT
... Draussen läuft sie schwankend durch St. Georg. Bei Nacht nicht gerade ein einladendes Viertel. Ausserdem nieselt es, was sie aber nicht zu stören scheint.
Sie nimmt einen Schluck aus der Flasche... Wählt wieder die Nummer..
... Und diesmal geht Sebastian ran.
SEBASTIAN (OFF) Ellen, wie schön, dass du anrufst...!
Ellen setzt sich, erleichtert über seine Stimme, auf den Kantstein an der Strasse. Die Autos fahren nur einen Meter entfernt an ihr vorbei.
ELLEN
Ich will nur noch einmal mit dir reden, also leg nicht gleich wieder auf, okay!
89
SEBASTIAN (OFF) * Natürlich lege ich nicht auf!
Sebastian bleibt im off, abwesend. Nur seine Stimme ist zu hören.
ELLEN
Es war nicht meine Idee, ja?! Dass du deine Frau verlässt, dass wir was ernsthaftes werden, und so, das war alles nicht meine Idee, das hab ich alles nie verlangt! Das wollte ich nur noch mal klarstellen!...
... Und das tu ich auch jetzt nicht!
... Ja. Gut!
SEBASTIAN (CONT’D)
Ja, du hast recht. Du hast nie was verlangt...
... Gut.
Ellen nimmt zufrieden einen Schluck aus der Flasche...
ELLEN (CONT’D)
Ausser vielleicht... Einen letzten Drink...
... EINEN!!!
... Du bist garnicht...
... Du bist bei deiner Familie?!
... EINEN, Bastian! Einen...! Und dann... Ja...
SEBASTIAN (CONT’D)
Ellen, das wäre schön, aber...
... Ich bin garnicht...
... Ich muss grad...
... Ich bin in Gedanken die ganze Zeit bei dir... Ich vermisse dich so...
Sebastian seufzt am anderen Ende der Leitung. Ellen freut sich so über seine Worte. Sie legt das Handy weg... Das Display ist schwarz: Da ist niemand auf der anderen Seite der Leitung.
Sie fängt an zu singen. Wie immer, wenn sie betrunken ist, singt sie wunderschön.
SEBASTIAN (CONT’D)
Unsere Beziehung ist wie deine Stimme. Sie funktioniert nur mit Alkohol.
ELLEN
Na und? Kann ich mit leben.
SEBASTIAN
Ich will dich aber ganz und gar!
ELLEN
Ich MAG Alkohol! Mir gefällt der ganze... lifestyle!
Sie macht eine weite Geste in die Strasse...
ELLEN (CONT’D)
... Und, ja, wahrscheinlich macht meine Leber schneller schlapp, scheiss drauf! Weil, jetzt, hier, mit dieser Flasche Wodka in der Hand, bin ich u-n-b-e-s-i-e-g-b-a-r!
Ellen steht jetzt mitten auf der Strasse. Der Alkohol gibt ihr die Kraft dazu, den Verkehr aufzuhalten. Sie ist jetzt “the king of the world”
SEBASTIAN
Ich mache mir Sorgen um dich, Ellen... Weil ich dich liebe... Du darfst nicht sterben...
ELLEN
Ja, vielleicht sterbe ich bald, vielleicht auch nicht. Niemand weiss
ELLEN (CONT’D)
das, ich nicht, du nicht. Ich bin keine Statistik! Ich will nicht nützlich sein, verstehst du! Ich bin kein Teil von irgendeinem System, das mich nur gesund erhalten will, damit ich FUNKTIONIERE! Ich will aber nicht funktionieren! Ich bin von allem das Gegenteil, verstehst du? Ich bin von allem was wichtig und richtig und sinnvoll und effektiv ist... DAS GEGENTEIL! Und selbst vom Gegenteil bin ich das GEGENTEIL! ICH BIN DIE NEGATION DER NEGATION DER NEGATION!... Ich bin... und ich bin nicht... ANTIMATERIE...
Sie lacht und singt und tanzt auf der Strasse. Die Autos weichen ihr aus. Die Menschen auf den Bürgersteigen sehen ihr fasziniert zu...
ELLEN (CONT’D)
Komm, Sebastian, tanz mit mir!... Es ist so schön grad!... Aber nur mit dir!... Nur mit dir!...
Plötzlich wird ihr klar, dass sie das Handy nicht in der Hand hält... Sieht sich suchend um... Torkelt suchend zwischen parkenden Autos zurück zum Bürgersteig, findet das Handy nicht, wendet sich ruckartig und läuft mit den Augen am Boden wieder auf die Strasse... UND WIRD DIREKT VON EINEM VORBEIFAHRENDEN AUTO ERFASST!
... Sie knallt auf Kühlerhaube und Windschutzscheibe, fliegt über das Dach und landet mit voller Wucht auf dem Asphalt... Das Auto kommt 20 Meter weiter schlingernd zum Stehen... Der FAHRER steigt geschockt aus.
Und sieht Ellen, die sich unter Schmerzen aufrichtet, mühsam erst auf alle Viere und dann schwankend auf die Beine kommt. Sie sieht den näherkommenden Fahrer an, Blut läuft ihr aus dem Mund.
Trotzdem steht sie da, als ob ihr der Zusammenstoß nichts anhaben konnte. Wie der Terminator. Oder die nächste Stufe in der Evolution der Menschheit. Sie grinst teuflisch...
ELLEN (CONT’D) (leise)
So nicht... Soooo nicht...!
INNEN. WOHNUNG ELLEN - TAG 90 90
... Nach einem harten Schnitt sehen wir Ellen in ihrem Bett schnarchend schlafen. Der Wecker klingelt.
Schliesslich wacht sie hustend auf, schaltet den Wecker aus, setzt sich stöhnend auf. Sie ist angezogen, wie eben
noch auf der Strasse, nass, schmutzig. Alles tut ihr weh, sie hat überall Schürfwunden und ist blutverkrustet.
Sie starrt blinzelnd ins graue Licht aus dem Fenster.
ELLEN (leise)
Abends is schön... Morgens is scheisse...
Sie verzieht das Gesicht, schmerzverzerrt.
ELLEN (CONT’D) (CONT’D)
... Aber abends is wieder schön.
Sie steht auf und schwankt ins Badezimmer...
AUSSEN. STRASSEN IN HAMBURG - TAG 91 91
... Und schwankt angezogen weiter durch die Strassen, ein mit Zwiebelmett belegtes Brötchen und ein eiskaltes RED BULL konsumierend...
INNEN. ZAHNARZTPRAXIS/FOYER - TAG 92 92
... Den letzten Bissen kauend und mit dem letzten Schluck aus der Dose runterspülend, kommt sie in die Praxis. Die anderen Zahnarzthelferinnen mustern sie belustigt, während sie sich über der Tresen zu ihrer KOLLEGIN beugt...
ELLEN
Sebastian da?
KOLLEGIN
Dr. Vogel hat gekündigt, das weißt du doch!
ELLEN
Ach ja...
93
KOLLEGIN
Du assistierst heute beim Chef...
ELLEN
Wie aufregend... Ich geh mich umziehen...
Sie verschwindet im Gang. Die Kollegin wedelt mit der Hand vor dem Gesicht Ellens schlechten Atem weg.
INNEN. ZAHNARZTPRAXIS/BEHANDLUNGSZIMMER - TAG
Ellen assistiert Dr. Kienzle, dem verwitterten Chef. Auf dem Behandlungsstuhl sitzt eine tätowierte Frau, dessen Zustand wahrscheinlich nicht viel besser ist, als Ellens.
93
Dr. Kienzle beobachtet Ellen misstrauisch von der Seite bei der Behandlung, aber Ellen funktioniert einigermassen... doch sie kämpft mit der Müdigkeit und den Schmerzen vom Autounfall. Immer wieder drohen ihr die Augen zuzufallen.
DR. KIENZLE
(zu der tätowierten Frau)
So, ich gehe jetzt in den Wurzelkanal, es kann sein, dass die Anästhesie nicht stark genug ist, sagen sie einfach bescheid, wenn ich nochmal nachlegen soll, ja?
TÄTOWIERTE FRAU (nickend) Ähemmph...
Dr. Kienzle bohrt jetzt mit leisem sirren vorsichtig in die Tiefe ihres Mundes... Das monotone Sirren verfehlt seine Wirkung bei Ellen nicht... Ihre Augenlider werden schwer...
... Und plötzlich sackt ihr Kopf ruckartig einschlafend nach vor, in die Bohrhand des Arztes, und drückt so den Bohrer tief in den Wurzelkanal der tätowierten Frau.
Die schreit markerschütternd auf, schlägt wild um sich, der Bohrer fliegt Dr. Kienzle aus der Hand, er selbst rutscht vom Stuhl und landet auf dem Boden.
Die tätowierte Frau sieht ihn und Ellen panisch an.
TÄTOWIERTE FRAU (CONT’D) (keuchend)
... Jetzt... brauch ich doch noch... ne Spritze!
Dr. Kienzle rappelt sich auf, Ellen hilft ihm, aber er schüttelt sie ab...
DR. KIENZLE (leise zu Ellen)
Hau ab! Und schick mir Verena rein!
Ellen nickt ohne Widerspruch - und geht.
INNEN/AUSSEN. MONTAGE: WOHNUNG LIV / KIRCHE / WOHNUNG TOM 94 94 / BAR / WOHNUNG LISSY / BAHNHOF HAMBURG - NACHT
Heiligabend. In einer Montage sehen wir, wie die Familie Lunies den Abend verbringt...
... Tom kommt in kompletter Weihnachtsmann-Montur in Livs Wohnzimmer, wo sie mit Jessie unter dem geschmückten
Weihnachtsbaum wartet. Sie feiern Bescherung, mehr für sich selbst, als für das Kind...
... Lissy und Susanne sitzen in einer gut gefüllten Kirche. Vorne am Altar wird die Weihnachtsgeschichte nach Carl Orff von Kindern und Jugendlichen aufgeführt...
... Ellen sitzt in einer halbleeren Kneipe und feiert mit ein paar anderen, doch eher traurigen Gestalten, das heilige Fest...
... Tom verlässt im Weihnachtsmann-Kostüm die Wohnung, als Moritz kommt, sie geben sich sozusagen die Klinke in die Hand...
... Später kommt Tom in seine Wohnung, zieht das Kostüm aus, macht sich eine Flasche Wein auf und setzt sich vor den Fernseher, schiebt die DVD von Ingmar Bergmanns “FANNY UND ALEXANDER” in den Player...
... Lissy und Susanne machen sich bei Lissy in der Küche Kartoffelsalat mit Würstchen, essen sie dann zusammen im Wohnzimmer... Später klingelt es an der Tür, Susannes Tochter (40) ist gekommen, um sie zu besuchen. Susanne verabschiedet sich von Lissy und geht...
... Lissy setzt sich ins Wohnzimmer, macht das Radio an und hört die Weihnachtsgrüße der Seefahrer aus der Fremde an ihre Familien in der Heimat...
... Ellen ist auf dem Sofa in der Bar eingeschlafen und wacht auf, als sich einer der anderen Gäste gerade über sie hermachen will... Sie schiebt ihn weg und geht... läuft durch die stillen, weihnachtlich geschmückten Strassen... Holt ihr Handy raus, will eine Nummer wählen, widersteht dann aber der Versuchung...
... Sie steht vor dem Bahnhof, geht rein, in den nächsten offenen Laden für Reiseproviant...
... Als sie wieder raus kommt, hat sie eine Flasche Tequila in der Hand. Sie öffnet sie, nimmt einen Schluck, läuft ziellos durch den Bahnhof, um sie herum die seltsamsten Gestalten an einem Heiligabend, darunter nicht wenige Weihnachtsmänner in voller Montur...
... Sie bleibt schliesslich vor der Anzeigetafel stehen, die die Destinationen der abfahrenden Züge anzeigt... darunter auch einer nach “MüNCHEN”. Der Zug fährt bald.
... Sie starrt eine Weile drauf... Dann geht sie zum entsprechenden Gleis...
... Tom ist mitten in seinem Film, als sein Telefon klingelt. Er sieht aufs Display und geht ran...
TOM
Frohe Weihnachten, Bernard!
... Zuhause, mit einer Flasche Wein...
... Die 4-StundenFernsehfassung, wie immer.
... Wir sehen uns nicht mehr privat...
... Wir können uns nicht trennen...
... Und du?
... Was denn?
... Was, jetzt?!
BERNARD (OFF)
Frohe Weihnachten, Tom! Wo bist du, was machst du..?
... Und “Fanny und Alexander” im DVDPlayer...?
... Und Ronja?
... Ihr habt euch getrennt?
... Weil ihr nie zusammen wart, ja ja , ich weiss...
... Ich müsste dich mal um einen Gefallen bitten...
... ... Du musst dafür aber leider zu mir kommen...
... Na komm, du kennst doch das Ende vom Film: Die Familie sitzt glücklich unterm Weihnachtsbaum, der böse Priester ist tot...
Tom zögert. Eigentlich hat er keine Lust, aber etwas in Bernards gut gelaunter Stimme macht ihn nervös.
TOM (CONT’D)
Okay, ich komme...
AUSSEN. BERLIN - CAR SHARING AUTO / WEDDING - NACHT 95 95
Tom sitzt in einem Car-sharing Auto und fährt durch die ruhige, weihnachtliche Stadt.
Vor einem Mietshaus im Wedding steigt er aus und läuft ins Haus...
INNEN. WOHNUNG BERNARD - NACHT 96 96
... Oben im 3. Stock öffnet Bernard die Wohnungstür und lässt Tom rein. Sie umarmen sich zur Begrüssung kurz.
Tom sieht sich um. In der unaufgeräumten Künstler-ChaosWohnung läuft Händel. Die Reste eines Steaks stehen auf dem Küchentisch.
TOM
So, was gibts? Was kann ich tun? Das Steak hast du ja offensichtlich allein geschafft...
BERNARD
Also, pass auf, folgendes... Ich komm direkt zur Sache, ja?
TOM
Ähm, ja, klar...
BERNARD
Ich werde heute Nacht... also jetzt, mein Leben beenden. Das ist kein spontaner Impuls, das weisst du, wir haben schon öfter drüber gesprochen, wir müssen das heute nicht wiederholen. Mein Entschluss steht fest, dafür brauch ich dich auch nicht. Das Problem, bei dem du mir helfen musst, ist Mi-Do.
Tom setzt sich müde an den Tisch, schüttelt stumm den Kopf.
TOM
Kannst du dich bitte mal hinsetzen, Bernard?
BERNARD
Nein, ich will mich nicht... Na, meinetwegen...
Er setzt sich Tom gegenüber.
BERNARD (CONT’D)
Also, Mi-Do und ich haben seid ein paar Wochen diese Affäre und...
... Hör mir erstmal zu...
... Mi-Do ist sehr, also SEHR verliebt, leider... Und sie ist nicht doof, sie ahnt was...
... Sie ist bei ihren Eltern in Frankfurt/Oder, aber ich hab Angst, dass sie... Hör mir zu!
(laut) Hör mir erstmal zu!!!
TOM
... Worüber reden wir hier eigentlich...?
... Hör dir mal selber zu, was glaubst du...?
... Bernard! Hallo! Jetzt beruhig dich erstm...
... (steht auf) Ich geh jetzt einfach w...
... So kannst du mit mir nicht...
... Okay, ich hör dir zu.
Tom setzt sich wieder. Er mustert Bernard ärgerlich.
BERNARD (CONT’D)
Also, ich habe Angst, dass sie hier heute nacht auftaucht... Übrigens,
BERNARD (CONT’D)
kleiner Fun Fact: Sie ist garkeine Südkoreanerin! Ihre Familie ist mit ihr aus Nordkorea geflohen und sie ist völlig traumatisiert, sieht überall Gespenster, Spione, die sie überwachen, irre, oder?
Tom sieht ihn schweigend an.
BERNARD (CONT’D)
Ja, ok, zur Sache: Ich hab ihr einen Schlüssel gegeben, das war ein Fehler... Und ich will nicht, dass sie mich dann in der Badewanne findet...
TOM
Dich WO findet...?!
BERNARD
... Und dann einen weiteren Schock fürs Leben kriegt. Das hat sie nicht verdient. Sie ist eine gute Seele, die genug schlimmes erlebt hat im Leben... Ich hätte nicht gedacht, dass sie das so ernst nimmt zwischen uns, hab ich unterschätzt...
TOM (fassungslos)
Bernard, äh, sag mal, also... Ich weiss garnicht, was ich sagen soll... Was erwartest du eigentlich, was ich jetzt...?
BERNARD
... Ich habe mir eine Pille besorgt, aus der Schweiz. Ich werde mir aber zur Sicherheit zusätzlich die Pulsadern aufschneiden, in der Badewanne... Das wird natürlich eine ziemlich Sauerei... Ich möchte dich also bitten, hier zu warten, bis ich tot bin und, falls Mi-Do auftaucht, sie nicht reinzulassen. Danach, wenn alles vorbei ist, ruf bitte die Polizei, kannst du von meinem Telefon aus machen, dann kannst du einfach gehen. Beerdigung und so ist alles arrangiert, steht alles in dem Brief hier...
Er zeigt auf einen Brief, der auf dem Tisch liegt...
BERNARD (CONT’D)
... Den die Polizei finden wird, also du musst dich um nichts weiter kümmern. Nur verhindern, dass Mi-Do
BERNARD (CONT’D) Pink (mm/dd/yyyy)
reinkommt und mich in der Badewanne findet. Das ist alles. Ach ja...
Er deutet auf einen zweiten Umschlag auf dem Tisch.
BERNARD (CONT’D)
Da drinnen ist die letzte und einzig gültige Fassung von “sterben”. Falls es jemals wieder irgendjemand aufführen will. Aber mein Tod hilft da natürlich.
Tom nimmt den Umschlag, öffnet ihn und überfliegt die Notenblätter, die wir in diesem Moment nicht sehen. Jetzt * muss er die Tränen unterdrücken. *
TOM
Das kannst du nicht machen.
BERNARD
Was kann ich nicht machen? Das... ? (deutet auf die Noten)... Oder das im Badezimmer?
TOM
Du kannst doch nicht sowas schreiben * und dann... *
BERNARD (hart) *
... Ich will kein Urteil über das, * was da steht! Nicht von dir! Nicht * von irgendwem! *
Stille. Tom sieht seinen Freund an, sieht in dessen ruhiges, entschlossenes Gesicht. *
TOM
Bernard... ich...
BERNARD
Lass es, Tom! Ich werde es tun, darüber will ich jetzt nicht mehr diskutieren. Die Frage ist nur noch, ob du Mi-Do einen Schock ersparen willst oder nicht. Das ist deine Entscheidung. Tut mir leid, dass ich dich da mit reinziehen muss, aber... Na ja, es gibt schlimmeres, oder? Dafür sind Freunde da, oder? Auch mal zu helfen, wenn es unangenehm wird, oder?
TOM (kopfschüttelnd)
“Wenn es unangenehm wird”...
Bernard steht auf.
BERNARD
Ich gehe jetzt ins Bad.
Tom starrt an ihm vorbei aus dem Fenster in die Weihnachtsdekoration bei den Nachbarn auf der anderen Seite des Innenhofs.
BERNARD (CONT’D)
Komm, steh auf! Umarm mich wenigstens nochmal!
Tom sieht ihn an. Schüttelt den Kopf. Bleibt sitzen.
BERNARD (CONT’D)
Schade, aber ist okay. Ich liebe dich trotzdem, Partner!
Er dreht sich um, geht raus, den Flur hinunter - und verschwindet im Badezimmer. Schliesst die Tür hinter sich.
Tom bleibt bewegungslos sitzen.
Dann steht er auf, geht durch den Flur zum Bad, will reingehen, aber die Tür ist verschlossen.
TOM
Lass mich rein!
BERNARD (OFF) (ruhig von drinnen)
Warte im Wohnzimmer. Es wird ne Weile dauern, bestimmt zwei Stunden. Dann kannst du die Polizei rufen.
TOM
Lass mich rein, Bernard! Das kann doch alles nicht wahr sein! Mein Vater ist grad gestorben, meine Mutter liegt im Sterben, Jessie hat einen Schatten im Gehirn! Ich kann nicht mehr! Ist das klar, Bernard!? Das kannst du jetzt nicht... Ich brauch mal ne Pause!
Keine Antwort. Tom steht wie erstarrt im Flur.
Dann klingelt sein Handy. Es ist Liv. Er geht ran.
TOM (CONT’D)
Hi...
(unterschnitten mit Liv in ihrer Wohnung:)
... Liv ist in ihrem Wohnzimmer und packt das Geschenkpapier unterm Weihnachtsbaum zusammen, während sie telefoniert.
LIV
Hi! Noch wach?
TOM
Ja.
LIV
Ich wollte mich nur nochmal bedanken dafür, dass du heute da warst und den Weihnachtsmann gespielt hast. Jessie hat sich so gefreut! Ich hab sie noch nie so lustig brabbeln gehört. Ich glaub, sie fängt bald an zu sprechen...
TOM (abwesend) Mhm...
Er sieht immer wieder nervös in Richtung Bad.
LIV
Moritz ist grad gegangen. Ich räum noch ein bisschen auf, dann geh ich ins Bett. Jessie schläft ganz selig...
Liv geht in das dunkle Zimmer, ein paar Schritte auf Jessie zu, bis sie sehen kann, wie sich der kleine Bauch beim Atmen hebt und senkt.
Liv flüstert jetzt beim Sprechen...
LIV (CONT’D)
Ich sehe Jessie oft an und stelle mir vor, wie da jetzt unser Kind liegt... wie es wohl ausgesehen hätte... wie es gewesen wäre... Was Sie jetzt wohl machen würde...
TOM “Sie”...?
LIV
Ja, ich glaub, es war eine “Sie”...
TOM
Findest du es falsch, was wir gemacht haben?
LIV
Ich weiss nicht, ob “richtig” oder “falsch” dafür die richtigen Worte sind. Wir haben es damals so entschieden, weil wir keine andere Möglichkeit für uns gesehen haben. Aber... sie hat gelebt, in mir, das hab ich gespürt...
Jessie schreckt im Schlaf hoch. Der Schnuller fällt ihr aus dem Mund. Sie maunzt leise. Liv führt ihr den Schnuller wieder zum Mund, Jessie findet ihn im Schlaf. Liv legt ihr die Hand auf die Brust. Sofort beruhigt Jessie sich und schläft weiter.
Tom geht derweil in den Flur, horcht an der Badezimmertür. Nichts zu hören.
Beide starren in leere Stille ihrer jeweiligen Wohnung, in die Stadt vor dem Fenster...
TOM
Ich glaube, das schwierigste ist, das nie etwas nur eins ist. Sondern immer noch viel mehr.
LIV
Ja, ich frage mich nur, ob das alles einfacher oder schwerer macht...
TOM
Für manche macht es das Leben überhaupt erst aushaltbar. Und für andere unerträglich...
LIV
Guck nicht immer Ingmar Bergmann an Heiligabend. Das bringt dich nur schlecht drauf.
TOM
Ich bin bei Bernard.
LIV
Oh, ach so. Alles okay bei ihm?
TOM
Ehrlich gesagt... Er will sich umbringen.
LIV
Oh nein, schon wieder?
TOM
Ja, ich weiss, aber diesmal... Er machts wirklich. Ich habs ihm angesehen. Er hat noch nie so entspannt ausgesehen.
Er starrt auf die Badezimmertür.
LIV
Was heisst das, er machts wirklich? Du bist doch da, oder?
TOM
Ja, aber er hat sich im Bad eingeschlossen. Ich soll nur hier Wache halten, dass Mi-Do nicht kommt und ihn...
LIV
... Wer ist Mi-Do...?
TOM
... Seine momentane Affäre, eine Cellistin aus dem Orchester, er will nicht, dass sie ihn mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne findet.
LIV
Wie? Und da liegt er jetzt, oder was...?
TOM
Ja, ich denk schon. Und ich weiss ehrlich gesagt nicht, was ich jetzt machen soll...
LIV
Na, erstmal ihn da rausholen, oder?
Liv räumt inzwischen die Küche auf, während sie weiter telefoniert. Sie ist der Typ, der nicht schlafen kann, wenn die Wohnung nicht sauber ist.
TOM
Ja, wahrscheinlich...
LIV “Wahrscheinlich”...?!
TOM
Er ist so unglücklich. Seit ich ihn kenne, ist er unglücklich. Das sind jetzt über 20 Jahre...
LIV
Er leidet eben gern. Bernard hat ein erotisches Verhältnis zum Leiden. Und er nutzt es doch ganz gut, anders könnte er seine Musik doch garnicht schreiben...
TOM
Die Musik, die gerade furchtbar gefloppt ist...
LIV
... Weil deine Schwester das Konzert sabotiert hat...
TOM
... Ich glaube nicht, dass es nur das war. Manchmal hab ich Angst...
Er windet sich. Es fällt ihm schwer, das folgende zu sagen...
TOM (CONT’D)
... Dass sich in seinem Stück in Wahrheit das Problem ausdrückt, dass er alle Leiden eines echten Künstlers durchlebt - aber ohne deren Talent...
LIV
Mann, bist du hart! Ich mag seine Musik. Sie ist nicht so... anstrengend...
TOM
... Du meinst, sie ist nicht so atonal...
LIV
... Weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass sie schön ist. Und viele Menschen glücklich macht. Alle meine Freundinnen haben CD’s von ihm, weil seine Musik ihnen inneren Frieden schenkt. Und bei uns im CoffeeShop läuft sie auch oft.
TOM
Tja...
Tom seufzt und horcht ins Badezimmer. Nichts.
TOM (CONT’D)
Entschuldigung, Liv. Ich weiss wirklich grad nicht, was ich mit ihm machen soll...
LIV
... Du sollst die Tür eintreten und ihn aus der Badewanne holen!
Tom geht aus dem Flur zurück ins Wohnzimmer. Liv setzt sich an den Küchentisch und isst mechanisch die Reste eines Schoko-Weihnachtsmanns.
TOM
Vielleicht hat er das Recht, das selbst zu entscheiden... Ob er weiter leben will... Oder nicht...
LIV
Bernard kann das grad nicht entscheiden, er ist depressiv, enttäuscht über eure Uraufführung, es ist Weihnachten, er ist einsam, das kann man doch alles nicht erst nehmen!
TOM
Vielleicht will er das aber! Endlich mal in seinem Leiden ernst genommen werden! Nicht jeder Mensch hat das Talent zum glücklich sein. Nicht jedem hilft ne Therapie oder Tabletten oder was die Gesellschaft sich sonst noch so ausdenkt, um uns davon abzuhalten, selbst über unser Leben zu entscheiden. Oder eben über unseren Tod.
Sie schweigen einen Moment. Tom sieht in den dunklen Flur. War da grad ein Geräusch im Bad?
LIV
Du musst ihn aus dieser Badewanne holen, Tom. Das weisst du doch, oder?
TOM
Mhm.
LIV
Weil man immer alles tun muss, um ein Leben zu retten. ALLES, Tom!
Sie kann sein skeptisches Gesicht am anderen Ende der Leitung nicht sehen.
TOM (zögernd)
Ja... Ich muss jetzt auflegen.
LIV
Okay, gute Nacht! Sag Bernard, dass ich...
Tom legt auf, bevor Liv ausgesprochen hat.
Wir bleiben bei Tom. Er stellt sein Handy aus. Setzt sich in den Ohrensessel, dessen einzige Funktion es ist, in ihm Musik zu hören. Und das macht er. Händel läuft noch immer.
Er schliesst die Augen.
SPÄTER: Tom öffnet die Augen wieder. Die Musik hat aufgehört. Draussen ist es immer noch dunkel.
Nach einer Weile steht er auf und geht durch den Flur zum Bad. Horcht an der Tür. Stille.
TOM (lauter werdend) Partner...? Partner!... Bernard!?
Keine Antwort. Tom tritt gegen die Tür, er muss mehrere Anläufe nehmen, bis die alte Tür schliesslich aus den Angeln bricht.
Drinnen liegt Bernard still in der Badewanne, in der sich das Wasser mit dem Blut aus seinen aufgeschnittenen Armen mischt.
Tom, kniet sich zu ihm, nimmt seinen Kopf in die Hände. Bernard öffnet leicht die Augen, lächelt Tom an...
BERNARD
Lass mich, Partner... Es ist... okay, wirklich... das wird...
TOM (CONT’D)
... Ja, ich lass dich... ich wollte...
Er nimmt Bernard in den Arm und drückt ihn fest...
TOM (CONT’D)
... Ich wollte dich nur nicht ohne Umarmung gehen lassen.
Er drückt ihn lang, dann lässt er ihn wieder in die Wanne gleiten.
Er lehnt sich an die gegenüber liegende Wand und betrachtet seinen Freund, dessen Atmung sich jetzt schnell verlangsamt. Als ob er nur noch auf diese Umarmung gewartet hat.
SPÄTER: Es ist ganz still in dem Bad. Nur noch Toms leiser Atem ist zu hören. Er beugt sich vor. Legt die Hand an den leblosen Körper Bernards... Dann verlässt er das Bad.
Draussen wählt er auf Bernards Telefon den Notruf.
TOM (CONT’D)
Hallo, ich rufe aus der Wohnung von Bernard Johanns an, er wohnt in der * Moabiter Strasse 36. Er liegt tot in seiner Badewanne... (wiederholt langsam:) Bernard Johanns, Moabiter * Strasse 36, der Schlüssel liegt unter der Matte...
Die Stimme am Telefon fragt nach seinem Namen, Tom legt auf.
Er nimmt den Schlüssel vom Tisch, öffnet die Wohnungstür, legt den Schlüssel unter die Matte, schliesst die Tür und geht das Treppenhaus runter.
AUSSEN. STRASSE VOR BERNARDS HAUS - NACHT 98 98
Tom steht auf der gegenüberliegenden Strassenseite in einem Hauseingang versteckt und wartet. Er ist noch immer nass und blutig von der Umarmung.
Als die Polizei vor Bernards Hauseingang hält, verschwindet Tom schnell, die Strasse runter, in die Dunkelheit.
ABBLENDE...
EINBLENDUNG:
DER TENNISBALL AUF
DER SPITZE DER STRASSENLATERNE
INNEN. MÜNCHEN BAHNHOF - TAG 99 99
Ellen liegt schlafend auf einer Bank im Münchener Hauptbahnhof. Sie wird von Bahnbeamten geweckt, die sie fragen, wo sie denn hinreisen will.
Ellen rappelt sich stattdessen wortlos auf und geht den Bahnsteig runter Richtung Ausgang.
Sie geht in einen Laden für Reisebedarf, kauft eine Umhängetasche und einen Haufen Zeitungen.
AUSSEN. MÜNCHEN S-BAHN - TAG 100 100
Ellen fährt in der S-Bahn aus München raus, stopft die Zeitungen in den Umhängetasche.
AUSSEN. FÜRSTENFELDBRUCK - TAG 101 101
Ellen steigt aus der S-Bahn, läuft durch das beschauliche bayerische Städtchen und kommt schliesslich zu einem
hübschen Ein-Familien-Haus in einer gemütlichen EinFamilien-Haus-Siedlung.
Ellen ist noch ziemlich betrunken, sieht sich um. Überall Spuren von Weihnachten, in Fenstern, Gärten und Dächern.
Sie reisst sich zusammen und klingelt. Ein Mädchen am * Anfang der Teenager-Jahre öffnet, CARLA (15), und * betrachtet sie misstrauisch.
KARL
Hallo...?
Aus dem Haus ruft eine weibliche Stimme “Wer ist da, Carli?” und gleich darauf stellt sich LENA (45) neben ihre * Tochter in die Tür und sieht Ellen vorsichtig an. *
LENA
Ja...?
Ellen mustert sie. Lena ist eine auf patente Weise attraktive Frau. Mit einem Zug ins Strenge um den Mund, aber nicht allzu schlimm.
ELLEN
Hallo, frohe Weihnachten! Ich bin Ellen, eine Arbeitskollegin von Sebastian... ihrem Mann...?
LENA
Ja... Und?
ELLEN
... Ich war in der Gegend und wollte ihm nur schnell die Unterlagen vorbei bringen, die er dringend über die Feiertage noch haben wollte...
Sie deutet auf die Umhängetasche an ihrem Arm. Lenas Gesicht wechselt von freundlich-skeptisch zu fast nur noch skeptisch. Sie ruft ins Haus nach Sebastian.
Während die drei warten, mustern sie sich gegenseitig stumm. Carla eindeutig feindselig. Kinder haben einen * siebten Sinn für sowas.
Sebastian taucht auf - und als er Ellen sieht, schafft er es tatsächlich, sich fast nichts anmerken zu lassen...
SEBASTIAN
Ellen... was machst... machen Sie denn hier...?
ELLEN
Frohe Weihnachten, Sebastian! Ich war in der Nähe und hab Ihnen die Unterlagen einfach direkt vorbei
Pink (mm/dd/yyyy) 138.
ELLEN (CONT’D)
gebracht... Die Sie unbedingt noch durcharbeiten wollten...?
SEBASTIAN
Äh, ja... Ihnen auch frohe Weihnachten... Und, äh, ja, danke!
Lena sieht zwischen den beiden hin - und her...
LENA
(zu Ellen)
Wollen Sie nicht reinkommen?
ELLEN
Gern!
SEBASTIAN
(zu Lena)
Essen ist aber eigentlich gleich fertig...
CARLA *
102
Ja!
LENA
Vielleicht hat deine Kollegin ja auch Hunger? Wo sie schon extra hergekommen ist...
SEBASTIAN
Also, ich glaub nicht...
ELLEN
So ein kleines bisschen ein Hungerchen hab ich tatsächlich...
LENA
Na dann...
Sie macht Platz. Ellen spaziert ins Haus. Lena wirft Sebastian einen kalten Blick zu und schliesst die Tür.
INNEN. FÜRSTENFELDBRUCK / HAUS SEBASTIAN - TAG
102
Ellen, Sebastian, Lena und Carla sitzen in einem heimelig * eingerichteten Esszimmer beim Mittagessen.
Ausser ihnen sitzt auch noch HANS (12) mit am Tisch. Aus * seinem Kopf ragen zwei dünne Hörner, ca. 30 Zentimeter lang, in die Luft. Wie zwei Antennen, oder ein Geweih. Ellen starrt ihn fasziniert an. Sie kommen eindeutig aus seinen Schläfen, es ist KEINE Maske. Niemand kommentiert die Hörner, also tut sie es auch nicht.
Es gibt Weihnachtsbraten und er ist unglaublich zäh. Aber auch das kommentiert niemand. Ellen kaut mit großer Mühe auf dem Fleisch herum.
Carla zetert, die Stimmung am Tisch ist anstrengend. Lena * redet mit größter Mühe auf ihre Tochter ein. Hans bleibt * still. Ellen und Sebastian sehen sich ab und zu an, Lena bemerkt jeden dieser Blicke. (Improvisierter Dialog)
Ellen kämpft sichtlich mit ihrer Trunkenheit. Sie fragt, ob sie noch etwas von dem hervorragenden badischen Riesling haben kann. Kann sie, Lena schenkt nach.
SPÄTER IM WOHNZIMMER: Man hat es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht, die Kinder spielen mit ihren Weihnachtsgeschenken, Ellen, Lena und Sebastian sitzen auf dem Sofa.
Ellen schenkt sich aus der fast leeren Weinflasche nach. Sie beobachtet, wie Lena die Kinder beim Spielen immer wieder anleitet und korrigiert.
Sebastian beugt sich zu Ellen...
SEBASTIAN (leise)
Geh bitte!
ELLEN
Warum? Ist doch grad so nett hier... Ist doch nett hier, oder?
Sie sehen sich an, während Lena die Kinder zum pädagogisch wertvollen Spielen animiert. Carla spricht chinesische * Sätze aus ihrem neuen Sprachtrainingsspiel nach. *
ELLEN (CONT’D)
Ja, chinesisch, das ist gut... Damit kann man nicht früh genug anfangen... Habt ihr noch ne Flasche...?
LENA
Natürlich...
SEBASTIAN
Ich glaube, Ellen muss jetzt gehen...
LENA
Ja? Muss sie das?
Lena sieht ihren Mann bitter an. Dann steht sie auf.
LENA (CONT’D)
Ich hole noch ne Flasche...
Sie geht in die Küche. Sebastian steht auf und folgt ihr. Ellen hört sie in der Küche streiten.
Ihr Blick fällt auf Hans, der sie still mustert. Seine Hörner bewegen sich asymetrisch zueinander langsam durch die Luft. Wie organische Gebilde aus Fleisch und Blut. Oktopussarme.
Ellen zeigt mit ihren Händen die Form seiner Hörner an ihrem Kopf nach und macht dann das “Daumen hoch!”-Zeichen. Hans reagiert stirnrunzelnd...
Lena kommt mit einer offenen Weinflasche ins Zimmer gestürmt, schenkt Ellen nach. Danach schenkt sie sich selbst ein Glas ein und kippt es runter.
ELLEN
Sie sollten aber keinen Alkohol trinken...
LENA
Wieso nicht?
ELLEN
Das ist nicht gut in der Schwangerschaft... Fürs Kind mein ich...
LENA
Hä? Welche Schwangerschaft...?
Ellen und Sebastian sehen sich an. Sebastian weicht ihrem Blick aus.
ELLEN
Oh... schon gut... Mein Fehler...
Sie leert ihr Glas.
SPÄTER AM ABEND.
Es ist spät geworden und die ganze Familie plus Ellen sitzt vor dem Fernseher. Es läuft eine deutsche Komödie. Lena, die inzwischen auch betrunken ist, und Ellen amüsieren sich köstlich. Die Jungs sind müde. Sebastian sitzt wie paralysiert dabei.
Als der Film aus ist, steht Ellen auf...
ELLEN (CONT’D)
Ich glaub, ich muss jetz ma los...
... Sie schafft es aber nicht, sinkt zurück ins Sofa.
ELLEN (CONT’D)
Scheisse... Ist aber auch so gemütlich bei euch...
Hans steht auf und stellt sich neben Ellen. Sieht sie neugierig an. Seine Antennen beugen sich zu ihr.
HANS
Du kannst in meinem Zimmer schlafen. Ich schlafe bei Carla. *
SEBASTIAN
Das geht doch nicht...
LENA
Das ist doch eine super Idee...!
CARLA *
Neeeein!!!
ELLEN
Ja... find ich auch...
Ihr fallen die Augen zu.
103
INNEN. FÜRSTENFELDBRUCK / HAUS SEBASTIAN / SCHLAFZIMMER
103 HANS - NACHT
Ellen schläft im Zimmer von Hans. Das Zimmer ist voller seltsamer Plakate aus Fantasywelten, die im Dunkeln kaum zu erkennen sind. Game of Thrones, Lord of the Rings, Star Wars...
Die Tür öffnet sich leise. Hans kommt rein, schliesst die Tür hinter sich. Krabbelt zu Ellen ins Bett. Weckt sie... Ellen sieht ihn verschlafen an.
HANS
Du siehst meine Antennen, oder?
ELLEN
Ja klar, wieso, die anderen nicht?
HANS
Nein.
ELLEN
Das ist aber schade. Sind nämlich sehr schöne Antennen. Darf ich mal?
Hans nickt und Ellen betastet seine Hörner.
ELLEN (CONT’D)
Wo hast du die her?
HANS
Ich bin nicht von hier. Ich komme aus einem Paralleluniversum.
ELLEN
Oh! Toll!
HANS
Ist aber nicht so toll da. Da ist * immer Krieg. Also bin ich hierher * geflüchtet. Mit einem Raumschiff...
ELLEN
*
*
... Also kommst du nicht nur aus nem * Paralleluniversum sondern auch aus * der Zukunft?! *
*
HANS
Da, wo ich her komme, gibt es keine * Zukunft und keine Vergangenheit. Und * diese Welt HIER ist nur das * Zwischenergebnis von dem, was war * und dem, was sein wird.
Ellen nickt gedankenverloren: Aha.
ELLEN
*
*
*
Mhm, verstehe... Und wissen deine * Eltern, dass du... ein Fremder bist.
HANS
*
*
Nein. Ich bin ganz allein hier. Aber * ich dachte... Vielleicht kommst du * auch aus dem Paralleluniversum...? * Weil du meine Antennen gesehen * hast...
ELLEN
Hm. Aber ich hab doch keine...
HANS
*
*
*
*
... Vielleicht wurden sie dir * abgeschnitten, als du geboren * wurdest? *
ELLEN *
Ja, wer weiß... Ich frag meine * Mutter, wenn ich sie das nächste Mal * sehe... *
Er sieht sie fragend an.
*
HANS *
*
Du glaubst mir das doch, oder?
ELLEN *
Das mit dem Paralleluniversum? Hm, * also... *
*
HANS
... Das kann hier garnicht das * einzige Universum sein. Das ist * physikalisch unmöglich. *
ELLEN *
Ach ja? Wieso denn? *
HANS *
Wegen dem Urknall. *
ELLEN * (versteht nicht) * Aha...? *
*
HANS
Da gabs ne Explosion und in 1,7 * Sekunden ist alles auseinander * geflogen und daraus wurde dann das * Universum. Und alle Teile stossen * sich voneinander ab und ziehen sich * gegenseitig an. Fast genau gleich * doll, verstehst du? *
ELLEN *
Ich weiss nicht genau... *
HANS *
Eigentlich müsste alles auseinander * fliegen oder wieder in sich zusammen * fallen, aber das tut es nicht. Alles * ist im Gleichgewicht. Und die * Chance, dass das beim ersten Mal * geklappt hat, ist wie... Wenn man * einen Tennisball auf eine * Strassenlaterne hochwirft und der * Ball bleibt genau auf der Spitze * liegen. *
*
ELLEN
Wow. *
*
HANS
Ja. Und weil das so unwahrscheinlich * ist, ist das bestimmt milliardenmal * passiert... Und wir sind nur eins * von ganz vielen Universen. *
ELLEN *
Ja... Leuchtet mir ein. Ich glaub, * jetzt hab ichs verstanden. *
Hans lächelt zufrieden. *
HANS * Kann ich hier bei dir schlafen? *
ELLEN * ‘Türlich! *
Sie kuscheln sich aneinander, Ellen streichelt Hans * zärtlich. Dann schlafen sie friedlich ein. *
105 105
Am nächsten Morgen schlurft Lena durchs Haus. Sie hat Kopfschmerzen, ihr ist schlecht - sie hat einen furchtbaren Kater.
Als sie die Tür zu Hans’ Schlafzimmer öffnet, sieht sie drinnen Ellen und Hans eng aneinander gedrückt liegen.
Ellens Hand liegt auf dem Po von Hans.
Lena geht schnell zum Bett.
LENA
Hans! Steh auf bitte! Und Sie...
Sie zerrt an Ellen, zieht sie vom Bett hoch.
LENA (CONT’D) (CONT’D)
... Was machen Sie da mit meinem Sohn?!
... Mehmen Sie sofort...
... Raus! Gehen Sie!...
... (schreit) SEBASTIAN!
ELLEN
Was...?! Was mache ich...? Mit wem...?
... Hey! Langsam, ich schlafe no...
... Moment mal, wo ist...?
Sebastian taucht in der Tür auf.
SEBASTIAN
Ellen, komm jetzt bitte!
ELLEN
Ja, ist ja gut!
Sie macht sich heftig los, Lena zerrt Hans aus dem Zimmer.
Ellen zieht sich an, sieht, wie Hans’ Antennen traurig die Köpfe hängen lassen, während er aus dem Zimmer gezogen wird.
Ellen und Sebastian bleiben allein im Zimmer zurück.
SEBASTIAN
Schöne Scheisse.
ELLEN
Ja, mein Gott, deine Frau hat einen Kater und ist schlecht drauf, das vergeht auch wieder, kennen wir doch, oder...?
Ellen grinst ihn an, er lächelt tatsächlich vorsichtig zurück, nickt.
ELLEN (CONT'D) (CONT’D) Und jetzt...?
... Na, was machen wir zwei Hübschen jetzt?
... Jetzt reg du dich nicht auch noch auf. Ich seh doch, wie unglücklich du hier bist...
SEBASTIAN
... Was meinst du...?
... (perplex) Was... Was WIR jetzt...?
... 5 Minuten... Dann bist du verschwunden...
Sein Lächeln ist weg. Er verlässt das Zimmer. Ellen zieht sich seufzend an.
INNEN. HANSTEDT / WOHNUNG LISSY - TAG 107 107 *
Lissy liegt in ihrem Bett im Schlafzimmer. Alles um sie herum ist so eingerichtet, dass sie das Bett nicht verlassen muss. Essen und Trinken auf einem BeistellTisch. Bettpfanne.
Eine Fliege hat sich zwischen Vorhang und Fenster verfangen. Lissy sieht ihr dabei zu, wie sie immer wieder zwischen Vorhang und Scheibe hin - und her torkelnd durch die Luft surrt.
Sie hört, wie die Wohnungstür auf und zu geht. Kurz darauf kommt Susanne zu ihr ins Zimmer. Verteilt die Einkäufe im Raum, einen Strauß Blumen, Wasser, Brot, etc.
SUSANNE
So, es gab fünf verschiedene Sorten Nougat-Marzipan, ich hab die billigste genommen, schmeckt doch alles gleich, oder?
LISSY
Danke.
SUSANNE
Und der Kurier ist gekommen, mit dem Päckchen von meiner Tochter...
Sie legt eine Pappschachtel mit Tabletten auf den BeistellTisch.
LISSY Morphium?
SUSANNE
Ja. Darf sie natürlich nicht. Ich hab gesagt, es bleibt unter uns.
Lissy sieht die Packung ruhig an.
LISSY
Das wäre nicht nötig gewesen.
SUSANNE
Meine Tochter meint, das wird irgendwann nötig.
LISSY
Na dann... danke.
SUSANNE
Brauchst du noch was?
LISSY
Eine Bitte hab ich noch...
Susanne sieht sie fragend an...
SPÄTER: Susanne und Lissy schieben und kippen und rollen das Bett aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer, bauen es dort in der Mitte auf.
Lissy legt sich rein. Sie kann jetzt auf die unruhig * bemalte Wand gucken.
Susanne holt alles übrige, was Lissy braucht, aus dem Schlafzimmer und baut es um das Bett herum auf.
Dann setzt sie sich zu Lissy ans Bett.
SUSANNE
Soll ich ein bisschen aus der Zeitung vorlesen?
LISSY
Gern.
Susanne liest von den Krisen des Tages, den immer gleichen. Krieg und Elend, Mord und Totschlag, Lug und Trug wohin man schaut.
Lissy hört kaum zu, betrachtet stattdessen die Farbe an der Wand. Die Wege der Pinselstriche, ihre abrupten Kurven, ihre zerfransten Enden. An manchen Stellen ist die Farbe zu dicken Klecksen geronnen. Es ist, je länger man darauf starrt, ein Gemälde von abstrakter Schönheit.
Wie sagt Gerhard Richter: Es gibt nur zwei Kategorien in der Beurteilung von Kunst - Etwas ist “Schön” oder “Nicht schön”. Diese, von Gerd bemalte Wand, ist schön.
AUSSEN. BERLIN / FRIEDHOF - TAG 108 108
Tom steht bei dem Begräbnis von Bernard auf einem freikirchlichen Friedhof. Einige Freunde, Familie. Mi-Do weint still. Ein Laienpriester hält eine Rede. Ein kleiner Chor singt eine a-capella Komposition von Bernard.
Tom sucht den Blickkontakt zu Liv, die abseits von ihm steht und dem Begräbnis still zusieht. Sie vermeidet es offensichtlich, Tom anzusehen.
SPÄTER: Nach der Zeremonie laufen alle über den kleinen Friedhof in Richtung eines Wirtshauses. Tom nähert sich Liv, läuft neben ihr her.
TOM Hey... Können wir reden...?
Liv ignoriert ihn.
TOM (CONT’D) (CONT’D) Was soll das jetzt? Es war...
... Ich weiss, das du es nicht okay findest, was...
... Ja, oder... Aber ich will mit dir über Jessie reden...
... Vielleicht sollten wir doch...
... Nochmal mit ihr zu dem Spezialisten nach München. Ich weiss, du willst nicht, aber...
... Was...? Du warst...?
... Und...?
... Rufst du mich an, wenn...?
LIV Lass mich!
... Nicht “okay”...?
... Ja, stimmt, ich finde es nicht “okay”, das du ihn... aber... Nein!
... Was...? Was sollten wir...?
... War ich schon...
... Ja. Mit Moritz.
... Morgen... Die Ergebnisse kommen morgen...
Liv bleibt stehen. Sieht Tom an.
LIV (CONT’D) (CONT’D) Wie konntest du das tun, Tom? Ja, er war depressiv. Ja, er wollte es, aber man kann doch nicht... Das ist so... kalt.
Tom verstummt. Als Liv merkt, dass von ihm jetzt nichts kommen wird, geht sie. Er folgt ihr nicht.
AUSSEN. MÜNCHEN/BAHNHOF - TAG
109
Ellen stolpert betrunken über den Bahnhof, hat es eilig... Fragt einen Bahnbeamten...
ELLEN
Wo ist der Zug nach Hamburg...?
110
111
BAHNBEAMTER
Sie stehen doch direkt davor, hier links am Gleis! Beeilung junge Dame! Fährt gleich ab!
Das weiss Ellen selber, dass sie sich beeilen muss. Sie läuft auf den Bahnsteig... Und steigt dann auf der falschen Seite des Bahnsteigs in den falschen Zug...
INNEN. WOHNUNG LISSY - TAG
Lissy liegt im Bett, allein im Wohnzimmer. Sie liegt ganz ruhig, die Augen zur Decke gerichtet. Aber ihr Gesichtsausdruck ist nicht friedlich, sondern schmerzverzerrt.
Die Morphiumpackung neben ihr auf dem Tisch ist aufgebrochen, nur noch wenige Tabletten sind übrig.
110
Lebt sie noch? Die Kamera geht nah an ihr trockenes, pergamentartiges Gesicht heran. Ja, sie atmet. Ganz flach.
Nach einer Weile entweicht ein Stöhnen. Die Schmerzen sind einfach zu stark. Mit letzter Kraft greift sie zum Telefon...
LISSY (kaum verständlich ins Telefon)
Ich bin’s Susanne... Ich brauche einen Arzt...
INNEN. BERLIN - PHILHARMONIE - NACHT
... Der Saal ist voll. Gespannte Erwartung. Das Orchester stimmt die Instrumente.
111
Neben dem Dirigentenpult steht ein kleiner Tisch, darauf ein Bild Bernards, dem Zuschauerraum zugewandt. Es ist mit einer schwarzen Schleife versehen.
Als Tom den Saal betritt, begleitet ihn Applaus zum Dirigentenpult.
Er wendet sich in den Saal, in den sich Stille senkt.
TOM
Bernard hat eine finale Version des Stücks hinterlassen. Die werden wir jetzt spielen.
Er dreht sich zum Orchester, hebt die Arme - und beginnt mit einer sanften, fast unmerklichen Handbewegung an zu dirigieren...
112
... Nur Mi-Do fängt an zu spielen. Eine lange, einsame Cellokadenz. Irgendwann setzt das Orchester ein. *
Das Stück ist von einer Schönheit, die Bernard im Leben * nicht gefunden hat. Aber - zumindest am Schluss - in der * Musik. *
Am Ende verlöscht alles in Mi-Dos zärtlichem Spiel. Sie spielt wundervoll, man kann es nicht anders sagen.
Einige Zeit, nachdem der letzte Ton sich ins unhörbare verliert, jubelt der Saal. Tom nimmt die Ovationen ernst zur Kenntnis. Er dreht sich nicht um, wie es eigentlich üblich wäre. Zeigt sein Gesicht nicht dem Publikum, das frenetisch applaudiert.
Aber er bittet Mi-Do, sich zu erheben. Was sie auch tut, mit einer scheuen Verbeugung. Unklar, ob vor Tom oder dem Publikum. Oder Bernard.
INNEN. PHILHARMONIE - AUFENTHALTSRAUM - NACHT
112 *
Später hinter der Bühne. Die Musiker und ausgewählte Gäste essen und trinken und lassen den Abend ausklingen.
Tom steht inmitten von Gratulanten und beobachtet Mi-Do, die etwas entfernt von Bewunderern umringt steht. Ihre Blicke treffen sich kurz. Sie sind froh über die Distanz, die der grosse Raum ihnen bietet.
Als Tom kurz allein ist, tritt Ronja zu ihm...
RONJA
Glückwunsch! Die Sponsoren sind glücklich.
TOM
Wenn die Sponsoren glücklich sind, dann bin ich es auch.
Eine Hostess kommt mit einem Tablett voller Champagnerund Orangensaftgläser vorbei. Tom nimmt ein Glas Champagner, Ronja Orangensaft.
RONJA
Ist eigentlich alles ok mit uns?
TOM Na klar, wieso...?
RONJA
Weil es sich subjektiv für mich so anfühlt, als würdest du mir in letzter Zeit aus dem Weg gehen...
TOM
Nein, ich musste das alles... mit Bernard und so... erstmal mit mir allein ausmachen, hat nichts mit dir zu tun.
RONJA
Mhm. Ich frag nur, weil...
Sie sieht ihn etwas bedeutungsvoll an. Tom sieht fragend zurück...
TOM
... Ja?
Sein Blick fällt auf den Orangensaft in ihrer Hand. Plötzlich schwant ihm was.
RONJA
Ich weiss, unsere... “Geschichte” ist eigentlich vorbei, aber...
TOM (leise)
Du... trinkst keinen Alkohol...
RONJA
Ja... Wir müssen mal miteinander reden...
Sie lächelt ihn etwas ängstlich an. Er erstarrt.
... Gratulanten treten auf sie zu, Tom lächelt sie angestrengt an...
... Die Kamera entfernt sich langsam von ihnen...
... Wir hören die Stimmen der GÄSTE, die an uns vorbei gleiten, während Tom und Ronja in ihnen verschwinden...
GÄSTE
Das ist doch keine Frage von “Geschmack”, das ist doch keine ästhetische Kategorie!... Das ganze ist einfach eine grosse Banalität, ein Furz ins Gesicht der Avantgarde!... Es sind in der Kunst doch immer ovale Bewegungen... Aber trotzdem, man merkt einfach, ob ein Künstler auf seinem Weg “up” oder auf seinem Weg ”down” ist, und für mein dafürhalten, war er auf dem Weg “up”...
EINBLENDUNG: 1 2
7
WAHNSINN UND WUNDER
INNEN. BERLIN / WOHNUNG TOM - TAG 113 113
Tom trägt ein schlafendes Baby in einem Sack vor der Brust durch die Wohnung, während er leise telefoniert.
Die Wohnung wurde komplett renoviert, alles ist hell und freundlich, die Wände wurden in mediterranen Farrow&BallFarben gestrichen, das Parkett abgezogen, gewachst und geölt.
Diverse Kleidungsstücke und andere Kleinigkeiten deuten daraufhin, dass hier jetzt ausserdem eine Frau wohnt.
TOM
... Liv, das ist echt scheisse, dass du auch nach einem Jahr immer noch nicht an dein Telefon gehst! Seit... Du kannst mich nicht so in dein Leben... ja, in deine Familie mit reinziehen und dann plötzlich beschliessen, dass du nicht mehr mit mir sprichst, nur weil ich damals eine Entscheidung getroffen hab... über die man ja diskutieren kann, aber...! Das ist einfach nicht fair! Ich... Ach scheisse!
Er legt auf. Frustriert. Unruhig.
Die Haustür öffnet sich, Ronja kommt mit Einkaufstüten vom Supermarkt rein. Sie sieht, dass das Baby im Sack schläft.
RONJA (leicht vorwurfsvoll)
Sie schläft immer noch...?! Das kann ja was werden heute abend...
Sie gibt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und packt die Tüten aus.
114
Das Baby wacht auf. Tom streichelt es liebevoll und doch abwesend.
Ronja realisiert seine Angespanntheit.
RONJA (CONT’D) Alles ok?
Tom reisst sich zusammen und lächelt sie warm an.
TOM
Alles gut. Ich mach nen Miso-Wok, ok?
RONJA
Schön! Ich hab endlich neue Batterien für die Bücher gekauft...
Sie arbeiten stumm und harmonisch nebeneinander her, sie an den Klassik-Kinderbüchern incl. Hörproben, er am Wok.
AUSSEN. BERLIN / STRASSE VOR WOHNUNG LIV - TAG
Tom steht auf der anderen Strassenseite von dem Mietshaus in Kreuzberg, in dem Liv wohnt.
Er wartet.
Schliesslich sieht er, wie Liv mit Moritz, ihrer Mutter Esther, dem Hund und mit Jessie an der Hand aus dem Haus kommt. Sie gehen gemeinsam langsam die Strasse runter.
Jessie ist jetzt ein Jahr älter, fast zwei Jahre alt und läuft schon ganz gut.
Tom geht parallel auf der anderen Strassenseite, beobachtet sie. Liv und Moritz reden leise miteinander, sie bemerken Tom nicht, sind vollkommen in ihr Gespräch versunken. Esther kümmert sich um Jessie, die überall stehen bleiben und alles anfassen will.
114
Als Liv plötzlich weinen muss, bleiben alle stehen. Moritz legt den Arm um ihre Schulter.
Tom hält es nicht mehr aus, geht über die Strasse zu den beiden...
TOM
Hallo... tut mir leid, ich will niemanden stalken, aber Liv, du gehst nicht ans Telefon und ich hab deine Kollegin aus dem CoffeeShop getroffen und die hat so merkwürdige Andeutungen...
Er verstummt, als er realisiert, dass Liv und Moritz kaum auf ihn reagieren. Sie nehmen ihn wahr und gleichzeitig
auch nicht, als wären sie jetzt in einem * Paralleluniversum.
TOM (CONT’D) (leise) Was ist los?
Liv achtet darauf, dass Jessie sie nicht hören kann, bevor sie spricht.
LIV (tonlos)
Sie hat einen Tumor, tief drinnen im Gehirn. Nicht operierbar.
...
TOM Oh Gott.
LIV
Der Tumor wächst, er ist aggressiv. Es wird nicht lange dauern...
Sie verstummt.
Jessie kommt heran und zeigt ihrer Mutter eine Kastanie, die sie vom Boden aufgesammelt hat.
Moritz streichelt dem Kind über den Kopf.
TOM
Und jetzt...? Was machen wir jetzt...?
LIV
Nichts, jetzt. Nichts tun wir, Tom. Nichts. (bitter) Das kennst du doch, oder?
Tom und Liv sehen sich an, dann sieht sie weg. Er sieht zu Moritz, der mühsam darum kämpft, nicht abzukacken, aber er will stark sein, für Liv, für Jessie.
MORITZ
Wir gehen was einkaufen, Dinkel, Milch...
TOM
Ja... Kann ich mitkommen?
Moritz sieht Liv an... Sie schüttelt den Kopf.
Sie lassen Tom stehen und gehen still die Strasse runter. Der Hund springt an Esther hoch.
Tom sieht ihnen nach. Bodenloser Abgrund.
115
AUSSEN. SPIELPLATZ - TAG
115
Tom sitzt im Sand auf einem Spielplatz. Neben ihm hockt Ronja und spielt mit dem Baby, das vor ihnen herumkrabbelt und im Sand rumbuddelt.
Er beobachtet es bewegungslos. Das Baby will ihm Sand in die Hand geben, er öffnet langsam seine Handflächen, das Baby lässt den Sand durch Toms Finger rinnen und gluckst.
Tom hat Mühe, nicht loszuheulen, aber er reisst sich zusammen. Ronja legt stumm ihre Hand auf seine. Dann sieht sie etwas und stösst Tom überrascht an.
RONJA
Guck mal...!
Er sieht hoch. Am Rand des Spielplatzes steht Mi-Do und sieht sie still an.
Tom steht auf und geht zu ihr.
MI-DO
So eine süsse Kleine...
TOM
Ja... Du, entschuldige wegen der Probe heute, mein Kopf ist ein bisschen Matsch im Moment...
Aber Mi-Do unterbricht...
MI-DO
Es ist nicht wegen der Probe... Ich wollte dir schon seit einer Weile...
... Nein nein, nicht wegen...
... Nicht wegen Bernard...
... Aber ich...
... Es ist... Weil du uns von deiner Adoptivtocher und ihrem... Oh Gott, ich ich weiss nicht wie...
Aber vielleicht weiss ich eine Lösung...
... “Lösung” ist so ein dummes Wort, aber... Ich komm ja eigentlich garnicht aus Südkorea... Sondern aus Nordkorea...
TOM (CONT’D)
Sorry, Mi-Do, ich kann jetzt nicht über...
... Bernards Tod ist immer noch so...
... Und ich bin im Moment...
... Jessie ist nicht meine Adoptivtochter, aber...
Ja..?
... Eine... was weisst du...? Ich weiss.
Mi-Do sieht ihn überrascht an...
MI-DO (CONT’D) (leise) Wie... Du weisst das?!
TOM
Bernard hats mir erzählt. In der letzten Nacht...
MI-DO
... Er hatte mir versprochen, dass er es niemandem erzählt.
TOM
Ja, gut, hat er aber... Was für eine “Lösung?!”...
Tom sieht sich ungeduldig um. Was soll das hier?
MI-DO
Ich weiss nicht, ob ich das hier so...
TOM (insisitierend) Was für eine “Lösung?!”
Mi-Do tritt etwas näher an Tom heran und flüstert jetzt fast...
MI-DO
Meine Familie gehörte zur Oberschicht in Pjönjang, aber dann ist mein Vater in Ungnade gefallen und landete im Arbeitslager und wurde jahrelang gefoltert...
... Tom sieht sich um, überall die spielenden Kinder. Ronja, die ihn beobachtet, sein Baby... Mi-Dos Worte wirkend fast schon surreal in diesem Kontext...
MI-DO (CONT’D)
... Wir sind geflohen, über das südchinesische Meer... Aber in Südkorea wollten sie uns auch nicht, weil...
TOM Aha... Mhm... Das ist ja... echt...
MI-DO (CONT’D)
... Was ich eigentlich sagen will: Hier in der nordkoreanischen Botschaft arbeitet eine Bekannte von meiner Mutter... Wenn das Regime wüsste, dass sie Kontakt haben, würden sie beide sterben...
... Ein Ball trifft Tom am Bein, drei Jungs rennen ihn beinahe um, als sie darum kämpfen...
TOM (CONT’D)
Mi-Do, sorry, das ist... ist irre, was du mir da erzählst, aber... aber...
MI-DO (CONT’D)
... Das Kind von der Freundin von meiner Mutter hatte auch so einen unoperierbaren Tumor im Kopf...
Und jetzt ist er weg!
... Tom verstummt. Sieht sie sprachlos an. Plötzlich hören wir Livs Stimme aus dem off...
LIV (OFF)
Das ist doch Wahnsinn! *
INNEN. BERLIN - WOHNUNG LIV - TAG 116 116
Tom, Liv, Moritz und Esther sitzen und stehen zusammen in Livs Wohnung. Jessie schläft auf dem Sofa.
Alle sehen zu Tom, der offensichtlich grad etwas gesagt hat, was alle ziemlich aufwühlt, trotzdem sprechen alle leise wegen der schlafenden Jessie...
LIV
... Du willst einen nordkoreanischen Neurochirurgen an Jessie ranlassen...?!?
TOM
Er ist Japaner. Angeblich der beste Gehirnchirurg der Welt. Die Nordkoreaner haben ihn vor ein paar Jahren entführt. Sowas machen sie öfter...
MORITZ
Ja, davon hab ich gehört. Die entführen auch Opernsänger...
TOM
... Jedenfalls, dem Sohn dieser Freundin von meiner Cellistin hat der japanische Chirurg das Leben gerettet.
LIV
Es ist... das kann man doch alles garnicht glauben. Und die würden Jessie jetzt einfach so operieren?
TOM
Nicht einfach so... Ich war in der Botschaft... Es gibt mitten in Berlin eine nordkoreanische Botschaft, wusstet ihr das...? Ich hab einen Deal mit ihnen gemacht...
... Das ist jetzt egal.
... DAS ist dein Problem?! DAS ist jetzt dein Problem, ja? MORITZ
Liv unterbricht sie.
LIV
Stille.
... Was für einen Deal?
... Du machst Deals mit einem Diktator?!
Hört endlich auf mit euern Testosteron-Scheiss! Ich ertrag es nicht mehr! Wirklich!
TOM
Ich kann euch nur sagen, was ich weiss: Ich habe die Frau getroffen. Ich habe einen kleinen Jungen gesehen, der von diesem Japaner operiert wurde, der hatte einen Tumor wie Jessie im Kopf. Und der Junge ist gesund. Der Tumor ist weg. Das hat mir ein deutscher Arzt bestätigt. Die Nordkoreaner sind bereit, uns ins Land einreisen zu lassen und den Chirurgen aufzusuchen damit er Jessie operieren kann. Das können wir jetzt machen - oder nicht.
Ungläubige Stille.
MORITZ
Du bezahlst sie dafür, oder?!
TOM
Ja. Natürlich bezahl ich sie dafür! Na und?
Moritz schüttelt den Kopf...
MORITZ
Ich will das nicht... Ich will nicht, dass wir einem menschenverachtendem Regime auch noch Geld dafür geben, dass...
TOM
... Entschuldige, Moritz, aber ich denke, es spielt keine Rolle mehr, was du willst oder was ich will oder irgendjemand hier will. Als sich dieser Tumor im Kopf von Jessie gebildet hat, da haben wir die Welt dessen, was wir wollen, verlassen. Jetzt müssen wir auch die Welt der Vernunft verlassen, denn alle Vernünftigen sagen uns, dass Jessie sterben wird. Das dieses kleine, unschuldige, wunderbare Wesen da drüben bald aufhört, zu existieren. Und auch dafür gibt es keinen vernünftigen Grund. Das ist ein Wahnsinn. Und diesen Wahnsinn muss man jetzt vielleicht mit etwas wahnsinnigem bekämpfen.
Stille. Und in die Stille hinein meldet sich die scheue Esther...
ESTHER
Mach es, Liv. Fahrt dahin!
Alle sehen sie an.
ESTHER (CONT’D)
Es wäre ein Wunder. Und vielleicht brauchen wir das jetzt... ein Wunder.
Tom und Liv sehen sich an...
TOM (leise zu Liv)
Du hast gesagt, man darf niemals aufhören, um ein Leben zu kämpfen.
Liv sieht ihn mit schwerem Herzen an. *
INNEN. DIALYSE-PRAXIS - TAG 121 121
Lissy sitzt auf einem Dialyse-Stuhl in einer entsprechenden Praxis. Kanülen führen Blut aus ihrem Körper in eine grosse Maschine, wo es gereinigt wird. Sie starrt auf einen Fernseher über dem Stuhl. Flüchtlinge auf dem Weg ins Irgendwo.
Eine Schwester kommt rein und sieht kritisch auf die Anzeige der Maschine.
SCHWESTER
Das sieht nicht gut aus, Frau Lunies. Da müssen wir wohl bald wieder einen neuen Shunt legen
Pink (mm/dd/yyyy)
SCHWESTER (CONT’D)
lassen. Der jetzige ist schon wieder verstopft. Ihr Blut ist zu dick.
Lissy nickt ergeben und gleichgültig.
Ihr Handy klingelt. Erst nach dem vierten Klingeln schreckt sie hoch. Geht ran...
LISSY
Ja...?
Mama...?
ELLEN (OFF)
LISSY
Ellen...? Das ist aber nicht deine Nummer...?
AUSSEN. MÜHLHEIM - PARK - TAG 122 122
(unterschnitten mit Lissy bei der Dialyse)
... Ellen liegt auf der Bank in einem Park. Sie sieht aus * wie jemand, der seit längerem auf der Strasse lebt. * Sie hält ein Handy ans Ohr. *
ELLEN
Ja... Ich... Ich brauch mal... Ich muss so dringend... Und es ist so kalt...
Lissy legt den Hörer neben sich ans Ohr.
LISSY
Oh Ellen, was machst du denn wieder für Sachen...
... Na ja, ich weiss ja nicht, Elly....
Ich weiss, Elly... Mir geht es auch grad nicht so gut, weisst du...? Wo bist du denn...?
... Was machst du denn da...? Soll ich kommen...?
ELLEN (CONT’D)
Ich... Ich... ich weiss auch auch nicht... Es ist nicht der Alkohol, nicht dass du das denkst... der ist nicht das Problem...
... Ich wollte dich auch nicht anrufen, also, auf keinen Fall... aber... Es ist nur alles so schrecklich hier draussen, so schrecklich beschissen mies und...
Ich lieg in einem Park...
... Ja... das musst du wohl... Ich glaube wirklich, es geht nicht anders...
Lissy richtet sich auf. Es kostet sie unendliche Anstrengung...
LISSY (CONT’D)
Dann komm ich jetzt...
Ellen sieht einen Mann mit Hund an, der neben ihr steht. *
ELLEN
... Wo bin ich denn hier?
MANN MIT HUND
Auf der Erde. *
ELLEN
Ja, aber auf welcher?
Der Mann sieht sie verständnislos an.
ELLEM
Welche STADT mein ich?
MANN MIT HUND
Mühlheim an der Ruhr. Ich will mein * Handy wiederhaben! *
Ellen sieht ihn fassungslos an.
ELLEM
Ähm Mama, keine Ahnung, aber der... der Typ mit dem Handy meint, ich bin in “Mühlheim an der Ruhr”... Gibts das überhaupt?
123
Lissy zuckt bei der Erwähnung der Stadt zusammen.
LISSY
Ja, das gibt es... *
AUSSEN. HANSTEDT - VOR DIALYSE-PRAXIS - TAG
124
123
... Lissy wird von Susanne im Rollstuhl aus der Praxis zu * ihrem Auto geschoben. Draussen hilft Susanne Lissy geübt in den Wagen, verstaut den Rollstuhl im Kofferraum, dann steigt sie ein...
SUSANNE
So, dann wollen wir mal! Wollen wir noch was beim Edeka holen?
LISSY
Nein, danke, Susanne, ich muss heute zum Bahnhof nach Hamburg, wenn das geht...? *
Susanne dreht sich überrascht zu ihr...
AUSSEN/INNEN. HAMBURG - HAUPTBAHNHOF - TAG
124
... Lissy und Susanne steigen aus dem Auto. Sie gehen in den Hamburger Hauptbahnhof. *
Sie setzen sich nebeneinander am Bahnsteig auf eine Bank. Plötzlich fällt Lissy etwas ein.
LISSY
Du kriegst noch Geld von mir, für letzte Woche...
Sie holt ihr Portmonnaie aus der Tasche.
LISSY (CONT’D)
Das sind... 100 und...
SUSANNE
156 Euro.
Lissy hat nur 160 in Scheinen. Susanne hat nur zwei Euro klein. Beiden ist es sichtlich unangenehm, dass sie das jetzt nicht auf Heller und Pfennig genau hinkriegen.
Schliesslich winkt Lissy ab.
LISSY
Verrechnen wir nächste Woche.
Susanne nickt. Der Zug fährt ein. Sie stehen auf.
125
SUSANNE
Spätestens übermorgen musst du aber wieder zur Dialyse! Nicht vergessen!
Lissy steigt unter Mühen in den Zug, ohne sich von Susanne zu verabschieden. Susanne sieht ihr nach. Dann geht sie den Bahnsteig runter zur Treppe nach oben.
INNEN. ZUG - DÄMMERUNG
126
127
125
Lissy sitzt in einem vollen Abteil am Fenster. Sieht, wie draussen der graue Himmel in die Nacht übergeht. Schläft * schliesslich erschöpft ein.
INNEN. ZUG - NACHT
Ein Schaffner weckt Lissy...
SCHAFFNER
Wir sind gleich in Mühlheim. Wollen Sie aussteigen? Soll ich ihnen helfen?
Lissy, noch ziemlich benommen, nickt.
AUSSEN. MÜHLHEIM - BAHNHOF - NACHT
Lissy geht mit vorsichtigen Schritten durch den leeren Bahnhof...
126
127
128
AUSSEN. MÜHLHEIM/VOR BAHNHOF - NACHT
... Schwankt aus dem Bahnhof zum Taxistand, wo genau ein Taxi steht. Es ist kalt. Der TÜRKISCHE TAXIFAHRER (50) schläft, zugedeckt mit einer Decke. Lissy klopft an die Scheibe. Der Fahrer wacht auf und lässt die Scheibe runter, sieht Lissy unleidlich an.
Ja...?
TAXIFAHRER
LISSY
Sind sie frei?
TAXIFAHRER
Sieht so aus, oder? Wo wollen Sie denn hin?
LISSY
Ich suche meine Tochter. Sie ist im Park.
128 *
129
131
TAXIFAHRER
Im Park...? (lacht ungläubig) Na, dann steigen Sie mal ein!
Lissy öffnet die Tür zum Beifahrersitz und schiebt sich mit letzter Kraft in den Wagen.
Der Taxifahrer fährt müde los.
INNEN/AUSSEN. MÜHLHEIM - TAXI - NACHT
129
Lissy und der Taxifahrer fahren durch die wie ausgestorben wirkende Kleinstadt.
TAXIFAHRER
Kennen Sie sich aus in Mühlheim?
LISSY
Ich war nur einmal hier... Vor... 46 Jahren.
TAXIFAHRER
Pfh... damals gabs hier vielleicht nur einen Park, bin ja erst 25 Jahre hier. Aber jetzt gibts hier ein paar Parks!
LISSY
Wieviele?
TAXIFAHRER
Wieviele? Keine Ahnung. Ich weiss ja nicht, was für einen Park sie meinen...?
Lissy denkt nach. Sie weiss ja leider auch nicht, was für einen Park sie sucht.
LISSY
Einen Park, in den man geht, wenn man nicht weiss, wo man sonst hingehen soll.
Er lacht.
TAXIFAHRER
Ich fang mal mit einem in der Nähe an...
Lissy nickt. *
INNEN/AUSSEN. MÜHLHEIM - TAXI - NACHT
131
Sie fahren durch die Stadt. Der Taxifahrer ist müde, Lissy * sieht, wie ihm die Augen zufallen...
... Sie greift ihm ins Lenkrad und kann gerade noch verhindern, dass sie in ein parkendes Auto krachen.
Der Taxifahrer brummt etwas, das ein “Danke” gewesen sein könnte.
Lissy wird klar, dass sie ihn wach halten muss.
LISSY
Als ich vor 46 Jahren hier war, war ich auch in einem Park...
TAXIFAHRER
Dann fahren wir doch in den Park!
LISSY
Ich weiss nicht mehr, wo er ist. Es war ein sehr schöner, alter Park, mit alten Kastanien...
TAXIFAHRER
Und da gabs auch eine Ellen?
LISSY
Nein, die gabs da noch nicht. Aber ich war schwanger, mit Tom, ihrem Bruder. Deshalb war ich hier. Der Vater des Kindes arbeitete hier, wir hatten uns 2 Monate vorher getrennt... Ich hatte mich getrennt...
Warum...?
TAXIFAHRER
LISSY
Ich weiss nicht mehr... Ich habe ihn nicht geliebt, oder nicht genug, denke ich... Ich wollte mich... weiter umsehen...
Der Taxifahrer brummt etwas missbilligendes.
TAXIFAHRER
Aber Sie waren doch von ihm schwanger?
LISSY
Das wusste ich ja noch nicht, als ich mich getrennt hab. Als ich es dann wusste, bin ich hergekommen. Wir haben uns in den schönen, alten Park gesetzt und ich hab es ihm gesagt.
TAXIFAHRER
Und er, was hat er gesagt, der Vater?
132
LISSY
Er hat gesagt, dass wir dann jetzt heiraten werden. Dass sein Vater die Mutter mit 6 Kindern allein gelassen hat im Krieg. Und dass er sich geschworen hat, dass er nie eine Frau mit einem Kind allein lassen wird.
TAXIFAHRER
Ein guter Mann. Und was haben Sie gesagt?
LISSY
Ich habe ihn geheiratet.
Der Taxifahrer nickt zufrieden.
TAXIFAHRER
Das ist doch mal eine schöne Geschichte.
Lissy sieht gedankenverloren aus dem Fenster.
AUSSEN. MONTAGE - MÜHLHEIM - PARKS - NACHT
In einer MONTAGE sehen wir Lissy und den Taxifahrer durch verschiedene, dunkle Parks laufen... In manchen schlafen tatsächlich Obdachlose, aber keiner ist Ellen.
Bis...
132
AUSSEN. MÜHLHEIM - PARK - NACHT
133 133
... Lissy Ellen schliesslich in einem schönen alten Park voller alter Kastanienbäume auf einer Bank findet.
Sie weckt sie vorsichtig. Ellen ist völlig verfroren, kann kaum reden.
Der Taxifahrer hilft ihr hoch und bringt sie zum Taxi, Lissy folgt langsam.
INNEN. TAXI - NACHT
134 134
Lissy und Ellen sitzen zusammen auf der Rückbank, Lissy hält die bibbernde Ellen fest im Arm.
Der Taxifahrer beobachtet sie durch den Rückspiegel...
TAXIFAHRER Und jetzt...?
LISSY
Gibt es das “Sonnentor-Hotel” noch?
TAXIFAHRER
Ja, ist sehr alt... Da waren Sie mit ihrem...?
LISSY
Ja...
TAXIFAHRER
Dann fahren wir da jetzt hin!
Er fährt los. Ellen drückt sich tief in ihre Mutter hinein... *
136 136 *
INNEN. HOTEL SONNENTOR - FOYER - NACHT
... Lissy und Ellen kommen in ein wirklich altes, * verblichenes Hotel wie es sie nur noch in Kleinstädten wie Mühlheim an der Ruhr gibt.
Auch der PAGE (60) hinterm Tresen schläft und muss von Lissy geweckt werden. Beide Frauen müssen sich am Tresen abstützen, sie geben ein tragikkomisches Bild ab.
LISSY
Ich brauche ein Zimmer, für mich und meine Tochter... Ein Doppelzimmer...
PAGE
... Tut mir leid, aber wir sind ausgebucht.
Lissy und Ellen sehen ihn erstaunt an.
PAGE (CONT’D)
... Es gibt ein Jubiläumsfest, von der örtlichen Brauerei. Sie haben alle Zimmer gebucht...
Lissy verliert jetzt alle Kraft, sinkt in sich zusammen, Ellen muss sie stützen.
LISSY
Aber...
ELLEN
... Wir brauchen ein Zimmer. Jetzt! Bitte!
Der Page sieht die Notsituation.
PAGE
Es gibt nur ein Zimmer, das gerade renoviert wird...
ELLEN
... Das nehmen wir!
INNEN. MÜHLHEIM - HOTELZIMMER - NACHT 137
Lissy und Ellen kommen in das Hotelzimmer, das gerade renoviert wird. Farbtöpfe und Leitern stehen herum, Ellen schiebt sie beiseite. Legt Lissy aufs Bett. Verschwindet dann im Bad... Wir hören, dass sie sich übergibt.
Lissy starrt an die halbfertig gestrichenen Wände. Das Muster entspricht EXAKT der halbfertigen Wand in ihrer Wohnung in Hanstedt. Sie lächelt.
137
Ellen kommt zurück ins Zimmer, zieht ihre Mutter aus, legt sie unter die Decke.
Dann zieht sie sich selbst aus, kriecht ebenfalls unter die Decke. Sie zittert und schnieft, hustet krampfartig.
Mutter und Tochter robben sich irgendwie im Bett aneinander.
AUSSEN. PJÖNJANG AIRPORT - TAG 138 138
Tom, Liv - mit Jessie auf dem Arm - und Moritz kommen aus dem Gepäckbereich in die Ankunftshalle des Flughafens von Pjöngjang.
Der Flughafen sieht im Grunde so aus, wie jeder internationale Flughafen: Slick and shiny, es gibt Geschäfte und Monitore die bunt blinken. Glänzende Fussböden und hohe Decken mit riesigen Fensterfronten.
Nur eines gibt es nicht: Fluggäste. Die Halle ist fast vollkommen leer. Nur die paar Chinesen, die mit dem Flug aus Peking gekommen sind, verteilen sich auf die Chauffeure, die sie abholen.
Auch Toms kleine Familie wird von einem Empfangskommitee abgeholt, die Toms Namen auf einem Schild hochhalten.
Ein Nordkoreaner begrüsst sie lächelnd mit Verbeugungen, der Dolmetscher ILL-YOUNG KIM, der hinter ihm steht, übersetzt...
ILL-YOUNG KIM
Willkommen in Korea! Wir freuen uns sehr, dass sie den Weg zu uns gefunden haben. Wir danken für Ihr Vertrauen. Alles ist bereitet. Bitte folgen Sie uns!
Tom und die anderen folgen den Koreanern durch die leere Halle. In den leeren Geschäften stehen Verkäufer und tun nichts.
139
INNEN/AUSSEN. PJÖNJANG - STRASSEN/LIMOUSINE - TAG
Tom, Liv, Jessie und Moritz sitzen in einer Limousine aus den 70er Jahren und fahren durch die gigantische und ebenfalls sehr leere Stadt. Überall Bilder der ehemaligen und heutigen Führer des Volkes. Grosse, breite Strasse, auf denen kaum Autos fahren. Uralte Strassenbahnen.
139
Der Dolmetscher beschreibt die Errungenschaften des Landes während der Fahrt, spricht immer vom “grossen Führer” doch die übermüdeten deutschen Reisenden hören kaum zu.
Tom sieht hinaus in die Strassen, die einer künstlichen Modellstadt gleichen, irgendwie zwischen den Zeiten und Welten liegend.
Vereinzelt laufen Familien durch die Prachtstrassen, Mutter und Vater mit Kinderwägen, die älteren Geschwister an der Hand. Die monumentale Architektur lässt sie wie kleine Insekten aussehen.
Er sieht zu Liv, die die weinende Jessie auf dem Arm trägt. Sie und Moritz mustern sich sorgenvoll, Tom zwingt sich zu einem Lächeln.
TOM
Sauber hier...
Liv und Moritz reagieren nicht darauf.
Die Limousine hält vor einem der Hochhäuser, dem internationalen Prunkhotel Yanggakdo.
Sie steigen aus und kleine Pagen tragen ihr Gepäck ins Hotel.
140
INNEN. LOBBY HOTEL YANGGAKDO - DÄMMERUNG
Sie kommen in eine riesige Lobby unter einem schrägen Dach, dort ist es wiederum ziemlich leer.
ILL-YOUNG KIM
Heute Nacht werden sie hier schlafen, im besten Hotel der Welt. Und morgen wird ihr kleines Mädchen operiert und gerettet, von dem besten Chirurgen der Welt!
Tom übergibt die quengelnde Jessie an Liv, die ihre Tochter nervös ansieht.
LIV
Sie hat Hunger. Aber meine Brust gibt nichts mehr. Ich merks. Vielleicht wegen der langen Reise und dem Stress...
140
141
ILL-YOUNG KIM
Sollen wir eine Koreanerin besorgen, die gerade stillt?
Alle sehen ihn halb erstaunt, halb erschreckt an.
LIV
Nein... danke... Nicht nötig. Ich krieg das schon hin. Muss einfach mal mit ihr allein ein bisschen Ruhe haben.
TOM
Dann gehen wir was essen, und lassen euch in Ruhe. Okay, Moritz? Ich hab Hunger.
Moritz wirkt völlig erschlagen.
MORITZ
Ja.
Während ihr Dolmetscher die Check-In Formalitäten erledigt, wendet Tom sich an eine Rezeptionistin...
TOM
Excuse me, where can we eat here?
Die lächelnde REZEPTIONISTIN (25) antwortet und der Dolmetscher übersetzt...
REZEPTIONISTIN/ILL-YOUNG KIM
Wir haben fünf Restaurants, aber nur eines ist offen heute abend. Ausserdem haben wir ein Casino, eine Bar, eine Bowlingbahn, eine Kegelbahn, Tischtennis, ein Schwimmbad... *
INNEN. MÜHLHEIM - HOTELZIMMER - TAG
Im Sonnentor-Hotel in Mühlheim an der Ruhr erwacht Ellen am nächsten Morgen neben Lissy... Nachdem sie sich mühsam orientiert hat, dreht sie sich zu ihrer Mutter um.
Lissy sitzt an die Wand gelehnt im Bett. Sie röchelt, kriegt nur schlecht Luft. Sie sieht Ellen aus ihren wässrigen, fahlen Augen an, die kaum noch Farbe haben.
LISSY
Jetzt reicht’s, Ellen. Wirklich. Es reicht.
Ellen sieht sie lange an, steht dann auf, verlässt das Zimmer.
141
142
INNEN. MÜHLHEIM - LOBBY - TAG
Unten in der Lobby ist grosses Tohuwabohu. Die Jubiläumsgäste haben schon ordentlich was intus.
142
Ellen kämpft sich zum Pagen durch. Es ist derselbe, wie in der Nacht.
ELLEN
Entschuldigung! Ich bräuchte mal einen Arzt!
Der Page kann sich nur mit Mühe von den gutgelaunten, betrunkenen Gästen losreissen. Ellen sieht sie mit einem gewissen Neid von der Seite an.
PAGE
Was für einen denn?
ELLEN
Einen der, ähm... mobile DialyseGeräte verleiht.
PAGE
Hm... ja da... fahren sie am besten ins Krankenhaus, oder?
ELLEN
Ja, wahrscheinlich...
143
INNEN. MÜHLHEIM - KRANKENHAUS - TAG
... Ellen irrt durch die Gänge eines Krankenhauses.
Sie tritt hustend an einen Schwestern-Schalter.
ELLEN
Man hat mir gesagt, das ich hier Sauerstoff-Geräte finde...
Die SCHWESTER (50) sieht sie misstrauisch an. Ellen schwitzt und keucht. Sie hat vermutlich eine Lungenentzündung.
SCHWESTER
Wie meinen Sie das? Das Sie die hier finden...?
ELLEN
Das heisst, das ich eins brauche. Das ich eins mitnehmen will.
Geliehen, ich brings wieder zurück.
SCHWESTER
Wir sind doch keine... keine...
143
ELLEN
Ja ja, sie sind kein medizinischer Verleihbetrieb, ist mir klar, aber ich brauch einfach sehr dringend eine. Nicht für mich. Für meine Mutter.
SCHWESTER
Dann bringen Sie ihre Mutter doch zu uns!
ELLEN
Das geht nicht.
SCHWESTER Warum denn nicht?
ELLEN
Wissen Sie, eigentlich wollte ich ein mobiles Dialyse-Gerät besorgen, aber dann wurde mir klar, dass das Unsinn ist.
SCHWESTER (irritiert)
Ich verstehe nicht...
ELLEN
Was ist daran nicht zu verstehen?! Sie stirbt grad. Und da kann man nichts machen.
SCHWESTER
Woher wissen Sie das denn? Man kann doch nicht...
ELLEN
... Erstens weil ich ne Art Krankenschwester bin. Und zweitens weil ich ihre Tochter bin. Und drittens geht sie das nichts an und interessiert sie ja auch überhaupt nicht, das verstehe ich, sie wollen nur nicht riskieren, dass sie einen Anschiss kriegen, weil sie ihre Kompetenzen überschreiten und Richtlinien missachten... Vor allem die Richtlinien sind ein echter Scheiss, ich weiss, aber...
Sie hustet anfallartig. Der Fieberschweiss läuft ihr in die Augen.
Trotzdem fixiert sie die Schwester mit allem, was sie an Überzeugungskraft aufbringen kann.
144
147
ELLEN (CONT’D)
... Es ist meine Mutter! Und ich würde sie gern in Würde sterben lassen! Und dazu braucht sie Sauerstoff!
Die Schwester sieht sie indigniert an.
SCHWESTER
Vielleicht sollten Sie sich selbst erstmal untersuchen lassen. Sie sehen nicht gut aus.
ELLEN
Mach ich. Danach. Also... was ist jetzt... mit dem Sauerstoffgerät?
Die Schwester ist verunsichert von Ellens verzweifelter Überzeugungskraft.
ELLEN (CONT’D)
Ich brings zurück. Ich schwörs!
INNEN. HOTELZIMMER YANGGAKDO - NACHT
Oben in dem einfachen Zimmer des Hotels in Pjöngjang versucht Liv Jessie mit der Flasche zu füttern. Es klappt nicht, Jessie wehrt sich mit Händen und Füssen gegen die Flasche. Schreit, wie am Spiess.
Liv trägt sie herum, zeigt ihr den eindrucksvollen Blick über die dunkle, stromlose Stadt von hier oben. Interessiert sie nicht.
LIV (verzweifelt)
Bitte, Maus! Du musst was trinken!
Jessie sieht sie skeptisch an. Und weint dann weiter...
Liv läuft hilflos und völlig übermüdet auf und ab.
Schliesslich geht sie zum Hoteltelefon...
LIV (CONT’D) (CONT’D)
144
Hallo...? Can I speak to Mr. Kim?... *
INNEN. HOTEL YANGGAKDO - RESTAURANT - NACHT
147 *
Tom und Moritz sitzen in dem Drehrestaurant im 41. Stock, * es ist fast leer. *
Der Blick über die Stadt ist fantastisch, wenn auch etwas * dunkel, denn die Häuser sind, im Vergleich zu anderen * Metropolen, nur schwach beleuchtet. *
Sie trinken süsse Cocktails mit bunten Schirmchen drin. * Moritz ist schon etwas betrunken. *
MORITZ *
Es war richtig herzukommen, * wirklch... Du hattst recht. *
*
TOM
Gucken wir mal. *
MORITZ *
Nee, manmuss einfach alles * versuchn... Du bisso... radikal. * Wirklich. Das bewundere ich an dir.
TOM
Mhm.
*
*
*
MORITZ *
Deshalb kriegssu auch immer alles, * was du willst. Jetz hast du auch * noch ein Kind mit ner wunderbaren * Frau. Ne Familie, verdammt! *
Tom hört halb zu und ist halb in Gedanken woanders.
*
TOM * (leise)
*
Ich liebe Ronja nicht. Oder... nicht * so, wie ich sollte, * wahrscheinlich... *
Er sieht Moritz an, der ihn stirnrunzelnd mustert.
*
MORITZ *
Und ich wollte nie ein Kind und eine * Familie. Und jetzt... jetzt ist es * einfach so. *
MORITZ * (CONT’D)
Und? Ist das denn so schlimm? *
*
TOM
Ich weiss noch nicht, wie schlimm es * ist. Oder wie schön, dann doch.
* Keine Ahnung, ob ich das alles kann * und will. Es passiert mir einfach, * und ich kann nichts dagegen * machen... *
MORITZ *
Aber du liebst doch dein Kind! *
TOM *
Ja, ich denk schon. Aber manchmal * befürchte ich, ich werde es nie so * lieben können, wie Jessie. Dabei ist * Jessie nichtmal mein Kind. *
Moritz muss eine Welle der Anspannung unterdrücken. *
MORITZ *
Nein, ist es nicht. Es ist mein * Kind! *
TOM *
Ja, das ist es. *
Gemeinsam und doch aneinander vorbei, sehen sie raus in * die nordkoreanische Nacht. *
TOM
* (CONT’D) (leise)
Und trotzdem...
MORITZ
In einer Familie ist Liebe nicht
*
*
*
* einfach so da, die wächst. Wirst * sehen. Bei mir und Liv hats auch * gedauert. Dauert eigentlich immer * noch... Wie singt Sting? “You can * learn to love me if you try”. *
Tom wiegt zweifelnd den Kopf hin - und her. Sting ist kein * Teil seines musikalischen Koordinatensystems, aber * vielleicht hat er ja trotzdem recht? *
Dann steht Moritz plötzlich schwankend auf und breitet die * Arme aus. Offensichtlich ist er der Meinung, dass es Zeit * ist für eine Versöhnung der beiden Väter.
*
Tom steht ebenfalls auf und die beiden umarmen sich, * argwöhnisch beobachtet von den nordkoreanischen * Angestellten.
*
MORITZ * (CONT’D)
*
Ich geh mal schlafen. Ist wichtig * morgen... Will fitt sein.
Er wankt aus dem Restaurant. Tom setzt sich und sieht * wieder nach draussen. Sein Gesicht spiegelt sich auf der * sauberen Scheibe vor der surrealen Kulisse der Stadt.
*
Tom fängt leise an zu summen. Es ist eine Kadenz aus * “sterben”...
*
TOM * (leise) *
Die Streicher im 3. Satz hätten * leiser einsetzen sollen... Viel * leiser... Tut mir leid, Partner... * Ich habs verkackt... *
146
INNEN HOTELZIMMER YANGGAKDO - NACHT
Liv trägt die erschöpft eingeschlafene Jessie durch den Raum, als es an der Tür klopft. Sofort wird Jessie wach.
148
146
Liv öffnet und lässt eine junge Nordkoreanerin ins Zimmer, der Dolmetscher steht dahinter, bleibt aber draussen.
ILL-YOUNG KIM
Ihr Name ist Lee. Sie spricht nur koreanisch, aber sie wird ihnen helfen.
Liv, LEE (25) und Jessie gehen allein ins Zimmer. Lee sieht sich schüchtern um, setzt sich dann auf die Bettkante. Jessie sieht sie neugierig an, Lee lächelt das Kind an. Jessie streckt die Arme aus und klettert zu ihr auf den Schoss.
Lee entblösst eine volle Brust und ohne zu zögern stürzt sich Jessie auf die Nahrungsquelle.
Liv setzt sich still daneben. Sieht zu, wie Jessie ganz ruhig in Lees Armen liegt und an der Brust saugt.
LIV (auf koreanisch) Danke.
Lee lächelt sie an und sagt etwas, was Liv nicht versteht. Aber sie lächelt einfach mal zurück. *
INNEN. MÜHLHEIM - HOTELZIMMER - MONTAGE
Das Hotelzimmer in Mühlheim hat sich inzwischen in ein gemütliches Hospizzimmer verwandelt. Ellen hat eine neue Lampe organisiert, einen Tisch, einen Sessel, etc.
Eine Sauerstoffflasche versorgt Lissy mit Luft.
Ellen versorgt Lissy mit Essen und Trinken, wäscht sie, und macht ihr den Hintern sauber, wenn es nötig ist.
Es kostet Ellen viel Kraft, denn sie hat sichtlich hohes Fieber.
Bei all dem sprechen sie kein Wort miteinander...
... Irgendwann liegt Ellen neben Lissy. Sie hat die Hand ihrer Mutter auf die eigene Brust gelegt und summt leise ein Lied.
148
Plötzlich hören wir Lissys Stimme nochmal, sehr schwach...
LISSY
Es war schon alles gut so, nicht...?
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LISSY
... Sonst wären wir jetzt nicht zusammen hier. Ich hab nicht alles falsch gemacht. Das sagen alle, dass ich ein sehr netter Mensch bin... Alle sagen das... Alle haben mich immer sehr gemocht...
ELLEN
Pschhhhh...
Lissy lächelt glücklich. Ellen streichelt ihr Gesicht und singt weiter.
INT. HOTELLOBBY YANGGAKDO - TAG - MONTAGE
Am nächsten Morgen warten Tom, Liv und Jessie nervös, als Ill-Young Kim die Lobby betritt und sie auffordert, mit ihnen zu kommen. Von Moritz ist nichts zu sehen.
ILL-YOUNG KIM
Es ist soweit! Ein großer Tag!
Sie folgen ihm nach draussen. Ill-Young Kim sieht sich suchend um...
ILL-YOUNG KIM (CONT’D)
... Wo ist der Vater?
Tom sieht Liv fragend an.
LIV
Der kann nicht. Lass uns gehen!
Sie geht raus. Tom atmet tief durch und folgt ihr...
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INNEN PJÖNJANG KRANKENHAUS/OPERATIONSSAAL - MONTAGE
Die Operation.
Jessies Kopf wird auf einem Operationstisch fest fixiert.
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Tom und Liv stehen draussen und sehen das nur auf einem Monitor in einem Warteraum neben dem Operationssaal. Neben ihnen steht Dr. Wook, der Assistent von Professor Kitano, dem besten Chirurgen der Welt.
Der Dolmetscher übersetzt, was Dr. Wook ihnen erklärt...
ILL-YOUNG KIM
Der Kopf muss fixiert sein, sie darf ihn keinen Millimeter bewegen. Aber ansonsten kann sie sich bewegen. Wir
ILL-YOUNG KIM (CONT’D)
haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, aber sie darf nicht schlafen. Wir brauchen ihre Reaktionen, um festzustellen, ob wir wichtige Regionen beschädigen.
Ein grünes Tuch wird zwischen Jessies Hinterkopf und ihrem Körper gespannt.
Hinter dem Tuch sitzt der japanische Chirurg PROFESSOR KITANO, (60), mit seinen Instrumenten. Dazu gehört auch eine ganz normale Bosch-Bohrmaschiene.
Die Operation beginnt mit dem aufsägen der Schädeldecke. Tom kann es in Grossaufnahme auf einem Monitor verfolgen. Er kann kaum hinsehen. Liv regt sich keinen Milimeter.
Jessie sieht sich alles mit schmalen Augen ernst an, sie ist sichtlich sediert.
ILL-YOUNG KIM (CONT’D)
Ihre Tochter spürt nichts davon. Im Gehirn gibt es keine Schmerzrezeptoren.
Ein Stück Schädeldecke, so gross, wie eine Zigarettenschachtel, wird herausgenommen. Jetzt liegt das Gehirn offen vor ihnen.
Der Chirurg schabt vorsichtig darin herum, arbeitet sich vor.
ILL-YOUNG KIM (CONT’D)
Die normale Gehirnmasse ist weiss und hat die Konsistenz von Streichkäse. Der Tumor ist dunkel verfärbt und gummiartiger, fester...
Professor Kitano nähert sich der verfärbten Masse im Gehirn.
Die Operation geht weiter. Der Chirurg saugt den Tumor aus dem Gehirn.
Zwischendurch überprüft er die Reaktionen Jessies, in dem er in benachbarte Gehirnregionen piekst...
... Reflexartig zucken dann ihre kleine Hände, ballen und entspannen sich ihre kleinen Fäustchen...
ILL-YOUNG KIM (CONT’D)
Das ist gut, so soll es sein. Ein bisschen, wie eine Puppe an einem Faden, nicht wahr?
Er lächelt, Tom lächelt abwesend zurück... Dr. Wook spricht plötzlich nervös mit dem Dolmetscher...
ILL-YOUNG KIM (CONT’D)
Sie schläft ein. Das darf sie nicht!
Tom sieht auf dem Monitor, wie Jessies Augen langsam zu fallen... Er sieht, wie eine Krankenschwester versucht, sie wach zu halten... ohne Erfolg...
Er sieht zu Liv, die völlig erstarrt ist. Zittert.
TOM (lauter werdend)
Jessie!... Hörst du mich, Süsse!? Nicht einschlafen...!!!
Aber Jessies Augen bleiben geschlossen...
Tom rennt los, durch eine Schwingtür, man versucht, ihn aufzuhalten, aber er lässt sich nicht aufhalten. Einige Koreaner folgen ihm aufgeregt...
... Liv will ihm ebenfalls folgen, aber zwei Pfleger halten sie fest... Sie schlägt wild um sich, schreit, man solle sie loslassen...
... Tom rennt durch den Gang dahinter... Öffnet Türen, erntet verdutzte Blicke dahinter...
... Immer mehr Personen stürzen sich derweil auf Liv, die immer wilder um sich schlägt... Fünf Koreaner versuchen sie festzuhalten, Ill-Young Kim versucht ängstlich auf sie einzureden...
ILL-YOUNG KIM
Es ist verboten, bitte beruhigen Sie sich... So ist das Gesetz!
... Livs Blick fällt auf Jessies geschlossene Augen auf dem Monitor und mit einem Schrei, der irgendwo aus der Wiege der Menschheit kommt, reisst sie alle nieder und sich selber los, rennt Tom hinterher...
... Tom findet endlich den Operationssaal.
Das kleine Baby liegt auf dem grossen Operationstisch, ein grosses grünes Tuch verbirgt die Ärzte, die dahinter in ihrem winzigen Gehirn rumwerkeln...
Tom geht rein, kniet sich auf den Boden vor Jessie. Macht Faxen und spielt mit ihr...
TOM
Hey, kleiner Hobbit, jetzt nicht in der Höhle verstecken! Das ist langweilig! Hier spielt die Musik!
Er singt ihr vor... Jessie wacht auf, sieht ihn an... Tränen laufen über Toms verzweifeltes Gesicht, zum ersten Mal...
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... Und zum ersten Mal lacht Jessie ihn an. Vielleicht mag sie traurige Clowns... Oder der Chirurg hat einfach nur mit seinen Instrumenten das Lachzentrum in ihrem Gehirn getroffen...
Aber was es auch immer ist (und wer weiss denn schon, was am Ende Sinn macht und was Unsinn ist?), jedenfalls: Sie lacht und bleibt wach! Und Tom lacht mit ihr, während er weinend auf dem Monitor über ihr sieht, wie Professor Kitano in ihrem Gehirn aufräumt.
Jessie streckt Tom ihre kleine Faust entgegen. Er nimmt sie und hält sie fest in seiner grossen Hand.
Liv erreicht den Operationssaal und bleibt stehen, als sie die lachende Jessie und den vor ihr knienden Tom sieht...
INNEN. MÜHLHEIM - HOTELZIMMER - MONTAGE
... Ellen zieht ihre Mutter nackt aus und wäscht sie sanft. Lissy gefällt das, auch sie lächelt. Wie Jessie in Pjöngjang...
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INNEN. PJÖNJANG - KRANKENHAUS/OPERATIONSSAAL - MONTAGE
... Tom hält Jessies kleine Hand in seiner Hand, als Professor Kitano sich über das grüne Trenntuch zu ihnen beugt und ernst etwas sagt...
PROFESSOR KITANO
The Tumor is gone. Life will go on.
Tom sieht mit Tränen in den Augen von einem zum anderen. Aber etwas in Kitanos Stimme gefällt ihm nicht...
TOM
You mean... HER life will go on?
PROFESSOR KITANO
We don’t know yet. We need patience.
Tom kann die Hand Jessies nicht loslassen. Sein Blick verschwimmt im Lachen seiner Tochter.
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Liv kommt zu ihnen und vergräbt sich in ihnen bis die drei ein einziges Knäuel bilden...
INNEN. MÜHLHEIM - HOTELZIMMER - MONTAGE
... Ellen liegt summend neben ihrer nackten Mutter, als diese schliesslich sanft aufhört zu atmen.
Sie singt krächzend noch eine Weile weiter. Immer schwächer werdend. Dann verstummt sie...
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... Draussen klopft der Page an der Zimmertür, keine Reaktion von Ellen und Lissy... Er rennt nach unten zum Telefon...
SPÄTER...
... SANITÄTER dringen in das Zimmer ein, checken den Puls der still im Bett liegenden Frauen... Machen bei beiden Frauen Wiederbelebungsversuche...
... Ellen röchelt, erwacht, wehrt sich mit aller Kraft gegen die Sanitäter... Sieht rüber zu ihrer regungslos und friedlich daliegenden Mutter... Und ergibt sich schliesslich den kräftigen Armen der Sanitäter...
INT. KRANKENHAUS / GANG - TAG 154 154
... Tom kommt allein in den Gang und entdeckt Moritz, der dort auf einer Bank sitzt und jetzt aufspringt, als er Tom sieht. Es ist wie ein Deja-Vu der ersten Sequenz bei Jessies Geburt...
MORITZ
Es tut mir leid... Ich... Ich konnte nicht... Ich... Ich...
TOM
Geh zu deiner Tochter! Na los, du Trottel!
Moritz rennt an ihm vorbei zu Jessie. Tom setzt sich und starrt an die Wand ihm gegenüber, ebenso, wie er das nach der Geburt von Jessie am Anfang des Films getan hat.
Die Wand sieht auch genauso aus, wie die Wand am Anfang des Films, doch das ist ohne jede symbolische Bedeutung, abgesehen davon, dass sich die Wände von Krankenhäusern überall auf der Welt gleichen, wie ein Ei dem anderen.
EINBLENDUNG:
Der Ruheforst, in dem schon Gerd Lunies begraben wurde. Der Bestatter hält die gleiche Rede.
BESTATTER
Ein Dichter hat einmal gesagt: Es gibt ein Land der Lebenden und ein Land der Toten. Und dazwischen ist die Liebe...
Ellen und Susanne sind gekommen und hören schweigend zu.
Im Hintergrund stehen Tom und Ronja - mit ihrem Baby. Es schreit. Ronja versucht es zu beruhigen, aber es klappt nicht. Tom nimmt es ihr ab und sofort schläft es an seiner Brust ein...
... Später auf dem Parkplatz. Ronja verfrachtet das Baby in die Babyschale auf dem Rücksitz ihres Car-Sharing Wagens.
Susanne steht bei dem Bestatter, als Tom zu ihnen kommt.
Er gibt Susanne die Hand.
TOM
Danke.
Susanne nickt, nicht sehr freundlich. Tom gibt auch dem Bestatter die Hand, der schüttelt ihn mit einem mildem Bestatter-Lächeln.
BESTATTER
Schön, das es heute geklappt hat.
TOM
Ja, hab diesmal lieber einen Benziner genommen.
Ronja ruft ihn, Tom verabschiedet sich und geht zu ihr. Auf dem Weg sieht er zu Ellen, die an ihrem Mietwagen steht und ihr Handy checkt.
TOM (CONT’D) (zu Ronja)
Ich muss nochmal kurz...
RONJA
... Ja... (ruft ihm nach:) Tom! Sei nett!
TOM
Ich bin immer nett.
Tom geht zu seiner Schwester, sie sieht vom Handy hoch, packt es weg.
Sie stehen sich stumm gegenüber. Ellen windet sich.
ELLEN
Also, wir müssen jetzt wirklich nicht so tun, als ob...
TOM (unterbricht sie)
... Im Schlafzimmer im Schrank hängt ein Mantel, da hat Mama ein Sparbuch versteckt, darauf sind 5000 Euro. Sie wollte, dass du das kriegst.
Ellen verstummt. Sie sehen sich an. Beide haben das Gefühl, dass es vielleicht das letzte Mal ist, dass sie sich sehen. Dass es nie wieder einen Grund geben wird, sich zu treffen oder miteinander zu sprechen. Dass jeder Anschein von “Familie” hier und heute mit ihrer Mutter begraben wurde.
Ellen steigt in den Wagen und fährt davon. Tom geht zu Ronja und seinem Kind. Sie steigen ebenfalls ein und fahren weg.
Zurück bleibt der Ruheforst, unter dessen Erde namenlose Tote still verrotten.
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AUSSEN. FÜRSTENFELDBRUCK / HAUS SEBASTIAN - TAG
Ellen kommt die Strasse runter gelaufen, auf das Haus von Sebastian in Fürstenfeldbruck zu.
Schon von weitem sieht sie Lena, die vor dem Haus mit einer Nachbarin spricht.
Als Lena sie entdeckt, geht sie schnell ins Haus.
Kurz darauf kommt Sebastian aus dem Haus und geht auf Ellen zu.
SEBASTIAN
Das geht nicht, Ellen, du kannst nicht ständig hier auftauchen...
ELLEN
Jetzt übertreib mal nicht, “ständig”, ist erst zum zweiten Mal...
SEBASTIAN
Trotzdem, du kannst nicht...
ELLEN
... Ich wollte mich nur entschuldigen. Für meinen Auftritt vor... Wie lange ist das her? Keine Ahnung... Und für die 280 mal, die
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ELLEN (CONT’D)
ich versucht hab, dich anzurufen... Und... für alles halt.
Sebastian sieht sie schweigend an. Aus dem Haus hört man streitende Kinder und Lena, die mit ihnen schimpft.
ELLEN (CONT’D)
Eigentlich wollte ich mich auch bei deiner Frau entschuldigen und deinen Kindern, aber ich weiss nicht...
SEBASTIAN
... Muss nicht sein. Aber ich richte es ihnen aus.
Sie stehen stumm da, während der Streit im Haus langsam verebbt.
ELLEN
Du hast einen tollen Sohn.
SEBASTIAN
Ich habe zwei tolle Söhne.
ELLEN
Ja, klar, aber der mit den Antennen gefällt mir wirklich.
SEBASTIAN
Antennen...?!
Ellen sieht ihn ungläubig an...
ELLEN
Also jetzt mal unter uns: Siehst du wirklich seine Antennen nicht?!
SEBASTIAN
Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.
Ellen schüttelt den Kopf. Sachen gibt’s...
ELLEN
Ja gut, dann geh ich mal wieder...
SEBASTIAN
Okay...
Gehts gut...?
ELLEN
SEBASTIAN
Yo.
Schön.
ELLEN
Und selbst?
Tiptop.
SEBASTIAN
ELLEN
Sie dreht sich und will gehen, aber Sebastians Stimme hält sie zurück...
SEBASTIAN
Ellen...?
Sie bleibt stehen. Er geht auf sie zu.
SEBASTIAN (CONT’D)
Werd ich dich je wieder singen hören?
Ellen denkt nach...
ELLEN
Hm, schwer zu sagen... Du kennst ja die Bedingung...
SEBASTIAN
... Ja, kenn ich...
Sie sehen sich tief in die Augen... Sebastian wird nervös, sein Blick fällt zum Haus... Dann wieder zu Ellen...
SEBASTIAN (CONT’D)
Na gut... Aber NUR EINEN!
ELLEN
NUR EINEN!
Sie sieht ihn glücklich an.
INT. WOHNUNG TOM - TAG 157 157
Das Baby isst seinen ersten Brei, Tom macht faxen, das Baby lacht.
Toms Handy klingelt, er sieht aufs Display und sieht nervös zu Ronja.
TOM
Das ist Liv...
Schweigen. Beiden ist klar, worum es bei diesem Anruf vermutlich geht: Jessie.
RONJA
Geh ran!
Tom gibt Ronja das Baby. Steht auf und geht nach nebenan auf den Balkon. Schliesst die Tür hinter sich. Geht ran.
Ronja füttert das Baby weiter, das brabbelnd den Brei überall hin schmiert.
Sie beobachtet Tom durch die Scheiben.
Er spricht wenig, hört vor allem zu. Läuft nervös hinund her, während hinter ihm der Verkehr durch die Berliner Strassen fliesst.
Dann wird er immer ruhiger. Sagt nichts mehr. Bleibt stehen. Lauscht in den Äther.
Und weint. Und lacht.
ABSPANN.