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Ein musiktheatralischer Kosmos Anmerkungen zu Giorgio Battistelli
Max Nyffeler
Giorgio Battistelli, gerade siebzig Jahre alt geworden, ist einer der fruchtbarsten Komponisten auf dem Gebiet des Musiktheaters und sein Einfallsreichtum scheint keine Grenzen zu kennen. Auf seiner Webseite sind gegenwärtig dreißig Werke aufgelistet, und schon ihre Titel verraten eine ungewöhnliche Vielfalt an Themen und Formen. Das Spektrum reicht von der multimedialen Kleinform über das halbszenische Konzert bis zur abendfüllenden Oper mit großer Besetzung, von der leichtfüßigen Satire bis zum schwergewichtigen Musikdrama. Die Stoffe bezieht Battistelli aus der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart, aus Film und Theater, und stets ist ihnen ein Überschuss an eigener Fantasie beigegeben, der für eine zusätzliche Färbung, einen überraschenden spin sorgt – das Adjektiv „extravagant“ ist für seinen Ideenreichtum nicht zu hoch gegriffen. Zur Illustration dieses Befunds einige Schlaglichter in chronologischer Folge auf Battistellis vielfältiges Werk:
KEPLERS TRAUM [1990, Linz] für Schauspieler, zwei Sänger und Ensemble mit einem in die Handlung einbezogenen Flötisten ist ein fantastisches Bühnenmärchen mit experimentellen Zügen. Battistellis Libretto basiert auf einer Traumnotiz von Johannes Kepler, der sich darin ausmalt, wie das Leben auf der Rückseite des Mondes wohl aussehen könnte.
CHANSON DE GESTE [1990, Mailand] für Harfe, Schlagzeug, Tonband und zwei vom Mailänder Studio Azurro produzierten Videos, beschreibt den Kampf zwischen Hektor und Achilles. Der Titel bezieht sich auf die mittelalterliche Gattung der gesungenen Darstellung ritterlicher Kämpfe. Die beiden Spieler reagieren auf die Videos und folgen dabei einer Partitur, die auch der Improvisation Raum lässt. Battistelli interessierte hier die Interaktion zwischen einer nichtillustrativen Musik und Video.
In der experimentellen Erstfassung von TEOREMA [1990, München], komponiert für stumme Schauspieler, einen Sprecher und Ensemble, erscheint ein Engel. Er ist kein Retter, sondern ein Zerstörer, denn er zerlegt die bürgerliche Familie und ihr verlogenes Weltbild.
PROVA D’ORCHESTRA [1995, Strasbourg], basierend auf dem gleichnamigen Film von Federico Fellini, ist eine böse musiktheatralische Parabel auf die nicht funktionierende Autoritätsstruktur Dirigent–Orchester und, verallgemeinert, auf eine heillos zerstrittene Gesellschaft; die Konflikte münden am Schluss in eine Katastrophe. Mit dem Untertitel „Sei scene musicali di fine secolo“ [„Sieben
Szenen vom Ende des Jahrhunderts“, aber auch „vom Ende der Welt“ oder „vom Ende des Zeitalters“] weckt Battistelli apokalyptische Assoziationen.
In IMPRESSIONS D’AFRIQUE [2000, Florenz] für neun Schauspieler, zwei Mimen, Männerchor, Orchester und Sampler lässt Battistelli seiner musikalischen und szenischen Fantasie freien Lauf. Das Stück basiert auf dem gleichnamigen Buch des frühen Avantgardisten Raymond Roussel über ein imginäres Afrika. Ergänzende Texte stammen von Dickens, Morgenstern, Rabelais, Tasso und Umberto Saba. Eine der Sprechrollen ist Jules Verne.
Musicalhafte Leichtigkeit, gemischt mit einem Schuss surrealer Komik inklusive Angstfantasien bietet THE FASHION [2007, Düsseldorf] für zwölf Gesangsrollen und Tänzer unter Mitwirkung von Friseuren, Visagisten und mindestens sieben Models. Das Stück beginnt mit dem AllerweltsSmalltalk im Hotel Fünf Jahreszeiten: „Good morning“ – „Good morning“ – „ What’s he so happy about?“
– „ He’s in love.“ – „Oh dear!“ Dann: Ankunft der Mailänder Modedesignerin, die im Ballsaal die neue Kollektion mit Fischmotiven präsentieren will, ein Star Dressman, der nicht erscheint, und ein Auftritt des Zimmermädchens Meli, das im letzten Moment als männliches Model einspringt und sich nun in Mel verwandelt. Auch der Hotellift singt, er ist ein Countertenor.
MIRACOLO A MILANO [2007, Reggio Emilia], frei nach einer Erzählung von Cesare Zavattini und dem gleichnamigen Film Vittorio De Sicas, erzählt vom Zusammenprall der Kulturen in einer Megacity. Unter dem Slum der Großstadt wird ein Ölvorkommen entdeckt, die Regierung will die Interessen des Ölkonzerns durchsetzen, doch nun erscheinen zwei Engel und erfüllen die Wünsche der Armen: Hier ein Mantel oder ein Fernseher, dort ein Kühlschrank, und auf einen Schlag sind die Häuser voll davon. Als draußen die Polizei anrückt, verschwinden die Bewohner mit Hilfe der Engel am Himmel. Ein Stück Utopie im Leben der Underdogs, erzählt als Märchen aus der Jetztzeit.
DIVORZIO ALL’ITALIANA [2008, Nancy]: Die vom gleichnamigen Film –deutscher Titel: „Scheidung auf Italienisch“ – von Pietro Germi inspirierte „Azione musicale“ über den Streit zweier Adelsfamilien ist eine ironische Abrechnung mit den versteinerten Sitten im Sizilien der 1950er Jahre; Battistelli sorgt schon auf der konzeptionellen Ebene für eine groteske Überzeichnung der Situation, indem er – mit Ausnahme von Angela, der Heiratstrophäe, um die sich alles dreht – auch die weiblichen Hauptrollen ausschließlich mit Männerstimmen besetzt.
IL MEDICO DEI PAZZI [Der Arzt der Verrückten, 2014, Nancy], eine „Azione musicale napoletana“ nach der gleichnamigen Komödie von Eduardo Scarpetta, zieht eine Verbindungslinie von den ekstatischen Tänzen im alten Neapel zu den Verrücktheiten unserer Tage.
Das Rätselhafte und Wunderbare
Manche Stoffe aus Battistellis Musiktheaterkosmos sehen auf den ersten Blick nicht unbedingt bühnenwirksam aus. Doch versteht er aus jeder Vorlage etwas zu machen, das Auge und Ohr zu fesseln vermag und den Geist in Bewegung setzt, sei es durch eine ungewöhnliche Besetzung, durch die Montage heterogener Materialien oder durch Hinzufügung von Fremdelementen, die im Werk einen mal rätselhaften, mal komischen Akzent setzen – surreale Begebenheiten, die sich oft einer schöpferischen Laune des Komponisten verdanken. Über das rein Anekdotische hinaus kommentieren sie die Thematik in der Art eines
Verfremdungseffekts oder werden selbst Bestandteil der Handlung. Beispiele dafür sind etwa der absurde Einfall mit dem singenden Fahrstuhl in THE FASHION, der singende Tod als Doppelgänger des Protagonisten in DER HERBST DES PATRIARCHEN [nach Gabriel García Márquez], der Flötenspieler in KEPLERS TRAUM, der dem erzählenden Dämon auf der Bühne als Schatten beigesellt wird, oder die Engel als Boten des Glücks in MIRACOLO A MILANO. Solche Momente markieren den Einbruch des Wunderbaren in die Welt, wie sie sich für uns darstellt. „Ich glaube stark daran, dass unsere Realität nur eine vorübergehende ist, eine von vielen, in denen wir uns bewegen. Es gibt sicher noch andere“, sagt Battistelli. „Mir gefällt die Idee von diesen Boten, die uns in Kontakt mit anderen, geistigen Dimensionen bringen. Diese Gedanken sind vielleicht für die einen der Glaube, für die anderen vielleicht eher etwas Meditatives oder Philosophisches. Ich denke, der Glaube ist heute eine Dimension von größter Bedeutung.“
Die Polyphonie der Moderne
Giorgio Battistelli ist überzeugt von der Aktualität und Wirkungskraft des Musiktheaters. In dieser Gattung sieht er die Möglichkeit, die heutige Wirklichkeit in ihrer Undurchschaubarkeit mit künstlerischen Mitteln darzustellen, so bruchstückhaft das auch immer nur gelingt. Die große Unruhe unserer Gegenwart, sagt Battistelli, beruhe auf unserem Unvermögen, die vielen unterschiedlichen Realitäten von heute noch auf einen Nenner zu bringen. Stattdessen hätten wir ein Durcheinander geschaffen und eine Harmonie zwischen den verschiedenen Realitäten herzustellen sei unmöglich geworden. In diesen verschiedenen Wirklichkeiten müsse sich der heutige Künstler zurechtfinden.
Für Battistelli bildet das Konzept der Moderne deshalb eine Polyphonie. Ihre Struktur ist nicht monodisch, also eindimensional, sondern bildet ein Zusammenwirken von vielen Faktoren, die sich überlagern. Aber er grenzt sich scharf ab vom Eklektizismus, und mit dem Begriff der Postmoderne kann er nichts anfangen. Die Aufgabe des Künstlers, sagt er, bestehe darin, sich Rechenschaft abzulegen über die Realität, in der wir leben, und er folgert: „Es gibt nicht nur eine Art, sondern viele Arten, musikalisch zu denken. So wie es viele Arten gibt, unsere Welt zu sehen.“
Zum Beispiel vom Mond herab. In der erwähnten Kammeroper KEPLERS TRAUM bezieht sich die Erzählung auf eine Schrift des Astronomen Johannes Kepler, in der dieser eine Reise auf den Mond imaginiert, von dort aus die Erde betrachtet und die Rückseite des Mondes erforscht. Kepler packte das Ganze 1609 in eine Erzählung mit dem Titel „Somnium oder der Traum vom Mond“. Die wissenschaftlich gesicherten Tatsachen über den Himmelskörper ergänzte er mit zahlreichen fantastischen Einzelheiten; sie lesen sich wie ein Expeditionsbericht aus einem der damals neuentdeckten Kolonialreiche, mit Beschreibungen der Böden, des Klimas und der dortigen Lebewesen. Was aus heutiger Sicht kurios klingt, stellte zu Keplers Zeiten einen Sprung ins Leere, Ungesicherte dar. Die Erde von außerhalb zu betrachten, dabei den Mond als Standort zu benutzen und das Ganze als fantastische Vision zu verpacken: So etwas musste damals schlechthin revolutionär wirken. Für Battistelli war es eine Steilvorlage, seine Bühnenfantasie sprang sofort darauf an. Er machte daraus ein Vierpersonenstück mit Charakteren, die zwischen mittelalterlichem Aberglauben und beginnender Aufklärung angesiedelt sind. Zauberei und Wissenschaft, Traum und Wirklichkeit verschwimmen – ein Zwischenreich, wo die künstlerischen Fantasien geboren werden.
Am Beispiel von KEPLERS TRAUM erläutert Battistelli, was ihn an einem Stoff fasziniert. Eine Geschichte für sich allein genommen findet er nicht so spannend. Doch fühlt er sich sofort angesprochen, wenn sie einen Sprung in eine andere Dimension ermöglicht – musikalisch, gedanklich, theatralisch – und sich zu neuen Bildern oder zum Tanz hin öffnet. Sie muss beweglich sein, über sich und damit über die bestehende Wirklichkeit hinausweisen.
Battistelli und die italienischen Traditionen
Bei allen Extravaganzen sind Battistellis Ideen, so schräg sie manchmal erscheinen, immer zuverlässig geerdet; mit dem Instinkt des lebenszugewandten Praktikers gelingt es ihm, den Kern einer jeden Geschichte auf spezifische Weise zu gestalten und in theaterwirksame Formen umzusetzen. Unabdingbar ist für ihn dabei eine klare Narration, die auch noch in den mehr experimentellen Formen einen Dialog mit dem Publikum ermöglicht. Ein theoretischer Überbau, den man erst studieren muss, eine negative Ästhetik und jede Art von intellektueller Spitzfindigkeit liegen ihm fern. Die Werke sollen den Weg zum Publikum über die direkte sinnliche Wahrnehmung finden, was Komplexität auf klanglicher oder konzeptueller Ebene aber keineswegs ausschließt.
Das hat zweifellos mit Battistellis italienischer Herkunft zu tun. Geboren 1953 in Albano bei Rom, studierte er Klavier und Komposition am Konservatorium in L’Aquila und war mit einundzwanzig Mitbegründer der Experimentalgruppe „Edgar Varèse“ und Mitglied der Gruppe „Beat 72“ in Rom. Großen Einfluss hatten auf ihn Komponisten wie Luciano Berio, Luigi Nono und Hans Werner Henze. Letzterer lud ihn Anfang der neunziger Jahre ein, die Leitung des Cantiere d’arte, der Kunstbaustelle in Montepulciano zu übernehmen, was für ihn einen wichtigen Schritt in seiner künstlerischen Entwicklung bedeutete. Er lernte, aus der isolierten Existenz des Autors auszubrechen und die Arbeit des Komponisten in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Heute ist er ein gesuchter Programmmacher bei italienischen Operntheatern und Sinfonieorchestern. Mit seiner praxiszugewandten Arbeitsweise repräsentiert Battistelli einen Komponistentypus, der in seiner Heimat Italien vermutlich häufiger anzutreffen ist als nördlich der Alpen. Musik war für ihn nie primär ein Resultat der Reflexion über das Material. Deshalb musste er auch nie nach einem Ausweg aus dem theorielastigen Komponieren suchen, sei es durch die Vertonung politischer Bekenntnisse, sei es durch den Ausdruck subjektiver Befindlichkeiten. Und Haltung zeigen durch moralische Appelle war ohnehin nie seine Sache. Sein Ausgangspunkt war immer die kritische Welterfahrung, die distanzierte Beobachtung der inneren und äußeren Wirklichkeiten, wie sie sich in der Gegenwart, aber auch in den großen Kunstwerken der Vergangenheit manifestieren. Darin ist er Luigi Nono verwandt, der in seiner Spätphase zum vehementen Gegner des theorielastigen Komponierens wurde und erklärte, Grundlage der künstlerischen Arbeit sei nicht eine kompositionstechnische oder weltanschauliche Vorgabe, der man Genüge tun müsse, sondern die lebendige Realität, die es zu analysieren gelte. Daraus können dann auch die geistigen Höhenflüge hervorgehen, die für Nonos Spätwerk und, in ganz anderer Weise, für Battistellis fantastische Erfindungen charakteristisch sind.
In diesem induktiven Vorgehen schwingt vielleicht noch etwas mit vom alten Erbe der italienischen Renaissance: das beobachtende Experimentieren der großen Entdecker und Erfinder, die keine faustischen Buchgelehrten, sondern Naturforscher, Erfinder, Künstler und Visionäre in Personalunion waren.
Dieser Wirklichkeitsbezug ist der Nährboden für Battistellis Musiktheater. In der Form des spettacolo, als ein allgemein sichtbares, aussagekräftiges Spiel auf der Bühne, bringt es das Leben in allen seinen Facetten zur Darstellung. Taten, Schicksale und Träume der Menschen werden in konkreter Anschaulichkeit vorgezeigt und mit dem ganzen Erfahrungsschatz der Geschichte in Beziehung gebracht.
Der Cittadino
Beispielhaft für dieses strikt gegenwärtige und zugleich die Grenzen der Gegenwart sprengende Darstellungsverfahren steht die Komposition EXPERIMENTUM MUNDI, ein Solitär in jeder Hinsicht. Das Werk für einen Schauspieler, fünf Frauenstimmen, sechzehn Handwerker und einen Schlagzeuger aus dem Jahr 1981 kann als Prototyp für Battistellis gesamtes Bühnenschaffen betrachtet werden, und zugleich zeigt sich darin in aller Klarheit seine Verwurzelung in der italienischen Kultur.
Alles, was in seinen späteren Stücken auf die Bühne kommt, ist hier schon überdeutlich vorhanden: der Realismus – hier sogar ein Hyperrealismus – der Darstellung, eine scheinbar unmögliche Kombination völlig heterogener Elemente und eine Gleichzeitigkeit von kollektiver Erinnerung und ekstatischer Gegenwartserfahrung – eine Feier menschlicher Schöpferkraft; Rückblick und utopischer Ausblick halten sich die Waage.
Die Protagonisten in dieser „Opera di musica immaginistica“ sind Handwerker aus Battistellis Heimatdorf Albano Laziale: Pastamacher, Schuster, Maurer, Werkzeugmacher, Steinmetz, Tischler, Küfer, Scherenschleifer… Sie und alle anderen zeigen auf der Bühne genau das, was sie zu Hause im realen Leben auch machen. Oder gemacht haben. Denn viele dieser handwerklichen Fertigkeiten, in der bürgerlichen Ära einst Träger des gesellschaftlichen Fortschritts, sind heute, im Zeitalter von Roboter und Massenanfertigung, dem Untergang geweiht. Ihre Apotheose auf der Theaterbühne wird indes befeuert durch einen Sprecher, der zur komplexen Polyphonie der Arbeitsgeräusche die Beschreibung der Tätigkeiten und Werkzeuge aus Diderots „Encyclopédie“ vorträgt. Und je nach Lautstärkepegel flüstern, raunen und schreien gelegentlich auch fünf Frauen männliche und weibliche Vornamen in die Geräuschsinfonie hinein. Sie klingen wie magische Beschwörungen. Ein Schlagzeuger verdichtet die Arbeitsgeräusche, Battistelli dirigiert. Die Truppe hat mit dem Stück schon die ganze Welt bereist, mehrere Handwerker Darsteller sind bereits in der zweiten Generation vertreten.
Dieses spettacolo bringt italienische Lebensart in Reinkultur auf die Bühne und begeistert jedes Publikum. Bei den Premierenfeiern, wenn die Handwerker den Gästen den mitgebrachten Wein, Käse und Schinken aus Eigenproduktion offerieren, geht es dann weiter, mit Giorgio Battistelli, dem Cittadino aus Albano Laziale, mittendrin. Eine Steigerung erfuhr diese Szene nach der Aufführung im Almeida Theatre in London 1996, als der Pflasterleger Antonio Innocenzi während der Premierenfeier auswendig einige Strophen aus „Dantes Commedia“ rezitierte. Mehr Italianità geht nicht.
Das Motiv der Erinnerung durchzieht Battistellis gesamtes Schaffen. Es zeigt sich auch in seinem historischen Bewusstsein und prägt sein Traditionsverständnis.
In einem Beitrag für das Darmstädter Theater schrieb er 1997 unter dem Titel „Bemerkungen über die Dramaturgie von Aug‘ und Ohr“: „Die tiefe Verbindung mit unserem kulturellen Erbe von Monteverdi bis Mozart, von Mozart bis Rossini, von Rossini bis Wagner, von Wagner bis Strauss, von Strauss bis Berg erlaubt uns, schöpferisch tätig zu sein, die innere Kraft dieser Tradition zu verstehen und eine eigene Vorstellung zu realisieren. Diese produktive Auseinandersetzung befähigt uns, neue mögliche Formen des Hörens und Sehens auszuprobieren.“
Tradition als Motor der Erforschung neuer Wahrnehmungsformen und Wirklichkeiten. Dazu gehört bei Battistelli neben den äußeren und den fantastischen Wirklichkeiten auch die der Innenwelt. Bei seinen Erkundungen der menschlichen Psyche mobilisiert er gerne den großen Orchesterapparat und bringt zudem das Schlagzeug, eines seiner Lieblingsinstrumente, in großem Umfang zum Einsatz. So etwa im HERBST DES PATRIARCHEN, wo das erbärmliche Ich des ordinären Machthabers durch eine gefährlich schillernde Musik bis in die letzten Einzelheiten durchleuchtet wird. Oder in RICHARD III ., dem abendfüllenden „Dramma musicale“ nach Shakespeare: Hier zeichnet die Musik ein furchterregendes Porträt des kranken Gewalttäters auf den Königsthron. In beiden Werken konfrontiert die Erinnerung, diese unbeherrschbare innere Kraft, die herrschsüchtigen, an die Gegenwart geketteten Figuren unbarmherzig mit ihrer eigenen Zeitlichkeit; der Patriarch hantiert zwanghaft mit Erinnerungszettelchen, König Richard wird vor seinem Tod in Gedanken von den Geistern seiner Opfer heimgesucht.
Im Orchesterstück „Afterthought“ von 2005 erinnerte sich Battistelli an das im Jahr zuvor uraufgeführte Bühnenwerk RICHARD III. Die Erinnerung an den theatralischen Wüstling verknüpfte er mit dem Blick auf den realen Schrecken der Gegenwart, die damals aktuellen Bombenanschläge in London. Mit der Durchdringung der Zeitebenen ist ein völlig neues Stück entstanden, in dem der Horror aus RICHARD III. in verwandelter Form musikalisch wieder auflebt.
In dem 2002 in Mannheim uraufgeführten Bühnenwerk AUF DEN MARMORKLIPPEN [Untertitel: „Musikalische Visionen nach dem Roman von Ernst Jünger“] tritt der Erzähler als „Stimme der Erinnerung“ auf. Er verortet das Geschehen in der Vergangenheit und unterstreicht damit den reflexiven Charakter des Werks. Es ist ein Protokoll des unausweichlichen Niedergangs einer Zivilisation, die sich in ihrer Naturfreunde Idylle gemütlich eingerichtet hat und sich nicht zu wehren weiß gegen die heimtückische Unterwanderung und schließlich Zerstörung durch die Truppen eines gewalttätigen Aggressors. „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“: Die Erkenntnis aus Schillers „Wilhelm Tell“ könnte als Motto über dieser machtpolitischen Parabel stehen, die heute, im Jahr zwei des Ukrainekriegs, plötzlich eine beklemmende Aktualität erhält.
In solchen Chiffren des Bösen – in der individuellen Gestalt beim PATRIARCHEN und bei RICHARD III. und in politischer Form beim Stoff von Jünger – leuchtet Battistelli tief in das Dunkel der menschlichen Psyche hinab, und die Verknüpfung mit dem Erinnerungsmotiv erweist sich dabei als probater Kunstgriff. Hier zeigt sich auch sein musikdramatisches Können auf unerwartet klare Weise. Kühl disponierend und mit souveräner Distanz zum Gegenstand, doch unter Aufbietung eines üppig bestückten Klangapparats und mit einer Folgerichtigkeit, die an das Theater der alten Griechen erinnert, lässt er seine Geschichten in die finale Katastrophe münden. Sein Anspruch, dass sich das Drama in der Musik entfalte, findet hier seine Erfüllung.