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Verführung zum Leben
Giorgio Battistelli im Gespräch mit Jörg Königsdorf
Herr Battistelli, Ihre neue Oper basiert auf einer berühmten Vorlage von Pier Paolo Pasolini. Wann begann Ihre Beschäftigung mit Pasolini und seinem Werk?
Giorgio Battistelli
Meine Geschichte mit Pasolini beginnt circa 1970/71. Ich war damals ein sehr, sehr junger Mann und habe ihn bei der Einweihung der Bibliothek der kleinen Stadt kennengelernt, in der ich geboren wurde. Am Ende dieses Treffens stellte ich ihm tatsächlich eine Frage über TEOREMA. Ich hatte damals gerade den Film gesehen und auch das Buch gelesen und war davon sehr beeindruckt, vor allem von der Figur des Gastes. Ich fragte ihn also: Wer ist dieser Gast? Ein kommunistischer Revolutionär? Er antwortete: „Nein. Denke ihn dir als einen Engel, der vom Himmel gekommen ist. Einen Engel der Vernichtung.“
Was hat Sie mehr beeinflusst: Die Film- oder die Romanversion des Werks?
Giorgio Battistelli
Film und Roman besitzen generell unterschiedliche Rhythmen. Der Rhythmus eines Romans, einer Erzählung, ist viel langsamer: Wir setzen den dramaturgischen Rhythmus durch die Lektüre selbst. Im Film ist alles schon organisiert. Deshalb haben mich die Versionen auf unterschiedliche Art beeinflusst. Der Film in seiner realistischeren Art, der Roman durch seine metaphysischere, spirituellere Art des Erzählens.
Sie haben schon 1990 eine Version von TEOREMA komponiert, weshalb nähern Sie sich jetzt dem Stoff noch einmal?
Giorgio Battistelli
Es ist seltsam und ich glaube bislang nie vorgekommen, dass ein Komponist denselben Stoff zweimal vertont hat. Die erste Vertonung, die ich in den Jahren 1988/89 schrieb und die dann 1990 bei der Münchener Biennale uraufgeführt wurde, war ein Auftrag von Hans Werner Henze. Er hat mich angesprochen und gesagt, er habe die Rechte und wolle eigentlich selbst eine Oper über „Teorema“ schreiben. An diesem Abend saßen wir lange zusammen und sprachen über Pasolini, über Elsa Morante, Alberto Moravia, Italo Calvino und andere italieni sche Autoren. Am Ende sagte er mir: „Ich würde mich sehr freuen, wenn du diese Oper schreiben würdest. Ich trete von der Vertonung zurück und gebe dir die Möglichkeit, diese Oper zu schreiben.“ Ich habe das Werk dann mit einem großen Verantwortungsgefühl geschrieben, weil Hans es eigentlich selbst hatte schreiben wollen. Es war schwierig für mich, diese Verantwortung anzunehmen.
Haben Sie nun eine zweite TEOREMA-Oper geschrieben, weil sich die italienische Gesellschaft, die Thema des Stücks ist, inzwischen so verändert hat?
Giorgio Battistelli
Als ich die erste Version schrieb, traf ich eine sehr mutige Entscheidung: Ich entschloss mich, eine Oper ohne Gesang und Sänger zu schreiben – die Sänger*innen waren also stumm. Immer dann, wenn sie ansetzten zu singen, passierte etwas, das sie am Sprechen, Kommunizieren hinderte. Es gibt in TEOREMA viele Probleme, aber ein zentrales ist das Fehlen jeglicher Kommunikation innerhalb dieser Familie: Es gibt den Vater, die Mutter, den Sohn, die Tochter und die Hausangestellte, das sind fünf Personen, von denen vier nicht miteinander kommunizieren. Dann kommt der Gast und bringt eine Verständigung zwischen ihnen zustande – durch die Verführung. Dabei handelt es sich um eine intellektuelle, aber auch eine körperliche Verführung. Ich würde jedoch sagen, dass sich die italienische Gesellschaft seither nicht viel verändert hat. Im Gegenteil war Pasolini ein Prophet, der vor fünfzig Jahren eine Situation als Gefahr vorhergesagt hat, vor der wir jetzt stehen: die menschliche wie kulturelle Gleichschaltung der Gesellschaft. Das bedeutet, dass es keine Unterschiede zwischen den sozialen Schichten mehr gibt: Hohe und mittlere Bourgeoisie, Proletariat und Subproletariat, das alles hat sich weitgehend nivelliert und es gibt nur noch Menschen mit mehr oder wenig Geld. Aber Pasolinis große Intuition war, dass das Konsumdenken ein Diktator ist, dessen Opfer wir heute alle sind. Alles, was um uns herum ist, wird mit großer Schnelligkeit konsumiert, und Pasolini hat schon vor 50 Jahren gesagt: Achtung! Der Konsum ist eine neue Form des Faschismus, der sich der Gesellschaft als Lebensform aufzwingen wird.
Und wie hängt das mit der Unfähigkeit zusammen, miteinander zu kommunizieren?
Giorgio Battistelli
Die Unfähigkeit zu kommunizieren ist die Folge dieses Diktats des Konsums. Heute werden Gefühle nicht mehr kommuniziert, wir übertragen nur Informationen, wir teilen kein Wissen mit, wir kommunizieren keine wirklich tiefgehenden Inhalte. Wir haben Angst vor Gefühlen und kommunizieren nur mit Zahlen und Informationen.
In der Oper gibt es eine Entwicklung: Die Menschen lernen zu kommunizieren und singen sogar zusammen.
Giorgio Battistelli
Eines der Probleme, das ich in IL TEOREMA DI PASOLINI behandle, ist die stilistische Behandlung der Stimmen. Es gibt eine sehr differenzierte Behandlung der Gesangsstimmen, die vom gesprochenen Wort ausgeht und dann langsam zu Formen wie dem Sprechgesang, der Deklamation führt, einer emphatischen, expressiven Form des Deklamierens. Es gibt viele Formen des Stimmgebrauchs, aber auch der Begegnung zwischen gesungenem und gesprochenem Text. Denn es wäre zu einfach und reduzierend gewesen, den fünf Sänger*innen einfach
Opernrollen im klassischen Sinn zu geben. Die Sprache dieser fünf Personen musste vielfältig und möglichst reich an Ausdrucksmöglichkeiten sein.
Versteckt sich Pasolini Ihrer Ansicht nach hinter einer der Figuren?
Giorgio Battistelli
Das ist natürlich sehr subjektiv. Ich persönlich habe Pasolini im Gast wiedergefunden, in dieser Figur, die ankommt, eine bürgerliche Familie zerstört, jedem seine eigene Identität zurückgibt und dann fortgeht. Er weist jedem den Weg, seine persönliche Befreiung zu realisieren.
Der Text ist zum Teil in der dritten Person geschrieben. Was bedeutet das für die Musik?
Giorgio Battistelli
Das war eine der Schwierigkeiten, die ich bei der Vertonung des Textes hatte. Da er in der dritten Person geschrieben ist, habe ich zunächst eine Fassung geschrieben, die den Text in die erste Person überträgt. Aber nach einigen Monaten, als ich auch schon einen kleinen Teil komponiert hatte, wurde mir bewusst, dass das den Text reduzieren würde und ein Verrat an Pasolini wäre. Diese Stimme hinter den Figuren, die erzählt, was Paolo, Pietro, Lucia, Emilia und Odetta denken, ist wichtig. Die Sänger singen ihre eigenen Gedanken in der dritten Person. Sie singen nicht: „Paolo, wie schön du bist“, sondern „Wie schön ist Paolo“. Der Gesang illustriert mithin die Aktion.
Wie hat sich Ihre Musik im Vergleich zu Ihrer letzten Oper GIULIO CESARE entwickelt?
Giorgio Battistelli
Jede meiner Opern hat eine andere Sprache, aber alle zusammen bilden wiederum eine eigene Sprache. Mich zieht eine Ästhetik sehr an, die in der Malerei „radicante“ genannt wird. Meine Musik gleicht den Wurzeln einer Blume oder eines Baums. Die Wurzeln geben dem Baum Tiefe, gehen aber in verschiedene Richtungen. All diese Wurzeln ernähren sich und wachsen durch die Elemente der Erde. Sie sind sehr verschieden voneinander, aber alle tragen sie dazu bei, dass der Baum wächst und gedeiht. Das bedeutet: Mich fasziniert heute unsere Zeit als Zeit, die von heterogenen Gedanken geprägt ist, statt monothematisch ausgerichtet zu sein. Diese Heterogenität in ihren multiplen Erscheinungsformen, diese verschiedensten Gedankenwelten in unterschiedlichsten Dimensionen. Dabei ist es auch schön, wenn diese Gedanken einander widersprechen. Denn Widerspruch bedeutet Freiheit, anderer Meinung zu sein. Deshalb bin ich mir in meiner musikalischen Sprache immer treu geblieben. Nur kann meine Sprache nicht die gleiche, sein wenn ich einen Text von Shakespeare komponiere oder einen von Pasolini, Jules Verne oder Ernst Jünger. Das sind verschiedene Welten und ich kann nicht die gleiche Sprache für sie alle benutzen. Meine musikalische Sprache ist ein Sonnensystem mit vielen Planeten, aber ich verbinde einen mit dem anderen.
Kultur und ökonomische Verfassung gehören stets aufs engste zusammen.
[…] Nur wenn etwas fremdes in diese ökonomische Verfassung dringt, gerät diese Kultur in eine Krise. Eine Krise, die seit jeher in der bäuerlichen Welt
Grundlage für die Herausbildung von Klassenbewusstsein ist. Diese Krise ist also eine Krise in der Beurteilung der eigenen Lebensweise, ein schwindendes Vertrauen in die eigenen Werte, …