Anna-Carola Krausse
andere horizonte Ostdeutsche Nachkriegsmoderne im Schatten des Sozialistischen Realismus
andere horizonte
Anna-Carola Krausse
andere horizonte Ostdeutsche Nachkriegsmoderne im Schatten des Sozialistischen Realismus
Inhalt
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Vorbemerkung
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Vorwort und Dank
I Wider das Lied von derder Einheitskunst I Wider das Lied von Einheitskunst Einführung
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Aufstieg und Fall eines Klischees Das Ei des Formalisten oder: von faulen Fischen und anderen Miserabilitäten Unbesehen übersehen. Folgen der Nicht-Präsenz in der Öffentlichkeit Bildbefragungen Schauplatz Ahrenshoop. Anmerkungen zur Künstlerauswahl Ausscherer und Rückendecker. Schulterschluss zweier Generationen Netzwerke und interne Öffentlichkeit Von der Unzulänglichkeit bestehender Begriffe und Paradigmen
II So wollen wenigstens Humus sein II So wollen wirwir wenigstens Humus sein Mittler der Moderne. Die Lehrergeneration 41
Anerkannt und attackiert
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Blick zurück nach vorn Farb-Materialismus. Fritz Dähn
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Reflexionen über Zeit und Raum
67 75 85 85 92 96 101 102 105 110 125
Weiter als das Auge reicht. Hans Kinder Malerisches Spätwerk, nachbelichtet. Edmund Kesting Impressiv expressiv Das große Ganze sehen. Herbert Wegehaupt Der organisierte Bildraum. Otto Niemeyer-Holstein Aufgewühlte Farbmeere. Carl Lohse Auf eigenen Wegen. Künstlerinnen der frühen Jahre Nonkonformistin per se. Charlotte E. Pauly Der inneren Stimme folgen. Kate Diehn-Bitt In die Tiefe loten. Hedwig Holtz-Sommer Gefährliches Strandgut. Der »Fall Ahrenshoop«
III Aufbruch, Ausbruch, ausgebremst III Aufbruch, Ausbruch, ausgebremst Die junge Generation 147
Junge Kunst in Opposition
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Zwischen Traum und Trauma. Existenzielle Malerei
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Gegen »bieder-dümmliche Optimimushuberei«. Harald Metzkes, Manfred Böttcher, Ernst Schroeder Äußerste Hingabe. Siegfried Korth »Ein Vogel bin ich ohne Flügel«. Roger Loewig Rettende Rekurse
164 190 204 213 213 245 259 259 281
Innere Wirklichkeit und äußere Form Gefühltes Sehen. Horst Zickelbein Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild. Dieter Goltzsche Keine Kompromisse Geheime Journale. Hanfried Schulz »Ich hasse Wiederholungen«. Achim Freyer Anhang
299 299 337 347 348 363 367 368
Verwendete Abkürzungen Anmerkungen Abbildungsverzeichnis Dank Literaturverzeichnis Personenregister Copyrights Impressum
Vorbemerkung
Die vorliegende Publikation entstand im Ergebnis und in der Folge eines Forschungsprojekts zur Künstlerkolonie Ahrenshoop, das im Rahmen des Programms »Forschung in Museen« der VolkswagenStiftung in den Jahren 2011 bis 2015 am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin angesiedelt war und in engem Kontakt mit dem damals in Gründung befindlichen Kunstmuseum Ahrenshoop durchgeführt wurde. Das Projekt verstand sich als fachwissenschaftlicher Anschub für das neue Museum, dessen mittlerweile stattlich angewachsene und gut strukturierte Sammlung zum Zeitpunkt seiner Gründung noch im Stadium eines Grundstocks steckte. Von einer bundesweit verankerten bürgerschaftlichen Initiative getragen, hatte es sich das Gründungsteam des Kunstmuseums vorgenommen, Ahrenshoop als überregional wirksames kunstgeschichtliches Ereignisfeld, das seit seiner Entstehung kurz vor 1900 das gesamte 20. Jahrhundert hindurch bis heute ununterbrochen aktiv blieb, sowohl im Sammlungsprofil als auch im Inhalt der Museumsausstellungen sichtbar werden zu lassen. Dieser Anspruch war im Vorfeld der Museumsgründung noch keineswegs zureichend fachwissenschaftlich untersetzt. Auch aus dem anlaufenden Museumsbetrieb heraus konnte diese Untersetzung nicht befriedigend geleistet werden. Die Investition der VolkswagenStiftung in das Forschungsprojekt Die Künstlerkolonie und der Künstlerort Ahrenshoop als Teil der Moderne vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart ermöglichte in jener Aufbauphase einen großen Schritt nach vorn und legte damit einen bedeutenden inhaltlichen Grundstein für das Kunstmuseum Ahrenshoop. Dank des Forschungsprojekts verfügt das Museum über ein unerwartet umfangreiches digitales und analoges Archiv mit Daten zu Lebensläufen und Werken von Künstlerinnen und Künstlern, die gemäß dem Sammlungsauftrag für das Kunstmuseum von Bedeutung sind. Im Zuge einer akribischen Grundlagenforschung wurden diese Daten in Literatur, Nachlässen, Museen und Archiven ermittelt. Verzeichnete die Liste der bekannten Künstlerinnen und Künstler zu Projektbeginn etwa 350 Namen, so umfasst das vom Forschungsprojekt aufgebaute Archiv heute knapp 1.000 Künstler-Dossiers sowie eine gesonderte Dokumentation von weit über 6.000 Werken aus allen kunstgeschichtlichen Perioden, die Ahrenshoop betreffen. Das digitale und das analoge Archiv bilden somit einen einzigartigen Fundus, der umfängliches, zum Teil unikales Material für die künftige Museumsarbeit und weitere Forschungen zur Kunst des Ostseeraumes bereithält. In seiner spezifischen Ausrichtung vermag es zahlreiche Impulse für den weiteren Sammlungsausbau sowie für die Konzeption thematischer oder monografischer Sonderausstellungen zu geben. Für das Kunstmuseum Ahrenshoop ist das ein Glücksfall.
VORBEMERKUNG
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Auch für das Kunsthistorische Institut der Freien Universität Berlin erwies sich die Kooperation mit dem Ahrenshooper Museum als überaus gewinnbringend. Die im Projekt geleistete Grundlagenforschung löst den Anspruch auf Nachhaltigkeit universitärer Forschung in idealer Weise ein. Darüber hinaus eröffnete die Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Ahrenshoop die Möglichkeit, die kunstwissenschaftliche Ausbildung stärker an die museale Praxis zu binden und die Lehre zur kuratorischen Praxis am Institut auszubauen. So konzipierten Studierende unter der Leitung von Anna-Carola Krausse eine Ausstellung mit Katalog zu dem Berliner Maler und Zeichner Dieter Goltzsche, die 2014 von dem studentischen Kuratorenteam im Kunstmuseum Ahrenshoop realisiert werden konnte. Das im Jahr darauf mit großer Publikumsresonanz veranstaltete Symposium Ahrenshooper Perspektiven. Künstlerkolonien und
Künstlerorte im Kontext wissenschaftlicher Forschung und musealer Präsentation bot nicht nur Gelegenheit, eigene Ergebnisse vorzustellen und den Austausch mit einschlägig befassten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu intensivieren, sondern diente auch der Skizzierung weiterer, für den Sammlungsauftrag des Kunstmuseums Ahrenshoop relevanter Forschungsfelder, so beispielsweise der Bedeutung von Ahrenshoop als Treffpunkt der unangepassten Künstlerschaft in der DDR. Dieser Thematik hatte sich Anna-Carola Krausse bereits im Rahmen des Forschungsprojekts gewidmet; nach Förderungsende setzte sie die Arbeit daran eigenständig fort. Nun liegt eine imposante Monografie vor. Der von der Autorin darin kenntnisreich eingenommene, differenzierte und respektvolle Blick auf die Kunst in der DDR gibt der nationalen Kunstgeschichtsschreibung für diesen Zeitraum einen äußerst positiven Schub. Viele bisher unbekannte Fakten erhellen vorher kaum gesehene oder wenig reflektierte Zusammenhänge. Der Text dringt tief in die tatsächlichen Entstehungsumstände wie auch in die weite inhaltliche Dimension von Kunst in der DDR ein. Für die großzügige Förderung des Forschungsprojekts sowie für die Unterstützung bei der Drucklegung der opulent bebilderten Publikation danken wir der VolkswagenStiftung auf das Herzlichste.
Katrin Arrieta Künstlerische Leiterin des Kunstmuseums Ahrenshoop Klaus Krüger Leiter des Forschungsprojekts Ahrenshoop am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin
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VORBEMERKUNG
Vorwort und Dank
Die Arbeit an diesem Buch glich einer Entdeckungsreise. Sie führte in ein Land, das es nicht mehr gibt, in eine Zeit, die ich nur aus der Kinderperspektive erlebt habe, und zu Kunstwerken, die mit dem, was ich – aufgewachsen im bundesrepublikanischen Norden – an Malerei aus der frühen DDR kannte, nichts gemein hatten. Die Bilder, die mir begegneten, waren anders. Hier gab es weder markige Werktätige in hölzernen Posen noch sozialistische Alltagsidyllen in betulichem Naturalismus oder pseudomodernistischer Plakativität, weder Aufbaueuphorie noch pathetische Agitationsrhetorik. Stilistisch vielfältig – mal expressiv, mal konstruktiv, mal abstrakt oder ins Fantastische gleitend –, zeichneten sich die aufgefundenen Gemälde und Zeichnungen durch Sensitivität und Poesie sowie durch große künstlerische Eigenständigkeit aus, ja verblüfften bisweilen mit einer überraschend aktuell und heutig wirkenden Formensprache. Das war in der DDR entstanden? In den oft als bieder imaginierten, doktringetränkten fünfziger und sechziger Jahren? Geschaffen hatten diese Werke Malerinnen und Maler, von denen ich zuvor nur vereinzelt gehört hatte. Den meisten Namen begegnete ich erstmals im Rahmen des Forschungsprojekts zur ehemaligen Künstlerkolonie und dem Künstlerort Ahrenshoop (siehe dazu die Vorbemerkung von Katrin Arrieta und Klaus Krüger). Seit den Tagen der Koloniegründung Ende des 19. Jahrhunderts war Ahrenshoop kontinuierlich und durch unterschiedliche politische Systeme hindurch Anziehungspunkt für Künstlerinnen und Künstler aus allen Teilen des Landes gewesen. Daran änderte sich auch zu DDRZeiten nichts. Die Tatsache, dass das Ostseedorf als offizielles »Bad der Kulturschaffenden« einerseits ausgewiesener Rekreationsort der geistigen Elite war, andererseits aber auch vielen unangepassten Kreativen als Refugium diente, belegt einmal mehr die eminente Bedeutung des Ortes und der angrenzenden Region als künstlerischer Knotenpunkt. Bei der vertiefenden Untersuchung dieses besonderen Aufeinandertreffens der gegenläufigen künstlerischen Fraktionen im Kulturbundbad galt das Interesse weniger den dort weilenden Berühmtheiten als vielmehr den heute kaum noch bekannten, seinerzeit marginalisierten Künstlerinnen und Künstlern, den Ausscherern und Unbequemen. Dass sich zu diesen Akteurinnen und Akteuren in der vorhandenen Fachliteratur nur spär liche Informationen fanden, war keineswegs entmutigend. Im Gegenteil. Die Leerstelle gereichte zum Ansporn, befeuerte die Neugier, genauer zu erkunden, wer diese Malerinnen und Maler, Grafikerinnen und Grafiker waren, wie ihr Werk aussah, zu welchen Kreisen sie gehörten, welch künstlerische Strategien sie verfolgten, um jenseits des verordneten Mainstreams ihren Weg zu finden.
VORWORT UND DANK
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Antworten darauf fand ich in Archiven und Museumsdepots, in Galerien, Auktionshäusern und Stiftungen, bei Sammlerinnen und Sammlern oder in privat verwalteten Nachlässen. Ohne das hilfsbereite Entgegenkommen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den konsultierten Institutionen, die mir die Sichtung von Originalen ermöglichten, private Werkstandorte mitteilten oder wertvolle Hinweise auf weiterführende Unterlagen gaben, sowie ohne die nimmermüde und interessierte Unterstützung von Privatbesitzern und Nachlassverwalterinnen, die mir Einsicht in nie gezeigte Werkkonvolute gewährten oder vertrauensvoll dokumentarisches Material zur Auswertung überließen, hätte diese bislang wenig beachtete Facette des Kunstschaffens in der DDR nicht ans Licht gebracht und die vorliegende Arbeit nicht geschrieben werden können. Für die gewährte Hilfe danke ich von ganzem Herzen. Ein ebensolcher Dank gilt den interviewten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die mir ein Hintergrundwissen vermitteln konnten, wie es in den (politisch gefärbten) zeitgenössischen Publikationen und Quellen nicht zu finden ist. In persönlichen Gesprächen oder im schriftlichen Austausch beantworteten sie geduldig unzählige Fragen und gaben mir mit ihren Erinnerungen eine Idee vom künstlerischen Klima der Zeit, von den freundschaftlichen (und weniger freundschaftlichen) Verbindungen in der »Szene«, kurz: Sie lieferten jenes Insiderwissen, das den historischen Fakten erst Leben einhaucht. Da eine namentliche Nennung aller Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner den Rahmen dieses Vorworts sprengen würde, findet sich im Anhang nochmals eine ausführliche Dankesliste. Einige möchte ich an dieser Stelle dennoch hervorheben. Mein ganz besonderer Dank geht an Achim Freyer, Dieter Goltzsche, Harald Metzkes, Hans Vent und Horst Zickelbein. Die Begegnungen mit diesen bedeutenden Protagonisten der frühen unangepassten Kunst der DDR waren nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht eine enorme Bereicherung, sondern auch persönlich bewegend. Ich bin mir durchaus bewusst, dass das gedankliche Wiedereintauchen in eine Ära, mit der einige innerlich abgeschlossen hatten, gelegentlich auch ein emotionaler Kraftakt war. Umso glücklicher bin ich daher über die Bereitschaft aller Genannten, das frühe Schaffen noch einmal Revue passieren zu lassen, aus Schubladen und Gemälderegalen Arbeiten jener Periode herauszusuchen und mir die Geschichten hinter den Bildern zu erzählen. Die Berichte über die jeweiligen Entstehungszusammenhänge, die Erläuterungen zu den ihnen zugrunde liegenden Ideen oder Erinnerungen an die damalige Rezeption waren für mich von unschätzbarem Wert. Einige der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erreicht das gedruckte Dankeschön nicht mehr; was einmal mehr daran erinnert, wie sehr die Zeit drängt, will man noch jene befragen, die aus eigenem Erleben Dinge zu berichten wissen, die (bislang) nicht fixiert und also für die Nachwelt nicht verfügbar sind. Der ursprüngliche Plan, die Anderen Horizonte in einer Ausstellung auszuleuchten, wartet vorerst noch auf Realisierung. Dank der großzügigen Förderung der VolkswagenStiftung, die nicht nur das Forschungsprojekt, sondern auch die Drucklegung dieses Buches finanziert hat, konnte die Publikation nun so opulent illustriert werden, dass daraus eine Art »Ausstellung zum Mitnehmen« geworden ist. Dafür, sowie für die Gewährung einer kostenneutralen Verlängerung bis zur Fertigstellung des Manuskripts, bin ich der VolkswagenStiftung zu großem Dank verpflichtet.
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VORWORT UND DANK
Dass die Bilderschau zwischen zwei Buchdeckeln eine so sinnfällige Gestaltung gefunden hat, ist der Grafikerin Angelika Bardou zu verdanken. Mit visuellem Feingefühl verhalf sie dem Text zu klarer Optik, vor allem aber jedem Werk zu seinem Recht. Ebenfalls mit sensibler Expertise hat Andrea Schaller das Manuskript lektoriert und darüber hinaus das Register erstellt. Dafür auch ihr großen Dank. Ein weiterer Dank gilt allen an dieser Produktion beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Kunstverlags, insbesondere David Fesser, der das Vorhaben in den letzten beiden Jahren professionell und umsichtig betreut hat. Den Kolleginnen vom Kunstmuseum Ahrenshoop, namentlich Katrin Arrieta und Marion Schael, sowie deren Team, danke ich für die freundschaftliche Zusammenarbeit, die auch nach Ende des Forschungsprojekts nicht abbrach. Auf universitärer Seite gilt mein Dank Klaus Krüger, an dessen Lehrstuhl das Forschungsprojekt Ahrenshoop angesiedelt war. Er hat die Idee einer Kooperation zwischen Hochschule und Museum von Anfang an unterstützt und das Projekt mit großem Vertrauen in unsere Arbeit betreut. Ähnlich wie eine Ausstellung möchte auch dieses Buch in den aktuellen Diskurs eingreifen, ohne sich dabei vornehmlich an akademische Fachkreise zu richten. Vielmehr ist es Anliegen dieser Studie, das Thema einem breiten kunst- und kulturinteressierten Publikum näher zu bringen. In diesem Sinne verstehen sich die Anderen Horizonte als eine Einladung zum blickhaften Flanieren, zum Nachlesen, zur eigenen Horizonterweiterung. Natürlich erhebt die Präsentation der hier vorgestellten Positionen keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern ist in ihrer kaleidoskopischen Vielfalt eher als ein Fensteröffnen gedacht, das – um im Bild zu bleiben – die Sicht auf die Kunstlandschaft der DDR bereichert und im besten Falle zu neuen Einsichten und einer Ausdifferenzierung und Rejustierung überkommener Vorstellungsbilder führt. Gerade der Blick auf die einst ausgegrenzten, für die Kunstentwicklung der DDR auf lange Sicht indes maßgeblichen Äußerungen, scheint hinsichtlich einer noch zu schreibenden deutsch-deutschen Kunstgeschichte, welche die Kunst beider Staaten nicht separiert, sondern als zwei Seiten einer Medaille begreift, gewinnbringend zu sein, treten in den Werken der frühen Kunstopposition die gemeinsamen Wurzeln doch deutlich zutage: Hier wie dort überschattete die jüngste Vergangenheit den Neubeginn, affizierten Erfahrungen von Nationalsozialismus, Krieg und kollektiver Schuld das individuelle Schaffen; hier wie dort knüpfte man an die von den Nazis verfemten Strömungen der Klassischen Moderne und Tendenzen der Zwanziger Jahre an, arbeitete sich an ihnen ab und entwickelte deren ästhetische Idiome weiter. Ungeachtet der jeweiligen – ideologie- oder marktgesteuerten – Lenkungsversuche in Ost und West entsprang die deutsche Nachkriegskunst letztlich denselben historischen Erfahrungen, denselben künstlerischen wie geistesgeschichtlichen Traditionen. Vielleicht bedarf es eines noch größeren (zeitlichen) Abstands, um dieses deutsch-deutsche Panorama in seiner ganzen Breite zu erfassen, damit schließlich zusammengesehen werden kann, was zusammengehört.
Berlin, Dezember 2020 Anna-Carola Krausse
VORWORT UND DANK
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VORWORT UND DANK
TEIL I Wider das Lied von der Einheitskunst Einführung
VORWORT UND DANK
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Aufstieg und Fall eines Klischees
»Auch östlich der Grenze gab es Künstler«1, titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung anlässlich der Ausstellung Abschied von Ikarus, die 2012 im Neuen Museum in Weimar zu sehen war. Bemerkenswert an der Meldung ist weniger das konstatierte Faktum als vielmehr die Tatsache, dass diese Erkenntnis selbst ein knappes Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall noch immer eine Nachricht wert war. In ihrer Unbekümmertheit und – durchaus aufklärerisch gemeinten – Entdeckerfreude warf sie nicht zuletzt ein Schlaglicht auf das seit der Teilung bestehende Ungleichgewicht des Interesses der Deutschen aneinander. Während man aus der DDR stets be- und neugierig auf die kulturellen Entwicklungen im Westen geschaut hatte, war den Bundesrepublikanern der Osten sehr fern, die DDR das fremde Land hinter der Mauer.2 Entsprechend schwierig gestaltete sich auch der Umgang der wiedervereinten Deutschen mit dem bildkünstlerischen Nachlass des untergegangenen Staates. Bis heute ist die in der DDR entstandene Kunst weit davon entfernt, im kollektiven Gedächtnis verankert und integraler Bestandteil des (gesamt-) deutschen kunsthistorischen Kanons zu sein. In westdeutschen Museumssammlungen ist sie kaum vertreten,3 ihre Integration in thematische Sonderausstellungen immer noch keine Selbstverständlichkeit und Studentinnen und Studenten der Kunstgeschichte ist dieser Teil der Historie oftmals gänzlich unbekanntes Terrain. Angesichts solcher Kenntnisdefizite wundert es nicht, dass der Blick auf die Kunst aus der DDR bis heute – zumal im früheren Westen – nicht frei von Unsicherheiten, Vorurteilen und Ressentiments ist. Erste Hakeleien im gegenseitigen Verständnis gab es bereits kurz nach der Wiedervereinigung. Sie manifestierten sich in der Suche nach einer adäquaten Wortwahl. Was beziehungs-
weise wie sollte man sagen? War die in der DDR geschaffene Kunst »DDR-Kunst«? Oder
müsste es umständlicher, aber genauer »Kunst in beziehungsweise aus der DDR« heißen? Diese Frage mag heute haarspalterisch und kleinlich wirken, in den Jahren nach dem Mauerfall aber brach sich in der Diskussion um den politisch korrekten Sprachgebrauch die auf ostdeutscher Seite bestehende Sorge Bahn, das gesamte Kunstschaffen der DDR könne mit dem staatlich forcierten Sozialistischen Realismus gleichgesetzt und dabei übersehen werden, dass es immer auch Künstlerinnen und Künstler gab, die jenseits des politischen Mainstreams gearbeitet haben. Mit der inzwischen etablierten präpositionalen Wendung »Kunst in der DDR« sollte darauf verwiesen werden, dass in dem untergegangenen Staat nicht nur ideologisch aufgeladene Bilder von tüchtigen Brigadeführern und heldenhaften Arbeitern, munteren Kindern, glücklichen Paaren oder blühenden (Industrie-)Landschaften entstanden4 (Abb. 1–5). Auch waren keineswegs alle in der DDR schaffenden Künstler »Arschlöcher«5, wie es kurz nach der
AUFSTIEG UND FALL EINES KLISCHEES
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Wende der 1958 in die Bundesrepublik übergesiedelte und hier später zu Berühmtheit gelangte Maler Georg Baselitz deftig formulierte. Baselitz’ immer wieder gern zitierte Abkanzelung flankierte feuilletonwirksam den damaligen so genannten deutsch-deutschen »Bilderstreit« – nicht unpassend wurde hier ein Terminus gewählt, der in der Kunstgeschichte üblicherweise im Kontext von Glaubenskriegen Anwendung findet –, in dem es grosso modo um die Frage ging, wie die Kunst des SED-Staates zu bewerten sei, ja ob sie überhaupt als solche betrachtet werden könne oder lediglich dokumentarischen Wert habe.6 Diese über viele Jahre virulente Debatte, die einen ihrer ersten Höhepunkte 1999 anlässlich der Weimarer Ausstellung Aufstieg und Fall der Moderne erlebte, als Künstler aus der ehemaligen DDR empört ihre Bilder aus der Schau abzogen,7 da sie sich diffamierend präsentiert fühlten, wirkt bis ins 21. Jahrhundert. 2017 flammte der Bilderstreit erneut auf: Unter der prägnanten Formel der »Wende an den Wänden«8 rückte der Dresdner Kunstsoziologe Paul Kaiser aktuelle Ausstellungs- und Musealisierungspraktiken in ostdeutschen Museen in den Fokus, wo, wie er am Beispiel der Sammlungspräsentation des Dresdner Albertinums festmachte, Kunst der DDR marginalisiert und (heimische) Besucherinnen und Besucher so der eigenen Geschichte beraubt würden. Darin eine extreme Verzerrung der Bedeutung ostdeutscher Kunst erkennend und westliche Hegemonieansprüche sowie »koloniale Attitüden«9 unterstellend, entfachte Kaisers Polemik eine hitzige Debatte, bei der es bald weniger um das ästhetische Potenzial einzelner Werke oder deren Bedeutung in aktuellen kunstwissenschaftlichen Diskursen, sondern um die DDR-Kunst schlechthin ging, deren Nicht-Sichtbarkeit als Indiz des auch auf institutioneller Ebene detektierten gesellschaftlichen Ost-West-Gefälles herangezogen wurde. Die zweifellos notwendige Diskussion führte nicht nur bestimmte Befindlichkeiten vor Augen, sondern auch das Phänomen, dass sich Bildwerke offenbar in besonderem Maße als Katalysator gesellschaftsrelevanter Fragen eignen. Eine derartige Instrumentalisierung der Bildenden Kunst war bereits im ideologischen Systemvergleich während des Kalten Krieges zu beobachten gewesen. Vor allem das seinerzeit die Westsicht beherrschende Diktum, in
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TEIL I
1 Heinrich Witz: Der neue Anfang (Die Brigaden Meier und Hoffmann der IG Wismut in Chemnitz einigen sich über die Erfüllung übergeordneter Planaufgaben), 1959 2 Willi Sitte: Chemiearbeiter am Schaltpult, 1968 3 Harald Hakenbeck: Peter im Tierpark, 1960
4 Walter Womacka: Am Strand, 1962 5 Bernhard Kretzschmar: Blick auf Eisenhüttenstadt, 1955
einem unfreien Land wie der DDR könne per se keine freie, ergo keine ernst zu nehmende Kunst entstehen,10 erlebte nach der Wiedervereinigung eine verblüffende Renaissance.11 Unterfüttert wurden derartige Denkmuster von pathetischen Vorstellungsbildern des entweder kantenlos angepassten oder des unterdrückten, isoliert und klandestin im Verborgenen schaffenden Künstlers. Dass weder das eine noch das andere den tatsächlichen Gegebenheiten des Künstlerdaseins in der DDR entspricht und der komplexen Vielgestalt des kulturellen Feldes nicht gerecht wird, dass die »DDR […] mehr Grautöne [hatte] als heute wahrgenommen werden wollen«12, setzt sich zunehmend als Erkenntnis durch. Der Blick auf und das Bild vom Kunstschaffen in der DDR sind im Laufe der letzten Jahre durchaus differenzierter geworden. In Überblicksausstellungen13 und zahlreichen wissenschaftlichen Studien wurden künstlerische und kunstpolitische Entwicklungslinien nachgezeichnet, einzelne Künstler in Personalschauen gewürdigt und in Depots lagernde Bildbestände in Sonderausstellungen14 oder im Rahmen großer Verbundprojekte15 öffentlich gemacht. Kurz: Kunst aus der DDR wurde aus unterschiedlichsten Warten beleuchtet.16 Die dabei zur Erscheinung kommende künstlerische Bandbreite hat das (westliche) Stereotyp des normierten sozialistisch-realistischen Einerleis und das vielfach auf die ostdeutsche Kunstproduktion angewandte Verspätungs- oder Nachahmungsargument nachhaltig irritiert und die Notwendigkeit differenzierter Betrachtungsweisen und Bewertungsparameter sowie die gebotene Reformulierung überkommener Narrative ins Bewusstsein gehoben. Besonderes Augenmerk kam in den vorliegenden Publikationen und bisherigen Ausstellungen der Kunst der 1970er- und 1980er-Jahre zu, somit jener Ära, in der die Staatsführung die Dogmen bereits gelockert hatte und eine – freilich immer noch kontrollierte – »Weite und Vielfalt«17 im Kunstschaffen zuließ. Vor allem die sich nun deutlich abzeichnende Alternativ- und Nischenkultur sowie das darin vermeintlich geborgene staatszersetzende Potenzial18 sowie schließlich die augenscheinliche Nähe zur westlichen zeitgenössischen Kunst – etwa bei der Künstlergruppe Clara Mosch, den Autoperforationsartisten oder der neoexpressiven Malerei
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6 Gerhard Altenbourg: Das Ei des Formalisten, 1955
7 Hermann Glöckner: Nächtlicher Spaziergang, um 1952
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TEIL I
jener Jahre – haben die letzten beiden Dekaden der DDR für Kunstwissenschaftler in Ost und West besonders attraktiv gemacht. Wesentlich weniger Aufmerksamkeit wurde dagegen dem Kunstschaffen der durchideologisierten, doktrinären 1950er- und 1960er-Jahre zuteil, in denen die Staatsführung mittels einer gleichermaßen rigiden wie schlingernden Kunst- und Kulturpolitik mit aller Macht versuchte, den Sozialistischen Realismus als verbindliches Kunstprogramm durchzusetzen. So konnte sich lange das Klischee der Heerscharen linientreuer Künstler halten, dem einige wenige Außenseiter – namentlich immer wieder gern genannt Gerhard Altenbourg (Abb. 6), Hermann Glöckner (Abb. 7) und Carlfriedrich Claus – gegenüberstanden. Dass diese drei nicht die Einzigen waren, die sich der staatlichen Doktrin widersetzten und auf die Autonomie der Kunst beharrend an einer subjektiven Weltsicht (in Abgrenzung zu den ideologisierten Bildprogrammen) und individuellen Ausdrucksformen (gegen die normative Ästhetik) festhielten, zeigen die Seiten dieses Buches.
Das Ei des Formalisten oder: von faulen Fischen und anderen Miserabilitäten »Literatur und Bildende Kunst sind der Politik untergeordnet. […] Die Idee der Kunst muss der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen. […] Was sich in der Politik als richtig erweist, ist es unbedingt auch in der Kunst.«19 »Unsere Künstler sollen lernen, diszipliniert und exakt ihre künstlerischen Aufgaben zu erfüllen. Man darf nichts dem Selbstlauf, der Eingebung, dem Zufall oder der zündenden Inspiration überlassen.«20 »Wir brauchen weder die Bilder von Mondlandschaften noch von faulen Fischen. Es ist höchste Zeit […] einen entschiedenen Kampf […] gegen den Formalismus und Kosmopolitismus zu führen […]. Die Grau-in-GrauMalerei, die ein Ausdruck des kapitalistischen Niedergangs ist, steht in schroffstem Widerspruch zum neuen Leben in der Deutschen Demokratischen Republik.«21 Diese Zitate, denen zahllose ähnliche Sentenzen zur Seite gestellt werden könnten, deuten die kulturpolitische Stoßrichtung der Aufbaujahre an: Kunst hatte keinen Selbstzweck zu haben, sondern war Mittel im politischen Kampf, ein Agitations- und Erziehungsinstrument zur planmäßigen Formung des neuen Menschen respektive der sozialistischen Gesellschaft.22 Wie diese in erster Linie funktional definierte Kunst stilistisch auszusehen habe, blieb bis auf das grundsätzliche Diktat der Gegenständlichkeit – in den Anfangsjahren gern in Orientierung am russischen Naturalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts – sowie auf die Forderungen, dass der politisch richtige Klassenstandpunkt und die dazugehörige »Wahrheit«23 in »volksnahen«, »verständlichen« und »lebensbejahenden« Werken24 zum Ausdruck zu bringen sei, im Großen und Ganzen diffus und schwankte je nach politischer Großwetterlage.25 Der Sozialistische Realismus hat daher im Laufe der Jahre viele Transformationen erlebt. Versuche, ihn als »Stil« zu fassen, stoßen aufgrund seiner Vielgestalt schnell an ihre Grenzen.26 Nicht zuletzt deshalb wurde er von der DDR-Kunstwissenschaft zunehmend als »Methode«27 deklariert, ohne allerdings die dem »Methoden«-Modell inhärente stilistische Freiheit wirklich einzulösen.28 Wer sich an der von den Nationalsozialisten verfemten und nun erneut in Misskredit geratenen Klassischen Moderne oder gar an internationalen zeitgenössischen Strömungen orientierte, wurde unweigerlich des »Formalismus«, der bürgerlichen »Dekadenz«
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oder des »Kosmopolitismus« bezichtigt.29 Da half, wie die Anwürfe gegen den frühen Willi Sitte oder den Hochschulrektor und zeitweiligen SED-Abgeordneten Fritz Dähn zeigen, auch der richtige Klassenstandpunkt nicht weiter. Die Tatsache, dass diese Schmähungen nicht nur in der Hochphase der so genannten Formalismusdebatte30 zu Beginn der fünfziger Jahre, sondern während der gesamten ersten beiden Nachkriegsdekaden im Feuilleton, kunsthistorischen Fachtexten oder kulturpolitischen Reden kursierten, belegt, dass die offiziell gewünschten Kunstformen keineswegs durchgesetzter Konsens waren, sondern dass es all die Jahre hindurch immer wieder Künstler und Künstlerinnen gab, die deutlich Distanz zur Staatskunst hielten. Um sie und ihre unbequemen, angegriffenen und ausgegrenzten Werke geht es hier.
Unbesehen übersehen. Folgen der Nicht-Präsenz in der Öffentlichkeit In den Blick genommen werden vor allem Maler und Grafiker, die in bisherigen Ausstellungen und Publikationen nur wenig Beachtung fanden und zu denen noch keine umfangreicheren Arbeiten vorliegen, deren Werdegänge aber durchaus dazu angetan sind, die Diversität künstlerischer Gegenentwürfe zu exemplifizieren und Aufschluss über ästhetische Abgrenzungsstrategien sowie die bestehenden Handlungsspielräume innerhalb des streng regulierten Gefüges zu geben. Die vormalige Vernachlässigung und Ausblendung der hier vorgestellten Positionen indiziert dabei keineswegs mangelnde Qualität, sondern spiegelt vielmehr ein grundsätzliches Dilemma der frühen unangepassten Kunst der DDR wider: das ihrer Nicht-Präsenz in der Öffentlichkeit. Die einst diffamierten Werke gelangten nur selten – und wenn doch, dann begrenzt und oft erst lange nach ihrem Entstehen,31 gelegentlich erst nach der Wende – in museale Sammlungen.32 Bis heute befindet sich noch vieles im Besitz der Künstler, bei Sammlern, in privat oder institutionell verwalteten Nachlässen oder Archiven und ist damit der Kunstwissenschaft nur erschwert zugänglich. Das grundsätzlich mangelnde Wissen um die Existenz dieser Gemälde, Zeichnungen und Grafiken sowie die standortbedingte eingeschränkte Verfügbarkeit führten dazu, dass diese Werke in den großen Aufarbeitungsausstellungen der vergangenen Jahre nur sporadisch oder gar keine Beachtung fanden. Damit ist eine abermalige Verdrängung der einst marginalisierten Werke gleichsam vorgezeichnet. Mit der Sichtbarmachung eben dieser selten gezeigten oder bislang gänzlich ungesehenen Arbeiten soll einem wiederholten Vergessen entgegengewirkt werden. Das hier ausgebreitete Bildmaterial33 kann dem bekannten Kanon wesentliche Facetten hinzufügen und so das Bild von und unsere Kenntnisse über das Kunstschaffen in der frühen DDR komplettieren, um, daraus folgend, einer weiteren Ausdifferenzierung der bestehenden Bewertungsparameter Vorschub zu leisten. Die im Fokus stehende Periode war von einschneidenden politischen Ereignissen geprägt – beginnend mit dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, über den 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, der die stalinistischen Verbrechen ans Licht brachte, sowie der Niederschlagung des Ungarnaufstandes im Herbst desselben Jahres,34 bis hin zum Mauerbau 1961 und dem Prager Frühling 1968 –, die jeweils zu signifikanten Kursänderungen, auch und gerade in
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TEIL I