Hermann Czech und die Dialektik der Architektur

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Hermann Czech und die Dialektik der Architektur Maximilian Müller

TU Wien Technische Universität Wien

Institut für Kunstgeschichte, au orschung und en mal

ege Forschungsbereich Kunstgeschichte

Herausgeber

orschungs ereich en mal

Nott Caviezel und Robert Stalla

und Bauen im Bestand

ege


Autor / Author Maximilian Müller, Architekturstudium in Wien und Santiago de Chile, lebt und arbeitet in Wien. www.maximilianmueller.at Wiener Schriften zur Kunstgeschichte und en mal

ege • Band 7

Hrsg. / Eds. Nott Caviezel und / and Robert Stalla Verlag / Publishing Deutscher Kunstverlag Ein Verlag der / An imprint of Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston www.degruyter.com www.deutscherkunstverlag.de Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der eutschen ational i liografie detaillierte i liografische aten sind im Internet über www.dnb.dnb.de abrufbar. / The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the eutsche ational i liografie detailed bibliographic data are available on the Internet at www.dnb.dnb.de. © 2024 Deutscher Kunstverlag ISBN 978-3-422-80225-4


7 Einleitung 17 Übermut / Unterschätzung Czechs Streit- und Programmschrift Nur keine Panik, 1971 Vorgeschichte Höhepunkt der Polemik und fortdauernden Provokation Dialektik als Methode der Theoriebildung

41 Konsumtion / Produktion Zwei Facetten einer Architektur als „Hintergrund“ zech im in uss der ran urter Schule und ihrer ritischen heorie Das architektonische Objekt als Resultat des „Denkens zum Entwurf“ – Abriss zentraler in sse au

zechs nt ur sar eit

Architektur als Reaktion auf den örtlichen Kontext und im Zeichen des om orts

riss zentraler in sse au

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71 Kunstwerk /Gebrauchsgegenstand egri sgeschichte Zur Position Czechs

83 Manierismus / Partizipation Manierismus als Bruch mit der jeweils vorherrschenden ästhetischen Norm Partizipation als Teilhabe der Nutzerinnen am Bau- und / oder Planungsprozess Synthese in der Tradition Josef Franks Czechs inklusiver Ansatz in Opposition zu Alexanders Forderung einer allumfassenden Harmonie

121 Subjektivität / Objektivität Beispiele gegensätzlicher Herangehensweisen Czechs Synthese im Zeichen persönlicher Abwägung

133 Alt / Neu Über Czechs Standpunkt zu Fragen des Denkmalschutzes Umbau-Werke: Architektur der Mehrschichtigkeit

161 Resümee 173 Anhang


Mit vorliegender Arbeit Vorwort Herausgeber setzen wir die 2009 von den Forschungsbereichen Kunstgeschichte und Denkmalpflege der Technischen Universität gegründete Reihe Wiener Schriften zur Kunstgeschichte und Denkmalpflege fort. Auch dieser Band erscheint in dem seit 2020 bewährten, neuen Gestaltungskonzept von lenz + henrich gestalterinnen. Elena Henrich besorgte wieder das grafische und typografische Finish. Das Layout übernahm der Autor Maximilian Müller. Er wirkte auch gemeinsam mit Atreju Allahverdy, Julia Pöllerbauer und Rafaela Rothenaicher an der Redaktion und am Lektorat des Textes, der im Jahr 2000 als Diplomarbeit an der Fakultät für Architektur und Raumplanung eingereicht wurde, mit. Ihnen allen, ebenso dem Deutschen Kunstverlag, in dem unsere Reihe erscheint, und der Medienfabrik Graz, die für den Druck und die Bindung verantwortlich zeichnet, danken wir sehr herzlich. Nach den Portugiesen Fernando Távora und Eduardo Souto de Moura (Bd. 5) und dem Italiener Gio Ponti (Bd. 6), gilt dieser Band dem österreichischen Architekten Hermann Czech. Czech, der im Sommer 2023 gemeinsam mit AKT den österreichischen Pavillon der 18. Architekturbiennale in Venedig kuratierte, ist seit seinen Anfängen in Wien vor 60 Jahren mit einem breit gefächerten architektonischen und schriftlichen Werk hervorgetreten: auf der einen Seite Wohn-, Schul-, Hotelbauten, ebenso Planungen und Ausstellungsgestaltungen, die eine spezifische Verdichtung von Rekursen, Reflexionen, Kontexten und Gestaltungsansätze erkennen lassen; auf der anderen Seite theoretische Beiträge mit dezidierten Positionen, wenn er das „Verhalten von Menschen“ als das „eigentliche künstlerische Material der Architektur“ bezeichnet. Müllers Arbeit, die wir hier zur Diskussion stellen und zwischen Architekturgeschichte und Architekturkritik angesiedelt ist, versteht sich nicht als klassische Architektenmonografie. Vielmehr zielt der Autor auf ein vertieftes Verständnis von Czechs theoretischem und architektonischem Werk. Sein Zugang erfolgt über den von der „Frankfurter Schule“ entlehnten Begriff der „Dialektik“, den er als Basis für Czechs Architektur, aber auch als methodisches Instrument sowie als inneren Widerspruch der Architektur überhaupt begreift. Nott Caviezel und Robert Stalla

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Wien, im Herbst 2023


Die vorliegende Publikation basiert auf meiner 2020 an der Vorwort Autor Fakultät für Architektur und Raumplanung der TU Wien eingereichten Diplomarbeit. Schon einige Zeit zuvor war die Idee gereift, mich darin mit dem Werk Hermann Czechs auseinanderzusetzen, bei dem ich 2011/12 während dessen Gastprofessur an der Akademie der bildenden Künste Wien zwei Semester studieren durfte. Auf der Suche nach theoretischer Fundierung interessierte ich mich besonders für Czechs „Denken zum Entwurf“ und seine Engführung von Theorie und Praxis. Dass Czech sich in seiner Entwurfspraxis der Komplexität heutiger Lebenswelten stellt, stets Rechenschaft über seine Entwurfsentscheidungen zu geben und eine verbindliche Baukunst zu schaffen versucht, bot ebenso große Anregung. Für die Einladung, die Arbeit als Band 7 dieser Schriftenreihe zu publizieren, bedanke ich mich herzlich bei Univ. Prof. Dr. phil. Robert Stalla, der schon ihre Entstehung an der TU betreut und mit vielen anregenden Gesprächen und konstruktiver Kritik unterstützt hatte, sowie bei Univ. Prof. Dr. phil. Nott Caviezel. Mit der Veröffentlichung ging nicht nur die Möglichkeit einher, die ursprüngliche Fassung des Textes zu überarbeiten, sondern sie auch inhaltlich zu ergänzen. Dass der Weg zur Druckreife noch ein langer sein würde, hatte ich nicht geahnt, ich bin aber froh, ihn gegangen zu sein. Herrn Stalla danke ich auch in dieser Hinsicht außerordentlich für seine Geduld, sein Vertrauen, zahlreiche Verbesserungsvorschläge und die engagierte Redaktion. Bei Hermann Czech bedanke ich mich ebenso für Anregungen zur Ergänzung und Verbesserung sowie das unentgeltliche Überlassen etlicher, den Text unterstützender Abbildungen. Mein Dank für die finanzielle Förderung des Projekts gilt der Fakultät für Architektur und Raumplanung der TU Wien, der Magistratsabteilung 7 der Stadt Wien, der Lafarge Zementwerke GmbH und dem Verband Österreichischer Ziegelwerke. Danke auch all meinen Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen, Verwandten und Bekannten, die darüber hinaus zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen haben, sei es durch bestärkende Worte, hilfreichen Rat, hitzige Diskussionen oder auf andere Art. Besonders bedanke ich mich bei Jasmin Kargin – ihr ist diese Arbeit gewidmet. Maximilian Müller

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Wien, im Herbst 2023


„Versuch einer Definition: Dialektik ist ein Denken, das sich nicht bei der begrifflichen Ordnung bescheidet, sondern die Kunst vollbringt, die begriffliche Ordnung durch das Sein der Gegenstände zu korrigieren. Hierin liegt der Lebensnerv des dialektischen Denkens, das Moment der Gegensätzlichkeit.“

Theodor W. Adorno, Einführung in die Dialektik, Berlin 1958, zit. nach ders. 2018, S. 10.


Einleitung

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Die vorliegende Arbeit unterEinleitung nimmt den Versuch, das theoretische wie auch praktische Werk des 1936 in Wien geborenen und vorwiegend in Wien schaffenden Architekten Hermann Czech anhand von dialektischen Gegensatzpaaren zu charakterisieren. Sie befasst sich mit einer Auswahl seiner Werke, worunter nicht nur realisierte Bauten, sondern auch ausgewählte Schriften und Aussagen aus anderem Kontext verstanden und zur Analyse und Interpretation herangezogen werden. Fokussiert wird sowohl auf das Verhältnis zwischen seiner baulichen Praxis und seinem theoretischen Standpunkt, wie auch auf seine Praxis der Theoriebildung. Der thematische Schwerpunkt liegt auf der Dialektik der Architektur, die ihrer allgemeinen Auffassung entsprechend zunächst als Lehre von den Gegensätzen in den Dingen und Begriffen verstanden wird – hier insbesondere jener Gegensätze, die in verschiedenen Bereichen der Baukunst auftreten und derer sich Czech annimmt (auch wenn er selbst keinen systematischen Gebrauch des Begriffs Dialektik macht), die er aufzulösen versucht, die er aber auch bewusst exponiert und auf die Spitze treibt. Die zentrale These der Arbeit lautet: Beides, sowohl bestimmte programmatische Schriften wie auch realisierte Bauten sind Ergebnis seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Dialektik der Architektur. Dieser Schwerpunktsetzung folgend werden ausgewählte Arbeiten Czechs anhand von dialektischen Begriffspaaren untersucht, analysiert und interpretiert. Jedem der sechs Begriffspaare – sie lauten Übermut / Unterschätzung, Konsumtion / Produktion, Kunstwerk / Gebrauchsgegenstand, Manierismus / Partizipation, Subjektivität / Objektivität und Alt / Neu – ist ein Kapitel gewidmet, in dem Czechs Zugang und Position zum jeweiligen Themenfeld näher erörtert werden. Der Fokus liegt vor allem auf Themen bzw. Themenkreisen, die er selbst direkt oder indirekt ins Zentrum seiner Arbeit rückt, sowie auf solchen von allgemeinem, architekturtheoretischem Interesse. Die kapitelweise Gliederung in Gegensatzpaare soll der Ambivalenz Rechnung tragen, durch die sich Czechs Arbeit auszeichnet und mit der er nicht nur zu irritieren, sondern vor allem das Fachpublikum ideologisch zu spalten vermag.1 Dazu trägt das hohe Maß an Polemik in etlichen seiner Aussagen zusätzlich bei. Gespräche des Autors mit Kollegen,

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Einleitung

1 Vgl. Ritter 1996.


Lehrenden und praktizierenden Architektinnen und Architekten bestätigten die Ansicht, dass Czech zwar als Denker geschätzt, als bauender Architekt aber auch mit Skepsis oder gar Ablehnung belegt ist. Dass seine Arbeit mitunter als „undurchsichtig, rätselhaft und hermetisch“ gilt,2 soll hier mit einigen seiner Aussagen verdeutlicht werden. Ein Beispiel für die ambivalenten und Kontroversen geradezu herausfordernden Züge seiner Position ist seine gezielte formale Subversion. So erklärt er, er habe eine „destruktive Einstellung“ zur Form, er trachte danach, „Form zu vermeiden, zu verleugnen, gegensinnig zu verwenden, zu zerstören.“3 Was motiviert ihn zu diesem, dem traditionellen Verständnis des Bauens in gewisser Weise widersprechenden Ansatz, und wie versucht und vermag er seine „antiformalistische“ Absicht baulich umzusetzen? Welche Architektur resultiert daraus? Auch Czechs Mahnung, der „Manierismus“ sei „zu wichtig, um ihn den Manieristen zu überlassen“,4 lässt aufhorchen; die sich darin zeigende Ambition steht wiederum im Gegensatz zu seiner wiederholten Aufforderung, die Architektur nicht zu überschätzen. Die Ambivalenzen, die sich hier offenbaren und zu denen sich etliche weitere Beispiele aufzählen ließen, gaben den Anstoß zur eingehenden Beschäftigung mit Czechs Arbeit und bilden gleichsam Ausgangs- und Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung. Eines ihrer Ziele ist es, den auf verschiedenen Ebenen wiederkehrenden Mehrdeutigkeiten und Gegensätzen nachzuspüren und die besagte Hermetik zu durchbrechen und zu ergründen. Hermann Czech: (K)ein Unbekannter? – Forschungsstand

Hermann Czech ist kein Unbekannter; im Gegenteil: Er zählt zu den profiliertesten österreichischen Architekten der Gegenwart. Bereits während und nach seinem Architekturstudium von 1954 bis 1971 in Wien (zunächst an der Technischen Hochschule, dann an der Akademie der bildenden Künste) konnte er sich nicht nur als bauender Architekt, sondern auch als Theoretiker, Publizist und Architekturkritiker einen Namen machen. Sein heterogenes architektonisches Werk umfasst Stadtplanung, Wohn-, Schul- und Hotelbauten ebenso wie Interventionen im kleinen Maßstab – etwa die zahlreichen Lokalgestaltungen in Wiens Innenstadt oder die temporäre

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2 Liane Lefaivre im Vorwort zu Kuß

2018, S. 9. 3 Czech 1999. Mit „Form“ ist gebaute

Architektur, die Form eines Bauwerks gemeint und mit

erst rung

ei-

neswegs die Verwendung „zerstörter“ Formen im Sinn des sogenannten „Dekonstruktivismus“. Vgl. ders. ebd., o. S. 4

zech

S. 147.

S.

ders.


Loggien-Verglasung der Staatsoper –, sowie Ausstellungsgestaltungen und Möbelentwürfe. Gleichbedeutend neben diesem baulichen Werk stehen seine architekturtheoretischen Ausführungen, die er grundsätzlich als „Denken zum Entwurf“ verstanden wissen will5 und die sich inhaltlich dem breiten Themenspektrum seines architektonischen Schaffens und der Architektur generell widmen. In einer Vielzahl kritischer Schriften entwickelte er von seiner Studienzeit bis in die frühen 1980er Jahre erstaunlich bruchlos eine architekturtheoretische Haltung, die sich als kritische Gesellschaftstheorie versteht, und die er mit allfälligen Ergänzungen im Wesentlichen unverändert bis heute vertritt und zur Erklärung seiner Bauten heranzieht. 1977 publizierte Czech seine gesammelten und davor zum überwiegenden Teil unabhängig voneinander erschienenen Texte unter dem Titel Zur Abwechslung. Ausgewählte Schriften zur Architektur. 1996 erschien die zweite, erweiterte Auflage des Bandes. Die seither entstandenen und ebenfalls an etlichen anderen Stellen zuerst veröffentlichten Texte und Interviews wurden Anfang 2021 in einem zweiten Band gleichen Formats unter dem Titel Ungefähre Hauptrichtung. Schriften und Gespräche zur Architektur zusammengefasst. Die beiden Schriftensammlungen bilden den Kern der hier verwendeten Primärliteratur.6 Czech unterrichtete an namhaften Architekturhochschulen im In- und Ausland, war wiederholt mit Beiträgen auf internationalen Ausstellungen vertreten und wurde mit etlichen Preisen ausgezeichnet. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass seine Arbeit inzwischen Gegenstand zahlreicher Publikationen ist, von denen nachfolgend die umfassendsten in einem Kurzabriss wiedergegeben werden, ohne dabei die Leistung kürzerer Beiträge zu schmälern. Die 2018 erstveröffentlichte Monografie Hermann Czech. Architekt in Wien von Eva Kuß stellt die wichtigste Publikation unter der bisher erschienen Sekundärliteratur dar und beinhaltet – ursprünglich als Dissertation verfasst – eine umfassende Auflistung der zahlreichen Texte von und über Czech.7 Im ersten Kapitel des Buchs, das sich als „intellektuelle Biographie“ versteht, wird der breite, kulturelle Kontext dargestellt, in dem sich Czech zum Architekten entwickelt und der ihn zum Teil stark geprägt hat: Die Nachwirkungen der Aufklärung im Wien des 19. Jahrhunderts, spezifische Ausprägungen der österreichischen Philosophie (mit den Schwerpunkten

10

Einleitung

5

zech

zit. nach dem

or ort der ersten u age seiner gesammelten Schriften. Vgl. ders. 1996, S. 7. 6

zech

7

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. .


auf einer empirischen Grundeinstellung, der Wissenschaftstheorie, Logik und Sprachkritik), das Umfeld und Schaffen bedeutender Persönlichkeiten des Architektur- und Kulturbetriebs, die Czechs Werk wesentlich beeinflussten – von Otto Wagner über Adolf Loos und Karl Kraus bis hin zu Josef Frank – sowie die in dieser Chronologie entstandene Wiener Wohnkultur und Wiener Moderne. Darauf folgt der biografische Teil, der Czechs Kindheit und Jugend (1936–1954), seine Studienzeit an der Technischen Hochschule, an der Salzburger Sommerakademie (1954–1963) und an der Akademie der bildenden Künste (1963–1971) behandelt, die Herausbildung seines theoretischen Standpunkts nachvollzieht, ihn mit einigen seiner früheren, parallel dazu entstandenen Bauten und Projekte sowie mit der sich um ihn vollziehenden Architekturentwicklung (vorwiegend Wiens) in Bezug setzt. Einige aus Interviews mit Czech entstandene Passagen heben sich durch die Formatierung in fetter Schrift vom Hauptteil ab, um zu verdeutlichen, dass der Architekt darin selbst zu Wort kommt. Anschließend werden ausgewählte Projekte Czechs chronologisch vorgestellt, auf den davor herausgearbeiteten historischen Kontext und seine Theorie bezogen, interpretiert und durch ein Werk- und Schriftenverzeichnis ergänzt. Laut Kuß schreibt Czech die bereits bei Loos beginnende und von Frank noch weiter ausformulierte, differenzierte Wiener Moderne mit seiner Arbeit fort. Diese sei – kurz zusammengefasst – vor allem geprägt von tiefem Humanismus, von Respekt vor dem Einzelnen als Individuum, vom Festhalten an einem aufklärerischen Anspruch der Architektur und dem Versuch, diesen mit den ihm oft zuwiderlaufenden Nutzerwünschen und Anforderungen von außen in Einklang zu bringen.8 Nach mehreren Jahrzehnten einer von Sensationslust und Bildersucht bestimmten Architektur begreift Kuß Czechs Arbeit als Anknüpfungspunkt für einen alternativen Weg. Als Sekundärliteratur nennenswert erscheint Margit Ulamas vergleichende Studie Reflexion in Architektur. Neuere Wiener Beispiele von 1995, die sich mit einer Werkauswahl von Czech und anderen Architekten bzw. Architektengruppen der damaligen Wiener Szene befasst – vorwiegend mit Einzelhäusern und Gaststätten, alle aus dem Entstehungszeitraum zwischen 1975 und 1985.9 Untersucht werden die Objekte im Hinblick auf eine Reihe verschiedener theoretischer

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8 Vgl. Kuß 2018, S. 145–146. 9 Ulama 1995. Untersucht werden

darin neben den Werken Czechs jene von Luigi Blau, der Gruppe Werner Appelt – Eberhard Kneissl – Elsa rochaz a und Missing in a finger und dol

rischanitz

auch ngela areiter .

tto is


Schwerpunkte: „Die Kategorie des Zufalls“,„Die Reflexion von Loos’ und Franks Raumkonzeptionen“, „Die Ästhetik industriell produzierter Teile“, sowie „Die Reflexion von Baugeschichte“. Im Schlusskapitel „Eine andere Art des Widerspruchs“ geht Ulama auf Parallelen und Gegensätze der untersuchten Arbeiten zu jenen des amerikanischen Architekten Robert Venturi ein. Eine 1996 erschienene Sonderausgabe der Zeitschrift Werk, Bauen+Wohnen mit dem Titel Hermann Czech. Das architektonische Objekt. Eine Werkmonographie gibt einen reich bebilderten Einblick in Czechs Bauten und Projekte aus den Jahren 1961 bis 1996 und betont, dass nicht „das architektonische Objekt“ im Sinne des gebauten Werks, sondern vielmehr der dieses erst begründende „architektonische Gedanke“ im Mittelpunkt von Czechs Arbeit steht.10 Textbeiträge von Ulrike JehleSchulte Strathaus und Arno Ritter ergänzen die Edition. Die im November 2016 anlässlich Czechs 80. Geburtstags erschienene Ausgabe der Zeitschrift a+u – Architecture and Urbanism ist als Monografie ebenfalls ganz dem Werk des Architekten gewidmet.11 Sie zeigt und kommentiert ergänzend auch jüngere Arbeiten, muss dabei jedoch mit weniger Bildmaterial auskommen und erreicht nicht die Informations- und Untersuchungsdichte der Ausgabe von Werk, Bauen +Wohnen. Mit dem einleitenden Essay Hermann Czech and the Disappearance of Architecture unterstreicht Christian Kühn die an Czechs theoretischen Standpunkt angelehnte These, dass Architektur Hintergrund sei, ein kritischer Unterton gibt jedoch auch zu verstehen, dass sie angesichts einer aufdringlichen KommerzArchitektur im Hintergrund zu verschwinden drohe.12 Die genannten Arbeiten über das Werk Czechs haben zweifellos zu seiner Bekanntheit und zur Kenntnis seines Schaffens beigetragen; dies gilt besonders für die jüngste Monografie von Eva Kuß. Davon abgesehen gibt es auch einen Nachhall aus dem Feuilleton, der in Czech einen „heimlichen Star“ der österreichischen Architekturszene sieht13 – vor allem im Vergleich mit einigen seiner international wesentlich erfolgreicheren Zeitgenossen –, worin sich erneut die Ambivalenz seiner Position widerspiegelt. Die Bekanntheit seines Werks kann auch nicht die Kenntnis davon ersetzen. Ob die im Vorwort zu Kuß’ Monografie erwähnte Undurchsichtigkeit, Rätselhaftigkeit und Hermetik von Czechs Werk so schnell ausgeräumt sein wird, ist fraglich.

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Einleitung

10 Werk, Bauen+Wohnen, Jg. 83,

1996. Bemerkenswert an der Ausgabe und von besonderem Interesse hinsichtlich Czechs gedanklicher Arbeitsweise sind drei Doppelseiten in der Heftmitte (S. 36 –41), die eine Serie von Einzelblättern mit handschriftlichen Notizen und Skizzen des Architekten zu diversen Themen zeigen. Czech verhandelt darauf beispielsweise Fragen des Städtebaus und städtischer Verkehrslösungen, Ideen zu Terrassenhäusern, die Wirkweisen und Arten des Lichtes und etliches mehr. 11 a u

rchitecture and r anism

Nr. 554, Jg. 45, 2016, H. 11. 12 Vgl. Kühn 2016. 13 Vgl. Dusini 2016 u. Czaja 2016.


Die genannten Eigenschaften, Czechs unbekannte Bekanntheit, seine bekannte Unbekanntheit, die unterschiedlichen Auffassungen seiner Arbeit in Fachkreisen – all das gab den Anstoß zu dieser Untersuchung und bildet zugleich ihren Gegenstand: Worin liegen die Gründe dieser Eigenart? Hinsichtlich seiner Architektur wurde die Frage in der Sekundärliteratur bereits ausführlicher behandelt; hinsichtlich der Art seiner Theoriebildung hingegen kaum. Fragestellung / These

Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, Czechs theoretisches Werk in den Vordergrund zu rücken und im Dialog mit seinem gebauten Werk näher zu betrachten. Dabei interessieren besonders die Muster seiner Argumentation und Denkart, die mitunter als Grund für die Ambivalenz seiner Position angesehen werden. Anstatt einer monographischen Behandlung eines einzelnen Baus oder des Gesamtwerks wird hier ein problemorientierter Zugang zu Czech gesucht, der die bisherige Literatur durch eine neue Facette ergänzen will. Der Anspruch auf eine vollständige Darstellung bzw. Abhandlung der Thematik geht damit nicht einher. Im Zentrum steht der Begriff der Dialektik, der hier jedoch nicht nur – wie eingangs erwähnt – als Lehre von den Gegensätzen in den Dingen und Begriffen, sondern seiner Abstammung vom Griechischen διαλεκτική (τέχνη) bzw. dialektiké (téchne) auch als Kunst der Unterredung bzw. Gesprächsführung zum Zweck des Erkenntnisgewinns. Als Instrument der Rhetorik sollte sie durch kontinuierlichen Abgleich von Rede und Gegenrede zum Kern eines Problems und zu dessen Lösung führen. Aus dieser Auffassung und der Wissenschaftsphilosophie Johann Gottlieb Fichtes14 entwickelte sich das Verständnis der Dialektik als Denkansatz, zwischen Gegensätzen zu vermitteln und dadurch zu einem neuen Ergebnis zu kommen. Dabei wird einer These (z. B. einer bestehenden Auffassung oder Überlieferung) eine Antithese gegenübergestellt (etwa durch Aufzeigen eines Problems oder Widerspruchs) und aus deren Konfrontation eine Synthese (etwa die Lösung des Sachverhalts) gewonnen – was als „dialektischer Dreischritt“ bezeichnet wird. Auf die Arbeit Czechs übertragen, soll im Folgenden Dialektik als geistige Arbeit an den Begriffen der Architektur und als dessen

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14 Vgl. Fichte 1845, S. 335–340.


Methode zur Herausbildung seiner in zahlreichen Schriften festgehaltenen, theoretischen Position verstanden werden. Vorliegende Arbeit zielt darauf ab, die systematische Auseinandersetzung Czechs mit den Gegensätzen der Architektur – konkret ihrer hier durch dialektische Begriffspaare eingegrenzten Themenfelder – aufzuzeigen und nachzuweisen, wie er – einmal mehr, einmal weniger offensichtlich – einen dialektischen Dreischritt vollzieht, um einen Widerspruch aus der Welt zu schaffen oder zumindest seinen persönlichen Umgang damit zu finden. Die zentralen Fragen lauten: Welche Rolle spielen die dialektischen Gegensätze der Architektur in Czechs Werk? Lässt sich darin ein Muster erkennen, mit dem er – einem dialektischen Dreischritt gleich – die Gegensätze aufzulösen versucht? Kann er folglich als „Dialektiker der Architektur“ charakterisiert werden? Zur Klärung dieser Fragen ist es unabdingbar, die wesentlichen architektur- und kulturtheoretischen Einflüsse auf Czech nachzuzeichnen, auch wenn dies eine Wiederholung mancher in der Literatur bereits behandelter Aspekte erfordert. Im Zuge dessen werden weitere, in der bisherigen Literatur kaum beachtete Fragen aufgeworfen, denen ebenfalls nachgegangen werden soll: Was sind die Hintergründe für Czechs polemische und wiederholt an ästhetische Selbstaufgabe grenzende Äußerungen? Welche Rolle spielt die von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer formulierte und geforderte kritische Gesellschaftstheorie in Czechs Arbeit? Welches Kunstverständnis liegt seinem Architekturschaffen zugrunde? Und worin bestehen die von Czech (meist nach Worten der ästhetischen Zurücknahme) ins Feld geführten emanzipatorischen Züge der Architektur? Methodik und Aufbau

Vorliegende Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert, die sich jeweils mit einem dialektischen Themenkreis befassen und nach den eingangs bereits erwähnten Gegensatzpaaren betitelt sind. Statt einer trennscharfen Abgrenzung stellen sie den groben Rahmen zur Behandlung und Zusammenführung einzelner Teilaspekte in den Unterkapiteln dar. Um mit dem Werk Czechs vertraut zu machen, werden im ersten und zweiten Kapitel ausgewählte Beispiele seines Oeuvres vorgestellt, welche anschließend je nach thematischen Schwerpunkten mit seiner Theorie in Beziehung gebracht und

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Einleitung


interpretiert werden. Die konkrete Werkanalyse soll der Deutung als fester Anhalts- und Ausgangspunkt dienen. Diese Werkanalysen werden im weiteren Textverlauf zur Vertiefung und Illustration einzelner Teilaspekte durch Verweise auf weitere Beispiele ergänzt. Parallel dazu werden die den jeweiligen Themenkreis betreffenden Schriften des Architekten in Betracht gezogen, wodurch ein Vergleich seiner theoretischen Position mit seiner baulichen Praxis möglich wird. Die Gegenüberstellung von Czechs Werk mit jenem anderer Architekten – Zeitgenossen sowie historische Vorbilder – soll Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausstellen und weiterführende Aufschlüsse über die Grundzüge seiner Arbeit vermitteln. Als Rezensent eines Buches über das Werk von Adolf Loos bezeichnete Czech den Versuch, isoliert betrachtete Entwurfsgedanken anhand einzelner Bauten zu verfolgen, als verfehlt. Stattdessen gelte: „[J]edes Werk enthält alle Gedanken, für jeden Gedanken sind alle Werke Beispiel.“15 Ähnliches lässt sich auch über Czechs Architektur sagen, jedoch mit der Einschränkung, dass bestimmte Gedanken, wie beispielsweise jener der Partizipation, sich in manchen Bauten und Bauaufgaben stärker wiederfinden lassen als in anderen. Dementsprechend hätte zur Untersuchung von Czechs Entwurfsansatz eigentlich jeder seiner Bauten herangezogen werden können. Um die Ungleichartigkeit und Breite seines architektonischen Schaffens abzubilden, wurden anstelle einer konformen Gruppe vielmehr hinsichtlich Bauaufgabe, Größe und Entstehungszeit unterschiedliche Bauten ausgewählt. Wie sehr er seinem früh gebildeten Entwurfsansatz bis heute treu blieb und wie bruchlos er diesen und seine theoretische Position entwickelte, soll anhand von Vergleichen quer durch die Zeit herausgestellt und belegt werden. Abgesehen vom Kapitel zum Themenkreis Konsumtion / Produktion, welches die architekturtheoretische Fundierung von Czechs Position inklusive ihrer Beeinflussung durch die kritische Theorie der Frankfurter Schule vermitteln will, versuchen die übrigen Kapitel in ihrer Gliederung dem eingangs behaupteten, dialektischen Muster in Czechs Theoriebildung zu folgen – dem Dreischritt These /Antithese  Synthese.

15 Czech 1965/4, S. 59.

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Übermut / Unterschätzung

Czechs Streit- und Programmschrift Nur keine Panik, 1971 Vorgeschichte Höhepunkt der Polemik und fortdauernden Provokation Dialektik als Methode der Theoriebildung

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Hermann Czechs Zugang zur Übermut/Unterschätzung Architektur ist von einer auffallenden Ambivalenz geprägt, die sich sowohl an der Heterogenität seines baulichen Werkes wie auch an manchen seiner theoretischen Äußerungen erkennen lässt. Diese Ambivalenz und seine zum Teil daraus resultierende Sonderstellung in der jüngeren österreichischen Architekturgeschichte sind das Thema des ersten Kapitels, dessen zeitlicher Rahmen sich annähernd über Czechs Studienjahre von 1954 bis 1971 erstreckt. Im Zentrum der Betrachtung stehen ausgewählte Aspekte seiner Theorie sowie der architekturgeschichtliche Kontext, in dem der Architekt diese noch vor dem Abschluss seines Studiums zu formulieren beginnt. Zu Beginn des Kapitels steht die Analyse von Czechs polemischem Text Nur keine Panik von 1971. Gemeinsam mit einem Blick auf die österreichische Kulturlandschaft der Nachkriegszeit und einer Betrachtung der sich darin entwickelnden, radikalen architektonischen Neuansätze bildet sie den Rahmen für eine vorläufige Verortung Czechs in der jüngeren Architekturgeschichte Österreichs. Das weitere Interesse gilt hier seinem Beitrag zur Wiederentdeckung der Wiener Architekturtradition und der Entstehung professioneller Architekturkritik in Printmedien. Vor dem Hintergrund weiterer Äußerungen Czechs insbesondere hinsichtlich der großen Hoffnungen, die viele seiner Zeitgenossen in die Architektur setzten – sie sollte zu nichts weniger beitragen als zu einer freieren, demokratischeren, lebenswerteren Welt – wird eine zweifache Interpretation des Textes Nur keine Panik vorgenommen. Erstens auf sprachlich-argumentativer Ebene, wodurch die Ambivalenz in Czechs Zugang zur Architektur verdeutlicht werden soll; zweitens hinsichtlich des Begriffs der Dialektik als Methode der Theoriebildung. Ein vergleichender Blick auf frühe Äußerungen von Rem Koolhaas, in dessen Theorie und Argumentation sich gleichfalls dialektische Muster wieder finden, soll zu einem tieferen Verständnis beitragen. Ziel dieses Kapitels ist es, einen Einblick in die Spezifik von Czechs Denkweise zu vermitteln und zugleich die Grundlage für die weitere, das Thema der Dialektik betreffende Vertiefung vorzubereiten. Darüber hinaus soll an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, der von Lefaivre konstatierten „Rätselhaftigkeit“ im Werk des Architekten nachzugehen.16

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Übermut / Unterschätzung

16 Liane Lefaivre im Vorwort zu Kuß

2018, S. 9.


Czechs Streit- und Programmschrift Nur keine Panik, 1971

Das Jahr 1971 ist für Czechs Laufbahn als Architekt in mehrerlei Hinsicht von Bedeutung. Zum einen erlangte er – nachdem er bis dahin bereits einige kleinere Projekte realisieren konnte17 – sein Diplom in der Meisterklasse von Ernst Anton Plischke an der Akademie der bildenden Künste in Wien; zum anderen veröffentlichte er einen kurzen Text mit dem Titel Nur keine Panik, in dem er seine Sicht der Architektur unter dem Eindruck der jüngeren Architekturentwicklung Österreichs in einem prägnanten Schlagwort fasste, das seinem Profil bis heute eine besondere Schärfe verleiht – mit der Behauptung: „Architektur ist Hintergrund“. Der Text erschien in der Kunstzeitschrift protokolle18 gemeinsam mit einer Innenaufnahme des von ihm geplanten und kurz zuvor fertiggestellten Kleinen Cafés I in der Wiener Innenstadt.19 Czechs Text Nur keine Panik beginnt mit der These „Architektur wird überschätzt“. Gleich darauf folgt der Befund, die Profession wäre wieder getragen von einer bereits aus der heroischen Phase moderner Architektur in den 1920er und 30er Jahren bekannten Allmachtsphantasie: Nachdem die Tuberkulose, diese durch ‚Licht, Luft und Sonne‘ bekämpfte Geisel jener Jahrzehnte, tatsächlich verschwunden sei, so Czech angesichts der jüngsten Entwicklungen, „glauben Architekten sich jetzt zur Lösung umfassenderer Probleme berufen. Sie drängen zu den Massenmedien, um uns über Bevölkerungsexplosion, Raumfahrt, Umweltverschmutzung und – vor allem – über die Bedeutung der Massenmedien mitzuteilen, was sie aus den Massenmedien erfahren haben.“ Darin erkennt er nichts weiter als „Öffentlichkeitsarbeit“ mit einer moralisch verwerflichen, „publizistische[n] Grundhaltung: jenes Flimmern zwischen zwei einander bedingenden Bewußtseinszuständen, nämlich erstens, daß man es mit Dümmeren zu tun hat, die den Schulmeister brauchen, und daß man zweitens den Dummen spielen muß, um verstanden zu werden.“ Des Weiteren konstatiert Czech die Spaltung seines Metiers in „E“- und „U“-Architektur – in eine „ernste“ und eine „unterhaltende“ Architektur –, den zunehmenden Zusammenschluss einzelner Architekturschaffender zu Kollektiven, wodurch aus seiner Sicht individuelle Hemmungen ausgeschalten werden sollen, sowie das verstärkte Aufkommen und

19

17

as estaurant allhaus

1962, zusammen mit Wolfgang Mistel auer und einald oh l ein Sommerhaus in u dor ei eiden

ar sein ater der

Auftraggeber – sowie das Kleine Café I in der Wiener Innenstadt erste us austu e

.

18 protokolle 1971/2, Jg. 6, 1997,

H. 2, S. 142. 19 Czech 1971, S. 142. Ebenfalls

von Czech geplante und umgesetzte Erweiterungen des Kleinen Cafés erfolgten 1973–1974, 1977 und 1985.

Czechs Streit- und Programmschrift Nur keine Panik, 1971


Betreiben eines Geniekultes – Entwicklungen, die er vor allem im Dienst ökonomischer Interessen sieht. Im weiteren Verlauf – etwa in der Mitte des Textes – konterkariert Czech seine Eingangsthese mit der gegenteiligen Behauptung „Architektur wird nämlich unterschätzt.“ Trotz aller zuvor von ihm erkannten, negativen Entwicklungen vermittelt dieser Gegensatz zum Statement am Beginn des Textes den Eindruck einer Irritation – als gebe es ‚doch etwas zu retten‘. Nach einer kurzen Fortsetzung seiner Polemik kommt er zu dem ernüchternden Schluss: „Kein Architekturprodukt mehr, und sei es noch so flexibel und aufgeblasen, wird die Rolle spielen, die einmal Kuppel oder Rippengewölbe gespielt haben. Die Verheißungen der beherrschten Natur erfüllen sich anderswo.“ Schließlich plädiert Czech am Ende des Textes dafür, „alle Öffentlichkeitsarbeit für suspekt zu halten: alle Publizität, die nicht Entwurf oder Theorie vorstellt, […] alle Versuche, der Architektur eine andere Rolle zu erpressen, als dazustehen und Ruhe zu geben. Architektur ist nicht das Leben. Architektur ist Hintergrund. Alles andere ist nicht Architektur.“20 Was sich zunächst liest wie ein ernüchternder, von Pathos und Hoffnung befreiter Befund einer an Bedeutung verlierenden Disziplin, erschließt sich durch einen Blick auf die Architekturentwicklung während Czechs Studienzeit von 1954 bis 1971 insbesondere im Kontext Wiens. Vorgeschichte Aspekte der österreichischen Kulturlandschaft nach 1945

20 Czech 1971, S. 142.

Hermann Czech begann sein Architekturstudium 1954 an der Technischen Hochschule in Wien.21 1963 wechselte er in die Meisterklasse des gerade erst aus dem Exil zurückgekehrten Ernst Anton Plischke an die Akademie der bildenden Künste. In diesen Jahren war Österreich vor allem von den Folgen des Zweiten Weltkrieges und der Zeit des Nationalsozialismus geprägt. Bereits vor dem Krieg und dem Erstarken der NSDAP waren zahlreiche Vertreter der vielversprechenden österreichischen Moderne ins Ausland geflohen. Innerhalb kürzester Zeit hatte Wien mit der Auswanderung von mehr als 50 Prozent der an der Werkbundsiedlung beteiligten Architekten seine führenden Standesvertreter verloren.22 Friedrich Achleitner

21 Anfänglich studierte er zugleich

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Übermut / Unterschätzung

einige Semester lang auch Film an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst. 22 Vgl. Achleitner 1985, S. 834.

Es waren innovative Kräfte wie Josef Frank, Clemens Holzmeister, Friederich Kiesler, Richard Neutra, Ernst Anton Plischke und Rudolph Schindler, von denen einige nie nach Österreich zurückkehrten und ihren Beitrag zur internationalen Moderne nur im Ausland realisieren konnten.


zufolge war mit dem Tod von Adolf Loos 1933 und der Emigration von Josef Frank 1934 die geistige Orientierung in der österreichischen Architektur verloren gegangen.23 Während in den bildenden Künsten der Nachkriegszeit in Österreich kritische Neuansätze von einer konservativen Kulturpolitik unterbunden wurden, herrschte in der Architektur infolge von geringen Geldmitteln, Materialknappheit und großem Wohnraumbedarf vor allem Pragmatismus vor. Die vordringlichste Aufgabe wurde darin gesehen, möglichst schnell möglichst viel Wohnraum zu schaffen, wobei Planung nicht als Chance, sondern als „notwendiges Übel“ aufgefasst wurde.24 Große baukulturelle Ambitionen konzentrierten sich auf den Wiederaufbau bedeutender Baudenkmäler wie des Stephansdoms, der Staatsoper oder des Burgtheaters. Die Möglichkeiten für eine junge Architektengeneration waren begrenzt und weitreichendere Neuerungen nicht in Sicht. Radikale Neuansätze – „visionäre Architektur“

In Österreich regte sich 1958 ein erster, öffentlich wirksamer Widerstand gegen den herrschenden Kulturkonservativismus. Dieser kam aus den Reihen der bildenden Kunst, welche auch die von Pragmatismus geprägte Architektur zu thematisieren begann und zur Projektionsfläche für den unter jungen Kunstund Architekturschaffenden weit verbreiteten Wunsch nach Veränderung machte. Drei unabhängig voneinander erschienene Manifeste forderten 1958 ein radikales Umdenken der Baukultur: Arnulf Rainer und Markus Prachensky verlangten nach einer Architektur mit den Händen,25 Friedensreich Hundertwasser verkündete sein Verschimmelungsmanifest26 und Günther Feuerstein veröffentlichte seine Thesen zur „inzidenten“Architektur.27 Sie alle zielten auf eine sofortige Abkehr vom Zweckrationalismus und sprachen sich für mehr Sinnlichkeit, für mehr Mitbestimmung der Menschen an der Gestaltung der gebauten Umwelt, für die Demokratisierung des Bau- und Planungsprozesses aus – kurz: für einen radikalen Neuanfang im Bereich der Baukunst. In der Folge entstanden verschiedenartige, vorwiegend experimentelle Ansätze, eine Vielzahl ungeordneter Singularitäten (utopische Konzepte, Aktionen, Skulpturen, etc.), die unter dem Ausdruck The Austrian Phenomenon in die Rezeptionsgeschichte eingingen.28 Als bedeutendster Pionier dieses Neuanfanges gilt heute Hans Hollein. Nach seinem Studium bei Clemens Holzmeister

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Vorgeschichte

23 Achleitner 1967/1, S. 2. 24 Ebd. 25 Rainer / Prachensky 1958. 26 Hundertwasser 1958. 27

euerstein

zit. nach

ders. 1988 S. 51–54. 28 Vgl. Architekturzentrum Wien

2009.


an der Akademie der bildenden Künste und nach Aufenthalten in den USA, wo er ausgedehnte Reisen unternommen hatte und sich von den dort weit fortgeschrittenen, innovativen Technologien sowie der amerikanischen Popkultur inspirieren ließ, postulierte er 1963, Architektur sei zwecklos.29 Er brachte damit seine Kritik an einem weltweit in Vormachtstellung gelangten Funktionalismus zum Ausdruck, welcher aus dem Neuen Bauen bzw. dem Internationalen Stil der 1920er und 30er Jahre hervorgegangen war, deren gestalterische Ambitionen im Verlauf des 20. Jahrhunderts aber zunehmend nachgelassen hatten. Im selben Jahr 1963 zeigte er gemeinsam mit Walter Pichler in der Ausstellung Architektur in der für die österreichische Kunstszene zum bedeutenden Katalysator gewordenen Galerie St. Stephan,30 was er darunter verstand: Zeichnungen und Skizzen plastisch wirkender Objekte, die der Beschriftung zufolge als Haus oder Stadt aufzufassen waren, oder beispielsweise die Fotomontage eines in eine sanfte Hügellandschaft eingefügten Flugzeugträgers, womit bisherige Vorstellungen von Stadt und Leben radikal in Frage gestellt wurden (Abb. 1).31 Günther Feuerstein – heute selbst als bedeutender Ideengeber für die damals junge, nach Veränderung strebende Generation anerkannt – sah in Holleins und Pichlers Ausstellung den Beginn einer neuen, „visionären Architektur“.32 1963 rief er als Assistent von Karl Schwanzer am Institut für Gebäudelehre und Entwerfen an der Technischen Hochschule Wien das „Klubseminar für Architekturstudenten“ ins Leben, das fruchtbaren Boden für die Erprobung neuer Ansätze bot. Aus diesem „Klubseminar“ gingen unter anderem mehrere zeittypische Experimentalgruppen hervor, die mit neuartigen Entwürfen und öffentlichen Aktionen Furore machten.33 Ein Beispiel hierfür ist der Mind-Expander der Gruppe Haus-Rucker-Co, der als Beitrag zu einem 1967 von der Firma Holzäpfel ausgeschriebenen Möbeldesign-Wettbewerb zum Thema Möbel zum Wohnen und Arbeiten im Jahre 2000 entstanden war (Abb. 2).34 Die freie Interpretation der Aufgabenstellung wurde Programm: Ein Doppelschalensitz aus Plastik mit aufblasbarer, bunt bemalter PVC-Haube samt beigestellten Zusatzgeräten (Farbglas-Brillen und einem MiniTonbandkoffer) verstand sich laut Bezeichnung als Vorrichtung zur Bewusstseinserweiterung.

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Übermut / Unterschätzung

Abb. 1 Hans Hollein, Flugzeugträger in Landschaft, Collage auf Karton, 1964. Abb. 2 Haus Rucker Co, Mind Expander, 1967. Abb. 3 Hans Hollein, non-physical environment, Pille auf Papier, 1967.

29 Vgl. Galerie St. Stephan 1963,

S. 8. 30 1964 wurde der Ausstellungs-

raum in Galerie nächst St. Stephan umbenannt. 31 Vgl. Galerie St. Stephan 1963,

S. 9–12. 32

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auf und baute ihn aus. Vgl. Feuerstein 1988, S. 57. 33 An der TH formierten sich etwa

die Gruppen „Haus-Rucker-Co“ oo nd u

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Programm des Klubseminars standen Fachvorträge von Feuerstein zu aktuellen Positionen zeitgenössischer Architektur, die von Studierenden ergänzt wurden, Ausstellungsbesuche, Bauexkursionen, Gespräche mit geladenen Gästen und der rege Austausch unter den Teilnehmenden. Vgl. Feuerstein 1988, S. 89. 34 Vgl. Feuerstein 1988, S. 89.


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Vorgeschichte


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