HEILENDE KUNST
WEGE ZU EINEM BESSEREN LEBEN
Sabine Becker, Ksenija Chochkova Giese, Elena Korowin (Hg.)
6 VORWORT UND DANK
Dieter Kistner
9 HEILENDE KUNST Wege zu einem besseren Leben
Sabine Becker und Ksenija Chochkova-Giese
37 DIE LEBENSREFORMBEWEGUNG
Bernd Wedemeyer-Kolwe
49 »DIE KUNST IST KEINE EISBOMBE« Erneuerung des Lebens in Schönheit
Kai Buchholz
73 DIE FREIHEIT, DIE LUFT, DIE SONNE, DIE EINSAMKEIT Hermann Hesses Ekstase der Selbstbefreiung im Tessin
Andreas Schwab
85 RICHTKRÄFTE FÜR DIE ZUKUNFT
Zwischen Rationalität und Mystik
Walter Kugler
101 KUNST ALS RESSOURCE FÜR DIE
SEELISCHE GESUNDHEIT
Georg Franzen
113 ZUR SALUTOGENESE DES KÜNSTLERISCHEN GESTALTENS
Eine Annäherung an Wirkmechanismen des Ästhetischen
Ruth Hampe
127
HEILEN MIT VEREINTEN KRÄFTEN
Schamanismus, Aktivismus und andere Fragen der Gegenwart
Elena Korowin
140 KURZBIOGRAFIEN AUTORINNEN UND AUTOREN
Vorwort und Dank
Willkommen zu einer Reise durch die faszinierende Welt der Kunst als Weg zu Heilung und einem erfüllteren Leben. Diese Publikation begleitet die Ausstellung »Heilende Kunst. Wege zu einem besseren Leben«, die sich der Erforschung und Darstellung von Heilansätzen in der Kunst widmet.
Die Verbindung zwischen Kunst und Heilung ist tief verwurzelt in der Menschheitsgeschichte. Seit jeher haben Künstlerinnen und Künstler die Macht der Kunst genutzt, um nicht nur Schönheit zu schaffen, sondern auch als Mittel zur Selbstheilung und zur Förderung eines besseren Lebens.
Ein Thema mit hoher Aktualität, deren neuere Wurzeln in der Lebensreformbewegung und der Reformpädagogik um die Jahrhundertwende zu finden sind. Die dahinterstehenden Motive waren damals vor allem in der Zivilisationskritik zu finden, in schwierig werdenden Lebensbedingungen durch Industrialisierung und Urbanisierung oder in bedrückenden sozialen Verhältnissen und der zunehmenden Naturzerstörung. Beide Themenbereiche gewinnen aktuell wieder eine hohe Bedeutungskraft durch Klimawandel und gesellschaftliche Erosionszunahme.
Dieser Begleitband erkundet die unterschiedlichen Aspekte dieses Zusammenhangs. Von den Bewegungen der Lebensreform des frühen 20. Jahrhunderts bis zu modernen Ansätzen der heutigen Zeit. Er lädt ein, die Vielfalt der Wege zu entdecken, auf denen Kunst zur Heilung beitragen kann.
Künstler*innenkolonien haben als Keimzellen des kreativen Schaffens und der Gemeinschaft geblüht. Durch ihre Werke wurde nicht nur Schönheit geschaffen, sondern auch Räume und Wege zu einem selbstbestimmteren Leben eröffnet. Regionale Beispiele sind die »Malweiber« eine wiederentdeckte Künstlerinnenkolonie in Obersteinbach im
Elsass, oder die Grötzinger Maler*innenkolonie, eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft von Künstler*innen, die in unterschiedlichen Ausformungen seit 1890 bestand.
»Heilende Kunst. Wege zu einem besseren Leben« ist mehr als nur eine Sammlung von Kunstwerken. Es ist die transformative Kraft der Kunst, die positive Gefühle auslösen kann, Perspektiven öffnet und unsere seelische Verfasstheit beeinflusst. Kunst kann dazu beitragen, dass Menschen offener und toleranter werden. Auch als Gegenentwurf einer immer stärker rationalisierten, uniformierten und automatisierten Welt kann Kunst Ängste reduzieren, Freude und Wohlempfinden fördern und verstärken.
Ich lade Sie herzlich ein, in diese Welt einzutauchen, sich inspirieren zu lassen und möglicherweise neue Wege zu entdecken, wie Kunst uns auf unserer Reise zu einem erfüllten und ausgeglichenen Leben unterstützen kann.
Unsere Ausstellung wird ermöglicht durch die großzügigen Leihgaben von zahlreichen, namenhaften Museen und Stiftungen. Diesen möchten wir ganz herzlich danken – ohne Sie wäre diese Ausstellung nicht möglich gewesen:
Beate C. Arnold, Barkenhoff / Heinrich-Vogeler-Museum
Stephan Arntz, Drs. Reggy Havekes-van Creij, Joseph Beuys Archiv
Dr. Frédéric Bußmann, Dr. Dorit Schäfer, Kristina Liedtke, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
Dr. Philipp Demandt, Dr. Juliane Betz, Beatrice Drengwitz, Städel Museum, Frankfurt am Main
Martin Hesse Erben
Dr. David Marc Hoffmann, Silvana Gabrielli, Rudolf Steiner Archiv Dornach, Schweiz
Dr. Henrike Holsing, Museum im Kulturspeicher Würzburg
Prof. Dr. Christiane Lange, Annette Blattmacher, Katja Ellenschläger, Hendrik Bündge, Staatsgalerie Stuttgart
Dr. Dorcas Müller, Hartmut Jörg, ZKM
Karin Kägi, Emma Kunz Stiftung
Berit Müller, Dr. Markus Schmidt, Haus im Schluh
Stefanie Patruno, Dr. Lil Helle Thomas und Christina Korzen, Städtische Galerie Karlsruhe
Dr. Susanne Rappe-Weber, Mario Aschoff, Archiv der deutschen
Jugendbewegung
Dr. Mariella C. Remund und Hans-Jürgen Gehrke, Kunstmuseum
Gehrke-Remund
Dr. Thomas Röske, Dr. Ingrid von Beyme, Sammlung Prinzhorn, Universitätsklinikum Heidelberg
Helmut Wietz, Common Film Produktion GmbH
Unsere Medienpartner:
Mit kreativer Vorfreude, Dr. phil. D. Kistner
HEILENDE KUNST
Wege zu einem besseren Leben
Sabine Becker, Ksenija Chochkova Giese
Heilung, lateinisch sanatio, bezeichnet den Prozess der (Wieder)herstellung der körperlichen und seelischen Integrität aus einem Leiden oder einer Krankheit.1 Die Ausstellung im Museum LA8. Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden und der dazugehörige Begleitband »Heilende Kunst. Wege zu einem besseren Leben« befassen sich zum einen mit Heilansätzen in der Kunst um die Jahrhundertwende und zum anderen mit der heilenden Wirkung von Kunst selbst.
Mit der weltweiten Corona-Pandemie hat das Thema Gesundheit heute nicht nur an politischer Brisanz gewonnen, sondern ist auch im alltäglichen Leben und Bewusstsein so präsent wie selten zuvor. Doch schon vor der globalen Ausbreitung von Corona ist die Suche nach alternativen, alltäglich praktizierten Heilmethoden weit verbreitet. Das große Interesse an Alternativmedizin, an gesunder Ernährung und Sport, das Streben nach Selbstoptimierung oder die Tendenz der Stadtflucht mit dem Bestreben besser zu leben, sind heutzutage allgegenwärtig. Auch die aktuelle Klimabewegung und deren Ziel, durch einen individuell nachhaltigen Lebensstil und einen verantwortlichen Umgang mit der Natur, ein gesellschaftliches Umdenken zu bewirken, die Natur und damit verbunden die Welt zu heilen, finden eine immer breitere Resonanz in der Bevölkerung.
Ziel der Ausstellung und des Begleitbuches ist es nicht etwa eine Anleitung zum Glücklichsein zu geben oder Ratgeber dafür zu sein, wie der
1 Museum-digital:deutschland, online abrufbar unter: https://nat.museum-digital.de/ tag/23204 [Letzter Zugriff: 06.12.2023].
Mensch gesünder, besser und heilsamer leben kann. Vielmehr interessiert uns, woher diese Sehnsucht stammt. Auf welche historischen Wurzeln gehen aktuelle Heilansätze rund um Naturheilkunde, Körperkult, Selbstfürsorge und Achtsamkeit zurück? Auf welche Heilansätze haben Künstler*innen2 in der Kunst reagiert? Sie möglicherweise in ihre eigene Lebensführung übernommen? Wie sind sozialutopische Vorstellungen über ein heilsames Leben umgesetzt worden? Und welche therapeutische Rolle übernahm die Kunst selbst in der Produktion und Kunstbetrachtung?
Als Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts richten wir den Blick auf das Ende des 19. Jahrhunderts; eine Zeit, in der in vereinzelten Ländern in Europa und den USA die Industrialisierung tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft mit sich brachte. Die Fabrikarbeit entstand als neue Arbeitsform. Maschinelle Produktion ersetzte die Handarbeit. Arbeiter*innen wurden schlecht bezahlt.3 Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren desaströs. In den immer voller werdenden Großstädten machen Anonymität, Armut und Umweltverschmutzung den Menschen zu schaffen.
Als Reaktion auf dieses Klima entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert die Bewegung der Lebensreform. Sie lieferte maßgebliche Impulse für aus ihr hervorgegangene und mit ihr verwandte Heilansätze, die in der Ausstellung und im Buch aufgegriffen werden. Sie war eine sozialreformerische Bewegung und strebte über eine Selbstreform, das heißt über die konsequente Änderung der Lebensführung jeder*s Einzelnen4, eine Ge-
2 Der Asterisk (das sogenannte »Sternchen«) dient im Folgenden als Platzhalter zur Einbeziehung von allen nicht-binären Geschlechtsidentitäten, LSBTIQ-Lexikon. Online aufrufbar unter: https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/geschlechtliche-vielfalttrans/245426/lsbtiq-lexikon/ [Letzter Zugriff: 13.11.2023].
3 Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (Hrsg.): einfach POLITIK: Lexikon. Autor/ inn/en: D. Meyer, T. Schüller-Ruhl, R. Vock u.a./ Redaktion (verantw.): Wolfram Hilpert (bpb). Bonn: 2022. Lizenz: CC BY-SA 4.0 //. Online aufrufbar unter: https://www.bpb. de/kurz-knapp/lexika/lexikon-in-einfacher-sprache/328544/industrialisierung-industrielle-revolution/ [Letzter Zugriff: 3.8.2023].
4 Wolfgang Krabbe: »Lebensreform/Selbstreform«, in: Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998, S. 73–77, S. 73.
sellschaftsreform an.5 Ob Vegetarismus, Naturheilkunde, Freikörperkultur oder sich selbst versorgende Siedlungen6 auf dem Land – was die verschiedenen lebensreformerischen Bewegungen einte, war ihre Zeitkritik. Die moderne Zivilisation, geprägt durch Industrialisierung, Urbanisierung und Technisierung 7, wurde für den Verlust von humanistischen Werten und die Entstehung seelischer Krankheiten verantwortlich gemacht. Körper, Geist und Seele galten als traumatisiert. Allein die Rückbesinnung auf die Natur und eine auf im Einklang mit der Natur basierende neue Lebensführung könne Heil bringen.8 Die Lebensreform strebte eine Erneuerung der gesamten Lebensweise an, um den Menschen von vermeintlichen Zivilisationsschäden zu erlösen.9 Die Erlösung wurde demnach nicht im Jenseits, sondern im Diesseits gesucht. Nicht etwa die Politik oder politisch revolutionäres Verhalten sollte eine Optimierung von menschlichen Lebensumständen bewirken. Diese könnten sich vielmehr nur verbessern, wenn jede*r Einzelne in Selbstverantwortung seine Lebensweise änderte.10
Die Ausstellung Heilende Kunst greift in diesem historischen Kontext verschiedene Heilpraktiken des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf,
5 Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland. Darmstadt 2017, S. 20. Wedemeyer-Kolwe verwendet eine enge Definition der Lebensreform und verweist auf definitorische Schwierigkeiten des Begriffs. Er legt dar, dass in der Forschung der Lebensreform oftmals verwandte Bewegungen wie etwa die Jugendbewegung, Kleiderreform, die Reformpädagogik oder die Sexualreform zur Lebensreform zugeordnet werden und kritisiert die definitorische Ungenauigkeit. Neuere Publikationen wie der zweibändige, umfangreiche Ausstellungskatalog »Die Lebensreform« von 2001, erweitern den Begriff der Lebensreform und seine Definition als selbstreformerische Bewegung. Die Publikation untersucht umfassend den Einfluss der Lebensreform auf Kunst, Literatur, Philosophie, Weltanschauungen bis hin zur alltäglichen Lebensgestaltung, siehe Klaus Wolbert: »Die Lebensreform – Anträge zur Debatte«, in: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, hrsg. von Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann und Klaus Wolbert, Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 13–25, S. 17.
6 Ebd.
7 Krabbe, S. 73.
8 Ebd.
9 Ebd. S. 73 f., Krabbe zitiert hier: Heinrich Schipperges: »Zur Theorie der Lebensordnung«, in: Eden-Stiftung (Hrsg.): Lebensreform als ganzheitliche Daseinsgestaltung, Bad Soden 1986, S. 11–34, S. 12.
10 Krabbe, S. 74.
durch die man sich eine Heilung des Individuums und der Gesellschaft versprach. Nudismus, Vegetarismus, die Naturheilkunde oder die Siedlungsbewegung zählen in einer engeren Definition zur Lebensreform. Andere Ansätze wie spirituelle Weltanschauungen, etwa die Anthroposophie, der Ausdruckstanz, die Eurythmie oder die Ästhetisierung des Alltags im Kunsthandwerk und in der Architektur stehen in einem weiter gefassten Bezug zu lebensreformerischen Ideen.11
Das Gros der auf die Lebensreform zurückgehenden Heilsvorstellungen mündet in einem Naturbegriff, der als Gegenbegriff zur industriell geprägten Zivilisation verstanden wurde.12 Programmatisch für die Heilssuchenden der damaligen Zeit war der Slogan »Kehrt zur Natur zurück«13 des Naturheilkundlers Adolf Just (1859–1936), an dem man eine vermeintlich gesunde Lebensführung ausrichtete. Ihr Naturbegriff, verstanden als »Natur in uns, die Natur um uns herum und die Natur als Norm oder Essenz«14 verlangte nach einer »natürlichen Lebensweise« unter modernen Bedingungen. Ein Leben sollte so geführt werden, dass es die Natur schützt und sie als Erholungsraum und als Grundlage für Ernährung, Kleidung, Medizin und Körperhygiene sowie -kultur nutzt. Der kranke Körper galt als unnatürlich, der mit Seele und Geist im Einklang stehende, gesunde Körper hingegen als natürlich.15
Oftmals führten persönliche Erweckungserlebnisse von einzelnen Wortführer*innen der Lebensreform dazu, konsequent auf eine, auf Natur basierte Lebensführung zu wechseln, die ihnen nicht selten den
11 Siehe Fußnote 5.
12 Wedemeyer-Kolwe, S. 26.
13 Adolf Just: Kehrt zur Natur zurück, Braunschweig 1896. Die Naturvorstellung solcher Lebensreformer*innen gehen auf den Naturbegriff von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) sowie auf den Ausruf »Zurück zur Natur« (1811) des vegetarischen Aktivisten John Frank Newton (1767–183/) zurück, vgl. Wedemeyer-Kolwe, S. 25.
14 Thomas Rohkrämer: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933. Schöningh 1999, S. 28 f., zitiert nach Wedemeyer-Kolwe, S. 26., siehe auch: Thomas Rohkrämer: »Natur und Leben als Maßstäbe für die Reform der Industriegesellschaft«, in: Klaus Wolbert: Die Lebensreform – Anträge zur Debatte, in: Buchholz et. al., Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 79–83.
15 Wedemeyer-Kolwe, S. 31.
gesellschaftlichen Status des/der Aussteiger*s/in oder sogar negativ konnotiert des »Kohlrabi-Apostels«16 einbrachte.
Gemeint waren unter anderem der Künstler und selbst ernannte Prophet Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913) und sein Schüler Hugo Höppener, alias Fidus17 (1868–1948). Eine schwere Typhuserkrankung heilt Diefenbach mit einer Traubenkur. Daraufhin gründet er den Verein »Menschheit« mit dem Ziel des radikalen Verzichts auf Fleisch, Alkohol, Koffein und Tabak. Mit langem Bart und in Mönchskutte hält er Vorträge in München über gesunde Lebensweisen, die Abkehr von einer bürgerlichen Sexualmoral und gründet seine erste Kommune »HUMANITAS« bei Höllriegelskreuth. Dort trifft er auf Fidus. Nach einem FKK-Prozess, in dem er zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, wandert er über die Alpen nach Italien, gründet in Himmelhof bei Wien seine zweite und letztlich auf der Insel Capri in Italien seine letzte Kommune, wo er 1913 an Krebs stirbt.18
Ein an Lupus erkrankter Fuß zwang Fidus zu einem Umdenken und Ändern seiner Lebensweise.19 Großes Vorbild war sein »Meister« Diefenbach. Vor allem der Kult um das unschuldige Kind als Symbol für den Idealzustand des menschlichen Lebens im Einklang mit der Natur, regte ihn dazu an, diese lebensreformerischen Inhalte künstlerisch umzusetzen und sie selbst zu leben. Er wurde letztendlich zum Wortführer und Werbefigur der Lebensreform, und das um einiges erfolgreicher als sein von ihm verehrter Lehrer, mit dem er zu diesem Zeitpunkt auseinandergegangen
16 Hinterkirchner, Oswald. Beim Einsiedler im Steinbruch. In: Die Gesellschaft. Monatszeitschrift für Literatur und Kunst, Jg. 5, Hft. 11. 1889, S. 1623−1633. S. 1624, zitiert nach: Pamela Kort: »Karl Wilhelm Diefenbach: Der ›Vegetarianer-Apostel‹«, S. 15–117, S. 28, in: Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne 1872–1972, hrsg. von Pamela Kort, Max Hollein, Köln 2015.
17 Diefenbach benannte Höppener mit dem Künstlerpseudonym »Fidus«, übersetzt aus dem Lateinischen »der Getreue«.
18 Carl Gneist: »Karl Wilhelm Diefenbach, 1851–1913, Künstler und Lebensreformer, Hadamar«, in: Heiner Feldhoff: Westerwälder Köpfe, Zell/Mosel 2017, S. 39–44; siehe auch: Claudia Wagner: Der Künstler Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1933). Meister und Mission. Mit einem Werkkatalog aller bekannten Ölgemälde. Dissertation, München 2008. 19 Wagner, S. 30.
war.20 Als Mitglied vieler Lebensreformvereine21 verbreitete er seine Vorstellungen in Vorträgen, Ausstellungen und etlichen Illustrationen von Zeitschriften wie »Sphinx. Monatsschrift für Seelen- und Geistesleben«, »Simplizissimus«, »Pan« oder »Jugend. Illustrierte Münchner Wochenschrift für Kunst und Leben«22 oder im Verlag des selbst gegründeten St. Georg-Bundes, dem späteren Fidus-Verlag23. Zentrum und Treffpunkt von Lebensreformern wurde seine 1906 gegründete Siedlung im selbst erbauten »Fidushaus« in Woltersdorf bei Berlin. Der Künstler sympathisierte schließlich mit einem völkisch rassistischen Denken. 1932 trat er in die NSDAP ein und wurde Mitglied des rechtsgesinnten »Frontkämpferbundes bildender Künstler«, erhielt von den Nationalsozialsten allerdings keine Anerkennung.24
Griffen Naturheilkundler wie Sebastian Kneipp (1821–1897) zu Wasser, Adolf Just zu Heilerde, oder August Engelhardt (1875–1919) zum reinen Verzehr von Kokosnüssen als Basis ihrer Therapie, so war es bei Diefenbach und Fidus die explizite Praktizierung des Nudismus25 und Vegetarismus, um Heilsbotschaften zu vermitteln.
Bei beiden Künstlern erscheint der nackte, entsexualisierte Körper im Licht eines paradiesischen Zustandes. In der nach Motiven von Diefenbach von Fidus ausgeführten Zeichnung »Per aspera ad astra«, 1891 (Abb. 1) wird Nacktheit als Urzustand des Menschen verstanden und in unmittelbarem Kontakt mit den heilenden Kräften der Natur,
20 Siehe dazu: Ebd., S. 30–40.
21 Marina Schuster: »Fidus und der St. Georgs-Bund«, in: Klaus Wolbert: Die Lebensreform – Anträge zur Debatte, in: Buchholz et. al., Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 437–440, S. 437.
22 Vgl. Barbara Stambolis: Fidus (1868–1948), in: Walter Sauer (Hrsg.): Kunst und Künstler im Umfeld der Jugendbewegung, Bd. 1, Baunach 2022, S. 12–39, S. 14.
23 Schuster 2001, S. 437–440.
24 Barbara Stambolis: »Fidus« in: Kunst und Künstler im Umfeld der Jugendbewegung, Walter Sauer (Hrsg), Bd. 1, Baunach, 2022, S. 16–17. Ergänzend zur Lebensreformbewegung der Rassenhygiene als Nährboden der nationalsozialistischen Rassenideologie, siehe: Jürgen Reulecke: Rassenhygiene, Sozialhygiene, Eugenik, in: Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke (Hrsg.), Wuppertal 1998, S. 197–210.
25 1888 wurde Diefenbach im ersten Nudisten-Prozess in der Geschichte zu sechs Wochen Haft und Fidus zu drei Wochen und zwei Tagen Haft verurteilt, Wagner, S. 30.
der frischen Luft und der Sonne, befreit von zivilisatorischen Zwängen, Triebhaftigkeit, erotischen Komponenten, Moralvorstellungen, Normen und Schamgefühlen26 dargestellt.
Die Künstler*innen reagierten damit auf die vor allem in den 20erJahren aufkommende Freikörperkultur. Über die Nacktheit suchten sie den Weg zum ersehnten Ziel �Zurück zur Natur«. FKK spielte auch in der �Wandervogelbewegung«27, dem Ausdruckstanz, der Aktfotografie oder in Sanatorien und Heilanstalten eine zentrale Rolle. Linksorientierte
26 Klaus Wolbert: »›Unbekleidet‹ oder ›ausgezogen‹? Die befreite Nacktheit in der Kunst«, in: ders.: Die Lebensreform – Anträge zur Debatte, in: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, hrsg. von Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann und Klaus Wolbert, Bd. 2, Darmstadt 2001, S. 369–372, S. 369. 27 Der um 1901 in Steglitz gegründete Verein »Wandervogel« war ein wesentlicher Bestandteil der Jugendbewegung. Schüler*innen und Student*innen, vorwiegend aus bürgerlichen Familien, wollten sich durch Wandern in der Natur aus den schulischen Zwängen und jenen des Elternhauses lösen. Mehr zum Thema Wandervogel und Jugendbewegung siehe in: Winfried Mogge: »Jugendbewegung« in: Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Kerbs und Reulecke, S. 181–196.
Gruppen wie der Bund »Freie Menschen. Bund für sozialistische Lebensgestaltung und Freikörperkultur« hatten sozialreformerische, humanistische Ziele: Sexualaufklärung und Verbesserung der Lebenssituation von Frauen. Nacktheit wurde auch von Rechtsgesinnten aufgegriffen.28 Freikörperkultur sei das Mittel gegen die Degeneration der Industriegesellschaft so der völkisch-nationale Publizist Heinrich Pudor (1865–1943) 29 . Der ebenfalls völkischem Denken nahe stehende Schriftsteller Richard Ungewitter (1869–1958) sah im Nudismus ein Mittel sich »reinrassig« fortzupflanzen.30
Dass Ernährung und Gesundheit in einem engen Bezug zueinanderstehen, ist ein antiker Ansatz, der im Zuge der Lebensreform eine Renaissance erlebte. Ernährung wurde zu einem Heilmittel. Industriell produzierte Lebensmittel und die Verbreitung von gesundheitsschädigenden Konservierungs- und Färbemitteln führten zur Annahme, dass naturbelassene, frische Lebensmittel, frisches Obst und Gemüse, Vollkornprodukte, Alkohol-, Tabak- und Fleischverzicht Gesundheit verschaffen.31
Mit ihrem Vegetarismus griffen Diefenbach und Fidus auf die These zurück, Pflanzennahrung sei die Urnahrung des Menschen 32. Beide sahen sich in der Pflicht, durch Arbeiten wie »Du sollst nicht töten«, 1892 (Fidus) (Abb. 2), oder dem gleichnamigen Gemälde von 1902 (Diefenbach) (Abb. 3), diesen Apell mahnend an die Menschen zu richten. Nicht thematisiert blieben gesundheitliche Schäden, die eine rein vegane oder vegetarische Ernährung mit sich bringt.
Im Zuge der Stadtflucht und dem lebensreformerischen Versprechen eines gesunden Lebens in der Natur und auf dem Land, bildeten sich etliche Siedlungen, Kommunen und Kolonien. Bei den meisten stand die Autarkie und das selbstversorgende Moment sowie der Versuch, Utopien
28 Siehe Fußnote 26.
29 Heinrich Pudor: Nackende Menschen. Jauchzen der Zukunft. Dresden 1893, übernommen von: Rolf Koerber: Freikörperkultur, in: Krabbe, S. 103–114. S. 105.
30 Ebd., S. 103 ff
31 Judith Baumgartner: »Ernährungsreform«, in: Krabbe, S. 115–126, S. 115 ff.
32 Judith Baumgartner: »Vegetarismus«, in: Krabbe, S. 127–139, S. 127.
gemeinschaftlich in die Realität umzusetzen, im Vordergrund, etwa in der »Obstbaukolonie Eden«. Zeitgleich entwickelten sich europaweit Künstler*innenkolonien, meist in Stadtnähe auf dem Land.
Im Jahr 1900 entstand am Lago Maggiore in Ascona auf dem Hügel Monte Verità (»Berg der Wahrheit«) das gleichnamige berühmte Lebensreform-Projekt und das nach Naturheilkunde ausgerichtete Sanatorium mit angegliederter »Schule für Kunst«33. Es wurde Treffpunkt zahlreicher europäischer und amerikanischer Künstler*innen und Intellektuellen.34 Nicht nur das: Monte Verità war Sehnsuchtsort für jegliche Sinnsucher*innen, Aussteiger*innen, Freigeister, Aktivist*innen, Reformer*innen, Therapie- und Kurbedürftige.
Mit dem Humanismus fand eine allgemeine Wiederkehr der antiken Heilkunde statt und damit der Glaube an die Natur und die Selbstheilungskräfte des Menschen.35 Einer der Gründer, Henri Oedenkoven (1875–1935), hatte nach langem Leiden seine Gesundheit durch Naturheilverfahren wiedererlangt. Heilung wurde auf dem Monte Verità als Heilung von falscher Lebensweise verstanden. Zu den Therapieformen gehörten Licht- und Luftbäder, also nacktes Sonnen, Baden und Duschen im Freien (Abb. 4), vegetarische Ernährung, Rohkost und das Tragen von Reformkleidung.36 Auch die Kunst selbst spielte eine ele-
33 Die Schule für Kunst wurde von Rudolf von Laban (1879–1958) geleitet und bot folgende Kurse an: Formkunst, Wortkunst, Tonkunst, Bewegungskunst. In: Nicoletta und Othmar Birkner-Gossen: Zur Baugeschichte von Monte Verità, S. 121, siehe auch: Edmund Stadler: »Theater und Tanz in Ascona«, S. 126–135 sowie Theo Kneubühler: »Die Künstler und Schriftsteller und das Tessin (von 1900 bis zur Gegenwart)«, S. 136–178 in: Monte Verità. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie, hrsg. von Harald Szemann, Civitanova Marche und Tegna, und Electa Editrice, Venezia-Martellago 1978.
34 in: Klaus Wolbert: »Die Lebensreform – Anträge zur Debatte«, in: Buchholz et. al., Bd. 2, Darmstadt 2001. S. 473–476, S. 473, vgl. auch Szeemann et. al. 1978; Andreas Schwab: Zeit der Aussteiger. Eine Reise zu den Künstlerkolonien von Barbizon bis Monte Verità, München 2021, S. 257–295; Stefan Bollmann: Monte Verità 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt, München 2017.
35 Judith Baumgartner: »Ernährungsreform«, in: Krabbe, S. 115–126, S. 115.
36 Gernot Böhme: »Monte Verità«, in: Buchholz et. al., Bd. 1, Darmstadt 2001; S. 473–477, S. 474.
mentare Rolle bei der Heilung. Rudolf von Laban (1879–1958) betrieb während des Sommers in Ascona eine an das Sanatorium angegliederte Tanzschule (Abb. 5) Die Tänzerinnen Suzanne Perrottet (1889–1983) und Mary Wigman (1886–1973) gehörten zu seinen wichtigsten Mitarbeiterinnen. Kunst wurde hier Ausdruck eines »neuen Lebens«. Die expressiven Gesten seines neuen Tanzstils waren Medium, um innere Regungen und Emotionen auszudrücken. Es zählte nicht, wie man sich bewegt, sondern was den*die Tanzende*n bewegt. Ähnlich wie beim Nudismus lag das heilende Moment des Ausdruckstanzes in der Selbstentfaltung und Befreiung von zivilisatorischen Normen und Zwängen. Der Körper wird im Tanz so wahrgenommen, Emotionen neu erlebt und verbalisiert, dass der*die Tanzende sich aus sich selbst heraus in der Bewegung regenerieren kann.37
37 Elke Willke: »Tanz- und Bewegungstherapie«, in: Wulf Rössler, Birgit Matter (Hrsg.): Kunst- und Ausdruckstherapien. Ein Handbuch für die psychiatrische und psychosoziale Praxis. Stuttgart 2013; S. 170–180, S. 171 ff.