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Claudia Denk (Hrsg.)
VALENCIENNES’ RATGEBER FÜR DEN REISENDEN LANDSCHAFTSMALER ZIRKULIERENDES KÜNSTLERWISSEN UM 1800
C H R I S TO P H H EI L M A NN S TI F TUNG
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Geförder t in großzügiger Weise von der CH R IS T OP H H EI LMANN STI FTUNG | LENBAC HHAU S MÜNCHEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der TAVOLOZZ A FO UNDATI O N MÜNCHEN
der G E S CH W ISTER BO EHRI NGER I NGELHEI M STIFTUNG F ÜR G E IS TE S WI SSENSCHAFTEN I N I NGELHEIM AM RHEIN
der R ICH A R D STURY STI FTUNG MÜNCHEN
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Titel der vollständigen französischen Originalausgabe von 1799, 1800 É L É M E N S D E P E R S P E C T I V E P R AT I Q U E , À L’ U S A G E D E S A R T I S T E S , S U I V I S De Réflexions et Conseils à un Elève sur la Peinture, et par tic ulièrement sur le genre du Paysage. Par P. H. Valenciennes, Peintre; de la Société Philotechnique, de celle libre des Sciences et Ar ts de Paris, etc. etc. À Paris, Chez: L’Auteur, au Palais national des Sciences et Ar ts. Desenne, Libraire, au Palais-Egalité, n° 2. Duprat, Libraire pour les Mathématiques, quai des Augustins, près le Pont-Neuf, n° 71. An VIII. [1799, 1800]
Originaltitel des hier edier ten 2. Bandes in der deutschen Übersetzung von 1803 Der Rathgeber für Zeichner und Mahler, besonders in dem Fache der Landschaftsmahlerey. Nebst einer ausführlichen Anleitung zur Künstlerperspectiv. [Zweites Titelblatt:] Praktische Anleitung zur Linear- und Luftperspectiv für Zeichner und Mahler. Nebst Betrachtungen über das Studium der Mahlerey überhaupt, und der Landschaftsmalerey insbesondere. Von P. H. Valenc iennes, Mahler und Mitglied der philotechnischen Gesellschaft und der Gesellschaft der schönen Wissenschaften und Künste zu Paris. Aus dem Französischen übersetzt, und mit Anmerkungen und Zusätzen vermehr t von Johann Heinrich Meynier, Lector der französischen Sprache auf der Universität Erlangen, und Lehrer der Zeichenkunst an dem Gymnasio daselbst. Zweyter Band, Hof, bei Gottfried Adolph Grau 1803.
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Inhalt
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Vor wor t
Veror tungen im deutschen Diskurs
Bernhard Maaz / Christoph Heilmann
zur Landschaftsmalerei Die deutsche Landschaftsliteratur – H agedorn, Geßner, Sulzer und
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Runge 35
TEIL I:
»Hagedorns Betrachtungen über die
E I NE Ü BE RS E T ZU N G A L S M E D I U M
Mahler y sind von ganz anderer Ar t« 36
K Ü NS T L E RI S C H E N W I S S E N ST R A N S F E R S
Lehrbuch, Ratgeber oder Vademecum
UM 1800
für reisende Landschaftsmaler? 37
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Künstlerlektüren – Zur Edition der
Transformationen – Vom Perspektiv-
deutschen Valenciennes-Ausgabe
zum Landschaftsbuch
von 1803
Valenciennes’ Ideal vom Malen
Das Buch als Ar tefakt 16
im Freien – Von der annotier ten
Zirkulierendes Künstler wissen –
Zeichnung zur Ölskizze 41
Reisen und lesen 19
Die Privilegierung des Landschaftsteils
Frankreich und Deutschland in der
in der deutschen Übersetzung 46
P erspektive des Kultur transfers 23
Eine fruchtbare Diskussion (landschafts-) ästhetischer Schlüsselbegriffe? 49
29 Akteure – Autor, Übersetzer und
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Verleger
Ein französisches Landschaftsbuch
Pierre-Henri de Valenciennes – Autor
in Deutschland
eines neuar tigen Landschaftsbuchs 29
Buchbesprechungen in führenden
Johann Heinrich Meynier –
R ezensionsjournalen 53
Literat, Übersetzer und Künstler 30
Reflexe in der Kunstliteratur 54
Gottfried Adolph Grau – Verleger im Vogtland 32
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Exemplare in Altbeständen deutscher
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Bibliotheken 56
TEIL II:
Kunstbibliotheken – Von Rom
EDITION DER DEUTS C H EN
bis K openhagen 58
ÜB ER S ETZUNG V ON VALENC IENNES ’
Privatbibliotheken – Thor valdsen,
R ATH GEB ER , B ES ONDER S IM FAC H E
A bildgaard und Speck von Sternburg
DER LANDS C H AF TS MAH LER EY (1803),
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B AND 2
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Ein Buch und seine Leser
Editorische Notiz
Die jungen deutschen Maler in Rom – Franz Ludwig Catel, H einrich Reinhold
123
und Franz Horny 74
Inhalt
Johann Georg von Dillis 76 Christoffer Wilhelm Eckersberg
258
und seine Schüler 79
Anmerkungen des Verfassers und
Johan Christian Dahl 81
des Übersetzers
Caspar David Friedrich 84 Carl Gustav Carus 85
264
Carl Blechen 88
Literatur des Ratgebers
Alexander von Humboldt 90
Antike Quellentexte 264 Nachantike Literatur 265
99 Resümee
268 Personenregister
102 Literatur
271 Dank 272 Impressum und Bildnachweis 7
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Vor wor t
Die Kunstgeschichte versteht sich als eine Bildwissenschaft, aber sie kommt zur Erhellung ihrer Themen und Thesen nicht aus ohne das geschriebene und das gesprochene Wort, und natürlich spielen dabei historische Quellen wie Briefe, Tagebücher, Rezensionen oder auch Inventare eine gewichtige Rolle. Das Fach hat schon früh mit edierten Briefen gearbeitet, die aber nicht selten manipulativen redaktionellen Eingriffen ausgesetzt waren, weil die familiären Interessen der Künstler bzw. ihrer Nachfahren berücksichtigt wurden. Und erst spät hat man beispielsweise den Wert historischer Inventare von Künstlerbibliotheken erkannt. Erst in der Zeit der Aufklärung mehren sich die überlieferten Quellen wie Briefe und Tagebücher, aber dies war auch jene Zeit, in der sich die Zahl verfügbarer Bücher mehrte. Es war für die bildende Kunst auch eine Epoche des medialen Wechsels von Wissenstransfer im Werkstattkontext hin zu einem stärker akademischen und vermehrt an Bücher gebundenen Wissensaustausch. Auch kam nun der Theorie ein Stellenwert zu, der in dieser Intensität und Quantität neu war. Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Edition eines weit verbreiteten Grundlagenwerks zu sehen. Dabei zeigt sich, wie überaus wichtig die Vielzahl und die Vielfalt der nutzbaren Quellen sind. Pierre-Henri de Valenciennes verfasste sein theoretisches Grundlagenwerk in jenen Jahren nach der Französischen Revolution, in denen
sich auch im künstlerischen Austausch Vieles veränderte. Namentlich gegen 1800 bereisten Künstler und Archäologen Rom nur noch zögerlich oder verließen die Ewige Stadt sogar, weil die französischen Truppen einzuziehen drohten und bald auch, weil die wichtigsten beweglichen Kunstschätze in das napoleonische Zentralmuseum in Paris transportiert wurden. Andere wandten sich von vornherein nach Paris, wo durch Jacques-Louis David die modernste Historienmalerei gepflegt und geprägt wurde. Dass daneben ein Meister der Landschaft vom Range Valenciennes’ dort wirkte, vernahm man offenbar bald auch in Deutschland, und daraus erwuchs die Idee jener Übersetzung von dessen Schrift, die Johann Heinrich Meynier herausgab. Dieser deutschen Version und ihren Schicksalen widmet sich die vorliegende, methodisch sorgfältige, vorbildliche Studie, die sich nicht nur einem großen Überblick, sondern zudem auch sichtlich einer mehrjährigen und geradezu kriminalistischen Detailarbeit verdankt. Dabei geht es um beide Autoren – denn der hugenottische Übersetzer in Deutschland erweist sich bei näherer Betrachtung als Redaktor, Bearbeiter, Kommentator – und um die Verbreitung des Buches ebenso wie um dessen Nutzung. Mit dieser Edition wird nicht nur einem Buch, das zwei Jahrhunderte hindurch nicht mehr im Blickfeld der Kunstgeschichte stand, neue Aufmerksamkeit zuteil, sondern es wird im 9
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TEIL I: EINE ÜBERSETZUNG ALS MEDIUM KÜNSTLERISCHEN WISSENSTRANSFERS UM 1800 »In dem zweyten Band finden Künstler,
besonders solche, welche sich der Landschaftsmahlerey widmen, an unserm
Verfasser [Pierre-Henri de Valenciennes] einen treuen Führer auf ihrer Laufbahn. Er lehrt sie, wie sie sich zu ihrer Bestimmung vorzubereiten haben, und zeigt ihnen treulich alle Mittel an, durch welche sie sich zu guten Künstlern bilden können. Er leitet sie in ihren Vorübungen, in dem Skizzieren und Zeichnen nach der Natur […], zeigt ihnen, wie sie mit Nutzen reisen sollen u.s.w. Alle diese Gegenstände behandelt er so, wie sie nur ein Künstler behandeln konnte, und wie sie, soviel ich weiß, noch niemand behandelt hat: denn Hagedorns Betrachtungen über die Mahler y und verschiedene andere Werke, welche wir über diese Materie besitzen, sind von ganz anderer Art.« Johann Heinrich Meynier (Vorrede des Übersetzers)
Inhalt
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Abb. 16
Pierre-Henri de Valenciennes: Der Rathgeber für Zeichner und Mahler …, 1803, Dresden, Sächsische
Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (ehemalige Kurfürstliche bzw. Königliche Bibliothek), Sign. Art.plast. 2402
wurde von einem konservativen und klassischen Normen verpflichteten Standpunkt heraus als überflüssig eingeschätzt, wenn es heißt: »[…] descriptions pompeuses des quatres parties du jour, des saisons, d’orage, des chasses, des batailles etc. et plus de cent pages employeés à tracer un itinéraire de voyage pour ceux, qui se destinent à l’étude du paysage historique.« 19
Die Privilegierung des Landschaftsteils in der deutschen Übersetzung
Demgegenüber fand Valenciennes’ Lehrbuch mit seinen praxisnahen Ratschlägen und Schwerpunkten in Deutschland eine geradezu ideale Situation vor. Hier hatte die Landschaftsmalerei 46
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der Romantik die späteren Entwicklungen in Frankreich vorweggenommen. Ein intensives Selbsterleben in der Natur über das Reisen, den Spaziergang oder weite Wanderungen sollte sich früh als (bildungs-)bürgerliche, aber auch als künstlerische Praktik etablieren. Man denke nur an die Aufwertung solcher Exkursionen im dichtungstheoretischen Konzept des Sturm und Drang. Goethe wurde von seinen Dichterkollegen als »der Wanderer« bezeichnet, da er seine Ausflüge in die Natur häufig als Inspirationsquelle für seine Gedichte nutzte. In der deutschen Landschaftsbegeisterung dürfen wir wohl zu Recht den unmittelbaren Grund für die entscheidende Neuausrichtung 20
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Transformationen – Vom Perspektiv- zum Landschaftsbuch
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Abb. 17 a, b
Inhaltsverzeichnis aus Bd. 2: Pierre-Henri Valenciennes: Der Rathgeber für Zeichner und Mahler …,
1803, München, Privatbesitz
des Buches sehen. Meynier räumte in seiner deutschen Übersetzung dem Landschaftsthema bereits auf der Titelebene den Vorrang ein, deklassierte im selben Zug Valenciennes’ perspektivische Anweisungen zum bloßen Anhang und bewies damit das richtige Gespür für die naturverbundene deutsche Leserschaft. Dafür stellte er ein zusätzliches Titelblatt »Rathgeber für Zeichner und Mahler, besonders in dem Fache der Landschaftsmahlerey. Nebst einer ausführlichen Anleitung zur Künstlerperspectiv« dem Originaltitel mit Schwerpunkt zur Perspektivkunst voran (Abb. 16) . Diese zwar nicht besonders elegant gelöste, inhaltlich aber gewichtige Umwertung, mit der Meynier aus einem Perspektivbuch ein
Buch zur Landschaftsmalerei machte, kommentierte er in seiner »Vorerinnerung« folgendermaßen: »Da Herrn Valenciennes Abhandlung über die Perspectiv nur den geringsten Theil seines Werkes ausmacht, und der Überrest Materien zum Gegenstand hat, welche wenig oder keinen Bezug auf diese Wissenschaft haben, so hielt ich es für nöthig, diesem Buch noch einen zweyten Titel beyzufügen, der die Leser in den Stand setzte, richtiger zu beurtheilen, was sie in demselben zu suchen berechtiget sind. Der eine Titel deutet also zunächst auf die erste, der andere auf die zweyte und größere Hälfte des Werkes, zu welcher noch ein guter Theil des ersten Bandes zu rechnen ist.«
Transformationen – Vom Perspektiv- zum Landschaftsbuch
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Abb. 35
Johann Georg von Dillis: Das obere Loisachtal, um 1830/1835, Öl auf Papier, 20,3 × 27 cm,
Christoph Heilmann Stiftung | Lenbachhaus München, Inv. Nr. CHS 103
Frankreichreise schrieb er 1807an den Kronprinzen Ludwig, allerdings im Zusammenhang seiner Zeichnungen: »[…] ich lebe iezt im völligen Genuße der Rückerinnerung aller jener seeligen Augenblicke, welche im Schooße der Natur und Kunst – und des allergnädigsten Wohlwollen mir diese Reise zur wichtigsten meines Lebens machten. Jede Freude, jeder schöne Gegenstand schwebt jetzt wieder lebhaft vor Augen, ich fühle mich unaussprechlich glücklich bey der Ausarbeitung der gemachten Entwürfe, […].« Und schließlich teilte Dillis, der sich aus seinen eigenen Erfahrungen heraus zu einem vehementen Verfechter des Landschaften-MalenLernens jenseits der Akademie entwickelt hatte, Valenciennes’ Auffassung, dass Reisen und ein unmittelbares Naturstudium letztlich wichtiger 23
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als die Ausbildung in einem Lehratelier oder an der Akademie seien. Dies steht nur in einem scheinbaren Widerspruch dazu, dass Dillis selbst 1808 die erste Professur für Landschaftsmalerei an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste in München übernommen hatte, denn bereits sechs Jahre später gab er den Posten wieder auf. Von Ludwig I. im Jahr 1826nach seiner Meinung dazu gefragt, ob es denn überhaupt einer speziellen Landschaftsprofessur an der Akademie bedürfe, ging Dillis deutlich über Valenciennes hinaus: »[…] so glaube ich, daß es überflüßig sei, für das Landschaftfach einen eigenen Lehrer anzustellen, sondern daß der junge Künstler, welcher seine Vorbereitungsklassen mit Nutzen studiert hat, am besten thut, sich die Natur zu seinem Lehrer zu erwählen.« 24
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Ein Buch und seine Leser
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Christoffer Wilhelm Eckersberg und seine Schüler
Der italienerfahrene, einflussreiche und gut vernetzte Professor der dänischen Kunstakademie Nicolai Abildgaard besaß sicherlich eines der meist gelesenen Exemplare von Valenciennes’ Lehrbuch. Nach seinem Tod dürfte es eine noch nachhaltigere Rezeption in der akademieeigenen Bibliothek in Kopenhagen erfahren haben. Konsultieren konnten das Buch dort neben den dänischen Landschaftsmalern des sogenannten Goldenden Zeitalters auch junge deutsche Landschaftsmaler, die mehr und mehr nach Kopenhagen pilgerten, um ihr Studium dort zu absolvieren. Dies gilt es etwa für den in Hamburg geborenen Landschaftsmaler Christian Ernst Bernhard Morgenstern (1805–1867) zu bedenken, der 1827/1828seine Studienzeit in Kopenhagen abschloss und früh zu der von Va-
Abb. 36
lenciennes propagierten Praktik naturnaher Ölskizzen fand. Während wir bei Morgenstern eine Lektüre nur vermuten können, so befinden wir uns mit dem Dänen und Schüler Abildgaards, Christoffer Wilhelm Eckersberg (1783–1853), auf weitaus sichererem Terrain. Gerade in Kopenhagen hatte man schon früh durch den Mäzen und Sammler Tønnes Christian Bruun de Neergaard und dessen Buch Sur la situation des beaux-arts en France, ou Lettres d’un Danois à son ami (1801)von Valenciennes’ Landschaftskunst erfahren können. Nachdem Eckersberg ab 1810selbst drei Studienjahre in Paris verbracht hatte – und bereits dort perspektivisch angelegte Fensterausblicke schuf –, ging er für drei weitere Jahre nach Rom und kam damit zur richtigen Zeit in die beiden Städte von Valenciennes’ fruchtbarem Wirken. Vor allem mit Werken von Valenciennes-Schü26
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Christoffer Wilhelm Eckersberg: Blick durch drei Bögen im dritten Stockwerk des Kolosseums, 1815,
Öl auf Leinwand, 32 × 49,5 cm, Kopenhagen, Statens Museum for Kunst, Inv. Nr. KMS3123
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TEIL II: EDITION DER DEUTSCHEN ÜBERSETZUNG VON VALENCIENNES’ RATHGEBER, BESONDERS IM FACHE DER LANDSCHAFTSMAHLEREY (1803), BAND 2
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Welch ein Unterschied zwischen einem Gemählde, das eine Kuh und einige Schafe vorstellt, die in einer Wiese weiden, und dem Leichenbegängniß Phocions; zwischen einer Landschaft an den Ufern der Maas und einer Abbildung der arcadischen Schäfer; zwischen dem Regenwetter eines Ruisdals und der Sündfluth eines Poussins! Die ersten sind mit Gefühl für Colorit und die letzten mit dem Colorit des Gefühls gemahlt. In der ersten Manier fehlt es nie an Mustern; sie liegen immer vor Augen, in welchem Lande man sich auch [8] befinde; und verschiedene ältere und neuere Künstler haben bewiesen, daß man auch bey der Wahl des geringsten und unbedeutendsten Gegenstand, selbst wenn man ihn ganz sclavisch copirt, ein hübsches Gemählde liefern kann, wenn man nur den Pinsel leicht zu führen weiß, und Sinn für Colorit hat. Nach welchen Mustern richtete sich aber Poussin bey der Vorstellung des irdischen Paradieses (Abb. 53) ? Nach welchem Vorbild mahlte er seine Landschaft mit Poliphem? Sein hohes Genie zeigt uns bald Egypten, bald Griechenland, Syrien, Chaldea, das erhabene Rom unter Coriolan, und das gesunkene unter den Päbsten. Er war wechselsweise der Dolmetscher Mosens, Josephs, Homers, Plutarch’s etc. und der Anblick seiner unsterblichen Werke überredet uns, er habe unter diesen großen Männern gelebt, habe ihre Wohnungen gezeichnet, ihr Costum copiirt und ihre häuslichen Scenen nach der Natur gemahlt, um sie der Nachwelt zu überliefern.
Das Idealisch-Schöne
Alle Künstler sind überzeugt, daß in der Natur eine idealische Schönheit existirt, welche die Griechen so gut zu fühlen, und in den Figuren ihrer Götter und Helden darzustellen wußten; der Apoll, die Venus, das Haupt der Medusa, der 128
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olympische Jupiter, der farnesische Hercules, sind davon unverwerfliche Beweise. Die talentvollen Männer, welche diese Figuren gleichsam schufen, hatten mit ihrer Imagination einen so hohen Schwung genommen, daß sie in der Gesellschaft der Götter zu wohnen und fähig zu seyn glaubten, ihr Abbild unter die Menschen zu versetzen, welchen diese Figuren so tiefe Ehrfurcht einflößten, daß sie erstaunt über ein solches Wunder, die Bildsäulen [9] der Gottheiten, welche ihnen die höchste Kunst bloß zur Verehrung vorstellte, am Ende anbeteten. Wir wollen uns hier nicht auf die idealische Schönheit überhaupt einlassen; Winkelmann [Winckelmann 1763] und andere berühmte Schriftsteller haben sie definirt und nach allen ihren Theilen zergliedert; wir wollen nur zu beweisen suchen, daß auch in der historischen Landschaft eine idealische Schönheit existiere, und die großen Meister, welche sie zu fühlen wußten, Werke lieferten, welche bloß den Zahn der Zeit zu fürchten haben, die aber, so lange sie vorhanden sind, von allen Gefühl- und Geschmackvollen Menschen werden bewundert werden. Glücklich ist der Künstler, der sich dem Reitze der Phantasie überläßt, und die Natur so zu sehen glaubt, wie sie seyn sollte! Sein Genuß ist grenzenlos; er hat das Vergnügen mit edelm Stolz eine Natur zu schaffen, die allzuselten in ihrer ganzen Vollkommenheit angetroffen wird; nothwendig muß er manches Neue erfinden, weil seine Einbildungskraft, die immer durch die Schilderungen der Dichter erwärmt und genährt wird, alles bis ins Unendliche vermannichfaltiget, und vervielfältiget. Hat er wüthende Nordstürme geschaffen, die prasselnd aus den tiefen Höhlen hervortoben, in welche der Gott der Winde sie verschlossen hatte, so erholt er sich wieder bey Narcissens Bild, den er an das Ufer einer Quelle setzt, deren ruhiges und klares Wasser das treue Bild des unglücklichen Liebenden Der Rathgeber für Zeichner und Mahler
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Abb. 54
Pierre-Henri de Valenciennes: Historische Landschaft mit Figuren und Skulptur, 1788, Öl auf Leinwand,
28,8 × 41 cm, Los Angeles, The J. Paul Getty Museum, Inv. Nr. S 204
zurückstrahlt, dessen schmachtende und hinwelkende Schönheit den nahen entscheidenden Augenblick verkündiget, in welchem seine Seele ihre verlohrne Ruhe wieder finden soll. Er gehet von dem schwarzen Tartarus hinüber in die elisäischen Gefilde, und von Aetna’s rauchendem Gipfel steigt er hinab in Amphitritens Ebenen, und läßt Venus aus dem Schoose des schäumenden Wassers hervorsteigen, dessen [10] silberne Wogen liebend die Göttin der Schönheit umschmeicheln. Will der Mann von Genie seine Phantasie ruhen lassen, so öffnet er wieder die Augen über die Natur; er betrachtet, er beobochtet sie; er sucht auf allen Seiten nach Mustern, die ihm bey der Vorstellung dessen, was er in seiner Begeisterung erblickte, behülflich seyn können. Ach, aber er findet beynahe nichts! Er sieht die Natur Das Idealisch-Schöne
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so, wie sie wirklich ist; er bewundert sie, ist aber nicht zufrieden. Die Felsen dünken ihn kleinlich, die Berge eingesunken, die Schluchten nicht tief genug. Bald aber bricht sein Genie, das durch die zahllose Menge einzelner Gegenstände gepreßt und gebunden war, seine Fesseln; es reißt sich loß von der Kette einer sclavischen Treue, es vergrößert die Felsen, erhebt den Gipfel der Berge bis in die Wolken, stürzt sich mit reger Phantasie in die Klüfte und vertieft sie zu Abgründen; die Eichen werden laubreicher und majestätischer, es erwächst aus ihnen der Wald der Druiden. Auch die kleinsten Gegenstände veredeln und erwärmen sich; alles bekommt Leben unter seinem magischen Pinsel, sogar die schwachen Rohre in welchen der Wind spielt, die an sich nichts als bloße Producte einer sumpfigen Erde sind, sich aber unter seinen Händen 129
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Abb. 56
Pierre-Henri de Valenciennes: Himmelsstudie am Quirinal, 1782–1784, Öl auf Papier, aufgelegt auf
K arton, 26,8 × 37,3 cm, Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. R.F. 2979
er denn nicht, daß er die Luft bei Aufgang der Sonne, den Hintergrund ein wenig später, den dritten Grund, um die Mittagsstunde, den zweyten um vier Uhr, und den Vorgrund bey Sonnenuntergang entwirft? Sein Himmel ist also silberfarb, sein Hintergrund duftig, der dritte Grund beynahe ganz erleuchtet, ohne alle lange Schatten, der zweyte fängt an vergoldet zu werden, und der Vorgrund wird von der untergehenden Sonne erleuchtet: Die Schatten des Hintergrundes ziehen sich über den Vorgrund; die [31] Schatten des Vorgrundes fallen gegen den Hintergrund; auf dem dritten Grund schlagen sie sich auf die eine, auf dem zweyten auf die andere Seite. – Und man glaube ja nicht, daß unsere Critik übertrieben und zur Ungebühr angebracht sey; wir haben ein Gemählde von Loca140
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telli [Andrea Locatelli, 1695–1741] gesehen, das in Ansehung der Composition und des Colorits ganz allerliebst war; aber es war halb von der einen und halb von der andern Seite erleuchtet. Wie viel sind uns nicht von minder berühmten Künstlern zu Augen gekommen, die alle erst gerügten Fehler enthielten! Ihre Verfertiger nannten sie Studien nach der Natur; aber es waren nichts als naturwidrige Fehler und Unrichtigkeiten: denn alle auf einander folgende Momente des Tages, und ihre stufenweise Effecte in einen einzigen Augenblick vereinigen zu wollen, ist die größte Sünde wider die Wahrheit und der vollständigste Beweis eines gänzlichen Mangels an Ueberlegung. Andere Zeichner [im Original: »Artistes«, Valenciennes 1799,1800,S. 406.], und zwar die gröDer Rathgeber für Zeichner und Mahler
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ßere Zahl, verwenden nicht mehr als zwey Stunden auf den Entwurf ihrer Studien, sie brechen alsdann ab, und kommen die folgenden Tage um eben dieselbe Zeit wieder, um fortzufahren. Gewiß handeln Künstler dieser Art weit vernünftiger, als jene, insofern sie in ihre Arbeit mehr Einheit der Wirkung bringen; wer bürgt ihnen aber, daß sie morgen den nähmlichen Duft, die nähmliche Farbe des Lichts, der Schatten und der Wiederscheine finden werden? Man sagt mit Recht im Sprichwort, daß die Tage sich zwar folgen, aber nicht gleichen; und diese Wahrheit ist so bewährt, daß verschiedene verdienstvolle Künstler, welche wir kennen lernten, eine Menge angefangener Studien liegen hatten, die sie nicht vollenden konnten, weil sie die nähmlichen Effecte in der Natur nicht wieder fanden.
[32] Localton 4
Angehende Mahler, welche mit Nutzen nach der Natur studieren wollen, müssen sich also anders dabey benehmen. Sie müssen anfangs bloß, so gut es ihnen möglich ist, die Haupttöne der Natur in dem gewählten Licht nachahmen; sie beginnen ihre Studien mit der Luft, welche den Ton des Hintergrundes gibt, der wieder den Ton der angrenzenden Gründe bestimmt; auf diese Art gelangen sie allmählig bis auf den Vorgrund, welcher demnach immer in Harmonie mit der Luft steht, von welcher der Localton abhängt (Abb. 56) . Es ist leicht einzusehen, daß man nach dieser Methode sich nicht auf das Detail einlassen kann, denn jede Skizze nach der Natur muß durchaus in Zeit von zwey Stunden spätestens vollendet werden; und ist es eine Beleuchtung mit dem Licht der auf- und untergehenden Sonne, so darf man nicht länger als eine halbe Stunde damit zubringen. Studien nach der Natur · Localton
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Wir wissen wohl, daß eine große Geschicklichkeit und viele Uebung im Mahlen nach der Natur erfordert wird, um etwas Gutes zu Stande zu bringen; wenn man es aber auf [33]solche Art anfängt, so wird man leicht diese so nöthige Fertigkeit erlangen, und es in kurzem dahin bringen, sehr schnell eine Skizze nach der Natur entwerfen zu lernen. Vermuthlich wird man uns einwenden, daß man auf diese Weise nichts sorgfältig vollenden lernt. Der Einwurf ist gewissermassen gegründet; man kann aber das Vollendete in der Natur theilweise bey bewölktem Himmel studieren, wenn die Gegenstände den ganzen Tag des Sonnenlichtes beraubt sind. Alsdann sucht man so gut als möglich alle sichtbare kleine Theile nachzuahmen, und ein solches Studium ist sogar höchst nöthig, weil man dadurch ein Gemählde nicht nur vollenden, sondern es auch durch interessantes Detail zu bereichern lernt. Es ist gewiß viel leichter, die einzelnen Bestandtheile eines Gemähldes auszuführen, als das Ganze nach dem Localton und dem Lichte der Tagesstunde, die man mahlen will, zu fassen. Hat man sich aber durch eine gutgerathene Skizze schon des Localtones des Effects, den man mahlen will, versichert, so kann man nach demselben den Ton der ganzen Landschaft festsetzen, und nachher alles nach besondern Studien vollenden, die alsdann nur in Ansehung der Behandlung und des Ausdrucks der Theile benutzt werden, denn der Ton des Details muß immer etwas von der Localfarbe der Skizze an sich haben, durch welche man das Ganze und die Einheit der Töne erhält, die in der gewählten Tagesstunde die herrschenden sind. [34] Man muß sich recht innig überzeugen, daß von dem Tone der Luft das Ganze des Gemähldes abhängt, und daß, wenn man nicht den wahren Ton derselben trifft, nothwendig auch alles übrige falsch gerathen muß. Wenn also die 5
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