Verschwiegene Kunst
Felice Fey
Verschwiegene Kunst DIE INTERNATIONALE MODERNE IN DER DDR
mit einem Beitrag von Hannes Schwenger
Deutscher Kunstverlag
Inhaltsverzeichnis Vorwort 6 Jochen Staadt Tauben, Falken, Nachtigallen 8 Abkürzungsverzeichnis 11
Picassos Schüler O R I E NT I E RU NG Z WIS C H E N DE N W E LT E N 15
Carlfriedrich Claus und Will Grohmann: Eine Ausbildung in Annaberg-Buchholz 16 Die dritte Dimension 16 · »Der Fall Picasso«: Die Kunst und das Volk 17 · Schule der Wahrnehmung 19 · Selbstbestimmung 21 · Ein entstellter Text 22 · Denklandschaften 23 GETEILTE IDEALE, GETRENNTE WEGE 31
Peter Graf und andere junge Künstler: Anfänge um 1960 32 »Für und wider Picasso« 32 · In Berlin: Ost und West 34 · Restriktionen 35 · Exmatrikulation 37 · Neue Wege 38 · Kulturkonferenz, Kulturrevolution 39 · Kontrolle 41 · »Nach Weißensee erst recht« 42 · 10 Jahre DDR: Ein Gutachten 44 · Fronde? 46 · Die Mauer 47 · Die Ausstellung »Junge Künstler« der Akademie der Künste 48 · Licht und Schatten 49 · Die Erfindung des Untergrunds 50 · Unabhängig in Dresden 51 KUNSTKRITIK IM EISERNEN ZE I TALT E R 61
Real, Surreal 62 Ohne Grenzen 62 · Fluxus: Ohne Ufer 63 · Ohne Dogmen 64 · Realismus mit Ufer 65
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Räume der Kommunikation
Grenzen
N IS C H EN 71
IM GARTEN V ON GERHARD
Unter Gebildeten 72 Ursula Baring: Das alte Dresden 72 · Werner Schmidt, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstichkabinett 76 · Werner Timm, Nationalgalerie Berlin, Kupferstichkabinett 78 · Kunstbuchhandlung Kurt Engewald, Leipzig 81 · Die Erfurter Ateliergemeinschaft: Ein geschlossener Kunstverein 84 · Ein Dozent in Jena: Bernhard Wächter 87 · An der Peripherie: Lehrer und Schüler 88
ALTENBOURG 139
SOZIALISTISCHE MODERNE? 97
Parteiliche West-Arbeit 98 Willi Sitte: Ein Stern geht auf 98 · tendenzen: »Künstler in der DDR« 99 · Die Kunst der DDR 100 · Gegen den Skeptizismus 101 · »Abstraktionismus« 102 · Stagnation 104 · »Kunst im Widerstand« 106 · Fortschritte 108 · Vom modernen Krieg 110 · Im Herbst 1968 111 · Weg und Abweichung 112
Gerhard Altenbourg: In Splendid Isolation 140 Aus frühen Jahren 140 · Zollvergehen 142 · Nichtzugehörigkeitsgefühl 143 · Ariadne 145 SCHW ELLENZEI T 151
In Dresden: Tradition, Moderne, Postmoderne 152 Allegorisch und phantastisch: Willy Wolff und Annemarie Balden-Wolff 152 · Im Geist der Geometrie: Hermann Glöckner 154 · Späte Würdigung 155 · Die Ausstellung »Dialoge« in Dresden, 1970 158 · Verdeckte Gespräche 161 · Humanismus als Erbe 163 REG I ERU NG S W ECHSEL 169
Wagnisse 170 Liberalere Zeiten? 170 · Junge Dichter in Jena 171 · Protest: Gerulf Pannach 172 · Ein Abend in Bad Köstritz 173 · Gerhard Altenbourg im Schloss Hinterglauchau 176
SEI KUNST IM GETRIEBE: UM ROBERT REHFELDT UND RUTH W OL F- REHF ELDT 119
Offene Fenster 120 Topographie der Stadt 120 · Berliner Fenster 122 · Berliner Schule 123 · Experimentelle Graphik 124 · Fluxus East 126 · Internationale Biennale der Grafik, Krakau 127 · Kurt Ströde und Helmut Zielke 129 · Visuelle Poesie 131 · Mail-Art 132
Innen und Außen I M G E H Ä U S E 183
Kurt Waldfried Streubel: Kosmos in Gotha 184 Erinnerungen 184 · Bildsprache 184 · Rückblick: Der Weg in den »Formalismus« 185 · Rückzug 186 · Eine Wohnungsausstellung in Gotha 187 · Aus den Berichten 189
GESTERN UND HEUTE 193
N O V E M B E R 255
1 9 8 8 317
Im Licht der untergehenden Sonne: Berlin grüßt Paris 194 Der Palast der Republik 194 · Kunst der DDR in Paris? 195 · Gespräche über den Untergrund 197 · Die Integration der Verfemten 201
Krise der Kunstnation 256 »Stürzende Ikarusse« 256 · »Schwerter zu Pflugscharen« 258 · »Kunst und Nationalbewusstsein« 259 · »Kampf gegen die Konterrevolution« 260 · Gegen-Öffentlichkeit 261 · Die Ausstellung »Malerei und Grafik der DDR« in Paris 262 · Nachtrag: Gerhard Altenbourg 263
In Erwartung einer Revolution 318 Im Zeichen Rosa Luxemburgs 318 · Freiheit der Andersdenkenden? 318 · Bärbel Bohley in Verbannung 320 · »Beuys vor Beuys« in Ost-Berlin 321 · Toleranz 323 · Ein Stern sinkt: Willi Sitte 324 · Erinnerung und Gedenken: Zum 9. November 1988 326 · Der letzte Kongress des Künstlerverbandes 328 · Bauernkriegspanorama 330
E LF U H R 207
Die Außenseiter und das Zentrum 208 Über Dissidenten 208 · Unabhängige Künstler 210 · Politische Werke 214 · Ein Reiseantrag: Bärbel Bohley 216 · 30 Jahre DDR 217 · »Türen« 220 · Ein kirchlicher Raum 221
Brüche RALF WINKLER ALIAS A. R. PENCK, MI K E H AMME R O D E R Y 227
Die Schokoladenkrise 228 Wege der Kunst 228 · Gegenspieler 229 · Lücken 230 · Eiszeitforscher 231 · Negation 233 · Seitenwechsel 234 V O M W I R ZU M I C H 239
Gerd Sonntag: Im Labyrinth 240 Malende Soldaten 240 · Berichte von und über Bernhard Wächter 241 · Lutz Rathenow über Gerd Sonntag und Lutz Leibner 243 · Sieghard Pohls Protest 244 · In Berlin 245 · Meisterschüler der Akademie der Künste 246 · Ungehorsamer Maler 248 · »Kunst im Widerspruch« 249 · Schweigen 251
Ende der Geschichte Ende und Anfang 334 UNTERGRUND 269
Ideale und Proteste 270 Humanismus: Bärbel Bohley 270 · Von Fall zu Fall 271 · In der Versöhnungskirche 273 · Solidarität mit Solidarność 274 · Erweiterter Kunstbegriff 276 · Frauen für den Frieden 280 · »Frühstück im Freien« 281 · Ein Exempel 283 · Katrin Eigenfeld und Willi Sitte 285 · Alternative Öffentlichkeit 286 · Schloss Caputh 288 · Annemirl Bauer 289 · Metamorphose: Lutz Dammbeck 291 · Streit in Leipzig 292 · Eine »Operative Information« aus Halle: Zu Ludwig Ehrler 293 · Kunst im Untergrund 294 · Mars und Venus 296
In gewissen Grenzen: Fritz Baust (1912–1982), Künstler und Überlebenskünstler in Halle 338 Hannes Schwenger Literaturverzeichnis 344 Abbildungsverzeichnis 353 Namensregister 360 Impressum 368
D I E 8 0 E R J A H R E 303
Im offenen Gegensatz 306 Die Wiederentdeckung der Moderne: »Erster Leipziger Herbstsalon« 306 · »Intermedia I« im Clubhaus Coswig 309 · Die verschwundene Ausstellung: »Götzen, Ismen, Fetische« im Berliner Dom 312
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Vorwort Die sowjetischen und deutschen Gründungsväter der DDR sahen eine ihrer zentralen Aufgaben in der Konstituierung »einer neuen Kultur«, die den Weg zu einer »geistigen Neugeburt« des von der nationalsozialistischen Ideologie verseuchten Geisteslebens bereiten sollte.1 Dieser Aufgabe widmeten sich seit der Gründung der DDR im Jahr 1949 zahlreiche Institutionen des SED-Staates, die mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Steuerung und Einflussnahme versuchten, Kunst und Kultur zum Vollzug der parteilich und staatlich erwünschten »neuen Kultur« zu bewegen. Diese »neue Kultur« verstanden die in der DDR Herrschenden als ihren humanistischen Gegenentwurf zu der als dekadent kritisierten westlichen Moderne. Immer wieder konfrontierten Kulturfunktionäre des SED-Staates Künstler und Schriftsteller mit dem Gebot der Parteilichkeit. Im 15. Jahr der DDR-Existenz verkündete der SEDChef Walter Ulbricht, »einige Kulturschaffende« hätten »die große schöpferische Freiheit, die in unserer Gesellschaftsordnung für die Schriftsteller und Künstler besteht, so verstanden, daß die Organe der Gesellschaft auf jede Leitungstätigkeit verzichten und Freiheit für Nihilismus, Halbanarchismus, Pornographie oder andere Methoden der amerikanischen Lebensweise gewähren«. Es gebe Leute, »die eine freie Marktwirtschaft auf dem Gebiete der Literatur, des Films, der Kunst haben möchten. Sie stellen sich die Sache so vor, daß der Staat, das heißt das Volk, zahlt, und jeder kann mit diesen Mitteln umgehen wie er will.«2 Um dem vorzubeugen, etablierte der SEDStaat in den 40 Jahren seiner Existenz ein vielgestaltiges Überwachungssystem für das geistige und kulturelle Leben in der DDR. Der aus der Sowjetunion übernommene und zur Kunstdoktrin erklärte »Sozialistische Realismus« blieb dabei trotz aller Windungen und Wendungen der staatlichen DDR-Kulturpolitik handlungsleitend. Die Funktionäre der Abteilung Kultur des SED-Zentralkomitees meinten 1985 rückblickend, die »geistige Umerziehung und Erneuerung unseres Volkes« sei auch der Realisierung des »Sozialistischen Realismus« zu verdanken.3
6
Die Idee einer eigenwilligen Kunst passte ebenso wenig in dieses Konzept wie der Wunsch nach kreativer Freiheit. Zahlreiche staatlich geförderte »Kulturschaffende« der DDR passten sich dem politisch Gewünschten an und argwöhnten, die Forderung nach künstlerischer Freiheit sei der westliche »Judaskuß für die Künstler«.4 Für die Selbstdarstellung der DDR auf kulturellem Gebiet und für ihre Deviseneinnahmen fiel den anerkannten Staatskünstlern freilich eine herausragende Bedeutung zu. Ausländische Gäste wurden häufig zu Besuchen in ihre gut ausgestatteten Ateliers geleitet, und im Jahr 1982 berichtete der DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck dem SED-Politbüro, durch »die von der DDR gepflegte Praxis« der gezielten Angebote hätten sich »die Käuferwünsche auf die profiliertesten Künstler« konzentriert. »Fünfzig Prozent des Exports wurden 1981/82 von 5 Künstlern abgedeckt.« Für Willi Sittes Werke wurden 213.000 DM erzielt, Bernhard Heisig war mit 188.000 DM dabei, Volker Stelzmann mit 113.000 DM, Werner Tübke mit 360.000 DM und Wolfgang Mattheuer mit 22.000 DM. Von den Valutaeinnahmen profitierte vor allem der Staatliche Kunsthandel, 30 Prozent der Einnahmen gingen an das Kulturministerium, das davon 50 Prozent an die Künstler auszahlte. Daraus ergebe sich, so Schalck, »schon ein starkes materielles Interesse der Künstler«.5 So wusch eine Hand die andere und Loyalitäten wurden gefestigt. Doch es gab von Anfang an in der DDR moderne Kunst und unabhängige Künstler, die sich nicht den politischen und ästhetischen Grenzsetzungen des SED-Staates unterwarfen, sondern dessen Horizont nach eigenem Gutdünken überschritten. Das war mit hohen persönlichen Risiken verbunden. Vielen, die es wagten, blieb nicht nur der staatliche Kunstbetrieb versperrt, etliche von ihnen gerieten auch in das Blickfeld der DDR-Geheimpolizei und erlitten Zersetzungsangriffe dieses Staatsorgans. Diesen Künstlerinnen und Künstlern, deren Phantasie und Kreativität die staatliche Kulturpolitik der SED keine Grenzen setzen konnte, hat sich Felice Fey in ihrer Studie über die internationale Moderne in der DDR zugewandt.
Den Anstoß zu dieser Untersuchung gab der Maler Roger Servais, dessen eigene DDR-Geschichte in diesem Buch nachzulesen ist. Die Förderung der »Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin« ermöglichte es dem Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität, Felice Fey für ihre Untersuchung als Wissenschaftliche Mitarbeiterin einzustellen. Die Autorin hat mit großem Engagement auch noch nach dem Ende ihres bezahlten Arbeitsverhältnisses an dieser nun vorliegenden Studie gearbeitet. Die Drucklegung dieses Buches unterstützte die »Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur«. Zu den Recherchen der Autorin trugen etliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Archiven und Bibliotheken bei, darunter Roswitha Meister und Gudrun Krauß (BStU) und Tina Krone (Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft). Die vielen beteiligten Zeitzeugen und Bildgeber sind dem Anhang des Buches zu entnehmen. Uta Schulz und Ariane Mohl haben für den Forschungsverbund SED-Staat erste Fassungen des Manuskripts von Felice Fey korrigiert und lektoriert. Nach weiteren Überarbeitungen übernahm Margit Jäkel das Lektorat.
1
Vgl. Karl-Heinz Schulmeister: Auf dem Wege zu einer neuen Kultur.
Der Kulturbund in den Jahren 1945–1949. Berlin 1977, S. 5. Der Autor war bis 1990 1. Bundessekretär des Kulturbundes der DDR, der ursprünglich am 8. August 1945 als »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« gegründet wurde. Sein erster Präsident war Johannes R. Becher, der von 1954 bis 1958 als erster Kulturminister der DDR amtierte. 2
Walter Ulbricht: Zu einigen Fragen der Literatur und Kunst. Aus der
Rede auf dem 11. Plenum. Zitiert aus Neue Deutsche Literatur, Heft 2/66, S. 8. 3
Abteilung Kultur des SED-Zentralkomitees: Information vom 12. Juni
1985 über die 69. Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar. SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/9.06/4. 4
Die Begriffsprägung stammt von Bertolt Brecht. Siehe: Bertolt Brecht:
Die Lösung, Werke Bd. 10, Frankfurt am Main 1967, S. 1009. 5
Schalck, Alexander; KoKo: Stellungnahme vom 5. Januar 1982 zum
Kunstexport. BArch, DL 2/KoKo/1400.
J ochen Staadt, P ro je kt le it e r Freie Un iv ersitä t B e r lin
7
Tauben, Falken, Nachtigallen Die Kritik der Kunst zieht seit jeher Grenzen. In der Deutschen Demokratischen Republik war es die herrschende Partei, die in ihrer Idee der »Einheit von Geist und Macht« die Kunst und den Kunstbetrieb in Anspruch nahm. Das Ausstellungswesen wurde staatlich beaufsichtigt, und die Partei versuchte, das Schaffen im ganzen Land zentral zu steuern. Dabei folgte die Staatspartei einer nationalistischen Idealvorstellung. Von der westlichen Welt sonderte man sich ab. Nicht nur in der Realität, sondern auch im Bereich der Kunst und überhaupt des Denkens hatte man Grenzen gezogen, und man achtete auf deren Einhaltung. Die Künstler im Land waren dazu angehalten, »Künstler der DDR« zu sein, und man erwartete von ihnen unter der Bezeichnung Sozialistischer Realismus einen erkennbaren kollektiven Stil.1 Sie wurden von der Partei ausgewählt und überwacht – zuerst durch die Zulassung zur Hochschulausbildung, dann durch die Ausbildung selbst, dann durch die Verpflichtung zur Mitgliedschaft im Sozialistischen Künstlerverband, einer gesetzlichen Voraussetzung für die freiberufliche Arbeit. Druckgraphik musste genehmigt werden, Ausstellungen mussten beantragt und nach der Hängung von Parteifunktionären abgenommen werden, und auch die öffentliche Kritik der Kunst wurde durch die Partei beauftragt und zensiert. Der Sozialistische Realismus war im Grunde keine Stilrichtung, sondern viel eher ein staatliches Programm. Politisch erwünschte Inhalte waren darin vorgegeben: Das »Menschenbild«, das Bild des Arbeiters und die Darstellung geschichtlicher Themen in bestimmten Deutungen. In der Überzeugung, den Schlüssel zur Deutung der Geschichte zu besitzen, waren die Verantwortlichen der Partei gewillt, auch die Zukunft zu gestalten. Sie teilten die Perspektive der Sowjetunion. Nicht wenige von ihnen hatten die Jahre der nationalsozialistischen Diktatur im Exil verbracht, im Lager oder im Gefängnis. Sie waren wirklich »auferstanden aus Ruinen«, wie der Text der Nationalhymne der DDR es sagte. Als Kommunisten zählten sie sich zu den Siegern. Allerdings gab es Sieger und Sieger. Die Sowjetunion erwartete viel von ihren deutschen Vasallen. Die Partei folgte Idealen der Aufklärung: Eine neuartige, gerechte, rationale und fortschrittliche Gemeinschaftlichkeit 8
sollte sich durchsetzen, gegen den zähen und gefährlichen Widerstand der ehemals Herrschenden. Im Grunde lag darin die Wiederaufnahme einer mythischen Idee, der Jahrhunderte zuvor auch schon die christlichen Reformatoren gefolgt waren: Post tenebras lux. Die Künstler hatten in der neuen sozialistischen Welt einen politischen Auftrag. Sie sollten beitragen zur Erleuchtung der Welt, sie bestätigten und unterstützten die Weltdeutung der Partei. Als Schriftsteller vertraten sie die sozialistische Moral und beschrieben die Geschichte der Kämpfe und der Reformen, als Bildende Künstler schufen sie Vorbilder, um die Begeisterung für den Sozialismus zu verbreiten. Das konnte sehr schlichte Propaganda sein. Es gab Künstler für die heimischen Verhältnisse und es gab Künstler für die Auslandswerbung. Die Letzteren wurden manchmal im Westen als »Friedenstauben« eingesetzt. In dieser Rolle waren sie Botschafter einer Idee von einer besseren, einer wahrhaft menschlichen Welt. Kunst war von diplomatischer Bedeutung. Das galt in besonderem Maße in Berlin, der geteilten Stadt. Die DDR lag an der Peripherie des sowjetischen Reiches, und gerade Berlin als »Hauptstadt der DDR« galt als das »Schaufenster« des gesamten Ostblocks. Darüber hinaus brachten Künstler aus der DDR, die im »anderen« deutschen Staat anerkannt wurden, ihrem sozialistischen Staat nicht nur Ansehen ein, sondern durch Kunstverkäufe in das kapitalistische Ausland auch Devisen. Innerhalb des Staatsgebietes der DDR lebten indessen auch Künstler, die sich selbst und ihre Arbeit parteipolitischem Druck entzogen. Im Gegensatz zu den loyalen »Künstlern der DDR« zogen sie es meist vor, sich selbst als »Künstler in der DDR« zu sehen. Sie verzichteten auf staatliche Anerkennung. In ihre Arbeit nahmen sie Einflüsse auf von jenseits der Grenzen, aus anderen Ländern, auch aus früheren modernen Zeiten. Es war eine alte Geschichte. Die Auflehnung gegen staatliche Vorgaben und Wertungen in der Kunst hatte historische Vorbilder, vor allem in Frankreich. In Paris hatte König Ludwig XIV. im Jahr 1648 die Académie Royale de la Peinture et de Sculpture gegründet. Sie wachte über die Bildenden Künste,
Malerei und Skulptur. Für Jahrhunderte war sie das Modell der nationalen Akademien in ganz Europa, auch in Moskau. In der Malerei vertrat die französische Akademie eine Hierarchie, die je nach den Gegenständen der Bilder den Rang der Maler bestimmte: Historie, Porträt, Genre, Landschaft und Stillleben. Historienbilder waren die teuersten Bilder, und meist groß im Format. Es galt als sehr schwierig, ein gutes Historienbild zu gestalten, ein Thema wie zum Beispiel Christi Himmelfahrt oder eine Szene aus der Schlacht bei den Thermopylen. Die Ansprüche waren hoch. Der Maler musste sehr viel wissen, er musste Vorstellungsvermögen besitzen und zugleich die Kraft des Ausdrucks, um die Betrachter nicht nur zu belehren, sondern auch zu bewegen. Wie viel einfacher schien dagegen die Abbildung von grasenden Kühen zu sein, oder von Äpfeln auf dem Tisch, wie jeder Mensch sie immer wieder vor Augen hatte. Die überlieferte akademische Ordnung löste sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allerdings langsam wieder auf. In den benachbarten Niederlanden galten andere Maßstäbe, und auch in Frankreich gab es bald adlige wie bürgerliche Sammler, die ein sublimes kleines Bild etwa einer Schale von Früchten zu schätzen wussten. Die Erschütterungen in der Politik – die Revolution, das Kaiserreich und die anschließende Restauration – führten später auch in der Kunst zu Zwistigkeiten: Wer waren die besten, die wahren Künstler des Landes? Die heimgekehrten Emigranten oder diejenigen, die während der Jahre des Schreckens im Land geblieben waren? Welche Bedeutung hatte überhaupt die politische Biographie eines Künstlers? Wem gehörte seine Loyalität? Über derartige Fragen wurde gestritten. Es zeigte sich, dass politische Entscheidungen nicht allein entscheidend waren für den Verlauf einer künstlerischen Karriere, sondern dass sie mitunter auch die Ethik eines Künstlers berührten, die Sujets, die Formen und sogar den Stil. Wie unschuldig war die Kunst? Der Dichter Hans Christian Andersen beschrieb die Ambivalenz der Verhältnisse zwischen Natur und Kunst, Freiheit und Macht, Sein und Schein in seinem 1843 erstmals veröffentlichten Märchen »Die Nachtigall«. Der Kaiser von China erfährt darin, es lebe die Nachtigall in seinem Reich, der wunderbare Vogel mit der schönsten Stimme im Wald. Aber dieses seltene Tier ist scheu und lebt im Dunkeln. Nur das Küchenmädchen weiß, wo es wohnt. Nach einiger Suche findet man die Nachtigall im Wald. Man fängt sie ein: »Sie sollte nun bei Hofe bleiben, ihren eigenen Käfig haben, samt der Freiheit, zweimal des Tages und einmal des Nachts
herauszuspazieren. Sie bekam zwölf Diener mit, die ihr alle ein Seidenband um das Bein geschlungen hatten, woran sie festhielten. Es war durchaus kein Vergnügen bei einem solchen Ausflug.«2
Dann erhält der Kaiser von China vom Kaiser von Japan als Geschenk eine prächtige, kostbare, künstliche Nachtigall, die noch zuverlässiger singt. Der echte Vogel entfliegt; der Puppenvogel tritt am Hof an seine Stelle. »Die wirkliche Nachtigall ward aus dem Lande und Reiche verwiesen.« Schließlich versagt die Mechanik der Puppe, der künstliche Vogel kann nicht mehr singen, und der Kaiser wird krank. Noch einmal kommt die lebendige Nachtigall ans Fenster und singt den Kaiser gesund. »Immer mußt du bei mir bleiben!« sagte der Kaiser. »Du sollst nur singen, wenn du selbst willst, und den Kunstvogel schlage ich in tausend Stücke.« »Tue das nicht«, sagte die Nachtigall, »der hat ja das Gute getan, solange er konnte, behalte ihn wie bisher. Ich kann nicht nisten und wohnen im Schlosse, aber laß mich kommen, wenn ich selbst Lust habe, da will ich des Abends dort beim Fenster sitzen und dir vorsingen, damit du froh werden kannst und gedankenvoll zugleich.«3 Die wahre Kunst, verkörpert in der Nachtigall, ist in dieser Erzählung nicht verfügbar: Sie bleibt beinahe unerkannt, ein unscheinbarer und geheimnisvoller Vogel. Hans Christian Andersens Märchen wurde Jahrzehnte später zur Schlüsselerzählung über die Künste und die Künstler im 20. Jahrhundert. Der Stoff wurde mehrfach vertont, zuerst Anfang des 20. Jahrhunderts von Igor Strawinsky: »La Rossignol«. Moderne Künstler suchten die Freiheit, die schlichteren Formen, die reinen Farbtöne, die Wahrhaftigkeit und das einfache Leben, oft auch die Einheit der Künste, der Gesellschaft, der Politik, der Natur und des Lebens. Maler kultivierten die »niedrigen« Gattungen des Stilllebens und der Landschaft, verzichteten auf die Wiedergabe der Realität als Illusion und schufen imaginäre Welten. Bildhauer wandten sich ab von politischer Mythologie. Materialien, Formen und Objekte wurden sichtbar im Raum. In Deutschland kämpfte man erbittert um Kunst und Kultur. Moderne Stilformen setzten sich am Anfang des 20. Jahrhunderts gegen Widerstände durch. In den Jahren der Weimarer Republik wurde Berlin zur europäischen Metropole der Künste. Die Nationalsozialisten führten alsbald einen Bildersturm durch, mit Methoden staatlicher Kontrolle, wie man sie in der stalinistischen Sowjetunion zuerst erprobt hatte. Ihre Vorstellung über die Natur wie über die Kunst war ausschließ9
lich. Eine freie Kunstkritik gab es bald nicht mehr; das wurde per Dekret abgeschafft. Moderne Kunst wurde für »entartet« erklärt, als krank und irre diffamiert, aus den öffentlichen Sammlungen entfernt, ins Ausland verkauft oder verbrannt, die Künstler wurden isoliert, kontrolliert, behindert oder in die Flucht getrieben. Das war die jüngste Vergangenheit vor der Gründung beider deutscher Staaten nach dem Krieg – der Hintergrund der Erinnerung, vor dem die Kämpfe um die Kunst ausgetragen wurden. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die zuvor diffamierte Kunst wieder gezeigt, wurden die Verbindungen zu Zentren der zeitgenössischen Kunst wie Paris und New York gepflegt, wurde abstrakte Kunst gefördert. In der DDR distanzierten sich die Vertreter der herrschenden Partei stets entschieden vom Nationalsozialismus. In ihrer Kulturpolitik setzten sie jedoch unter anderen Prämissen die Abwehr internationaler zeitgenössischer Einflüsse fort. »Sozialistischer Realismus« wurde gefordert, als ein Gegenprogramm zur westlichen Welt. Künstler, die nicht in diesem Sinne für die Partei verwendbar waren, wurden diskreditiert. Sie fanden sich wieder in
oft schwer durchschaubaren Verhältnissen, auf der schattigen, der dunklen, der anderen Seite einer innerhalb des Staates beweglich aufbrechenden Kluft, einer Verwerfung. Nicht wenige von ihnen verließen den Staat, auf die Gefahr hin, dann im Westen als Künstler aus der DDR zu gelten, was nicht selten zum Missverständnis führte. Wo auch immer eigenwillige Künstler im Einflussbereich der SED lebten, bemerkten ihre parteilichen Wächter die Gefahren der Wildnis des Denkens. Unkontrollierbare Ästhetik gab es auch in einem Staat, der das Leben und Handeln nach der Vorstellung des sozialistischen Humanismus wie in einem Uhrwerk regeln und überwachen wollte. Obwohl sie in mitunter in existenziellen Schwierigkeiten lebten, waren Künstler – und Künstlerinnen – doch nicht ohne Einfluss. Sie stellten die Selbstdarstellung der herrschenden Partei in Frage. Einige pflegten Beziehungen zu westlichen Kunstvermittlern und Sammlern und durchbrachen damit die glatte Fassade des Staates. Ihre Geschichte(n) werden im Folgenden fortlaufend erzählt – exemplarisch, chronologisch, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Anmerkungen
2
1
Masculinum genericum. »Künstler« im folgenden Text sind stets
Hans Christian Andersen: Die Nachtigall. In: Märchen von Hans
Christian Andersen, München, Drömersche Verlagsanstalt, 1938, S. 70–82,
Künstler und Künstlerinnen, »Maler« sind Maler und Malerinnen, »Bild-
hier: S. 76.
hauer« sind Bildhauer und Bildhauerinnen, »Arbeiter« sind Arbeiter und
3
Arbeiterinnen u. s. w.
10
Ebd., S. 81.
Abkürzungsverzeichnis ASSO: Assoziation revolutionärer bildender Künstler BDA der DDR: Bund Deutscher Architekten BV: Bezirksverband DKP: Deutsche Kommunistische Partei FDJ: Freie Deutsche Jugend IM: Inoffizieller Mitarbeiter KPD: Kommunistische Partei Deutschlands NVA: Nationale Volksarmee OPK: Operative Personenkontrolle SED: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands VBKD: Verband Bildender Künstler Deutschlands VBK-DDR: Verband Bildender Künstler der DDR (ab 1972) ZK der SED: Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands ZV: Zentralverband Archive und Bibliotheken AdK: Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin BArch: Bundesarchiv, Berlin BayHStA: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München BStU: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes, Berlin GNM DKA: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv PA AA: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin RHG: Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft e. V., Berlin SAPMO: Stiftung Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv SLUB: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden
11
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P i ca s s os S ch ü l e r
Picassos Schüler
ORIENTIERUNG ZWISCHEN DEN WELTEN Carlfriedrich Claus lebte in Annaberg-Buchholz im
oder Text-Bildlandschaften. In manchen Zeichnungen
Erzgebirge, einer aus zwei Gemeinden zusammenge-
wird ein Auge sichtbar: Erinnerung an Visionen von
legten Stadt, nicht sehr weit entfernt von Prag. Anna-
Mystikern vergangener Jahrhunderte. Er las Jakob
berg war Jahrhunderte zuvor reich geworden durch
Böhme und Jean Gebser. In dessen Sinn verstand er die
den Silberbergbau.
Oktoberrevolution ideell, als Mutation des Bewusst-
Die Wohnung von Carlfriedrich Claus lag in der Alt-
seins.
stadt von Annaberg unterhalb des Kinos »Gloria-Film-
Im staatlichen Kunst- und Kulturbetrieb der DDR
palast«. Er lebte bescheiden, umgeben von Büchern.
wurde Anfang der 1950er Jahre der Sozialistische Rea-
Nach dem Tod seiner Mutter ernährte er sich, so wird
lismus etabliert. Carlfriedrich Claus nahm daran nicht
gesagt, zeitweise vom Abschreiben von Notenblättern.
teil. Im liberaleren Jahr 1956 veröffentlichte er einen
Sein künstlerischer Werdegang begann Anfang der
Aufsatz über Picasso, der aber redaktionell sehr ver-
1950er Jahre mit Briefen: an Will Grohmann, den über-
ändert wurde. Der Künstler zog sich in der Folge aus
aus einflussreichen Kunstkritiker der Moderne, und an
dem öffentlichen Leben zurück.
dessen Vertraute Annemarie Zilz. Beide stammten aus
Seine Bild-Sprache war eine Sprache des Körpers,
Dresden, hatten lange Zeit dort gewirkt und waren nach
Sprache der Laute. Seine Arbeit war Aufzeichnung und
dem Krieg nach West-Berlin gezogen. Durch sie erhielt
Abbildung des Unbewussten oder Inneren, frei nach
Carlfriedrich Claus, der keine Kunsthochschule besu-
Paul Klee, dessen Schriften er gut kannte: »Kunst
chen konnte, eine ästhetische Ausbildung auf der Höhe
macht das Unsichtbare sichtbar«.
der Zeit. Will Grohmann und Annemarie Zilz öffneten
Ein moderner Bild-, Sprach- und Lautkünstler in der
ihm alle Türen. Bald hatte er weitere Briefpartner, dar-
tiefsten Provinz des isolierten Staates, im Erzgebirge:
unter Bernard Schultze und Ursula Schultze-Bluhm,
Das war eine entlegene Position. Im Westen durchaus
Raoul Haussmann, später auch Ernst Bloch. Die Briefe
bekannt, wurde Carlfriedrich Claus erst gegen Ende
allein bildeten eine imaginäre Welt.
der 1970er Jahre innerhalb der DDR höher geschätzt:
Er war ein Bild-Dichter. Am Anfang war Poesie –
einer der ganz wenigen unabhängigen Künstler seiner
»Klangbild«, Satzgefüge, in graphischen Formen auf
Generation. In späteren Jahren wurde der Graphiker
das Papier gebracht. Später schrieb er mit der Feder:
Klaus Sobolewski sein Schüler.
Text ohne Worte. Seine »Blätter« sind Notate, unbe-
Carlfriedrich Claus starb 1998. Sein Werk und seine
wusste Schrift, adamitische Ur-Sprache ohne Worte,
Korrespondenz befinden sich heute zum größten Teil in
Niederschrift des Denkprozesses, Spiralen und Wirbel
den Kunstsammlungen Chemnitz.
Carlfriedrich Claus, Porträt: Vier Worte, 1961/62 Seite 12: Pablo Picasso, Taube, 4.12.1942
15
Carlfriedrich Claus und Will Grohmann: Eine Ausbildung in Annaberg-Buchholz
DI E DRI TTE DI M EN S I O N Der 21jährige Carlfriedrich Claus entwarf im Sommer 1951 auf dem Briefpapier des väterlichen Schreibwarenladens in Annaberg-Buchholz einen ersten Brief an Will Grohmann: »Sehr verehrter Herr Dr. G., ich hoffe, daß Sie es mir nicht verübeln, wenn ich Sie jetzt nach einigen Dingen frage, die
Kirchner und Paul Klee, von Heinz Trökes, Otto Hofmann, Hannah Höch, Werner Heldt, Ernst Wilhelm Nay, Alexander Camaro, Mac Zimmermann und anderen. Auch neue Bildhauer wurden vorgestellt: Karl Hartung etwa, Hans Uhlmann, Louise Stomps. 1947 erschien Will Grohmanns Monographie über den Maler Theodor Werner, einen Künstler der Galerie.2 Carlfriedrich Claus stellte dem Experten eine philosophische Frage:
mir noch nicht klar sind …«1 »In Ihrer Theodor Werner-Monographie sagen Sie über das
Der angeschriebene Will Grohmann, damals 63 Jahre alt, war eine bekannte Persönlichkeit: Kunsthistoriker, Kunstphilosoph, einer der ersten Kenner und Vermittler, auch wohl Verkünder der modernen Kunst. Seit einigen Jahren lebte er im Berliner Westen. Seine Heimatstadt war Dresden. Von dort aus hatte er in den Jahren vor 1933 über Kunst und Künstler geschrieben – über die Expressionisten ebenso wie über die formstrengen Vertreter des Bauhaus. Er wusste sehr viel, und er kannte alle. Besonders nahe stand ihm Paul Klee. Sofort nach Kriegsende war Will Grohmann wieder öffentlich präsent, in der ersten Zeit noch in Dresden. Er gründete dort die Staatliche Hochschule für Werkkunst und war 1946 Juror der »Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung«, in der erstmals wieder moderne Kunst gezeigt wurde. Im folgenden Jahr 1947 verließ er die Sowjetische Besatzungszone. Im Jahr 1951 lebte er im Westen Berlins und lehrte Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste in Charlottenburg. Es war die Zeit der Diskussion um die moderne Kunst und deren »Gegenständlichkeit«. Er nahm leidenschaftlich Partei für die Abstrakten, für die volle Freiheit der Gestaltung. Er schrieb für die im Juli 1945 gegründete, am 2. August eröffnete Galerie Gerd Rosen am Kurfürstendamm, die in den ersten Nachkriegsjahren Aufsehen erregte. In diesen Räumen sah man nach dem Ende der Diktatur und des Krieges wieder Malerei – von Pablo Picasso, Georges Braque, Ernst Ludwig 16
Wesen des Kubismus: ›Bildgemäße Gestaltung der dritten Dimension … Einbeziehung der Zeit durch die Andeutung funktionaler Prozesse.‹ Wie kommt diese Gestaltung der dritten Dimension auf der zweidimensionalen Fläche zustande? […] Da ich nicht viele Reproduktionen kubist. Kunstwerke besitze, konnte ich mir noch keine Klarheit darüber verschaffen, wie der Kubismus die 3. Dimension ›bildgemäß‹ gestaltete. Und unterhalten kann man sich hier mit niemandem über derartige Dinge, da es in Annaberg keinen Menschen gibt, der sich für moderne Kunst interessiert.«3
Er fragte nach dem Kubismus und meinte vor allem Pablo Picasso, den in Frankreich lebenden Maler, Graphiker, Bildhauer, der in diesen Jahren so berühmt wie umstritten war. Anstoß erregte vor allem dessen neuere Arbeit. Picasso hatte die klassischen Regeln der malerischen Raumperspektive verlassen, um den Ausdruck seiner Bildfiguren zu steigern. Außerdem war er politisch engagiert. Im Herbst 1944, kurz nach der Befreiung der Stadt Paris von der deutschen Besatzung, war er Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs geworden.4 Seine Überzeugung teilte er mit seinen Freunden Paul Éluard, Louis Aragon und Édouard Pignon, mit Fernand Léger, mit Henri Matisse und mit vielen anderen. Pablo Picasso hatte Ende des Kriegsjahres 1942 das Bild einer »Taube« geschaffen, Ausdruck der Hoffnung auf Frieden. P i ca s s os S ch ü l e r
1948 nahm er am »Weltkongreß des Friedens« in Wrocław teil, und für den Pariser Weltfriedenskongress im folgenden Jahr schuf er als Graphik eine Variation der »Taube«. Bertolt Brecht und Helene Weigel brachten das Bild bald nach Berlin: Jahrzehntelang prangte eine vergrößerte Replik als Emblem auf dem Bühnenvorhang ihres »Berliner Ensembles«. Auf den dritten »Weltfestspielen der Jugend« im Sommer 1951 in Ost-Berlin trugen die Mitglieder der französischen Delegation Halstücher nach einem weiteren Entwurf von Picasso: In der Mitte die Taube, mit dem Ölzweig im Schnabel – das biblische Symbol der Hoffnung, der Unschuld und des neuen Anfangs.
des Nationalsozialismus. Die Bewertung von Kunst war eine politische Frage. Die Biographie eines Künstlers konnte von Bedeutung sein, seine Herkunft aus der Arbeiterklasse, seine Gesinnung. Am wichtigsten aber war, dass die Kunst sich dem Diktat der Partei fügte, und das musste wahrnehmbar sein. In anderen Worten: »Zu den typischen Zügen des bürgerlich-dekadenten Bewußtseins gehört der Individualismus. Dem dekadenten Künstler liegt mehr als alles andere seine sogenannte schöpferische »Unabhängigkeit« am Herzen, die schöpferische »Freiheit«, die er dadurch zu finden sucht, daß er sich von jeder Verbindung mit einem Kollektiv, mit der Gesellschaft, mit dem Volke
» D E R FA L L P I C A S S O « : D I E K U N S T U N D D A S V O L K
löst. Er will nicht begreifen, daß der Künstler in unseren Tagen seine Freiheit nur dadurch gewinnen kann, daß er sein Schaf-
Im sowjetischen Einflussbereich erwartete man von der Kunst und den Künstlern die engste Bindung an das Gemeinwesen. In den ersten Nachkriegsjahren, im Zeichen der Befreiung von Diktatur der Nationalsozialisten, mochten manche eine gewisse Liberalität noch auf Dauer für möglich halten. Im November 1948 erschien in der Zeitung der Sowjetischen Militäradministration Tägliche Rundschau ein klärender Artikel des sowjetischen Kulturoffiziers und Schriftstellers Alexander L. Dymschitz: »Über den Formalismus in der deutschen Malerei«. Er gab den Künstlern in der DDR sehr deutlich die Richtung vor. Im »Lager der Demokratie« verlangte man Parteilichkeit: » […] Denn die in diesem Lager stehenden Menschen wissen von der großen ideell-erzieherischen Rolle der Kunst und
fen organisch dem Dienste an den Interessen des Volkes einordnet.«7
Man empfahl den Künstlern eindringlich, sich zu fragen, »für wen sie arbeiten«. Die korrekte Antwort war: Für das Volk. Das Volk vertrat die Partei.8 Der sowjetische Kulturoffizier widmete sich eingehend dem außergewöhnlichen Künstler Pablo Picasso, Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. Er würdigte dessen politisches Engagement, lobte den »kämpferischen Antifaschisten« und sogar auch dessen frühes Werk, die Gestalten in rosa oder blau. Auch Werke wie die »Friedenstaube« wurden akzeptiert. Ein »Vollender« sei Picasso, die letzte Reife alter Traditionen. Als zukunftsweisender Künstler durfte er allerdings nicht gelten. Dymschitz fand Worte scharfen Tadels:
ihrer Bedeutung für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Sie sind es gewohnt, in der Kunst eine Waffe für ihren
»Als schlagendes Beispiel des formalistisch verstandenen
Kampf zu sehen, und wollen es verhüten, daß diese Waffe
›Neuerertums‹ kann die gesamte experimentierende Linie im
stumpf wird und sich mit dem Roste wesensfremder Einflüsse überzieht oder gar von diesem Roste zerfressen wird. […]«.
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Schaffen Picassos dienen, dieses Abgottes des westeuropäischen Formalismus. […] In dem Bestreben, die Beschränktheit seines Realismus zu überwinden, ist Picasso auf der Suche
Was war »Rost«, und was war »wesensfremd«? Zum Beispiel die moderne Kunst:
nach neuen Wegen jedoch in eine falsche Richtung geraten, auf den angeblich neuen Weg des formalistischen Experiments. So entstanden die widernatürlich schematisierten
»Die formalistische Richtung in der Kunst ist ein typischer
›Porträts‹ Picassos aus den Jahren 1909 bis 1913, so kam es zum
Ausdruck der bürgerlichen Dekadenz, die das künstlerische
Erscheinen seiner letzten neuen Werke, in denen mit der
Schaffen entarten zu lassen droht.«6
menschlichen Gestalt so wüst umgegangen wird, als stammten alle diese Figuren mit den zerhackten Gesichtern und den
Was unter »Formalismus« oder gar »Entartung« genau zu verstehen sei, das blieb unscharf. Den schaurigen Begriff der »Entartung« hatte man übernommen aus dem Propaganda-Arsenal
Schielaugen, mit den gebrochenen Armen und den verrenkten Beinen aus der Folterkammer eines mittelalterlichen Inquisitors. So gelangte Picasso, durch falsch verstandenes Neuerer-
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tum auf den Weg des Formalismus gelockt, in seiner Malerei zu einem augenscheinlichen Antihumanismus, zur Darstellung des Menschen als einer ›geometrischen Kreatur‹, zur Ignorierung des Wichtigsten und Bestimmenden im Menschen: seines geistigen Gehaltes. So geriet Picasso, der Künstler, in einen scharfen Gegensatz zu Picasso, dem Kämpfer für den Frieden.«9
So war Anfang des Jahres 1948 die parteiliche Deutung des Künstlers Pablo Picasso. Diese Worte sollten »seinen unkritischen Nachahmern als ernste Warnung dienen.«10 Die wesentlichen Leitsätze der späteren Kunstkritik und Kunstpolitik in der DDR sind in diesen kurzen Zeilen im Wesentlichen schon genannt. Am wichtigsten war das »Menschenbild«: Inhalt und Aufgabe der sozialistischen Kunst. Wer ein Künstler sein wollte, musste Akt zeichnen können. Maßgeblich war außerdem die Ablehnung des »Experiments«. Im Grunde waren die erwünschten Bilder bereits präfiguriert – die Darstellung des vollkommenen Menschen nach dem Vorbild der klassischen Antike, anzuwenden jedoch auf eine ideale Welt der Arbeiter. Dymschitz bezeichnete die Kunst als »ihrem Wesen nach eine Verkörperung des Lebens«.11 Das Leben aber, das war die menschliche Figur – immer wieder neu zu bilden, immer wieder nachgeahmt, immer anders, dennoch zeitlos, wie in der Natur. Aber der Mensch, von Natur aus ein soziales Wesen, sollte auch nicht nur um seiner selbst willen gefeiert werden. Stets ging es um die Politik. Der Autor Alexander L. Dymschitz sah vielleicht in den Bildern nicht nur Werkzeuge, sondern geradezu eine eigene Wirklichkeit, eine Macht, Leben zu erzeugen und die Wirklichkeit zu prägen – so als könne sich der »Neue Mensch« der Zukunft dem gemalten oder gemeißelten Vorbild annähern; als müssten allein aus diesem Grunde die Bilder nur Verheißungsein, Entwurf einer besseren Welt, nur Schönes und Gutes zeigen. War die sozialistische Realität auch unvollkommen und äußerst widersprüchlich, war die Zukunft des großen Experiments auch ungewiss, so schienen doch wenigstens die Bilder beherrschbar zu sein. Ein archaischer Glaube an den Zauber der heiliger Bilder wirkte vielleicht noch immer nach. Maßgeblich war jedenfalls das »Primat des Inhalts«.12 Man glaubte zudem an eine deutlich erkennbare nationale wie auch volkstümliche Qualität der Kunst. Die Arbeit deutscher Künstler seit Albrecht Dürer galt als eine »von ideeller Leidenschaft erfüllte Malerei.« Deutsche, die eine solche Leidenschaft nicht teilten, standen damit in dieser Auffassung auch gegen ihr Va18
terland und ihr eigenes Volk – und schon deswegen konnten sie nicht als genuin gelten, nicht als echte Künstler ihres Landes: »Die heutigen deutschen Formalisten haben sich von den nationalen Traditionen der deutschen Malerei abgewandt und sind zu Epigonen des französischen Modernismus geworden.«13 Der Artikel von Alexander L. Dymschitz war im Ganzen eine noch allgemein gehaltene Wegweisung an die Künstler in der DDR. Ende 1948 war die Zeit, in der sich zunächst die wirtschaftliche Teilung Deutschlands vollzog. Die politische Teilung war absehbar. Die künstlerische Teilung wurde etwas später konsequent durchgesetzt. Im Jahr 1951 ging es schon nicht mehr um allgemeine Prinzipien, sondern sehr konkret um die Durchsetzung einer parteikonformen Kunst innerhalb der DDR. »Wege und Irrwege der modernen Kunst« hieß der programmatische Artikel am 20./21. Februar wieder in der Täglichen Rundschau, diesmal verfasst vom Politischen Berater des Vorsitzenden der Sowjetischen Kontrollkommission Wladimir S. Semjonow, unter dem Pseudonym N. Orlow.14 Auch er erwähnte Picassos »formalistische Verrenkungen«; aber das Werk dieses westlichen Künstlers stand nicht mehr im Mittelpunkt der Kritik. Jetzt ging es um die Künstler innerhalb der DDR: Bekannte und angesehene Maler wie Horst Strempel, Arno Mohr, Wilhelm Lachnit und Herbert Behrens-Hangeler wurden offen angegriffen, und ihr Ansehen und ihre Positionen schützten sie nicht. Eine Pressekampagne gegen die moderne Kunst innerhalb des Landes lief ab. Das Wort führte Wilhelm Girnus, der damalige Chefredakteur der Zeitung Neues Deutschland.15 Im März veröffentlichte das ZK der SED dann den Beschluss »Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur«.16 So war es amtlich: Seither galt der Sozialistische Realismus, eine seit Anfang der 1930er Jahre in der Sowjetunion erprobte Formel für Parteilichkeit, Volkstümlichkeit und Optimismus als verbindliche Richtlinie, deren Umsetzung im Hochschulunterricht und in aller Praxis überwacht wurde.17 Picasso galt als »volksfern«, ein Argument, das in dieser Zeit nicht nur innerhalb des sowjetischen Machtbereichs, sondern durchaus auch in Künstlerkreisen der Kommunistischen Partei Frankreichs gegen ihn vorgebracht wurde.18 Sein Werk wirkte dennoch. Nicht allein seine »Friedenstaube« im Berliner Ensemble war in der DDR bekannt. Ausstellungen gab es im noch zugänglichen Westen, und es gab auch Literatur.19 Der Reiz des parteilicherseits Unerwünschten machte diesen Künstler erst recht interessant. P i ca s s os S ch ü l e r
SCHULE DER WAHRNEHMUNG In Annaberg-Buchholz fragte Carlfriedrich Claus Will Grohmann im Sommer 1951 auch nach einem anderen zeitgenössischen Maler spanischer Herkunft: »Von Miró sagten Sie, daß bei ihm die Kunst ›zur Möglichkeit wird, Verdrängungen aufzuzeichnen und abzureagieren, auf Nichtmenschliches, auf Erfundenes, und damit zur Heilung und Selbstheilung.‹ Leider kenne ich von Miró kein einziges Bild, aber ist es nicht so, daß eine psychoanalytische Abreagierung nur Bedeutung für die einzelne Individualität hat, so daß Mirós Kunst nur für Miró selbst Bedeutung hätte? Oder wollen Sie mit diesem Satz über Miró zum Ausdruck bringen, daß er in tiefere, umfassendere Bewußtseinsschichten hinabreicht, und Gültigkeit hat für das Allgemein-Menschliche, für
ohne Worte. Es brachte ihn in freundschaftliche Verbindung mit dem wesentlich älteren, konstruktivistisch arbeitenden Rudolf Weber, der nach jahrzehntelanger Einschüchterung ganz zurückgezogen in Annaberg-Buchholz lebte.25 Picasso war der moderne Künstler. Weit entfernt von den Universitäten begann für Carlfriedrich Claus unter den Fittichen von Will Grohmann und Annemarie Zilz eine hohe Schule: Kunst und Philosophie der Moderne. Er las im Jahr 1952 Wassily Kandinsky – »Über das Geistige in der Kunst« –, Paul Éluard und Tennessee Williams und die Zeitschrift Neue Literarische Welt aus Darmstadt, außerdem Martin Heidegger und Ernst Jünger. Rudolf Steiners »Philosophie der Freiheit« begeisterte ihn.26 Selbstverständlich las er auch die Bücher Will Grohmanns. Er sandte ihm reflektierend eine kurze Betrachtung mit dem Titel »Bildende Kunst im 20. Jahrhundert«, in der es heißt:
die gesamte Menschheit?«20 »Die Kunst stellt heute den Künstler wie den Betrachter vor
Er schloss seinen ersten Briefentwurf mit einer Erklärung in Klammern: »Ich möchte hier kurz einschalten, daß ich 1944 überhaupt das erste Mal in meinem Leben mit moderner Kunst bekannt wurde, denn ich erblickte im Jahre 1930 das Licht der Welt, und während des nationalsozialist. Regimes wurde ja diese Kunst verfolgt.«21 Der Brief wurde ins Reine geschrieben und abgeschickt. Will Grohmann ließ Annemarie Zilz antworten, seine Mitarbeiterin und Vertraute.22 Sie nahm sich des jungen Mannes an: »Aber ich würde Ihnen sehr raten, im September nach Bln zu kommen, anläßlich der Festwochen gibt es hier sehr gute Ausstellungen, z. B. Max Beckmann im Charlottenburger Schloß, Henry Moore im »Haus am Waldsee«, B. Heiliger in
eine innere Entscheidung: Entweder vorwärts, in noch unerschlossene Gebiete, überwachsene Wege führen dorthin, die plötzlich im Unbetretenen enden – oder rückwärts in gesichertes Fassadenschaffen.«27
Was genau als »rückwärts« gelten konnte, das hatte Grohmann seinerseits 1952 öffentlich erklärt – das war der Sozialistische Realismus: »Die Kunst kann so wenig in die Vergangenheit zurück wie die Wissenschaft, sie kann nicht mit den Mitteln Dürers oder irgendeines Realismus gestalten, was sich diesen Mitteln entzieht.«28 Sein Schüler bildete sich auch in der Betrachtung. In der Galerie Schüler im Berliner Westen sah er ein Gemälde von Fritz Winter. Er beschrieb es hymnisch:
der Galerie Bremer, vom 21. an Fritz Winter in der Galerie Schüler […]«23
»[…] Und wundervoll die Modifikation der Linien durch die Farbe: im dunklen Grau ein schwarzer kompakter Rhythmus,
Carlfriedrich Claus war beglückt. Nach seiner Heimkehr dankte er der Gastgeberin Annemarie Zilz »[…] wie lieb war es von Ihnen, mir die Kunstschätze Prof. G. zu zeigen! Das war wirklich großartig! Diese wundervollen Klees; kristallklaren, aber doch lebensdurchpulsten Kandinskys! Und dann Miró, Picasso, Feininger, Braque, Werner […].«24 Zu Pablo Picassos 70. Geburtstag Ende Oktober 1951 zeigte er im Schaufenster des Schreibwarenladens und Kunstbuchhandels der Eltern in Annaberg-Buchholz Reproduktionen von Werken des verehrten Künstlers – ein Erkennungszeichen
der manchmal sogar vom linearen ins formale übergehen will – im Weiß und im helleren Grau aber geht eine geradezu zauberhafte Metamorphose vor sich: die Linien bewegen sich hier leicht und anmutig auf der Fläche und stellen eine sehr feine Beziehung her zu den schwebenden weißen Formen der Bildmitte.«29
Nach der Lektüre von Will Grohmanns 1953 erschienenem Werk »Bildende Kunst und Architektur« bezeichnete er moderne Malerei als »Chiffrenschrift«.30 Das Auseinanderfallen
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der einst geschlossenen Bildperspektive in schwebende Zeichen, die Auflösung der Realität in ihrer Selbstverständlichkeit und Dichte, wie es auch Schriftsteller wie Robert Musil und Fernando Pessoa früh wahrgenommen und beschrieben hatten, war in der bildenden Kunst en vogue, ganz im Sinne der gegenwärtigen Strömung des Informel.31 Annemarie Zilz übersandte Carlfriedrich Claus Gedichte von Hans Arp: »Wortträume und schwarze Sterne«. Er fand Inspiration zu ersten eigenen Gedichten: »Klang-Gebilde«.32 Vom 6. Dezember 1954 datiert der erste Brief von Will Grohmann selbst: »Lieber Herr Claus, ich finde Ihre Gedichte sehr schön […]«.33 Er beschäftigte sich mit der grammatikalischen Struktur verschiedener Sprachen – der Semang-Pygmäen auf Malakka zum Beispiel – und gewann durch die Unterschiede in der Benennung der Welt »Einblicke in völlig andere Denk- und Erlebnisverhältnisse. In – für uns – verschüttete Bewusstseinstiefen.«34 Mit Leidenschaft las er Jean Gebser, »Ursprung und Gegenwart«, eine Betrachtung der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins, hin zu einer neuen Bewusstseinsstufe, der künftigen Wahrnehmung einer »aperspektivischen Welt.«35 1955 erhielt er das neue Buch von Will Grohmann: »Paul Klee«.36 Er fand sich zwischen Gehör und Gesicht, zwischen Wahrnehmung, Dichtung und »Liniengebilden«.37 So ließ er sich anregen: »Die Bemerkung Prof. G’s, daß Klee die Übung, die Ausbildung der linken Hand für sehr wichtig hielt, hat mich angeregt, die linke Hand zum Schreiben zu üben. Und ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Sensibilität der linken Hand als ›Antenne‹ bzw. als ›Seismograph‹ höher ist als die der rechten. Das Klee-Werk Prof. Grohmanns ist wirklich in jeder Beziehung großartig […]«38
Seine heimlichen Lehrer schickten ihm Neuerscheinungen in der Lyrik – Paul Celan, Dylan Thomas. Im Sommer 1955 besuchte er zum ersten Mal Annemarie Zilz’ in Dresden lebende Schwester Renate Glück mit ihrem Mann Achim. Renate Glück interessierte sich als Graphologin für den jungen Dichter. Carlfriedrich Claus nahm die Stadt Dresden mit offenen Augen wahr: »Am Freitagvormittag zeigte mir Frau Glück die Ruinen um die Frauenkirche. Eine ganz eigenartige, entrückende Atmosphäre hat diese Trümmerwelt. Man wird umsponnen von der Stille, 20
der Lärm des Tages kommt wie aus großer Ferne, nur das Schweigen ist nah. Lautlos taumeln große Schmetterlinge vorüber. – Dann trafen wir uns in der Verkaufsausstellung des Verbands bildender Künstler mit Herrn Glück – alle ausgestellten Arbeiten lagen eigentlich weit unter dem Durchschnitt. Nur ein Stilleben von Nehmer war interessant. Durch bewußte Überbetonung der realist. Elemente hat er das Bild fast unmittelbar an die Grenze zum Surrealistischen gebracht. Das war gut gemacht. – Anschließend war ich mit Frau Glück im Zoo, und da lernte ich ihren Lieblingsaffen kennen. Ein tolles, ein magisches Tier. Wie eine Inkarnation mancher Arbeiten Picassos. – Zum Schluß waren wir im großen Garten und bewunderten die schönen alten Bäume und die Blumen.«39
Nach einigen Jahren des Selbststudiums stand Carlfriedrich Claus an einer Schwelle. Er war wie abgeschnitten von der Welt. Hans Arp ermutigte ihn mit einem Brief aus Meudon.40 Fritz Winter schickte ihm aus Dießen am Ammersee sogar ein Gemälde.41 Er las Proust und Celan, er schrieb und empfing Briefe. Dennoch war er bedrückt. Prominent und großzügig waren seine Korrespondenzpartner, reich war seine Lektüre, er selbst aber befand sich in der Rolle des Reflektierenden, des Bewundernden, des Beschenkten. Noch immer arbeitete er in Annaberg-Buchholz, im Schreibwarenladen der Eltern.42 Konnte er nicht selbst heraustreten aus der Enge des Alltags? Er verschickte seine Gedichte. Will Grohmann, Annemarie Zilz und Renate Glück machten Literaturexperten auf ihn aufmerksam. Kurt Leonhard las kritisch, Walter Mehring dachte beim Lesen an den Lyriker August Stramm. Hans Schwab-Felisch und Walter Höllerer äußerten sich zwar respektvoll, aber begeistert waren sie nicht.43 Die »Klang-Gebilde« wurden nicht veröffentlicht. In welchem Sinne war er ein Dichter? Seiner Freundin Annemarie Zilz bekannte er: »Vorbilder auf sprachlichem Gebiet habe ich nicht. ›Es‹ führt mich eben in Bereiche, die ziemlich entlegen sind – und durchsichtig und metallen, in denen der Mensch nicht Zentrum ist. Wenn ich Gestalten nennen darf, die mir durch ihre Werke hohes Vorbild sind, dann möchte ich nennen: Grohmann, Klee, Arp, Winter, Gebser […]«44
Er schrieb weiterhin Gedichte. Andererseits fehlte es ihm an Muße: »Mein Ziel ist, mich ganz der künstlerischen Arbeit widmen zu können. Es ist tatsächlich so, dass man durch das Geschäft in ziemlich schwere Konflikte kommt.«45 P i ca s s os S ch ü l e r