Die Multiple Moderne / The Multiple Modernity

Page 1


2 innsbrucker beiträge zur baugeschichte band 2

Die Multiple Moderne The Multiple Modernity Hg. von Klaus Tragbar


Innsbrucker Beiträge zur Baugeschichte Band 2


Die Multiple Moderne The Multiple Modernity Hg. von Klaus Tragbar


Das Buch erscheint in der Schriftenreihe des Archivs für Bau.Kunst.Geschichte, Bd. 11

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Innsbruck.

impressum herausgeber : Klaus Tragbar konzeption :

botschaft prof. gertrud nolte visuelle kommunikation und beratung, würzburg info@botschaftnolte.de

umschlagabbildung : Berlin-Reinickendorf, Weiße Stadt, Brückenwohnhaus, Otto Rudolf Salvisberg, 1929–1931, Foto Adam Sevens, Potsdam

satz und umbruch : Rüdiger Kern, Berlin

druck und bindung : Elbe Druckerei Wittenberg GmbH

schriften :

Garamond Premier Pro, Justus Pro

papier :

MaxiSatin 135 g/qm

Verlag : Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München Lützowstraße 33 10785 Berlin www.deutscherkunstverlag.de Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin Boston www.degruyter.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München

isbn 978-3-422-98609-1


Inhalt


Inhalt

übersicht

+ 11

I.

Für eine Multiple Moderne Klaus Tragbar

6

29

II.

Giedion and Greece. Tracing Concepts of Modernity in the Vernacular Stamatina Kousidi

45

III.

Das Bauhaus und die Anderen. Öffentlichkeitsarbeit an künstlerischen Ausbildungsinstitutionen der Weimarer Republik und ihre Folgen Alexandra Panzert

67

IV.

Italien und das Bauhaus – eine schwierige Beziehung. Die Rezeption in den Architekturzeitschriften Architettura e Arti decorative, Domus und Casabella Elmar Kossel

101

V.

Selbstgewissheit, Macht und Medien. Die ambivalente Erfolgsgeschichte der westlichen Architekturmoderne Hans-Georg Lippert

125

VI.

Kontinuität statt Bruch – die Tiroler Moderne zwischen Tradition und Avantgarde Lydia Constanze Krenz


145

VII.

Paul Schmitthenner und Walter Gropius – Holzfachwerk contra Eisenbeton. Bau und Gegenbau in Stuttgart 1927–1930 Wolfgang Voigt

161

VIII. Neues Bauen im Rheinland Sven Kuhrau

185

IX.

St. Engelbert in Köln Riehl. Liturgische Reform und historische Verortung als Grundlage des Sakralbaus der Moderne Daniel Buggert

203

X.

Neues Bauen oder moderate Moderne? Johannes Göderitz als Architekt Olaf Gisbertz

219

XI.

›Swedish Grace‹: A Mere Interlude or a facet of Modernity? Early Housing Experiments in Stockholm Chiara Monterumisi

239

XII.

The Meaning of History in Danish Modern Architecture Martin Søberg

251

XIII. Bauhaus and the New Worldview. Housing Problems and Social Involvement of Polish Architects Piotr Marciniak

7


265 8

XIV. Nationalsozialistischer Städtebau und Stadtplanungen im Protektorat Böhmen und Mähren (1938–1945). Zur Unbrauchbarkeit des Begriffs einer Klassischen Moderne Richard Němec

289

XV.

Renovating Modernity: The ›Architect-Organizer‹ and the Politics of Humanism in Interwar France Michael Faciejew

307

XVI. From Iconic Building to Iconic Construction? Another Modernity of the Villa Savoye Veronique Boone

327

XVII. Keine ›Andere Moderne‹. Otto Rudolf Salvisberg und das Neue Bauen Thomas Steigenberger


353

XVIII. Jerusalemer Moderne? Internationale Architektur im Palästina der britischen Mandatszeit Ulrich Knufinke

371

XIX.

Postmodern White Boxes. The New York Five Ole W. Fischer

389

XX.

Japan und die ›westliche‹ Moderne 1900−1939. Eine Verflechtungsgeschichte Kai Kappel

+ 409

XXI.

Anhang Autorenbiographien

+

9



I. Für eine Multiple Moderne Klaus Tragbar


I. Für eine Multiple Moderne Klaus Tragbar

12

1 Dazu kann an dieser Stelle nur eine knappe Skizze vorgelegt werden; eine umfassende forschungsgeschichtliche Darstellung muss zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. 2 Vgl. Behrendt 1927. 3 Vgl. Lichtenstein 1985. 4 Vgl. Aicher/Drepper 1990.

Wenn in der architekturgeschichtlichen Diskussion für das Baugeschehen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Begriffe wie ›Tradition‹ und ›Moderne‹ verwendet werden, so sind damit zumeist antipodische Vorstellungen verbunden, die oft noch durch eine moralische Ebene verstärkt werden: Die konservative, fortschrittskritische bis fortschrittsfeindliche Tradition wird als reaktionär und negativ rezipiert, die avantgardistische, fortschrittsfreundliche und innovative Moderne hingegen als revolutionär und positiv. Indes sind diese Auffassungen stark durch einen ebenso unbedingten wie unkritischen – und zum Teil bis heute wirksamen – Fortschrittsglauben und eine Architekturgeschichtsschreibung geprägt, in der die traditionelle Architektur in scharfem Gegensatz zur modernen gesehen wird. Erst seit den 1980er Jahren beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass Tradition und Moderne nicht als plakatives Gegensatzpaar gesehen werden können,1 und dass der vielzitierte Sieg des neuen Baustils2 einer Fiktion deutlich näher ist als der Realität der späten 1920er Jahre. Mit den Forschungen an einem differenzierteren Bild der Moderne waren immer auch begriffliche Überlegungen verbunden. 1985 prägten im Kontext der Retrospektive von Otto Rudolf Salvisberg die Autoren des Katalogs den Begriff der ›Anderen Moderne‹ und stellten damit dessen Œuvre auf eine neue begriffliche Basis.3 Der Begriff etablierte sich rasch als feste architektur- und kunstgeschichtliche Kategorie, der nun zuvor als traditionell oder konservativ charakterisierte Architekten wie Hans Döllgast, Rudolf Schwarz oder Heinrich Tessenow zugeordnet werden konnten. In der Rudolf Vorhoelzer 1990 gewidmeten Retrospektive Die Klassische Moderne der Post wurde freilich die Problematik von Antipoden wie ›Moderne‹ und ›Andere Moderne‹ deutlich: Vorhoelzer hatte für seine in der Großstadt München befindlichen Bauten eine moderne, an der Avantgarde orientierte Formensprache verwendet, seine ländlichen Postbauten hingegen in die lokalen dörflichen Strukturen und die Topographie eingefügt. Nichtsdestotrotz wurden durch die Ausstellung sämtliche Entwürfe als Klassische Moderne etikettiert – und damit die Chance auf eine differenzierte Betrachtung vertan.4 K l aus T r agba r


Viel diskutiert wurden auch die beiden von Vittorio Magnago Lampugnani und Romana Schneider herausgegebenen Ausstellungskataloge Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950,5 deren erster sich 1992 mit Reform und Tradition den Nebenlinien der Architekturgeschichte widmete, während sich der zweite 1994 mit Expressionismus und Neue Sachlichkeit mit den Hauptströmungen befasste und die Gültigkeit und historische Wirklichkeit der beiden Begriffe in den Fokus nahm – die sich prompt als komplexer als bisher angenommen erwiesen. 1998 ergänzten Romana Schneider und Wilfried Wang einen dritten Band zu Macht und Monument.6 Alle drei Kataloge haben deutlich zu einer Erweiterung des Blickes und zu einer differenzierteren Betrachtung der Architektur des 20. Jahrhunderts beigetragen. Ebenfalls 1994 erschien die Übersicht von John Zukowsky über Die Vielfalt der Moderne, die sich der »gemäßigt modernen Architektur« in Deutschland im Zeitraum 1919 bis 1939 widmete und dafür auch auf zeitgenössische Architekturzeitschriften und Monographien zurückgriff.7

13

2007 provozierte die Tagungsreihe Neue Tradition an der TU Dresden mit dem Begriff der ›Antimodernen Moderne‹. Freilich löst sich dieser Begriff nicht von tradierten Stilkategorien »statt einen (ideen-) geschichtlichen Zusammenhang von Modernisierung und Traditionalisierung in der Architektur zu fokussieren.«8 Im gleichen Jahr schlugen Katja Bernhardt und Christian Welzbacher vor, angesichts der konzeptionell und gestalterisch unterschiedlichen Ausprägungen der Moderne von ›Modernismen‹ zu sprechen, in Analogie zu den Historismen des 19. Jahrhunderts.9 Auch in anderen europäischen Ländern fand der Begriff der ›Anderen Moderne‹ Verwendung: In Italien schrieben Alessandro Gioli und Maurizio Bolelli 1998 in ihrem Band über Nachkriegsarchitektur und Stadtplanung in Florenz von einer altra modernità.10 Gabriele Tagliaventi dehnte diesen Begriff auf das gesamte 20. Jahrhundert aus und skizzierte in L’altra modernità 1900–2000 einen großen Bogen der klassischen und traditionellen Architektur, der freilich kaum über eine Beispielsammlung hinauskam und mehr der Legitimation des New Urbanism dienen sollte.11 Im gleichen Jahr klagte Guido Montanari in seiner Monographie über den IngenieurArchitekten Giuseppe Momo, dass die gängige Architekturhistoriographie häufig die die auf Tradition und Erfahrung basierenden Arbeiten gegenüber den vermeintlich modernen vernachlässige.12 2007 befasste sich der XXVI Congresso di storia dell’architettura in Rom Für eine Multiple Moderne

5 Vgl. Lampugnani/Schneider 1992; Lampugnani/Schneider 1994. 6 Vgl. Schneider/Wang 1998. 7 Zukowsky 1994, 9. 8 Necker 2007, 1f. 9 Vgl. Bernhardt/Welzbacher 2007. Mit ›Modernisme‹ wird freilich bereits die durch das Bürgertum getragene Reformbewegung in Katalonien etwa zwischen 1880 und 1920 bezeichnet. 10 Vgl. Gioli/Bolelli 1998. 11 Vgl. Tagliaventi 2000. 12 Vgl. Montanari 2000, 7.


14

ebenfalls mit dem Thema der altra modernità. Indes bleibt das Gros der Beiträge in einer Beschreibung der behandelten Bauten verhaftet, die dahinterstehenden Konzepte werden kaum befragt.13 Der L’altra modernità nella cultura architettonica del XX secolo widmete sich 2011 Maria Luisa Neri mit einer Gegenüberstellung der internationalen Debatten und der lokalen Realität;14 2012 folgte Laura Marcucci, die sich näher mit den italienischen Bauten und Projekten zumeist der Zwischenkriegszeit befasste.15 In Österreich hat Antje Senarclens de Grancy in Graz mit der ›bodenständigen‹ Moderne einen Begriff vorgeschlagen, der die lokale Komponente betont, und mit ihren Forschungen zur Architekturreform in Graz viel zu einer differenzierten Betrachtung der Moderne beigetragen.16 Dessen ungeachtet scheint sich der Begriff einer ›Anderen Moderne‹ inzwischen weithin durchgesetzt zu haben. Begrifflich ist er dennoch problematisch, weil er lediglich eine Moderne einer anderen Moderne gegenüberstellt. Die antipodische Vorstellung einer Gegenposition gegenüber den avantgardistischen Strömungen entspricht einer inhaltlichen Vorfestlegung, die im Widerspruch zu der Vielfalt der Moderne steht – auch der Vielfalt im Werk eines einzelnen Architekten, wie das Beispiel Vorhoelzer zeigt. Auch anderen Begriffsprägungen wie ›Konservative‹ oder ›Traditionelle Moderne‹ oder auch ›Neue Tradition‹ liegen tradierte Kategorisierungen zugrunde, die die Narrative einer auf die Klassische Moderne fixierten Architekturhistoriographie fortschreiben und sich kaum zu einer differenzierten Betrachtung der Moderne der Zwischenkriegszeit eignen.

13 Vgl. Docci/Turco 2010. 14 Vgl. Neri 2011. 15 Vgl. Marcucci 2012. 16 Vgl. Senarclens de Grancy 2001; Senarclens de Grancy 2007. 17 Vgl. Eisenstadt 2000. 18 Vgl. Jaspers 1949.

Mit diesem Tagungsband soll daher das Konzept einer ›Multiplen Moderne‹ vorgeschlagen werden, das den Blick auf die Moderne erweitern und den historischen Zusammenhang von Modernisierung und Traditionalisierung in der Architektur in den Mittelpunkt stellen soll. Das Konzept geht auf den israelischen Soziologen Shmuel N. Eisenstadt (1923–2010) und dessen Arbeiten über die Entwicklung moderner Gesellschaften zurück.17 In seiner Kernthese geht Eisenstadt von einer divergierenden Vielzahl von Modernen aus, den Multiple Modernities, und nicht von einer einzigen, auf Konvergenz ausgerichteten Moderne und deren Variationen. In Anlehnung an Karl Jaspers und dessen Begriff der Achsenzeit18 postulierte er eine zweite Achsenzeit, die mit der Bildung moderner Staaten und der Industrialisierung begonnen habe und die er als die erste europäische Moderne bezeichnete. In der Auseinandersetzung mit dieser Moderne hätten sich dann, je nach den historischen und zivilisatoriK l aus T r agba r


schen Konstellationen, die Multiplen Modernen mit ihren kulturellen Besonderheiten herausgebildet. Eisenstadt geht also von einer individuellen Entwicklung der Modernen aus, die entscheidend von deren jeweiliger kultureller Vorgeschichte geprägt wird, und wendet »sich explizit gegen die konvergenztheoretischen Annahmen der klassischen Modernisierungstheorien […] Die multiplen Modernen stellen sich vielmehr als das […] Ergebnis eines mit historischen und zivilisatorischen Traditionen beladenen, gleichwohl aber offenen und konflikthaft verlaufenden Prozesses sozialen Wandels dar«.19 Mit dem Konzept einer Multiplen Moderne kann die Forschung von der architektur- und kunsthistorischen Stildiskussion und auch von Kategorien wie ›Andere‹, ›Traditionelle‹ oder ›Konservative Moderne‹, aber auch ›Klassische Moderne‹ oder ›Internationaler Stil‹ gelöst werden. Der Blick wird frei für die individuellen Qualitäten der einzelnen Architekturen und die Bedingungen ihrer Entstehung sowie für eine interdisziplinäre Diskussion des Verhältnisses von Moderne und Tradition im Kontext historischer, ideengeschichtlicher sowie architektur- und kunstgeschichtlicher Rahmenbedingungen.

15

Von diesen Überlegungen zu einer differenzierteren Betrachtung der Moderne ausgehend, stellt der vorliegende Band die Beiträge des Internationalen Studientags Die Multiple Moderne / The Multiple Modernity zur Diskussion, den der Herausgeber am Forschungsinstitut Archiv für Baukunst – seit Januar 2021 Archiv für Bau.Kunst. Geschichte – der Universität Innsbruck am 31. Jänner und 1. Februar 2019 veranstaltet hat. Die ersten vier Beiträge befassen sich mit dem Selbstverständnis der Moderne und ihrer Rezeption. Stamatina Kousidi geht dem großen Interesse nach, das Sigfried Giedion und andere Teilnehmer während des CIAM IV an der vernakularen Architektur der Ägäis gezeigt hatten. Giedions Fotografien von diesem Aufenthalt, seine Publikationen und seine privaten Aufzeichnungen belegen die Auseinandersetzung Giedions und anderer CIAM-Teilnehmer mit der vernakularen Architektur Griechenlands. Alexandra Panzert vergleicht die Öffentlichkeitsarbeit des Bauhauses mit der anderer reformorientierter Kunst- und Designschulen in der Weimarer Republik und untersucht deren Einfluss auf die Rezeption der Schulen. Die Autorin argumentiert, dass es nicht die innovative Lehre, Struktur oder Produkte waren, die das Bauhaus zu einer Ikone Für eine Multiple Moderne

19 Bohmann/Niedenzu 2013, 328.


der Moderne werden ließen, sondern seine innovative Öffentlichkeitsarbeit.

16

Wie der Blick von Elmar Kossel in die Architekturzeitschriften Italiens zeigt, wurde das Bauhaus dort erst ab 1930 wahrgenommen. Seine Rezeption galt primär der Entwicklung einer dezidiert italienischen Moderne, die auch seitens des faschistischen Regimes nachdrücklich gefordert wurde. Eine weitere wichtige Rolle in dieser Diskussion spielte die Publikation von Alberto Sartoris Gli elementi dell’architettura funzionale (1931), der damit ein Jahr vor der Ausstellung im MoMA The International Style ein umfassendes Kompendium der Moderne vorlegte. Hans-Georg Lippert legt dar, dass die Klassische Moderne von Anfang an nicht nur Architektur, sondern auch ihre eigene Geschichte entwarf, die zunächst freilich mehr eine Behauptung war als eine Beschreibung der Realität. Erst in der Nachkriegszeit wurde daraus ein wahrhaft Internationaler Stil im Sinne eines vom Westen initiierten, zivilisatorischen Projekts. Der Erfolg dieses Projekts verdankte sich einer selektiven Form der Architekturhistoriographie und dem entsprechenden Netzwerk von Akteuren – beides schuf den Mythos der Moderne, der nicht zuletzt mit der vorliegenden Publikation hinterfragt werden soll. Mit dem Beitrag von Lydia Constanze Krenz beginnt der den Fallstudien gewidmete zweite Abschnitt des vorliegenden Bandes. In Tirol entstand in der Zwischenkriegszeit eine eigene Form der Moderne, die zum einen Anschluss an die internationale Moderne suchte, zum anderen aus der reichen regionalen Bautradition schöpfte. Neue Bauaufgaben wie Seilbahnen und Hotels für den aufkommenden Tourismus führten in Tirol in Kombination mit vernakularen Elementen zu einer spezifischen ›Tiroler Moderne‹. Der Weißenhofsiedlung stellt Wolfgang Voigt die wenige Jahre später von Paul Schmitthenner entworfene, ebenfalls in Stuttgarter befindliche Siedlung Im Hallschlag gegenüber. Er fragt nach deren beider Modernität, zu der für ihn nicht nur die Gestaltung, sondern auch Konstruktion und Bauweise zählen, und kommt einer differenzierten Betrachtung, in der auch das für diese Zeit gerne verwendete Bild von Bau und Gegenbau aufgehoben erscheint. Sven Kuhrau stellt die Ergebnisse des Projektes »100 jahre bauhaus im westen« des Amtes für Denkmalpflege im Rheinland vor. Das K l aus T r agba r


Projekt geht der Frage nach, ob es eine genuine Bauhaus-Architektur im Rheinland gibt; Weimar und Dessau waren weit entfernt, und nicht nur in der Zeit der relativen Isolation des Rheinlandes in den Besatzungsjahren zu Beginn der Weimarer Republik lagen die Niederlande und Frankreich für Architekturinteressierte wesentlich näher. Daniel Buggerts weist anhand schriftlicher Quellen aus dem Pfarrarchiv nach, dass die schlichte Raumfassung und die reduzierte Ausstattung von St. Engelbert in Köln-Riehl nicht allein auf den Architekten Dominikus Böhm zurückgehen, sondern das Ergebnis eines komplexen Prozesses sind, an dem der Klerus und die Raumerfahrung der durch Geldmangel lange unvollendeten Kirche einen erheblichen Anteil hatten. Auf die weitgehend unbekannte Mitarbeit von Johannes Göderitz bei Bruno Taut in Magdeburg macht Olaf Gisbertz aufmerksam. Im Gegensatz zu Taut verfolgte Göderitz eine eher gemäßigte Moderne, wie sich an der 1927 innerhalb weniger Monate errichteten Stadthalle auf der Elbinsel zeigt. Der Entwurf zog zwar Kritik aus der Avantgarde auf sich, zeigte aber, wie heterogen die Moderne in der Zwischenkriegszeit war. Chiara Monterumisi setzt sich mit dem modernen Wohnungsbau in Stockholm nach dem Ersten Weltkrieg auseinander, der zeitgenössisch mit den Begriffen National Romanticism und Swedish Grace beschrieben wurde. Nach sorgfältigen Analysen der außerhalb Schwedens weitgehend unbekannten Bauten beschreibt die Autorin auch deren Wiederentdeckung durch die 1982 durchgeführte Ausstellung Nordic Classicism. Eine ähnliche Fragestellung verfolgt Martin Søberg mit seinen Überlegungen zur Bedeutung von Geschichte in der modernen Architektur Dänemarks. Tradition und Moderne wurden nicht als Gegensätze aufgefasst, sondern ein pragmatischer Ausgleich gesucht zwischen den Idealen der internationalen Moderne und dem Respekt vor regionalen Kontexten – eine Haltung, die der dänische Architekt Kay Fisker später als ›funktionale Tradition‹ bezeichnete. Piotr Marciniak rekonstruiert das weit gespannte europäische Netzwerk der polnischen Architekten nach dem Ersten Weltkrieg und wie dieses Netzwerk, zusammen mit den polnischen AvantgardezeitFür eine Multiple Moderne

17


schriften, zur Herausbildung einer spezifischen polnischen Moderne beigetragen hat, bei der vor allem das Wohnungsproblem und die soziale Verantwortung der Architekten im Vordergrund standen. Mit der nationalsozialistischen Stadtplanung im Protektorat Böhmen und Mähren schlägt Richard Němec ein schwieriges und lange vernachlässigtes Kapitel der europäischen Architekturgeschichte auf. Auf der Grundlage zahlreicher neu publizierter Quellen skizziert er die Strategien der nationalsozialistischen Planer und ordnet sie in einen größeren europäischen Rahmen ein. 18 Michael Faciejew stellt mit Michel Roux-Spitz einen Architekten vor, der sich in der politisch wechselhaften Phase der späten Dritten Republik in Frankreich für eine ›neue Ordnung‹ auf humanistischer Basis einsetzte. Roux-Spitz verstand sich als in der konstruktiven Tradition eines Henri Labrouste, Auguste Choisy oder Julien Guadet stehend und vertrat einen ›modernen Klassizismus‹, der sich weniger als historistischer Bezug sondern als Skepsis gegenüber technologischen Zukunftsversprechen verstand. Mit den Amateurfilmen, die Ernest Weissmann, Mitarbeiter bei Le Corbusier, während der Bauzeit in der Villa Savoye gedreht hat, beschäftigt sich Veronique Boone. Die Filme erweitern die bekannte fotografische Dokumentation von Sigfried Giedion, für den die Architektur im Vordergrund stand. Weissmann hingegen zeigt die Ausführung von Baudetails und offenbart die Konstruktion der Villa, von der nur wenige exakte originale Pläne zur Verfügung stehen. Thomas Steigenberger wirft einen neuen Blick auf das Œuvre von Otto Rudolf Salvisberg, dessen Wiederentdeckung in der Mitte der 1970er Jahre begann. 1985 eröffnete in Zürich die von Claude Lichtenstein kuratierte Salvisberg-Retrospektive, deren Autoren für Salvisberg den Begriff der ›Anderen Moderne‹ prägten. Für den Autor kommt dies einer Vorfestlegung gleich, die der unvoreingenommenen Analyse nicht nur von Salvisbergs Œuvre im Weg steht. Ulrich Knufinke untersucht den Transfer der Architekturmoderne in einen anderen politischen, kulturellen und geographischen Kontext. Wie kaum eine andere Stadt war Jerusalem zwischen 1919 und 1948 ein Schmelztiegel vielfältiger internationaler ›Modernen‹ – und doch von seiner vieltausendjährigen Geschichte geprägt. Hier entwickelte sich eine ortsspezifische, ›moderne‹ Formensprache, K l aus T r agba r


die aus verschiedenen Quellen schöpfte und deren Geschichte nur multiperspektivisch erzählt werden kann. Die Postmoderne ist nicht nur als Polemik gegenüber der modernen Architektur zu verstehen, sondern greift, wie Ole W. Fischer zeigt, auch manche ihrer Praktiken wieder auf: Die New York Five orientierten ihre Entwürfe an der Moderne, obwohl diese Wiederholungen als Historismus ablehnte. Die New York Five hingegen wiesen darauf hin, dass die Moderne nicht wie ein historischer Stil ›erschöpft‹ sei und man daraus sehr wohl eine zeitgenössische Position entwickeln könnte. Kai Kappel befasst sich mit den vielschichtigen Austauschprozessen zwischen japanischen und europäischen beziehungsweise amerikanischen Architekten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sein Blick auf deren Begegnungen und die Rezeption von Zeitschriften, Büchern und Manifesten wirft ein neues Licht auf diesen kulturellen Austausch. Die westlichen Architekten entdeckten die zeitlosen Qualitäten traditioneller japanischer Architektur; die japanischen Architekten warfen die Frage auf, was innerhalb der Moderne als ›japanisch‹ betrachtet werden könnte. Das Hauptanliegen des vorliegenden Bandes ist es, mit dem Konzept einer Multiplen Moderne zu einer differenzierteren Deutung der Architektur der Moderne beizutragen, die die Divergenz der Entwicklungen stärker berücksichtigt. Die Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Moderne keineswegs auf ihre internationale Variante reduziert werden kann, auch wenn 2019, im Jahr des Bauhausjubiläums, durchaus dieser Eindruck entstehen konnte. Mit dem Konzept der Multiplen Moderne soll eine breiter gefächerte Betrachtung ermöglicht werden, die den Bedingungen und Entwicklungen der einzelnen Strömungen Rechnung trägt und zu deren vertieften Verständnis beiträgt.

Towards a Multiple Modernity When terms such as ›tradition‹ and ›modernity‹ are used in the discussion of architectural history for the building activity of the first half of the 20th century, they are usually associated with antipodean ideas that are often reinforced by a moral level: The conservative, progress-critical to progress-hostile tradition is received as reactionary and negative, while the avant-garde, progress-friendly Für eine Multiple Moderne

19


and innovative modernity is received as revolutionary and positive. However, these views are strongly influenced by a belief in progress that is as unconditional as it is uncritical – and in part still effective today – and by a historiography of architecture in which traditional architecture is regarded in sharp contrast to modern architecture. Only since the 1980s has it begun to be recognised that tradition and modernity cannot be seen as a striking pair of opposites,20 and that the much-cited Sieg des neuen Baustils21 is much closer to a fiction than to the reality of the late 1920s. 20

20 Only a brief sketch can be presented here; a comprehensive account of the history of research must be given at a later date. 21 Cf. Behrendt 1927. 22 Cf. Lichtenstein 1985. 23 Cf. Aicher/Drepper 1990. 24 Cf. Lampugnani/Schneider 1992; Lampugnani/Schneider 1994. 25 Cf. Schneider/Wang 1998.

Research into a more differentiated image of modernism has always been linked to conceptual considerations. In 1985, in the context of the retrospective of Otto Rudolf Salvisberg, the authors of the catalogue coined the term ›Other Modernism [Andere Moderne]‹ and thus placed his œuvre on a new conceptual basis.22 The term quickly established itself as a fixed architectural and art historical category to which architects previously characterised as traditional or conservative, such as Hans Döllgast, Rudolf Schwarz or Heinrich Tessenow, could now be assigned. In the 1990 retrospective dedicated to Rudolf Vorhoelzer Die Klassische Moderne der Post the problem of antipodes such as ›Modernism‹ and ›Other Modernism‹ became clear: Vorhoelzer had used a modern, avant-garde-oriented formal language for his buildings located in the city of Munich, whereas his rural post office buildings were integrated into the local village structures and topography. Nonetheless, the exhibition labelled all buildings as Classical Modernism – and thus missed the opportunity for a differentiated view.23 The two exhibition catalogues Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 195024 edited by Vittorio Magnago Lampugnani and Romana Schneider were much discussed as well, the first of which in 1992, Reform und Tradition, was devoted to the side issues of architectural history, while the second in 1994, Expressionism und Neue Sachlichkeit, dealt with the main currents and focused on the validity and historical reality of the two concepts – which promptly proved to be more complex than previously assumed. In 1998, Romana Schneider and Wilfried Wang added a third volume on Macht und Monument.25 All three catalogues clearly contributed to a broadening of the view and to a more differentiated consideration of 20th century architecture. Also published in 1994 was John Zukowsky’s overview of Die Vielfalt der Moderne, which was devoted to the »moderately modern architecture« in Germany in the period from 1919 to 1939 and also K l aus T r agba r


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.