Kurt W. Streubel

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Mit seiner konsequent abstrakten Arbeitsweise zählte Kurt W. Streubel (1921–2002) eher zu den Ausnahmen innerhalb der Kunstproduktion in der DDR. Stets der europäischen Moderne verpflichtet, schuf er neben Gemälden und Grafiken auch Werke konkreter Poesie, betätigte sich auf dem Feld der Musik und arbeitete als Gestalter. Ein besonderes Charakteristikum seines Œuvres ist, dass es plurale Tendenzen der Abstraktion in friedlicher Koexistenz umfasst: abstrahierende Landschaft ebenso wie radikale Gegenstandslosigkeit, „formloses“ Informel ebenso wie geometrische Abstraktion.

KURT W. STREUBEL

Andrea Karle / Verena Krieger (Hg.)

KURT W. SPIEL ARTEN DES ABSTR AK TEN IN DER DDR


Kurt W. Streubel


Diese Publikation entstand in Kooperation zwischen dem Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Friedrich-SchillerUniversität Jena im Rahmen des Forschungsverbundes „Diktaturerfahrung und Transformation” und der KulTourStadt Gotha GmbH. Gefördert von:

K ul T OUR S TADT G OT H A G M B H


Andrea Karle / Verena Krieger (Hg.)



INHALT

Kurt W. Streubel – Retrospektive zum 100. Geburtstag des Künstlers Grußwort des Oberbürgermeisters der Stadt Gotha

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Kurt W. Streubel – Spielarten des Abstrakten in der DDR Andrea Karle, Verena Krieger

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„Entdeckungsreise ins Unbekannte” Andrea Karle

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Kurt W. Streubels Kunst als ästhetische Forschung Michaela Mai

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Freiheit zur Entfaltung und Bewahrung Anne-Kathrin Hinz

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Katalogteil

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Vita Kurt W. Streubel

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Verzeichnis der ausgestellten Werke

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Autorinnen

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Abbildungsnachweis

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KURT W. STREUBEL – RETROSPEKTIVE ZUM 100. GEBURTSTAG DES KÜNSTLERS Grußwort des Oberbürgermeisters der Stadt Gotha

Endlich, ja endlich gedenkt die Residenzstadt Gotha dem Künstler Kurt W. Streubel mit einer großen Retrospektive seines Schaffens! Die von der KulTourStadt Gotha GmbH anlässlich seines 100. Geburtstages im Jahre 2021 veranstaltete Ausstellung im KunstForum Gotha soll das Œuvre des Kunstschaffenden präsentieren und seine Rolle in der deutschen Kunstgeschichte beleuchten. Kurt W. Streubel kam 1945 nach Gotha und wurde mit Großflächengestaltungen im Stadtbild beauftragt. Am Boxberg schuf er 1949 die Pinselzeichnung Kosmische Komposition, mit der er in Thüringen die Formalismus-Diskussion auslöste. Ein Jahr später nahm er kurz entschlossen eines seiner Bilder, lief damit zum Rathaus, vorbei an der Sekretärin, direkt in das Büro des Bürgermeisters. Dem Stadtoberhaupt hielt er das Bild unter die Nase und fragte: „Können Sie sich vorstellen, damit Geld zu verdienen?“ Nein, das konnte sich der Bürgermeister selbst beim besten Willen nicht denken. Aber der Besuch im Rathaus hatte Nachwirkungen, denn Kurt W. Streubel bekam aus dem Gothaer Stadtsäckel von 1951 bis 1952 zweihundert Mark monatlich gezahlt. Zu dieser Zeit war er, sowohl als Staatsbürger wie auch als Künstler, politisch leider in Ungnade gefallen. Für die Verabschiedung von Bürgermeister Salzmann 1955 hat er das abgebildete Gemälde des Rathauses gefertigt. Kurt W. Streubel wollte eigentlich engagiert an dem neu entstehenden Deutschland mitarbeiten. Er war eines der ersten SED-Mitglieder in Thüringen, an der Gründung des Kulturbundes beteiligt, wirkte an der ersten Parteikulturkonferenz mit. Aber schon Anfang der 1950er Jahre endete seine Parteimitgliedschaft, er wurde als bürgerlich dekadent und als Formalist verunglimpft. Erst 1979 wurde er in den Verband bildender Künstler aufgenommen. 1981 erfolgte eine Ausstellung seiner Werke im Gothaer Schlossmuseum. Streubel, der fast vier Jahrzehnte am Hauptmarkt 14 wohnte, war nicht mundtot zu machen. Je mehr er in die Ecke gedrängt wurde, umso umfänglicher wurde sein Werk. Doch auch nach 1989 blieben seine Bilder, Grafiken und Gedichte für den Kunstbetrieb scheinbar uninteressant. Trotzdem oder gerade deswegen hat Kurt W. Streubel als Künstler der Moderne durchaus europäische Bedeutung und die Würdigung der Stadt Gotha verdient.

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Zwei Persönlichkeiten: Siegfried Geißler, Komponist, Dirigent und Alterspräsident des Thüringer Landtages, und H. Johannes Wallmann, ebenfalls Komponist und Autor des Buches Integrale Moderne – Vision und Philosophie der Zukunft, regten die Würdigung des Malers, Grafikers und Schriftstellers anlässlich seines 90. Geburtstages an. Im Jahre 2012 beschloss der Stadtrat der Stadt Gotha die Aufnahme seines Namens in die Liste zur Benennung öffentlicher Straßen und Plätze und seither weist auch eine Gedenktafel an seinem langjährigen Wohnhaus auf den Maler, Grafiker und Schriftsteller hin. Ich freue mich, dass es zum 100. Geburtstag Kurt W. Streubels gelungen ist, diese Retrospektive zu gestalten. Ein ganz besonderer Dank gilt hierbei der Kulturstiftung Thüringen, die mit ihrer umfangreichen Förderung die Umsetzung dieser Ausstellung von hohem künstlerischem Rang erst möglich gemacht hat und damit ganz ihrem Ansinnen entsprechend zur Bewahrung der Kunst und Kultur in Thüringen beiträgt. Zudem gilt ein weiterer herzlicher Dank der KulTourStadt Gotha GmbH, der Kuratorin der Ausstellung, Andrea Karle, dem Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie allen Partnern und Förderern für ihr Engagement zu dieser Ausstellung. Damit wird die Stadt Gotha dem Werk und dem Wirken dieses besonderen Künstlers gerecht und ich bin überzeugt, dass sich Streubels Position im kulturellen Gedächtnis unserer Stadt mit dieser Schau verändern wird. Knut Kreuch

Kurt W. Streubel Rathaus Gotha, anlässlich der Verabschiedung des Oberbürgermeisters Werner Salzmann, 1955, Öl auf Leinwand, 47,5 cm x 65 cm, Privatbesitz.

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Andrea Karle, Verena Krieger

KURT W. STREUBEL – SPIELARTEN DES ABSTRAKTEN IN DER DDR

Dieser Band rückt einen Künstler in den Fokus, der nur wenigen Kennerinnen und Kennern des Kunstraums Thüringen ein Begriff ist und den es nun in der Vielfalt seines Schaffens zu entdecken gilt: Kurt W. Streubel (1921–2002). Er schuf neben Gemälden und Grafiken auch Werke konkreter Poesie, betätigte sich auf dem Feld der Musik und arbeitete als Gestalter. Stets der europäischen Moderne verpflichtet, zählte Streubel in seiner konsequent abstrakten Arbeitsweise eher zu den Ausnahmen innerhalb der Kunstproduktion in der DDR. Ein besonderes Charakteristikum seines Œuvres ist dabei, dass es plurale Tendenzen der Abstraktion in friedlicher Koexistenz umfasst: abstrahierende Landschaft ebenso wie radikale Gegenstandslosigkeit, ‚formloses‘ Informel ebenso wie geometrische Abstraktion. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Thüringen gelangt, beginnt Streubel ein Kunststudium an der Staatlichen Hochschule für Baukunst und bildende Kunst in Weimar, der Nachfolgeinstitution des Bauhauses. Inspiriert durch seinen Lehrer Hanns Hoffmann-Lederer, einen ehemaligen Bauhaus-Studenten, ist er davon überzeugt, nun an die von den Nationalsozialisten verfemte abstrakte Kunst anknüpfen zu können. Doch rasch muss Streubel feststellen, dass dies im Ostteil Deutschlands nicht gewollt ist. Im Zuge der Erhebung des Sozialistischen Realismus zur offiziellen Doktrin Anfang der 1950er Jahre wird er wie viele andere Künstlerinnen und Künstler als sogenannter Formalist gebrandmarkt und nicht in den neu gegründeten, staatlich gelenkten Verband der Bildenden Künstler (VBK) der DDR aufgenommen, wodurch ihm jede Arbeitsgrundlage entzogen ist. Viele verlassen deshalb das Land. Die wenigen, die bleiben, ziehen sich zurück. So auch Kurt Streubel: Fortan verdient er seinen Lebensunterhalt mit Gebrauchsgrafik und setzt sein künstlerisches Schaffen weitgehend außerhalb des öffentlichen kulturellen Sektors fort. Zeitlebens bleibt er so den künstlerischen Idealen des frühen Weimarer Bauhauses treu – um den Preis einer isolierten Künstlerexistenz ohne öffentliche Aufträge und Anerkennung.

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Auch als Streubel nach langen Jahren der Ausgrenzung 1979 endlich in den Verband der Bildenden Künstler der DDR aufgenommen wird, erfährt er keine echte Wiedergutmachung: Der Katalog zu seiner ersten Einzelausstellung im Schlossmuseum Gotha im Jahr 1981 wird schon bald nach seinem Erscheinen konfisziert. Auch nach der Wende dauert es noch lange, bis Streubel erste Würdigung erfährt. Nachdem Ausstellungsvorhaben in den 1990er Jahren scheitern, gelingt es erstmals im Jahr 2002, seine Werke in einer Einzelausstellung zu präsentieren.1 An der Vorbereitung der Retrospektive in Altenburg und Sonneberg, die ihm späte Anerkennung verschafft, kann der Künstler noch mitarbeiten.

Kurt W. Streubel Selbstbildnis, 1951, Gouache auf Leinwand, 48 x 38 cm (Kat.-Nr. 16).

Nach dem Ende der DDR wurde die Kunst aus dem Osten Deutschlands lange Zeit pauschal als angepasste Staatskunst beurteilt und entsprechend abwertend behandelt. Erst nach dem Höhepunkt des „deutsch-deutschen Bilderstreits“ im Jahr 19992 setzte eine differenzierte historische und kunsthistorische Aufarbeitung der in der DDR entstandenen Kunst in ihrer Breite und ihren spezifischen Rahmenbedingungen ein. Ausstellungen wie Abschied von Ikarus 2012/13 im Neuen Museum Weimar3 und Utopie und Untergang 2019 im Kunstpalast Düsseldorf4 nahmen die Kunst aus der DDR neu in den Blick und präsentierten auch abstrakte und nonkonforme Positionen. 5 Kurt W. Streubel, über dessen Kunst zu DDR-Zeiten nur wenig geschrieben wurde6, fand jedoch auch nach der Wende nur zögerliche Wahrnehmung durch die Kunstwissenschaft. 1996 wurde er im Sammelband Kunstdokumentation der SBZ/DDR als „Solitär“ innerhalb des Kunstraums Thüringen erwähnt.7 Seither zählt sein Name zum festen Inventar in Darstellungen der modernen Kunstgeschichte in Thüringen. 8 Doch vertiefte kunsthistorische Forschungen zu Streubel und seinem künstlerischen Umfeld blieben selten. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist die Monografie von Michael Löffelholz zu

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Streubels zeitweiligem Weggefährten Hans Winkler (1919–2000), die dessen Werke entlang seiner biografischen Stationen untersucht. 9 Hier liefert die Betrachtung der frühen Nachkriegsjahre wichtige Hinweise zur Erforschung Streubels und seines Umfelds, wie der Künstlergruppe in Gotha und der Gewerkschaft 17 in Weimar. Mit der Ausstellung Entdeckungsreise ins Unbekannte im KunstForum Gotha werden nun erstmals die unterschiedlichen Spielarten des Abstrakten aus allen Schaffensphasen und Wirkungsfeldern Kurt W. Streubels in ihrer ganzen Breite und Vielfalt gezeigt: Von frühen Bleistift- und Pinselzeichnungen aus seiner Studienzeit an der Bauhaus-Nachfolgeinstitution in Weimar über Design-Entwürfe bis hin zu Druckgrafiken aus seinem Spätwerk reichen die ausgestellten Werke, die in diesem Katalog abgebildet sind. Das Œuvre des Künstlers erfährt in den Beiträgen der Autorinnen erstmals eine grundlegende kunsthistorische Einordnung. Andrea Karle, die Kuratorin der Ausstellung, gibt einen Überblick über die Biografie Kurt Streubels und einzelne Aspekte des künstlerischen Schaffens. Besondere Aufmerksamkeit legt sie dabei auf die Studienjahre bei Hanns HoffmannLederer in Weimar, der eine „Scharnierfunktion“ für Streubel hatte. Der ehemalige Bauhaus-Schüler übernahm Grundelemente der berühmten Vorlehre in seinem Unterricht und bereitete damit den Weg in eine neue Zeit – die mit dem Formalismusstreit 1950 jedoch jäh enden sollte. Kurt W. Streubels Pinselzeichnung Kosmische Komposition (1950), gegen die sich der Formalismus-Vorwurf vor allem richtete, ist Ausgangspunkt des Beitrags von Michaela Mai, die ausführlich den mannigfaltigen Bezügen zu Werken von Paul Klee und Wassily Kandinsky nachgeht und aufzeigt, wie Streubel ausgehend von den Impulsen der Bauhausmeister seine eigene Bildsprache entwickelte. AnneKathrin Hinz stellt den experimentellen Charakter von Streubels künstlerischer Arbeit heraus. Abstraktion war für Streubel Sinnbild für die Freiheit und damit seine „Gegenstimme zum offiziellen Kunstbetrieb“. Am Beispiel einiger Grafiken, darunter ExlibrisEntwürfe der 1960er Jahre zeigt Hinz die Nähe zu zeitgenössischen Strömungen wie dem Informel auf. In der Gesamtschau erweist sich Kurt W. Streubel als ein vielseitiger und musikaffiner Maler, Grafiker und Dichter, der seiner künstlerischen Grundhaltung trotz widriger Umstände lebenslang treu blieb und in großer Experimentierfreude ein vielfältiges Werk schuf.

1 Kurt W. Streubel – Retrospektive. Ausst.-Kat. Städt. Galerie Sonneberg und Lindenau Museum Altenburg, Sonneberg 2002. 2 Vgl. Rolf Bothe, Thomas Föhl (Hg.): Aufstieg und Fall der Moderne, Ausst.-Kat. Weimar, Ostfildern-Ruit 1999, sowie Kunstsammlungen zu Weimar (Hg.): Der Weimarer Bilderstreit. Szenen einer Ausstellung. Eine Dokumentation, Weimar 2000. 3 Karl-Siegbert Rehberg, Wolfgang Holler, Paul Kaiser (Hg.): Abschied von Ikarus. Bildwelten der DDR – neu gesehen, Ausst.-Kat. Klassik Stiftung Weimar, Köln 2014. 4 Steffen Krautzig (Hg.): Utopie und Untergang. Kunst in der DDR, Ausst.-Kat. Kunstpalast Düsseldorf, Dresden 2019. 5 Zur abstrakten Kunst in der DDR: Paul Kaiser, KarlSiegbert Rehberg (Hg.): Abstraktion im Staatssozialismus. Feindsetzungen und Freiräume im Kunstsystem der DDR, Weimar 2003; sowie jüngst: Anna-Carola Krausse: Andere Horizonte. Ostdeutsche Nachkriegsmoderne im Schatten des Sozialistischen Realismus, Berlin/München 2021.

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6 Lothar Lang: Malerei und Graphik in der DDR, Leipzig 1978, S. 235; Erhard Zelmer: Zur Malerei des Gothaer Künstlers Kurt W. Streubel unter besonderer Berücksichtigung seiner Beziehungen zu künstlerischen Tendenzen des Bauhauses, Diplomarbeit an der Pädagogischen Hochschule Erfurt/Mühlhausen, 1984 (unveröffentlicht). 7 Detlev Lücke: „Zwischen Tradition und Moderne. Thüringens Kunstentwicklung nach 1945“, in: Günter Feist, Eckhart Gillen, Beatrice Vierneisel (Hg.): Kunstdokumentation SBZ/DDR, Köln 1996, S. 630–638, hier 633. 8 Ulrike Rüdiger: InnenSichten. Kunst in Thüringen von 1945 bis heute, Ausst.-Kat. Gera, Gera 1999; Jürgen Winter: Zwischen Wald und Welt: der Kunstraum Thüringen im 20. Jahrhundert, Heiligenstadt 2010; Felice Fey: Verschwiegene Kunst. Die internationale Moderne in der DDR, Berlin/München 2021. 9 Michael Löffelholz: Hans Winkler (1919–2000) – Informelle Malerei als Gegensprache, Wien/Köln/Weimar 2020. Die gemeinsamen künstlerischen Anfänge werden auch im Abschlussband zum Projekt Kunstraum Thüringen der Mühlhäuser Museen dargestellt: Winter 2010 (wie Anm. 8).


Hans Winkler Maler Kurt W. Streubel, 1950, Kohlezeichnung, 31,8 x 26 cm, Stiftung Schloss Friedenstein Gotha.

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Andrea Karle

„ENTDECKUNGSREISE INS UNBEKANNTE“

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Zu einigen Aspekten von Kurt W. Streubels künstlerischem Schaffen

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft findet Kurt Streubel über das Rote Kreuz zu seiner Mutter nach Gotha, deren Flucht aus Böhmen dort endet. Mit seiner Ankunft in der Industrie- und ehemaligen Residenzstadt beginnt für den 24-jährigen gelernten Textilgestalter die Suche nach einem Platz in der neuen Gesellschaft. Kaum in Thüringen tritt Streubel mit Künstlern in Kontakt, die sich gemeinsam mit den Mitteln der Kunst gegen die Verfemung des Expressionismus und der Abstraktion im Nationalsozialismus aussprechen. Sie suchen Wege, den „verhängnisvollen zwölf Antikunstjahre[n]“ entgegen zu treten. 2 So wird Streubel jüngstes Mitglied der am 4. Juli 19453 im ausgebombten Nationaltheater in Weimar gegründeten Gewerkschaft 17 Kunst und Schrifttum. Ihr stand der im Widerstand agierende Kunstmaler Martin Pohle (1899–1970) vor. Weitere Mitglieder waren unter anderem Karl Meusel (1912–1986)4, Harry SchmidtSchaller (1913–1988) und Otto Kayser (1915–1998).5 Mit Hans Winkler (1919–2000), Gerhard Ströch (genannt Altenbourg) (1926–1989), Alfred Traugott Mörstedt (1925–2005) und Werner Schubert-Deister (1921–1991) schließt er sich zur sogenannten Künstlergruppe zusammen, die in Gotha im Jahr 1950 eine folgenreiche Ausstellung bestücken wird.6 Die jungen Künstler lernen sich auch an der Weimarer Hochschule kennen, wo sie unter anderem bei Hanns Hoffmann-Lederer Kurse besuchen. Der Lehrer, der selbst von 1919 bis 1923 am Bauhaus in Weimar studiert hat, übernimmt Elemente der Bauhaus-Pädagogik an der neugegründeten Hochschule und wird für Streubel ein wichtiger Akteur. Die von Aufbruch und Umbruch geprägte Nachkriegszeit gleicht für Kurt Streubel einer „Entdeckungsreise ins Unbekannte“.7 Wobei die Reise für Streubel niemals zu enden scheint, experimentiert er doch im Laufe seines künstlerischen Schaffens mit allen Mitteln der Abstraktion und probiert sich in verschiedenen Medien aus. Doch die Entdeckungsreise als Metapher lässt sich nicht nur für die Perspektive des Künstlers anführen. Sie gilt auch für die Auseinandersetzung mit der Kunst Kurt Streubels, die bisher zu wenig stattgefunden hat und für viele deshalb hier beginnt. Im Folgenden werden Streubels künstlerische Anfänge in Weimar und die tiefe Zäsur des Formalismus-Verdikts, welches alle Hoffnungen des jungen Künstlers erschütterte, nachgezeichnet. Aspekte seines Schaffens werden gerahmt, die Besonderheiten und Eigenheiten seines Werkes herausgearbeitet. Die bislang dünne Forschungslage wird durch das Zusammenziehen der Quellen angereichert, sodass am Ende ein schärfer konturiertes Bild des Künstlers Kurt Streubels entstehen kann.

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Aufbruch: Kurt W. Streubel und die Wiederbelebung des Bauhauses „Wir haben die Zeit spannend gemacht“, resümiert der Künstler im Gespräch mit den Ausstellungskuratorinnen zur Retrospektive 2002 und meint damit sicher auch seine Zeit als Student an der 1946 als erste Hochschule in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wiedereröffneten Staatlichen Hochschule für Baukunst und bildende Künste in Weimar. 8 Dort werden Altenbourg, Mörstedt und Streubel von Albert Schaefer-Ast und Hanns Hoffmann-Lederer unterrichtet. Letzterer, um 1899 in Jena geboren, war im Gründungsjahr in das Bauhaus Weimar eingetreten und hatte 1923 als Jungmeister für künstlerische Form und Technisches (Stoff) die Ausbildung abgeschlossen.9 Neben Wassily Kandinsky und Paul Klee war es Johannes Itten, der Hoffmann-Lederer am stärksten prägte. Überzeugt von der Mazdaznan-Lehre folgten er und seine Frau Mila Johannes Itten nach Herrliberg (Schweiz) und kehrten 1926 zurück ans Bauhaus. Doch sollten es nur drei kurze Monate sein, da von der Itten’schen „Ideengemeinschaft“ in Dessau nicht viel geblieben war.10 Mit dem Ende der NS-Diktatur begann eine produktive Phase, in die auch seine Anstellung an der wiedereröffneten Weimarer Hochschule fiel.11 Zunächst ist es die Absicht des Rektors Hermann Henselmann und auch der Sowjetischen Militäradministration, sich am Bauhaus zu orientieren, ist die Schule doch zum „Repräsentanten einer demokratischen Kunstausbildung geworden“.12 Die Überschrift aus der Täglichen Rundschau vom 16. September 1945 lautet zwar „‚Bauhaus‘ wird wieder Bauhaus“13, sie soll jedoch nicht in aller Konsequenz gelten, wie sich im Folgenden zeigen wird. Zunächst kann Hoffmann-Lederer den Unterricht strukturell am Bauhaus orientieren und „sein Vorlehrekonzept weitgehend verwirklichen, dessen Grundgedanken sich bis in die Wortwahl hinein an Itten anlehnt“.14 Im Rahmen von Übungen zur Befreiung des eigenen künstlerischen Ausdrucks entstehen beispielsweise naturalistische Pflanzen-Studien. Außerdem entstehen zahlreiche Pinsel- und Bleistiftzeichnungen mit landschaftlichem Sujet, wobei sowohl von Hoffmann-Lederer als auch seinen Schülern solche Zeichnungen erhalten sind.15 Datiert sind sie auf das Jahr 1949, was verwundert, soll Streubel doch nur von 1946 bis 1947 bzw. „spätestens 1948“ an der Weimarer Hochschule gelernt haben.16 Da im Hochschularchiv keine Unterlagen zur exakten Studiendauer erhalten sind, kann anhand dieser Zeichnungen doch davon ausgegangen werden, dass er noch im Jahr 1949 an Kursen von Hoffmann-Lederer teilnahm oder zumindest engen Kontakt zu den Studenten und/oder zu Hoffmann-Lederer pflegte. Die Nähe Streubels zu seinem (ehemaligen) Lehrer zeigt sich beim Vergleich zweier Zeichnungen: Hoffmann-Lederers Lithografie Landschaft in Thüringen (Abb. 1) staffelt mit weitestgehend gleichbleibend breitem Strich Felder, ein Dorf, Wald und Himmel auf dem Papier. Eine Tiefenwirkung entsteht durch die aus kurz geschwungenen Bögen bestehende Linienreihe am unteren Bildrand, welche sich zur Bildmitte hin abflacht, und die kurzen, dünnen vertikalen Striche, die die Stämme des Waldes oder eines Zaunes darstellen. Einzig die einen Hügel beschreibende dünne Linie zieht sich – zwar mit Unterbrechung – ausgedehnt über die gesamte Bildbreite. Während Hoffmann-Lederers Zeichnung gediegen und beinahe massig erscheint, setzt Kurt Streubel in Thüringen (landschaftlich) (Abb. 2) die Impulse des Lehrers in einem facettenreicheren Kohlestrich um. In einer Variante des Motivs wird der Blick in die Landschaft vom Punkt zur Vertikalen über offene Kreide hin zu gekräuselten Linien gestaffelt. Mit schräg angesetzter Kreide sind kurze Wellen schraffiert, welche vor einem breiten massiven Gitter in der Bildmitte enden. Hinter dem ‚Zaun‘ beruhigt sich der Strich: flache, dünn gezogene und sich schneidende Linien ziehen sich über das Hochformat. Am oberen Rand verdichten sich die breiten, porösen fast geraden Linien zum Himmel und schließen das Bild ab.

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1•Hanns Hoffmann-Lederer Landschaft in Thüringen, Lithografie, 29 x 36 cm, Privatbesitz.

2•Kurt W. Streubel Thüringen (landschaftlich), 1949, Kohle auf Papier, 38 x 33,5 cm (Kat.-Nr. 3).

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Das Blatt aus der Sammlung Schloss Friedenstein Gotha bietet einen ähnlich ruhigen Ausblick, wohingegen der Vordergrund mit seinen naturalistischeren Formen organischer gestaltet ist (Kat.-Nr. 2). Auch die farbigen Pinselzeichnungen Kosmische Komposition (Kat.-Nr. 5), Komposition – Ausgleich (Kat.-Nr. 12) und Werden und Vergehen (Kat.-Nr. 4) sowie die in schwarzer Tinte gehaltenen Zeichnungen wie Hin – über aus den Jahren 1949 knüpfen an die Bildsprache Hoffmann-Lederers an.17 Die Kunsthistorikerin Anne Hoormann identifiziert in einigen Grafiken Hoffmann-Lederers Aspekte des Musikalischen vor allem in Bezug auf die Schwerelosigkeit der Formgebilde, den Rhythmus der gesetzten Linien sowie deren An- und Abschwellen.18 Sie finden sich auch in Werken Kurt Streubels wieder, wie im Aufsatz von Michaela Mai in diesem Band herausgearbeitet wird. Der Lehrer scheint eine Scharnierfunktion für Streubel einzunehmen. Entwickelt Hoffmann-Lederer doch Werke seiner Lehrer, wie beispielsweise Klees Aquarell Schwungkräfte (1929) (Abb. S. 45) weiter, indem er die ellipsoiden Kreise vereinzelt und ihre Gestaltung differenziert (Abb. 3). Kurt Streubel steigert in Gemälden wie Gleichart veränderlich (1973) (Kat.-Nr. 49), Gleichart feststehend (1974) (Kat.-Nr. 45) oder Begrenzung (1977) die Konzentration der amorphen Kreisformen hin zu einer solitär stehenden, die sich aus verschiedenfarbigen Flächen zusammensetzt. Das gestalterische Grundelement des Punktes findet im zweitgenannten Werk seine maximale Ausdehnung auf dem gestreckt hochformatigen Malgrund. Neben der Verbindung zur Gestaltungslehre des Bauhauses nimmt der Lehrer für Kurt Streubel eine weitere wichtige Rolle ein: Streubel äußert sich unzufrieden mit dem Studium in Weimar und sehnt sich nach einer Vertiefung seiner Kenntnisse in der Textgestaltung, die er in der Lehre in Starkstadt (heute Stárkow/ Tschechien) erworben hat.19 Wohl auf Anraten Hoffmann-Lederers nimmt er Kontakt zu Georg Muche auf. 20 Streubel reist 1948 zu dem als Professor an der Krefelder Textilingenieurschule unterrichtenden ehemaligen Bauhäusler. Zwischen 1953 und 1955 hält sich Streubel längere Zeit im Raum Düsseldorf auf. 21 Über den dortigen Aufenthalt von Streubel und seine Beziehung zu Mu-

3•Hanns Hoffmann-Lederer ohne Titel, 1948, Tuschezeichnung, 29,6 x 21,1 cm, Nachlass Hoffmann-Lederer.

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che ist zu wenig bekannt. Nur auf den Rückseiten einiger Gemälde, etwa Einseitig erhabene Ebene (1950) (Kat.-Nr. 13) ist vermerkt, dass es 1954 bei einer Ausstellung in Krefeld zu sehen war. 22 Neben der Abbildung des als Wandbild ausgeführten Gemäldes Konstruktiv – polar (1950) (Kat.-Nr. 14) in der Bosch Gaskonzern Verwaltung Düsseldorf (Abb. S. 81) zeugt eine Pinselzeichnung von Harlekinen und Clowns, die zu einer Veranstaltung im Krefelder Hof einlädt, von Streubels Schaffen im Westen (Abb. 4).

4•Kurt W. Streubel Jux et Jus, Krefelder Hof, 1955, Pinselzeichnung auf Papier, 14 x 12 cm (Kat.-Nr. 75).

Umbruch: Kurt W. Streubels Kunst und die Formalismus-Debatte In den Jahren 1950 und 1951 spitzt sich die Situation für die Kunstszene in Thüringen zu: In Weimar wird über die Zukunft der Hochschule und insbesondere der Abteilung Kunst entschieden. Mit der Neugründung 1946 sollte an die Ideen des Bauhauses als Schule mit gesellschaftsoffenem und -gestaltendem Konzept angeknüpft werden, sollten Industrie und Kunst sich miteinander verbinden. Dabei beton Hermann Henselmann in seiner Eröffnungsrede die Abgrenzung zur Barbarei des NS und bezieht sich auf den Humanismus und das klassische Erbe der Stadt Weimar sowie ihr einschneidendes Erbe der jüngsten Vergangenheit mit dem Konzentrationslager Buchenwald. Infolge einer Verengung des Erbe-Begriffs, der Behauptung des Elitarismus, den das Bauhaus fördere, und der Forderung nach Volksnähe vonseiten der Parteifunktionäre spitzt sich der ideologische Disput zu. 23 Er mündet in der Schließung der Abteilung Bildende Kunst an der Hochschule im Jahr 1951. 24 Die Auseinandersetzung wird auch an der Person Hoffmann-Lederers ausgetragen, der wegen seiner aus dem Bauhaus übernommenen Inhalte der Vorlehre kritisiert wird. Erst die Studierenden, dann die Lehrenden lehnen die experimentelle Arbeitsweise ab und fordern eine Fokussierung auf das Handwerklich-Künstlerische. 25 In der Folge reist Hoffmann-Lederer in den Westen, kehrt der Hochschule den Rücken und verlässt Weimar für immer. 26

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Auch Kurt Streubel wird Angriffspunkt für Kritik aus demselben ideologischen Lager, das sich gegen abstrakte künstlerische Positionen wendet. In der eingangs erwähnten Ausstellung 1950 in Gotha sind er und seine Kollegen Anfeindungen ausgesetzt, wobei sich der sprachliche Duktus in der Öffentlichkeit innerhalb kurzer Zeit verschärft: Am 14. Februar 1950 lobt die Zeitung Thüringer Volk den eigenen Ausdruck der Maler Kurt W. Streubel und Hans Winkler, die es vermochten, die Besucherinnen und Besucher „durch neue Ausdrucksmöglichkeiten in den Bann einer Kunst [zu] ziehen, die von diesen Künstlern selbstschöpferisch gestaltet wird.“27 Im April wird dann in derselben Zeitung der Ausstellung ein „ausgesprochen formalistische[r] Charakter“ attestiert und betont, dass die ausstellenden Künstler für diese von staatlicher Seite angeregte Diskussion kein Verständnis hätten. 28 Besonders Streubels Kosmische Komposition wird in diesem Bericht über eine Gesprächsveranstaltung zwischen Künstlern und Werktätigen als Negativbeispiel hervorgehoben: „Wenn nun die Werktätigen auf der einen Seite kein Verständnis für die Experimente der Gothaer Künstler zeigen, vor allem nicht für die nebenstehende ‚Kosmische Komposition‘ in Tinte […], so darf das nicht verwundern.“29 Am 1. Juli 1950 relativiert Karl Sippel diese vernichtenden Ausstellungsbesprechungen und zeigt sich optimistisch, dass die Künstlergruppe zur Einsicht gekommen sei, hätten ihre Mitglieder doch erkannt, dass „der Weg in den Formalismus ein gefährlicher Irrweg war“. Streubel und seine Freunde hätten sich – wohl aus Angst vor weiteren Repressionen – „bereiterklärt, ihr Bekenntnis zu einer fortschrittlichen Kunst durch ein realistisches Wandbild unter Beweis zu stellen.“30 Ob das Wandbild realisiert wurde, ist bislang ungeklärt. In der Sammlung der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha befindet sich ein Zyklus von acht Bleistiftzeichnungen mit dem Titel Revolutionäre Traditionen der deutschen Arbeiterklasse, die im Inventar mit 1959 datiert sind. Zu welchem Zweck Streubel diese Zeichnung anfertigt und ob sie möglicherweise Vorskizzen zu einem, wenn nicht sogar diesem Wandbild sind, worauf ihr Längsformat schließen lässt, konnte noch nicht abschließen geklärt werden. Parallel wird in derselben Zeitung ein heftiger Streit um das abstrakt-expressive Wandbild von Hermann Kirchberger für das Nationaltheater Weimar ausgetragen. Das Bild sei „[f]ehl am Platze“ wie Das Volk am 31. Mai 1950 einen Artikel dazu überschreibt.31 Die Erkenntnis, dass das zunächst als neu gelobte Bild ein „Irrweg“ sei, rührt von der durch Alexander Dymschitz in der Presse platzierten Diskussion über Formalismus her, die bereits 1946 entflammt.32 Doch woher diese Umkehr? Die Kulturpolitik der SED fokussiert sich ab 1947 nicht mehr allein auf den Kampf gegen den Faschismus, sondern nimmt vermehrt den Aufbau einer neuen Gesellschaft in den Blick, die sich vor allem auch durch die Abgrenzung zum Westen hin definiert.33 War die Situation in der SBZ relativ „offen, plural und differenziert“ und „geprägt von unterschiedlichen künstlerischen Kräften“, gilt ab 1951 der Sozialistische Realismus als Maßgabe, dessen Durchsetzung als „Bombardement“ auf die Kunst bezeichnet wird.34 Die von der Parteileitung ausgerufenen Grundprinzipien lauten zusammengefasst: „wahrheitsgetreue Darstellung, sozialistische Parteilichkeit und Volksverbundenheit“.35 Mit Wahrheitstreue ist aber weniger die Abbildung der Realität gemeint als vielmehr eine Projektion einer staatlich gelenkten, zukünftigen Realität: Durch die „Erhebung in den Stand einer ästhetischen Kategorie sollte [der Sozialistische Realismus] der kulturpolitischen Zielstellung universale Gültigkeit verschaffen.“36 Kunst und ihre Daseinsformen, wie Theater, Film, Kunsthandwerk und Architektur werden – keine zehn Jahre nach Ende der NS-Diktatur – in den Dienst des Staates gestellt. In dieser Konsequenz werden einige Verbände, darunter die 1945 in Weimar von Streubel mitgegründete Gewerkschaft 17 Kunst und Schrifttum, aufgelöst. Der Verband Bildender Künstler Deutschlands (VBKD)37 tritt an ihre Stelle. Er sorgt nach sowjetischem Vorbild dafür, dass die Künstlerinnen und Künstler sich diesen ideologischen Stil zu eigen machen.

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Während die Gewerkschaft 17 frei zugänglich war, werden die Mitglieder des VBKD einer Überprüfung unterzogen38, der nicht alle Stand halten: Kurt Streubel wird nicht aufgenommen. Zu stark ist sein Drang nach Abstraktion, der schon in den frühen Alltagsstudien (Kat.-Nr. 6–10) zum Vorschein kommt. Die Übernahme der kulturpolitischen Doktrin des Sozialistischen Realismus ist „für viele nicht nur anachronistisch, sondern wegen [deren] Nähe zur nationalsozialistischen Kunst unannehmbar.“39 Sie verlassen die DDR oder wenden sich von der Kunst ab. Als Nichtmitglieder des VBKD haben die verbleibenden Künstlerinnen und Künstler es bei den Auftragsvergaben durch den Verband sehr schwer, bleiben unberücksichtigt, wodurch ihnen schlicht die Lebensgrundlage entzogen wird. Kurt Streubel schafft es jedoch, sich bei der Stadt Gotha eine sogenannte Formalistenrente von 200 Mark zu erstreiten, da er schlicht nicht anders könne, als abstrakt zu arbeiten.40 Die schmerzhafte Zäsur der Hochschulschließung und der Weggang vieler Kunstschaffender führt, wie Ulrike Rüdiger schreibt, zum „Exodus der künstlerischen lntelligenzija, der Thüringen für Jahrzehnte zur kulturellen und geistigen Provinz stempelte.“41 In dieser Provinz bleibt Kurt Streubel seinem abstrakten Stil treu und schafft in innerer Emigration in Gotha ein bemerkenswertes Œuvre.

Zwischenstation: Gestaltung für die Werktätigen Seinen Lebensunterhalt bestreitet Kurt Streubel nach seiner Rückkehr aus dem Westen mit mit Aufträgen für die Industrie. So entwirft er 1959 beispielsweise für den VEB (K) Bekleidungswerk Gotha die Label (Kat.-Nr. 77) und Werbeanzeigen für die Bauindustrie. Auch Wandbilder für den VEB Waggonbau Gotha für den Hauptbahnhof werden von Streubel im selben Jahr entworfen (Abb. 5). Die drei Bildfelder zeigen abstrahierte, kantige Illustrationen der Arbeit im Werk und der fertigen Produkte: Eine Straßenbahn mit wartenden Passagieren vor der Stadt und Eisenbahnwaggons auf dem Schienenweg zum Werk. Während diese Bilder in der Stadt präsent sind, gibt es zahlreiche Entwürfe, die Konzept bleiben. Erhalten haben sich etwa ein Plakatentwurf für die Museen der Stadt Gotha (Abb. 6) sowie Vorschläge für das Layout des Umschlags für den Gedichtband Arioso von Hanns Cibulka, der ab 1953 in Gotha lebt. Mit den verwendeten serifenlosen Schriften knüpft Streubel an die Schriftgestaltung von Herbert Beyer an und steht mit seinen Entwürfen in der Traditionslinie des Bauhauses. Beim Entwurf für die Museen ist es die Montage der Bildelemente, beim Entwurf für die Teerverwertung Thüringen KG Gotha (Kat.-Nr. 79) sind es die abstrakten Formen, welche an die Plakatgestaltung der 1920er Jahren erinnern, wenngleich Streubel hier die Elemente noch stärker zu reduzieren weiß. Auch die abstrahierten Figuren der Bekleidungslabels sprechen durch ihre Reduktion eine klare Designsprache. Diesen Stil greifen auch die Entwürfe von Horst Michel (1904–1989) auf, der ab 1946 als Professor für Formgestaltung an der Weimarer Hochschule lehrt. Seine Entwürfe für Möbel oder Alltagsgegenstände wie Geschirr knüpfen in ihrer Schlichtheit an Marianne Brandt oder Marcel Breuer an.42 Womöglich prägt seine Initiative gegen den Kitsch auch Kurt Streubel.43 Immerhin notiert dieser auf der Rückseite seines Gemäldes Einseitig erhabene Ebene (Kat.-Nr. 13) für das Jahr 1948 „gleichzeitig Assistenz? Prof.Michel Weimar“. Ab 1965 wird Streubel ‚Hausgrafiker‘ des Staatlichen Sinfonieorchesters Suhl (später Suhler Philharmonie), mit dessen Chefdirigent Siegfried Geißler er zwei Jahre zuvor Freundschaft schloss. Fortan wird Streubel die Konzerthefte und Plakate gestalten. Nicht immer ist sein Stil dabei so reduziert und klarlinig, wie in den eben besprochenen Entwürfen.44 Das Programmheft für das Sinfonische Oratorium Der Mensch aus dem Jahr

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1969 ist figurativ gestaltet (Kat.-Nr. 81–82): Im Entwurf ist eine figürliche Pinselzeichnung zentral, die vom Text gerahmt wird. Im Bild erkennbar sind ein Bein und ein Arm sowie ein Auge und eine Lyra. Vor schraffiertem Hintergrund und angedeuteter Landschaft sind links oben ein Gesicht mit geöffnetem Mund und rechts eine nach unten stürzende, menschliche Gestalt abstrahiert dargestellt. Der Text ist handschriftlich gesetzt, wobei die Buchstaben bei „der Mensch“ nicht auf einer Grundlinie laufen, sondern einen Bogen zeichnen. Von staatlicher Seite wird die Gestaltung aufgrund ihres surrealistischen Charakters kritisiert und sogar der Druck des Heftes untersagt. Geißler gibt schließlich eigenverantwortlich 100 Stück in Auftrag.45

5•Kurt W. Streubel Wandbild für VEB Waggonbau Gotha, Hauptbahnhof Gotha, 1959, Fotoabzug, 3-teilig, 13 x 8,6 cm, 8,5 x 13,6 cm, 12,8 x 8,5 cm, Familienbesitz (Kat.-Nr. 76).

6•Kurt W. Streubel Entwurf für Museen der Stadt Gotha, 1960, Papiercollage, 25,7 x 35,4 cm (Kat.-Nr. 80).

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Der Dirigent und Komponist wird einer der wichtigsten Förderer und Bezugspersonen Streubels, bietet er ihm doch neben Grafik-Aufträgen auch die Möglichkeit der freieren künstlerischen Entfaltung und des Austauschs. In den Jahren 1968 und 1969 gestaltet Streubel schließlich die Wohnung von Rosemarie und Siegfried Geißler. Möbelund Textilentwürfe werden umgesetzt und Gemälde Streubels in die Raumkonzeption eingebunden. Die Wohnung der Familie wird ein kulturelles Zentrum für Kunstschaffende. Bei der Eröffnung einer Privatausstellung Streubels im Anschluss an ein Konzert am 4. Mai 1976, wird von der Staatssicherheit im Protokoll „elitäres Gehabe“ und Unkenntnis gegenüber der Kunst attestiert.46 Der Chefdirigent und kulturpolitische Verantwortungsträger Geißler kann den Rat des Bezirkes damit beschwichtigen und wohl größeren Schaden abwenden, indem er erklärt, dass es „solche“ – gemeint war die abstrakte – Malerei neben der realistischen geben müsse.47 Die Arbeit für das Orchester und mit Sigfried Geißler hinterlässt auch in Arbeiten jenseits der Gestaltungsaufträge ihre Spuren.

Musik, Lyrik und bildende Kunst Gemälde mit Titeln wie Etüde I (1965) (Kat.-Nr. 31), Etüde III (1969) oder Opus M und das Triptychon Opus 69 (beide 1969) entstehen. Das wohl eindrücklichste Werk, in dem sich Streubels Interessen für Musik und Lyrik ausdrücken, ist die im Jahr 1970 entstandene dreiteilige Tondichtung antioper. Mit der „Tendenz eines Gesamtkunstwerks“ verbindet Streubel Musik, Lyrik und bildende Kunst in einem Werk.48 Gesamtkunstwerk meint jedoch nicht ausschließlich die „Addition der üblicherweise nur einzeln verwendeten sprachlichen Medien und künstlerischen Techniken“.49 Nach Bazon Brock ist es auch möglich, bei einem Gemälde von einem Gesamtkunstwerk zu sprechen, wenn es sich das Konzept im Sinne eines „übergeordneten Zusammenhanges“ zum Thema macht.50 Streubel stellt diesen durch die Beschäftigung mit Literatur und Existentialphilosophie her und schließt dabei beispielsweise an Wassily Kandinsky an.51 Der Bauhaus-Meister hatte sich mit Schriften der Theosophie und Kunsttheorie ebenso befasst wie mit der Anthroposophie Rudolf Steiners oder der Metaphysik. Dies kommt beispielsweise in seiner Bühnenkomposition Gelber Klang (1909–14) zum Tragen. Durch reine Farben, Formen und Klänge enthebe sich die Kunst dem „irdischen Raum- und Zeitbegriff“ und offenbare die „‚innere Notwendigkeit‘ der Schöpfung. […] Mittels Farbsequenzen, Gesten, menschlichen Lauten und instrumentalen Tönen wird die Seele des Zuschauers in Schwingung versetzt“ und so ein Ganzes der Künste gebildet, schreibt Alois Müller im Katalog zur Ausstellung Der Hang zum Gesamtkunstwerk 1983.52 Die 84 Blatt von Streubels antioper umfassen sowohl schreibmaschinengeschriebene Seiten als auch Grafiken, bei denen Streubel sich teilweise auf vorangegangene Werke bezieht. Die Blätter sind individuell gestaltet und folgen keiner formalen Logik. Wie bei Publikationen des Bauhauses, verzichtet der Künstler auf die Beachtung von Groß- und Kleinschreibung und größtenteils die Interpunktion. Neben Regieanweisungen beschreibt Streubel auch das Szenenbild. Eine Notenfassung des Stücken sollte von Siegfried Geißler erarbeitet werden, wobei „Überlegungen, eine dem Libretto gemäße musikalische Form zu finden, [sich] in Richtung Aleatorik (= Einbeziehung des Zufalls in der Werkgenese resp. -interpretation; Anm. AK) [bewegen].“53 Während der überwiegende Teil der Blätter an der gewohnten Leserichtung von Text orientiert ist, hat beispielsweise das Seite 8 den Charakter einer eigenen grafischen Arbeit (Abb 7). Im Text werden Worte aus der vorherigen Seite aufgegriffen: Er beginnt mit „all erlebt 1953 nicht ....“ und formt in 40 Zeilen einen kreisförmigen Satzspiegel, wobei die ersten und die letzten Worte außerhalb dessen liegen. Der Kreistext ist nur mit großer Mühe lesbar, da die Laufweite der Schrift stark variiert und die aneinandergereihten Worte keiner erkennbaren

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