Made in Japan

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J APAN MADE IN

Farbholzschnitte von Hiroshige, Kunisada und Hokusai

J APAN MADE IN

Farbholzschnitte von Hiroshige, Kunisada und Hokusai

Herausgegeben von Judith Rauser und Hans Bjarne Thomsen

Vorwort 6 Anita Haldemann Grusswort 9 Fujiyama Yoshinori Japanische Farbholzschnitte im Kupferstichkabinett 11 des Kunstmuseums Basel Judith Rauser Auf dem Weg 32 In der Stadt 48 Aus dem Leben 7 0 Schön sein 82 Im Detail 1 00 Das Kabuki-Theater und die Schauspielerdrucke 115 Hans Bjarne Thomsen Auf der Bühne 13 0 Starkult 15 0 Held sein 172 Verzeichnis der ausgestellten Werke 197 mit Kurzbiographien der Künstler Glossar 216 Bibliographie 220 Bildnachweis 223 Impressum 224

Vorwort

Das Kupferstichkabinett des Kunstmuseums Basel beherbergt rund 300‘000 Werke auf Papier und gehört international zu den bedeutendsten graphischen Sammlungen. Die vielfältige und intensive Sammlungsarbeit dient der fortwährenden Erschliessung, dennoch gibt es immer noch einige wenig erforschte und für die Öffentlichkeit sogar unbekannte Bestände. Es ist ein beglückendes Ereignis, solche Schätze in Ausstellungen ans Licht holen zu dürfen und den Fachleuten sowie dem breiten Publikum überraschende Entdeckungen zu ermöglichen. Dass im Kupferstichkabinett eine facettenreiche Sammlung japanischer Farbholzschnitte des 17., 18. und 19. Jahrhunderts aufbewahrt wird, die der Öffentlichkeit bislang fast gänzlich verborgen geblieben ist, mag angesichts ihres Umfangs von rund 350 Werken erstaunen. Es handelt sich einerseits um einen Spezialbestand, der ebenso im Basler Museum der Kulturen beheimatet sein könnte. Andererseits passen die japanischen Farbholzschnitte jedoch hervorragend in eine Sammlung europäischer Kunst, denn i hre wichtige Rolle als Inspirationsquelle für Künstlerinnen und Künstler der Klassischen Moderne ist heute bestens bekannt.

Der grösste Teil der japanischen Drucke in unserer Sammlung stammt aus dem Vermächtnis des Basler Sammlers Dr. Carl Mettler (1877–1942). Dass er für den Verbleib seiner Sammlung das Kunstmuseum ausgewählt hat, war damals nicht selbstverständlich. Andere Personen sind ihm gefolgt und haben dem Kupferstichkabinett ebenfalls japanische Holzschnitte überlassen. So schreibt dieser Katalog wie jüngst die Publikation zum deutsch­jüdischen Sammler Curt Glaser (1879–1943) ein weiteres Kapitel der immer wieder faszinierenden Geschichte der Öffentlichen Kunstsammlung Basel und der Provenienz ihrer Werke.

In Basel gelangten bisher vor allem Schulklassen und Studierende in den Genuss der Anschauung der japanischen Farbholzschnitte, denn mit gewisser Regelmässigkeit wurde ihnen im Studienraum des Kupferstichkabinetts eine Auswahl der Blätter vorgelegt. Seit einigen Jahren schon bestand der Plan, diese Werke wissenschaftlich zu erschliessen, es fehlte allein die kunsthistorische Expertise für dieses Spezialgebiet in unserem Team. Umso dankbarer sind wir Prof. Dr. Hans Bjarne Thomsen, privatrechtlich angestellter Professor für Kunstgeschichte Ostasiens an der Universität Zürich, für die Zusammenarbeit bei diesem Ausstellungsprojekt. Dank seiner umfassenden Kenntnisse der japanischen Drucke liegen nun Informationen zu den Werken vor, die dem gegenwärtigen Stand der Forschung entsprechen. Und es hat sich herausgestellt, dass das Basler Kupferstichkabinett einige überaus seltene Blätter und sogar in keiner anderen Sammlung erhaltene Drucke sein Eigen nennen darf.

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Die konservatorische und restauratorische Bearbeitung aller Holzschnitte bildet die Voraussetzung für den künftigen Erhalt der Werke und die Grundlage ihrer Präsentation in dieser Ausstellung. Unser besonderer Dank für die Förderung dieser Arbeiten richtet sich an eine Unterstützerin, die ungenannt bleiben möchte.

Aufrichtiger Dank geht an Dr. Samuel Werenfels, der seit einigen Jahren das Kupferstichkabinett kontinuierlich mit grossem Engagement unterstützt und auch für diese Ausstellung den Katalog grosszügig finanziert hat. Das bewährte Team des Deutschen Kunstverlags von Kathleen Herfurth, Luzie Diekmann und Stefanie Kruszyk sowie die Gestalterin Verena Gerlach haben in ausgezeichneter Zusammenarbeit eine Publikation entstehen lassen, die die japanischen Farbholzschnitte auch über die Ausstellungsdauer hinaus aufs Schönste vor Augen führt. Wir danken ebenfalls Elke Thode und Stephanie Santschi für ihr sorgfältiges und umsichtiges Lektorat sowie Peter Sondermeyer für die Übersetzung der englischen Textbeiträge.

Zahlreiche Mitarbeiter:innen des Kunstmuseums Basel haben dazu beigetragen, dass dieses Projekt gelungen ist. Allen voran danke ich Judith Rauser, Assistenzkuratorin am Kupferstichkabinett, die mit enormem Engagement und grösster Kompetenz das Projekt als allein verantwortliche Kuratorin geleitet und umgesetzt hat. In enger Zusammenarbeit mit Hans Bjarne Thomsen hat sie dafür gesorgt, dass unsere japanischen Holzschnitte aus dem Dornröschenschlaf erweckt wurden und durch die ideenund kenntnisreiche Ausstellung nun einem breiten

Publikum zugänglich sind. Sie wurde unterstützt von Jonas Hänggi und Max Ehrengruber im Bereich der wissenschaftlichen Fotografie. Im Team der Papierrestauratorinnen danken wir vor allem Annegret Seger, deren Expertise und sorgsame Arbeit die materiellen Voraussetzungen geschaffen haben, damit die japanischen Farbholzschnitte nun den ihnen gebührenden Auftritt erhalten.

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Japanische Farb holz schnitte im Kupferstichkabinett des Kunstmuseums Basel

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JUDITH RAUSER

Das Kupferstichkabinett des Kunstmuseums Basel besitzt wie zahlreiche andere graphische Sammlungen ostasiatische, insbesondere japanische Graphik. Es handelt sich um den einzigen nicht­westlichen Spezialbestand innerhalb des Kupferstichkabinetts in der ansonsten über Jahrhunderte auf europäische und nordamerikanische Kunst fokussierten Sammlung. In diesem Komplex spiegelt sich die traditionell hohe Wertschätzung der japanischen Kultur ebenso wie ihre Rezeption im Japonismus durch die europäische Avantgarde des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Der japanische Farbholzschnitt war kein stringent verfolgtes Sammlungsgebiet, dennoch fanden vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr als 350 Werke Eingang in den Bestand des Kupferstichkabinetts.1 Die erste Gruppe von 15 japanischen Farbholzschnitten wurde 1917 angekauft und repräsentiert zugleich die Faszination und die nur vorläufige Kenntnis japanischer Drucke, wie sie eingangs des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum anzutreffen waren: Die Künstler und Bildthemen der Werke, die sich im Inventarbuch des Kupferstichkabinetts dokumentiert finden, wurden zwar nicht richtig identifiziert, doch es handelt sich überwiegend um originale Werke des 19. Jahrhunderts. Unter den 15 Drucken befanden sich auch vier vermeintliche Werke Kitagawa Utamaros (um 1753–1806), die sich inzwischen jedoch als Fälschungen des frühen 20. Jahrhunderts erwiesen haben. Nach diesem einmaligen Ankauf im Jahr 1917 wurde das Sammeln

japanischer Farbholzschnitte in den folgenden Jahrzehnten nicht weitergeführt, bis dem Kupferstichkabinett 1942 der Hauptteil seines Bestands in Gestalt des bedeutenden Vermächtnisses des Schweizer Chemikers Dr. Carl Mettler (1877–1942) zuging. In den 1950er, 1970er und 1980er Jahren ergänzten vereinzelte, ebenfalls als Vermächtnis oder Geschenk hinzukommende Farbholzschnitte den Komplex aus der Sammlung Mettlers.

Ein unerwartetes Vermächtnis: Die Sammlung Mettler

Das Erstaunen war gross im Kunstmuseum Basel, als Ende Januar 1942 die Benachrichtigung des Erbschaftsamts über ein umfangreiches Vermächtnis des in Basel ansässigen Chemikers Dr. Carl Mettler (Abb. 1) einging, der am 9. Januar unverheiratet und kinderlos verstorben war. Die mit dem Bruder des Verstorbenen, Emil Mettler­Rikli aus Zürich, geführte Korrespondenz gibt darüber Aufschluss, dass man zwar um das Bestehen der Sammlung Carl Mettlers wusste, nicht aber von seiner Absicht, diese dem Museum zu überlassen. Der damalige Konservator der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, d. h. des Kunstmuseums, Georg Schmidt (1896–1965) schrieb: «Dieses grossartige Vermächtnis der Sammlung Dr. C. Mettler war für uns eine vollkommene Ueberraschung, da Herr Dr. Mettler zu Lebzeiten nie eine in dieser [sic] Richtung gehende Andeutung gemacht hat»2, und betonte im nächsten Schreiben, «[e]s liegt uns daran, Ihnen zum Ausdruck zu bringen, wie wertvoll für unsere Sammlung dieses Legat zweifellos sein wird, da uns die hohe Kennerschaft und das

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Abb. 1

zielbewusste Sammeln des Herrn Dr. Mettler wohlbekannt war.»3 Diese Einordnung lässt sich auch für die Farbholzschnitte festhalten. Allerdings galt sie vermutlich nicht zuallererst den rund 320 japanischen Holzschnitten der Sammlung, sondern der ebenfalls umfangreichen Zeichnungs­ und Druckgraphiksammlung von deutscher, französischer und Schweizer Kunst sowie den Gemälden und Skulpturen.

Wie im Briefwechsel ebenfalls erwähnt, stand die Überlegung im Raum, die japanischen Farbholzschnitte an ein Kunstgewerbemuseum oder eine ethnologische Sammlung zu übergeben; ihre Qualität und der ausdrückliche Wunsch des Verstorbenen sprächen aber dafür, das Vermächtnis in seiner Gänze im Kunstmuseum anzunehmen. 4

Das Kunstmuseum konnte mit den Farbholzschnitten auf einen Schlag ein umfangreiches Konvolut aus einer Kunstgattung sein Eigen nennen, deren Rolle für die Entwicklung der modernen Kunst, die in Basel in den Jahren so dringlich zu erwerben intendiert wurde, evident war. Vermutlich standen dem aber auch Vorbehalte entgegen, die aus der Solitärstellung der Drucke und der Frage nach der wissenschaftlichen Bearbeitung resultierten. Doch nicht einmal zwischen den Zeilen des Briefwechsels oder der Protokolle der Kunstkommission, des über Zugänge entscheidenden Aufsichtsgremiums, kommt zum Ausdruck, auf welche Weise sich im Entscheid zur Annahme des gesamten Vermächtnisses sammlungsstrategische oder diplomatische Überlegungen niederschlugen.

Man beeilte sich, das Vermächtnis Mettlers der

Öffentlichkeit in einer Ausstellung zu zeigen, und lud im Juni des Eingangsjahres zur Präsentation ein, die die «16 Gemälde, 7 Plastiken, 117 Aquarelle und Handzeichnungen, sowie 423 Holzschnitte und Kupferstiche vor allem von schweizerischen, deutschen und französischen Künstlern des 19. und 20. Jahrhunderts»5 umfassende Kollektion – wohl in einer Auswahl – vorstellte.6 Weder wurde in der Einladung auf das Vorhandensein einer Sammlung japanischer Holzschnitte, die durchaus Teil der Zählung waren, hingewiesen, noch tat dies Georg Schmidt in seiner Eröffnungsrede, die sich der Charakterisierung des Sammlers sowie der von ihm geschätzten europäischen Werke widmete.7 Schmidt leitete seine Rede – den in der Korrespondenz mit Emil Mettler­Rikli gemachten Aussagen widersprechend – mit der ungleich aufsehenerregenderen Behauptung ein, man habe «nichts von der Existenz einer ‹Sammlung Dr. Mettler›» gewusst.8 Er schilderte die Lebensstationen Mettlers: Geboren in eine im Textilgewerbe tätige Kaufmannsfamilie aus St. Gallen, studierte Carl Mettler ab 1897 zunächst in Heidelberg, dann in München Chemie bei dem späteren Nobelpreispräger Adolf von Baeyer (1835–1917), der 1905 für seine Forschungen der Farbstoffchemie und speziell der Indigosynthese ausgezeichnet wurde. Mettlers Bekanntschaft mit Künstlern, die Auseinandersetzung mit bildender Kunst und vielleicht bereits sein Kunstsammeln gingen ebenfalls auf die Studienjahre in München zurück. Nach der Promotion fand er 1905 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Basler Farbenfabrik J. R. Geigy 9 eine Anstellung, ab

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Dr. Carl Mettler, Aufnahmedatum unbekannt Kunstmuseum Basel, Archiv

1930 übertrug man ihm die Position eines Prokuristen. Für die Firma Geigy, die er Zeit seines Lebens nicht verliess, entwickelte er unter anderem Textilfarbstoffe. Wie Georg Schmidt den autobiographischen Aufzeichnungen Mettlers entnahm, erlebte der Chemi ker dennoch eine wechselvolle Berufslaufbahn. 1915 erlitt er einen schweren Laborunfall, dessen Nachwirkungen ihn lange Zeit beeinträchtigten.10 Kaum drei Jahre nach seiner aus gesundheitlichen Gründen bereits mit 61 Jahren erfolgten Pensionierung verstarb Mettler. In seiner Würdigung hob Schmidt die Parallelen in der Persönlichkeit des Sammlers und der Ausrichtung der Sammlung hervor: So sei er originell, witzig, skeptisch, hochgebildet, selbstkritisch, bescheiden, unabhängig und fantasievoll gewesen; Attribute, die auch seine Sammlung charakterisierten.11 Zwar wäre an dieser Stelle auch ein Hinweis auf die Holzschnitte naheliegend gewesen, doch beschränkte sich Schmidt darauf, in Mettlers Kunstsammeln die regionale Verbundenheit mit Schweizer Künstlern und Bildthemen einerseits und andererseits das Interesse an der französischen Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts

Abb. 2

als der die Kunstentwicklung anführenden Schule zu kontrastieren. Das buchstäbliche Schattendasein der japanischen Farbholzschnitte schien damit vorgezeichnet. Unterbrochen wurde dies erst in den 1950er Jahren, als die als Volontärin beschäftigte Sinologin Dr. Maria Wang­Jost Mettlers Ostasiatika ­Sammlung in Grundzügen bearbeiten konnte. 12

Eine Vorgeschichte: Otto Fischer und die ostasiatische Kunst

Das Vermächtnis ostasiatischer Werke, genauer japanischer Holzschnitte und einiger weniger japanischer und chinesischer Pinselzeichnungen aus der Sammlung Dr. Carl Mettler ging 1942 zwar unerwartet, aber nicht ohne Anknüpfungspunkte in der jüngsten Geschichte der Institution in das Kunstmuseum ein. Georg Schmidt übernahm 1939 die Leitung der Öffentlichen Kunstsammlung Basel von Otto Fischer (1886– 1948; Abb. 2), der seit 1927 sowohl die Museumsleitung als auch eine ausserordentliche Professur für ostasiatische Kunstgeschichte an der Universität Basel innegehabt hatte und 1938, wie fast gleichzeitig auch Mettler, aus gesundheitlichen Gründen sein Amt aufgeben musste. Wie der neun Jahre ältere Mettler stammte auch Fischer aus einem Zentrum der Textilindustrie, dem schwäbischen Reutlingen, übersiedelte ebenfalls zum Studium nach München und lebte in der damals lebendigsten Kunststadt Deutschlands, wo bereits Mettler die Initialzündung seiner Kunstbegeisterung erlebt hatte. München war um 1900 das Epizentrum der deutschen Avantgarde

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Otto Fischer mit Abt Maruyama Denei, wohl in Kyoto, 1924

und ein Nukleus für die künstlerische Rezeption der ostasiatischen Künste, deren Ästhetik im deutschsprachigen Raum sowohl vermittels ihrer Rezeption in der zeitgenössischen französischen Malerei als auch durch den gerade in München florierenden Jugendstil Eingang in autonome und angewandte Kunstformen fand.13 Es ist unwahrscheinlich, dass Mettler und Fischer sich dort begegnet sind, begann doch Fischer sein Studium in München just im Herbstsemester 1905, als Mettler in Basel Fuss fasste.

Otto Fischer befasste sich in seiner wissenschaftlichen Laufbahn nicht nur mit der altdeutschen Kunst und der Moderne, die er trotz vieler Widerstände in den musealen Sammlungen in Basel, wie bereits in seiner vorherigen Position am Museum der Bildenden Künste in Stuttgart (der heutigen Staatsgalerie Stuttgart), zu verankern versuchte. Fischers Interesse galt ebenso der ostasiatischen Kunst.14 Er promovierte über «Die altdeutsche Malerei in Salzburg», habilitierte sich 1912 mit einer Schrift über chinesische Kunsttheorie und verfasste Zeit seines Lebens zahlreiche wissenschaftliche Texte vor allem über chinesische Malerei, Zeichnung, Druckgraphik und Skulptur.15 Seine Kenntnisse erweiterte er auf einer vor Amtsantritt in Basel unternommenen, fast einjährigen Forschungsreise im Auftrag des deutschen Auswärtigen Amtes nach Japan, China, Java und Bali, auf der er wohl Werke für seine Privatsammlung erwarb. Diese befindet sich heute in Teilen im Museum Rietberg in Zürich, darunter chinesische Steinabreibungen und chinesische Holzschnitte.16

Nikolaus Meier weist im Zusammenhang mit Fischers Versuchen, Werke Ernst Ludwig Kirchners für das Kunstmuseum Basel anzukaufen, darauf hin, dass der Museumsmann auch eine umfangreiche Sammlung japanischer Graphik besessen habe, die in Berichten Kirchners über Besuche bei Fischer erwähnt wird.17 Fischer habe «eine ungeheure Sammlung und darin lebt er».18 Beim gemeinsamen Studium der «Holzschnitte […] aus Japan und China, wie ich [Kirchner] sie noch nie sah»19, traten beiden markante Ähnlichkeiten zwischen den deutschen und den «chinesischen, jap [sic] ‹Expressionisten›» vor Augen – womöglich auch für die jeweiligen Eigenschaften des Holzschnittes –, und auch für die Graphik Daumiers fand sich ein fernöstliches Äquivalent.

Scheinen «die Moderne» und «die ostasiatische Kunst» aus der heutigen Perspektive zwei riesige, weit auseinanderliegende Forschungsdisziplinen, die allenfalls in einer dem Japonismus gewidmeten akademischen Karriere zusammenfinden können, aber kaum als zwei parallel zu beschreitende Forschungswege, war dies in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht unmöglich: Die Arbeit an der Kanonisierung der französischen «Vorväter» und «Väter der Moderne» in den öffentlichen Museen und der Kunstgeschichtsschreibung war in vollem Gange, ebenso die kritische Diskussion der deutschen Avantgarde, darunter die Künstler:innen rund um die Künstlergruppen Brücke und Der Blaue Reiter. Sowohl die modernen französischen Künstler:innen als auch die jüngere deutsche Generation setzten sich intensiv

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mit aussereuropäischer, darunter japanischer Kunst auseinander, deren wissenschaftliche Erschliessung aus westlicher Perspektive und unter Zuhilfenahme kunsthistorischer Modelle ebenfalls erst eingesetzt hatte.20 Otto Fischer steht dabei gemeinsam mit dem Berliner Kunstkritiker, Museumskurator und ­direktor Curt Glaser (1879–1943), dessen wissenschaftliche Schwerpunkte mit denen Fischers übereinstimmten, für einen zugleich universalistischen und hochspezialisierten Wissenschaftlertyp der Kunstgeschichte.21 Beide zählten zu den entschiedenen Verfechter:innen der Moderne (so war Fischer Mitglied der Neuen Künstler­Vereinigung München) und zu einer noch kleinen, aber wachsenden und vernetzten Gruppe von enthusiastischen Ostasien­Kenner:innen und ­Sammler:innen. Wie Fischer besass auch Glaser eine umfangreiche Sammlung von Ostasiatika, darunter Skulpturen und japanische Farbholzschnitte, die gleichermassen als Objekt des sammlerischen Delektierens und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung fungierten.22 Zu diesen europäischen Kenner:innen gehörten ebenfalls der Kunsthistoriker und vortragende Rat in der Generaldirektion der Königlichen Sammlungen für Wissenschaft und Kunst in Sachsen, Woldemar von Seidlitz (1850–1922), der die erste, wegweisende deutschsprachige Publikation zum japanischen Farbholzschnitt verfasste und eine zentrale Rolle für die bereits 1904 etablierte Sammlung der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich spielte, 23 und der Freiburger Ethnologe und Kurator der Städtischen Kunstsammlungen Freiburg Ernst Grosse (1862 – 1927). 24

Abb. 3

Katsushika Hokusai

Die flüchtige Wolkenbrücke am Berg Gyōdōzan bei Ashikaga, 1834 aus der Serie Seltene Ansichten berühmter Brücken in verschiedenen Provinzen

japanischer Farbholzschnitt, Tusche und Farbe auf Japanpapier

Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Inv. 1942.665, Vermächtnis Dr. Carl Mettler, Basel 1942

Beide waren massgeblich am Aufbau von Museumssammlungen ostasiatischer Kunst in Dresden bzw. Berlin beteiligt, Grosse nicht zuletzt als Japan bereisender Agent für die Berliner Königlichen Museen unter der Leitung Wilhelm von Bodes (1845 – 1929). Verwandte Geister waren aber auch Sammler wie Karl Ernst Osthaus (1874 – 1921) und Eduard von der Heydt (1882 – 1964), die dank ihrer Vermögensverhältnisse ihren Leidenschaften für die europäische Avantgardekunst und aussereuropäische Kunst gleichermassen nachgehen konnten.

Ostasiatische Kunst in der Sammlung des Kunstmuseums Basel im Sinne eines Museums der Weltkunst zu etablieren, scheint während Fischers Leitung kein Anliegen gewesen zu sein, das diskussionswürdig gewesen wäre. Erwerbungen wurden im Kerngebiet der Sammlung, im Bereich der Altmeister, und in der Moderne getätigt. Seine Expertise konnte Fischer neben seiner Lehrtätigkeit aber für Ausstellungen einbringen, die den Blick gen Asien weiteten und nicht­ europäische Objekte als Kunstwerke präsentierten, damals keine Selbstverständlichkeit. Ende 1928 wurde im Kunstmuseum die Ausstellung Chinesische Graphik (Steinabreibungen, Holzschnitte, Bücher) aus dem persönlichen Besitz von Fischer gezeigt, 1932 Chinesische Bilder und Drucke aus der Sammlung Du Bois-Reymond. 25 Darüber hinaus verfasste Fischer für die Ausstellung ostasiatischer Gemälde aus der Sammlung von der Heydt 1934/1935 im Kunstgewerbemuseum Zürich einen Katalogtext.26 In Basel war 1935 weiterhin die Ausstellung

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Abb. 4

Die Hängebrücke zwischen den Provinzen Hida und E tchū, 1834 aus der Serie Seltene Ansichten berühmter Brücken in verschiedenen Provinzen japanischer Farbholzschnitt, Tusche und Farbe auf Japanpapier Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Inv. 1942.666, Vermächtnis Dr. Carl Mettler, Basel 1942

des Gewerbemuseums mit dem Titel Die Kunst des alten Japan zu sehen, die Leihgaben unter anderem aus der Sammlung des verstorbenen Ernst Grosse, von Eduard von der Heydt und Otto Fischer präsentierte und beanspruchte, «zum erstenmal [sic] in der Schweiz eine Darstellung der Kunst des alten Japan, ihrer hauptsächlichsten Entwicklungsstufen und ihrer wichtigsten Gebiete» zu geben. 27 Als Basler Kunstsammler, der sich «vornehmlich mit den Problemen der bildenden Kunst und Literatur» 28 befasste, nahm Carl Mettler diese Ausstellungen sicherlich wahr, wenn sie auch ein weiteres Feld umfassten als seine Sammlung. Ebenso werden Mettler, der «durch seine Belesenheit in Erstaunen versetzen [konnte]» 29, auch Otto Fischers einschlägige Publikationen wie beispielsweise Die japanische Kunst oder der Band der Propyläen Kunstgeschichte über die Kunst Indiens, Chinas und Japans 30 bekannt gewesen sein. Doch selbst wenn beide ihre gemeinsamen Spezialinteressen persönlich verbunden haben und beide des anderen Sammlungen womöglich gekannt haben sollten, sind neben den bereits angeführten Quellen keine Belege für eine nähere Bekanntschaft oder gar Freundschaft zwischen den Wissenschaftlern überliefert. Nichtsdestoweniger betrachtete Mettler das Kunstmuseum sowohl für die europäische Malerei, Zeichnung, Druckgraphik und Skulptur als auch für die japanischen Holzschnitte, die dort auf ein aufgeschlossenes Umfeld treffen konnten, als den richtigen Ort, an dem seine Sammlung verwahrt werden sollte.

Zwischen Bekanntem und Ungewöhnlichem: das Profil der Sammlung Mettler

Die Werke aus dem Vermächtnis Dr. Carl Mettler machen nahezu die Gesamtheit des Basler Bestandes japanischer Holzschnitte aus, insofern blieb der Charakter seiner Sammlung auch nach dem Eingang ins Museum unverändert erhalten. Das Profil der Sammlung des Kunstmuseums steht damit nach wie vor für ein persönliches Sammlerinteresse, seine Voraussetzungen und Ziele. Fragt man nach quantitativen Einordnungen, so bestimmen die Werke dreier Künstler des 19. Jahrhunderts bzw. der sich dem Ende zuneigenden Edo­Zeit (1603–1868; Glossar) die Sammlung: Rund ein Drittel, 114 Blätter, stammt von Utagawa Hiroshige (1797–1858), es folgen Utagawa Kunisada (1786–1865) mit 75 Blättern und Utagawa Kuniyoshi (1798–1861) mit 40 Blättern. Ihre Drucke stehen für eine Phase des japanischen Farbholzschnittes, in der – angefangen mit dem seit etwa 1820 für den Holzschnitt genutzten Farbstoff Preussischblau (Glossar) – neue, nicht­pflanzliche oder ­mineralische Druckfarben eine bisher ungekannte Bandbreite von Buntfarben in die Gestaltung einzubringen erlaubten (nishiki-e; Glossar) und die bis dato zusätzlich zum schwarzen Liniendruck verwendete subtile Palette von Rosa­, Gelb­ und Grüntönen ablösten (benizuri-e; Glossar). Womöglich bestand ein Aspekt der Faszination der Drucke für Mettler in der vielfältigen Farbigkeit, die ihn selbst von Berufs wegen beschäftigte.

Von Hiroshige, dessen Werk zu den grossen Klassikern des Farbholzschnitts gerechnet wird, treten in

JAPANISCHE FARBHOLZSCHNITTE IM KUPFERSTICHKABINETT DES KUNSTMUSEUMS BASEL 17
Katsushika Hokusai

Auf dem Weg

Die Landschaft im japanischen Farbholzschnitt (fūkeiga; Glossar) ruft als Erstes die ikonischen Darstellungen des heiligen Berges Fuji von Katsushika Hokusai vor Augen. Sie werden nicht nur als Stellvertreter für diese Gattung des Farbholzschnitts, sondern weit darüber hinaus als Symbol für die Natur, die Ästhetik und die Identität Japans schlechthin verstanden und haben dementsprechend enorme Aufmerksamkeit erhalten.1 Obwohl ein Blatt wie Der Fluss Tama (Tamagawa) in der Provinz Musashi (Kat. 45) wie ein Solitär zu wirken vermag, ist es Teil der Serie 36 Ansichten des Berges Fuji. Hokusai und der Verleger Nishimuraya Yohachi folgten damit einem der wichtigsten Prinzipien der Farbholzschnitt-Landschaften, denn diese wurden in der Druckgraphik gemeinhin als Bilderfolgen und nicht als Einzelblätter konzipiert. Ein kommerziell erfolgreiches Thema – ob berühmte Berge, Gewässer oder Überlandstrassen – liess sich in immer neuen Serien variieren, so dass sich nicht nur Hokusai die Erweiterung der ursprünglichen Serie auf 100 Entwürfe zum Ziel setzte, sondern sich auch Kunisada, Kuniyoshi und Hiroshige an Fuji-Ansichten erprobten.

Führt man Hokusais 36 Ansichten als Inkunabeln der Landschaft an, sind in gleichem Zuge Hiroshiges Werke zu nennen: Beide Künstler prägten diese Gattung, erreichten mit den Entwürfen für Landschaften ihre grössten Erfolge und formten eine individuelle Bildsprache aus, die von ihren Landesgenossen und europäischen Künstlerinnen und Künstlern intensiv rezipiert wurde. Als dem siebzigjährigen Hokusai, der auf eine lange Künstlertätigkeit zurückblicken konnte, mit den zwischen 1830 und 1832 publizierten Fuji-Ansichten eine Art «Bestseller» gelang, trat bald darauf auch der jüngere Hiroshige mit seiner bedeutendsten Serie auf den Plan, den von 1832 bis 1834 erschienenen 53 Stationen der Ostmeerstrasse bzw. des Tōkaidō (Glossar). Zwar taucht auch unter den Motiven des Tōkaidō immer wieder der Fuji als Landmarke auf, doch widmet sich die Serie dem Verlauf der wichtigsten Überlandstrasse zwischen der neuen Hauptstadt Edo (Glossar) und der alten Kaiserstadt Kyoto, die von Edo entlang der östlichen Küste Honshūs führt und sich im letzten Abschnitt westwärts ins Landesinnere wendet.

Gemeinhin schöpften Künstler für die Holzschnittentwürfe aus der reichen Darstellungstradition der Landschaft in der japanischen und chinesischen

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Der Fluss Tama (Tamagawa) in der Provinz Musashi 1831 aus der Serie 36 Ansichten des Berges Fuji

33 45 | Katsushika
Hokusai

Schön sein

Beschäftigen sich die japanischen Farbholzschnitte mit der menschlichen Figur, so handelt es sich – wenn nicht um Schauspielerdarstellungen – zumeist um die Repräsentation schöner, überwiegend weiblicher Figuren: Bijinga (Glossar) waren ein eigenständiges Bildthema von grosser Beliebtheit. Dementsprechend breit ist das Spektrum der verschiedenen Sujets, in denen die Schönheit der Protagonist:innen zum Gegenstand gemacht wurde, und umfangreich die Reihe der Künstler, deren bijinga sowohl von ihren Zeitgenossen als auch von späteren Sammlergenerationen geschätzt wurden.1 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sorgten erstmals die Entwürfe von Suzuki Harunobu dafür, dass im Farbholzschnitt ein wiedererkennbarer und für sein Œuvre charakteristischer Typus schöner Figuren etabliert und verbreitet wurde. Harunobus Schönheiten erscheinen als anmutige, zierliche und jugendliche Figuren (Kat. 7), die in eine farbig fein abgestimmte, träumerische Atmosphäre eingebunden sind, in der sogar die Vorhaltungen der jungen Frau an ihren Geliebten, mit einem Brief in der Hand, als elegische Geste erscheinen.

Neben der Darstellung teils unglücklicher, aber immer schöner Liebespaare aus Theater und Literatur drängte sich ein Sujet geradezu auf: das der legendenumwobenen Kurtisanen, d. h. der hochrangigen Prostituierten, insbesondere aus Edos berühmtem Rotlichtviertel Yoshiwara, die als typisierte Verkörperungen von idealer Schönheit, Eleganz und Kultiviertheit inszeniert wurden. Von den frühen Exemplaren des 18. Jahrhunderts an lassen sich die Kurtisanen-Drucke bis zum Ende der Edo-Zeit (1868, Glossar) – hier in ganzfigurigen Beispielen von Isoda Koryūsai (Kat. 49), Kitagawa Utamaro (Kat. 101), Eishōsai Chōki (Kat. 2), Kitagawa Utamaro II (Kat. 105), Kikukawa Eizan (Kat. 4, 5) und Utagawa Kunisada (Kat. 68, 69) – und darüber hinaus verfolgen. Die opulente modische Ausstattung mit übereinandergetragenen, voluminösen Kimonos, aufwändige, mit Kämmen und Stäben verzierte Frisuren und der vorne gebundene ōbi (Gürtel) unterschieden die Erscheinung der Kurtisanen von anderen Frauenfiguren. Die Kurtisane Konoharu aus dem Haus Iedaya (Kat. 49) war Teil einer 140 Blätter umfassenden Serie Koryūsais und Torii Kiyonagas unter dem Titel Modelle für die Mode: Neue Muster, so frisch wie junge Blätter, in der bekannte Kurtisanen und ihre Auszubildenden

82 100 | Kitagawa Utamaro Kakogawa Konami, Ōboshi Rikiya und das Dienstmädchen Suki um 1798–1800 aus der Serie Modelle für Liebesgespräche: Wenn Wolken den Mond verdunkeln
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Starkult

Die Verehrung der Kabuki-Schauspieler im Medium des Holzschnitts kannte kaum Grenzen und brachte Unmengen an Drucken hervor. Ob als Ganzfigur (Kunisada; Kat. 55), als Brustbild (Sharaku; Kat. 84, 85) oder extreme Nahansicht (Kunichika; Kat. 50) wurden die Porträts der Schauspieler auf den yakusha-e-Drucken (Glossar) für ihre Fangemeinde abgebildet. Auf der Bühne oder abseits der Bühne, an realen oder fiktiven Schauplätzen begegnen wir den Darstellern zu ihren Lebzeiten, und nach ihrem Tod verewigten die Gedenkdrucke (shini-e; Glossar) ihren Ruhm. Nicht nur auf Holzschnitten Kunisadas erscheinen die Schauspieler im städtischen Alltag, etwa im Freundeskreis beim Trinken in Restaurants (Kat. 66) oder nach Vorstellungsende hinter den Kulissen (Kat. 64, 65 ). Bei solchen Gelegenheiten sind sie oft von schönen Frauen, Serviererinnen und Kurtisanen umgeben, womit ihre Beliebtheit, insbesondere beim anderen Geschlecht, unterstrichen wurde. Diese Bilder ermöglichten den Betrachterinnen und Betrachtern zudem ein gewisses Gefühl der Vertrautheit. Sie gewährten einen intimen Blick auf die Schauspieler, die hier privat in ungezwungenen Situationen vorgeblicher Nahbarkeit auftreten – kein Wunder, dass solche Drucke grossen öffentlichen Anklang fanden. Auf anderen Blättern sehen wir Kabuki-Darsteller in Ausstellungsräumen (Kat. 82). Auf dem Druck Kuniyoshis werden mehrere Schauspieler, darunter Ichikawa Danjūrō VII (1791–1859), von einer Frau durch eine Ausstellung sogenannter ema (Glossar) geführt, bemalte Wandtafeln, die in Schreinen präsentiert wurden. Zwei dieser ema sind oben im Bild zu erkennen; eines zeigt einen Kabuki-Schauspieler. Bei der sitzenden Figur im Vordergrund handelt es sich um Danjūrō VII, der seine Bühnenkarriere zum Entstehungszeitpunkt des Drucks zwar beendet hatte, im Kulturleben Edos aber weiterhin eine aktive Rolle spielte.

Die meisten der hier angeführten Drucke entstanden während oder im Nachgang der Tenpō-Reformen (Glossar). Die Benennung der Schauspieler auf den Holzschnitten wurde in dieser Zeit von den Zensurbehörden untersagt. Doch waren die regelmässigen Käuferinnen und Käufer (wie auch die Fachwissenschaft heute) hinreichend vertraut mit den individuellen Physiognomien der Schauspieler, um die Darstellungen zuordnen zu können.

150 93 | Katsukawa Shunshō Der Kabuki-Schauspieler Nakamura Rikō I um 1775
HANS BJARNE THOMSEN
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Held sein

Die dramatisch in Szene gesetzten Figuren dieses Themenkreises könnte man für Kabuki-Schauspieler auf der Bühne halten. Doch sind sie keineswegs Schauspieler, sondern historisch verbürgte oder legendäre Helden der japanischen Vergangenheit. Dieses Genre des Holzschnitts verbreitete sich um die Zeit der Tenpō-Reformen (Glossar), als die Darstellung von Kabuki-Schauspielern untersagt war. Den Verlegern und einer Reihe von Künstlern ermöglichten sie, weiter ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, nachdem eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen durch die Verbote weggebrochen war. Für Künstler wie etwa Utagawa Kuniyoshi war die Produktion von Drucken dieses Genres ein lohnendes Geschäft; Grenzen setzte ihnen dabei allein ihre Fantasie.

Selbst Künstler wie Hokusai, die nicht für ihre Schauspielerdrucke berühmt waren, folgten dieser in der Folgezeit der Tenpō-Reformen florierenden Strömung der Darstellung von Heldengeschichten. In Hokusais dramatisch inszenierter Schilderung zweier historischer Krieger wird die Bildfläche fast vollständig von den Körpern der Figuren ausgefüllt (Kat. 46). Dass die Krieger Kusunoki Masashige (1294–1336) und Yao no Bettō Tsunehisa (14. Jh.) sich je im Kampf begegnet sind, ist nicht dokumentiert. Doch sah der Künstler darin offenbar keinen Hinderungsgrund, als er unter grosszügiger Verwendung der importierten Druckfarbe Preussischblau (Glossar) diese effektvolle Darstellung schuf. Preussischblau war erst kurz zuvor mit Hokusais ikonischen 36 Ansichten des Berges Fuji in die japanische Holzschnittproduktion eingeführt worden.

Zum unbestrittenen Meister der Darstellung von Legenden und Geschichten wurde Utagawa Kuniyoshi. Mit der aufsehenerregenden Serie Ein jeder der 108 Helden des Suikoden gelang ihm der Durchbruch (Kat. 71). Das Suikoden (Glossar) beruht auf dem Shi Nai’an zugeschriebenen chinesischen Roman Shui Hu Zhuan, der von den Heldentaten des Rebellen Song Jiang und seiner 108 Gefährten handelt. Kagaya Kichibei, ein Verleger aus Edo, hatte den damals noch unbekannten Künstler Kuniyoshi mit einer Holzschnittserie zu den Romanfiguren beauftragt. Die zwischen 1827 und 1830 entstandene Suikoden-Serie wurde dann nicht nur in kommerzieller Hinsicht ein enormer Erfolg. Die äusserst fantasievollen Darstellungen von Tätowierungen

172 46 | Katsushika Hokusai Kusunoki Tamonmaru Masashige und Yao no Bettō Tsunehisa 1833–1835 aus einer nicht betitelten Serie kämpfender Krieger
HANS BJARNE THOMSEN
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von Erdberg 1985

Eleanor von Erdberg, «Die Anfänge der Ostasiatischen Kunstgeschichte in Deutschland», in: Kategorien und Methoden der deutschen Kunstgeschichte 1900–1930, hrsg. von Lorenz Dittman, Stuttgart 1985, S. 185–207

von Seidlitz 1897

Woldemar von Seidlitz, Geschichte des japanischen Farbenholzschnitts, erste Auflage, Dresden 1897

von Stockhausen 2018

Tilmann von Stockhausen, «Zwischen den Welten. Ernst Grosse in Berlin und Freiburg», in: Japanische Holzschnitte aus der Sammlung Ernst Grosse, hrsg. von Hans Bjarne Thomsen für die Städtischen Museen Freiburg, Museum Natur und Mensch, Ausst.Kat. Museum Natur und Mensch, Petersberg 2018, S. 20–27

Walravens 2012

Hartmut Walravens (Hrsg.), Curt Glaser. Historiker der ostasiatischen Kunst. Mit seinem nachgelassenen Werk «Materialien zu einer Kunstgeschichte des Quattrocento in Italien», mit einer Einleitung, Schriftenverzeichnis und Register (Staatsbibliothek zu Berlin, Neuerwerbungen der Ostasienabteilung, Sonderheft 31), Berlin 2012

Walravens 2017

Hartmut Walravens (Hrsg.), Julius Kurth (1870–1949): Berliner Japansammler, Gelehrter und Pfarrer. Mit seinem unveröffentlichten Sharaku-Schauspiel, mit einem Beitrag zu Japan-Exlibris von Setsuko Kuwabara (Asien- und Afrikastudien der Humboldt-Universität zu Berlin), Wiesbaden 2017; https://doi.org/10.2307/j.ctv11sn43g

Walravens 2023

Hartmut Walravens, «Otto Fischer (22. Mai 1886–9. April 1948) Veröffentlichungen zur asiatischen Kunst», in: Pis’mennye pamiatniki Vostoka, 2023, Bd. 20, Nr. 1 (Heft 52), S. 95–114 (Deutsch); https:// doi.org/10.55512/WMO202797

Yamada 2020

Masami Yamada, «Picturing Fashion in Edo-Period Japan», in: Kimono. Kyoto to Catwalk , hrsg. von Anna Jackson, Ausst.Kat. Victoria and Albert Museum, London 2020, S. 111–115

Soweit nicht anders verzeichnet, gilt für alle Abbildungen

© Kunstmuseum Basel, Foto: Jonas Hänggi/ Max Ehrengruber/Jonas Schaffter/ Martin P. Bühler

Ausgenommen

S. 13: © Kunstmuseum Basel, Archiv, Signatur O 001.009.001.000, Geschenke und Legate

S. 14: Otto Fischer. Ein Kunsthistoriker des zwanzigsten Jahrhunderts, Reutlingen 1886 – Basel 1948, hrsg. von der Stadt Reutlingen, Sonderdruck aus den Reutlinger Geschichtsblättern, NF 25, [ohne Ort] 1986, S. 24

S. 20 (Abb. Mitte und rechts): Timothy Clark, Kuniyoshi. From the Arthur R. Miller Collection, Ausst.-Kat. The Royal Academy of Arts London und Japan Society New York, London 2009, S. 37

S. 27: Kunstmuseum Basel, Depositum der Dr. h.c. Emile Dreyfus-Stiftung/Foto: Martin P. Bühler

S. 119 (Abb. Mitte und rechts): © The Tsubouchi Memorial Theatre Museum, Waseda University

S. 126: © The Art Institute of Chicago/ Creative Commons Zero (CC0)

S. 128: © 2024, Museum of Fine Arts, Boston S. 129: © privat

Herausgeber und Redaktion waren bemüht, alle Bildrechte einzuholen. Sollten versehentlich Inhaber von Rechten nicht berücksichtigt worden sein, werden deren Ansprüche selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

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Abbildungsnachweis

Dieser Katalog erscheint anlässlich der Ausstellung

MADE IN JAPAN. FARBHOLZSCHNITTE

VON HIROSHIGE, KUNISADA UND HOKUSAI Kunstmuseum Basel, 16. März bis 21. Juli 2024

AUSSTELLUNG

Kuratorin

Judith Rauser, Assistenzkuratorin Kupferstichkabinett

mit Hans Bjarne Thomsen, Universität Zürich, Kunsthistorisches Institut, Kunstgeschichte Ostasiens

Projektleitung

Judith Rauser

KATALOG

Herausgegeben von Judith Rauser und Hans Bjarne Thomsen

Konzept und Redaktion

Judith Rauser

Projektleitung Verlag

Luzie Diekmann

Herstellung Verlag

Stefanie Kruszyk

Lektorat (deutsch)

Elke Thode

Lektorat (japanisch)

Stephanie Santschi

Übersetzung

(englische Texte Hans Bjarne Thomsen)

Peter Sondermeyer

Gestaltung und Satz

Verena Gerlach

Papier

Condat matt Périgord 150 g/m² (Innenteil) und Munken Polar Rough 300 g/m² (Umschlag)

Lithographie

Repromayer Medienproduktion GmbH

Druck und Bindung

Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG

Verlag

Deutscher Kunstverlag

Ein Verlag der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston

www.deutscherkunstverlag.de www.degruyter.com

© 2024 Kunstmuseum Basel, Deutscher Kunstverlag und Autor:innen

ISBN: 978-3-422-80183-7

Library of Congress Control Number: 2024931472

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Abbildung auf dem Titel

Utagawa Kunisada, Der Kabuki-Schauspieler Sawamura Tanosuke III als Koshimoto Okaru aus dem Stück Chūshingura (Kat. 55)

Abbildung auf Rückseite und hinterer Klappe

Utagawa Hiroshige , Kirschblütenschau auf dem Berg Asuka (Asukayama), aus der Serie Berühmte Ansichten von Edo (Kat. 23; Ausschnitt)

S. 10: Ausschnitt aus Kat. 9

S. 30/31: Ausschnitt aus Kat. 37

S. 112/113: Ausschnitt aus Kat. 94

S. 114: Ausschnitt aus Kat. 43

S. 194/195: Ausschnitt aus Kat. 20

KUNSTMUSEUM BASEL

Direktorin a. i.

Leiterin Kunst und Wissenschaft

Anita Haldemann

Leiterin Art Care a. i.

Caroline Wyss Illgen

Leiter Finanzen und Operations a. i.

Tim Kretschmer

Leiterin Marketing und Development

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Provenienzforschung Kupferstichkabinett

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Digitale Medien

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Marketing

Vera Reinhard, Christian Selz

Ausstellung und Katalog wurden unterst ü tzt durch die Stiftung f ü r das Kunstmuseum Basel, Samuel Werenfels und eine Förderin, die ungenannt bleiben möchte.

Kunstmuseum Basel

St. Alban-Graben 8–16

CH-4010 Basel

www.kunstmuseumbasel.ch

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