Zeugnis. Zweifel. Zeichen

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SCHRIFTEN DER FORSCHUNGSSTELLE INFORMELLE KUNST

Herausgegeben von Anne-Kathrin Hinz und Christoph Zuschlag

Band 2

ZEUGNIS ZWEIFEL ZEICHEN

Zeitgeschichte in der abstrakten Malerei in Deutschland nach 1945

Förderer der Forschungsstelle Informelle Kunst: Galerie Maulberger, K. O. Götz und Rissa-Stiftung, MKM Stiftung, Privatsammlung Meerbusch, Reinhard & Sonja Ernst-Stiftung, Stiftung Informelle Kunst, Stiftung Stark für Gegenwartskunst, VAN HAM Art Estate

Zugl.: Dissertation, Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2021

ISBN 978-3-422-80200-1

e-ISBN (PDF) 978-3-422-80201-8

ISSN 2751-7624

Library of Congress Control Number: 2024935274

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2024 Deutscher Kunstverlag

Ein Verlag der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Einbandabbildung: Karl Otto Götz: Jonction II, 1991, Mischtechnik auf Leinwand, 200 × 520 cm (zweiteilig), Duisburg, Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Sammlung Sylvia und Ulrich Ströher, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Einbandgestaltung: Ben Wozniak

Layout: Ben Wozniak

Satz und Repro: LVD GmbH, Berlin

Druck und Bindung: mediaprint Solutions GmbH

www.deutscherkunstverlag.de www.degruyter.com

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35 Abstrakte Geschichte

38 Historie – Geschichtsbegriff und malerische Gattung

41 Geschichte als Herausforderung für die Malerei und die Begriffe der Kunstwissenschaft

52 Ereignisbilder zwischen Figuration und Abstraktion

73 Zum Problem der Darstellbarkeit von Zeitgeschichte nach 1945

95 Repräsentation und Abstraktion

97 Repräsentation als Prozess

101 Zur Spezifik der Repräsentation durch Bilder

111 Zum Verhältnis von Abstraktion und Realität

118 Zu Offenheit und Deutung abstrakter Bilder

137 Abstraktion als Zeugnis

140 Geste und Material – Günther Uecker: Leipziger Blätter

149 Authentische Wiederholung – K. O. Götz: Jonction I–III

156 Das Konzept von Augenzeugenschaft im abstrakten Zeitgeschichtsbild

175 Das abstrakte Zeitgeschichtsbild als authentisches Bild-Zeugnis?

196 Abstraktion als Zweifel

199 Zweifelhafte Geschichte – K. R. H. Sonderborg: Spur Andreas B.

227 Vom Zweifel an der Darstellbarkeit – Gerhard Richter: Decke, Abstraktes Bild (H. M.) und Birkenau

265 Glaubenszweifel – Dieter Tucholke: »Glücklicher« Hiob

312 Abstraktion als Zeichen

316 Gedenk-Zeichen – Michael Morgner: Für Bonhoeffer, Einsiedel 5. 3. 1945 und Ein Deutsches Requiem

354 Konkrete Zeichen? – Georg Karl Pfahler: Ost-West-Transit

384 Schlussbetrachtung

398 Literaturverzeichnis

453 Abbildungsnachweis

455 Dank

»Das Abstrakte schien zunächst begrenzend, nun entdeckt es der Malerei ein neues Gebiet und neue Funktionen.«1

Einführung

Im Frühjahr 1961 zeigte die Pariser Galerie Pierre Domec unter dem Titel Peintures sur le thème des Émeutes, Triptyque sur la Torture, Hiroshima2 Werke des französischen Malers Robert Lapoujade (1921–1993). Im Geleitwort des Katalogs, das erstmals 1968 mit dem Titel Der Maler ohne Vorrechte in deutscher Übersetzung erschien, befasste sich Jean-Paul Sartre mit den offenkundig zu ihren Titeln im Widerspruch stehenden Bildern Lapoujades.3 Denn anders als es der Ausstellungstitel und einzelne Bildtitel wie L’Explosion, Panique, L’Exécution oder Hiroshima zunächst annehmen lassen, zeigen die Bilder weder eine Explosion, Menschen in Panik, eine Hinrichtung oder den Ort Hiroshima. Zwar hat man bei den Titeln durchaus bekannte, wohl eher fotografische Bilder von Zerstörung und Gewalt oder, wie im Fall des letztgenannten Bildes, an das durch den amerikanischen Atombombenabwurf zerstörte Hiroshima vor Augen, die Gemälde selbst lösen derartige Vorstellungen jedoch nicht ein. Es sind abstrakte oder, genauer formuliert, ungegenständliche Bilder, auf denen sich Flecken, Striche, pastos aufgetragene Farben, Pinsel- und Spachtelspuren scheinbar willkürlich und wild verteilen. Die so entstandenen Farblandschaften zeigen nichts und doch zeigen sie etwas, das offenbar nicht allein der Selbstreflexion der malerischen Mittel dient.

Bei einer eingehenden Beschäftigung mit den Bildern wird deutlich, dass die Titel keineswegs willkürlich vergeben wurden. Sie entstanden nicht nur in Erinnerung an die Zerstörung Hiroshimas, sondern auch unter dem direkten Eindruck des Algerienkriegs (1956–62), auf den Lapoujade vor allem mit dem Triptyque sur la Torture direkten Bezug nahm. Der Untertitel des Gemäldes erinnert an eine algerische Unterstützerin und einen Unterstützer des Unabhängigkeitskriegs, Djamila Bouhired und Henri Alleg, die von französischen Soldaten verhaftet und gefoltert worden waren. Auch Sartre zählte zu den Unterstützern des Kampfes und machte die Gräueltaten der französischen Soldaten unter anderem in der von ihm herausgegeben Zeitschrift Les Temps Modernes öffentlich.4 Die übrigen Bilder mit Titeln, die auf kriegerische Handlungen, Erscheinungen

und Gefühlszustände verweisen, reihen sich in die Verarbeitung der Brutalität des algerischen Unabhängigkeitskriegs ein.

Für Sartre waren Lapoujades nicht figürliche Auseinandersetzungen mit den Tumulten, Demonstrationen, mit Tod und Leid sowie mit den menschlichen Grenz- und Katastrophenerfahrungen eine notwendige Konsequenz, die aus den Ereignissen und Erfahrungen selbst gezogen wurde. Sie galten dem Philosophen und offenbar auch dem Künstler als nicht figürlich Darstellbares. Abstraktion und die in den Bildstrukturen, in Farbe und Materie sichtbaren Handlungen des Malers wurden zur möglichen Ausdrucksform. Für die abstrakte Malerei wurden somit ein neues Bezugsfeld und neue Funktionen erschlossen:5 die Repräsentation zeitgeschichtlicher Ereignisse.

Der Abstraktion wird demnach ein entscheidendes Merkmal zuerkannt: die Fähigkeit des Aufdeckens und Ausdrückens innerer Strukturen von Gesehenem, Erlebten und von Ereignissen, die gerade nicht in bekannte Formen oder Figuren zu übersetzen sind. In seinem Text betonte Sartre die Notwendigkeit, sich mit diesen Strukturen und den Gründen ihrer Entstehung auseinanderzusetzen, denn nur so würde die Beziehung zwischen den abstrakten Bildstrukturen und der Realität aufgedeckt und folglich ihre Funktion und ihr Sinn erkannt.6 Damit trat er ein für eine abstrakte Malerei, die sich mit den ihr eigenen Mitteln das Bezugsfeld der Zeitgeschichte erschloss. Für diesen Bereich wirkten noch im 20. Jahrhundert Vorstellungen des klassischen, figürlichen Typus des Ereignisoder gar Historienbilds nach, für das Fotografie und Film längst schnellere und vermeintlich objektive und exakte Bilder liefern konnten. Mit der Prämisse, dass auch die abstrakte Malerei Bezug auf zeitgeschichtliche Ereignisse nehmen und sie repräsentieren kann, bezog Sartre mit seiner Deutung eine klare Position, die sich gleichfalls gegen Vorwürfe und Kritiken wandte, die allerdings von den Entwicklungen moderner, abstrakter Malerei gestützt worden waren.

Die Auflösung des Gegenstands in der Malerei durch Künstlerinnen und Künstler wie Hilma af Klint (1862–1944) oder Wassily Kandinsky (1866–1944), die um 19067 beziehungsweise um 1910/138 erste abstrakte Bilder schufen, die Entwicklung einer rein gegenstandslosen Malerei unter anderem durch Kasimir Malewitsch (1879–1935) in seinem 1915 entstandenen Schwarzen Quadrat auf weißem Grund und das Postulat vom Ende der Malerei im Jahr 1921 durch Alexander Rodtschenko (1891–1956) mit einem Triptychon in den Farben Rot, Gelb und Blau9 sollten bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts den Grundstein für den Vorwurf legen, dass die abstrakte und ungegenständliche Malerei

bedeutungslos sei. Gestützt wurde diese Unterstellung durch die umfassenden Entwicklungen der abstrakten Malerei in den 1940er- und der 1950er-Jahren. Der Abstrakte Expressionismus in Amerika, das Informel in Europa und Asien, schließlich das teils parallele Aufkommen von Farbfeld- und Hard-Edge-Malerei als weitere Formen der Abstraktion, in der sich vornehmlich und auch bewusst mit Fragen zu malerischen Mitteln, zum Bild als Medium der Malerei, zu Wahrnehmungsphänomenen und Verhältnissen zwischen Bild, Raum und Betrachter auseinandergesetzt und damit der ungegenständlichen Kunst die Ausdrucksfähigkeit von Erhabenheit, des Numinosen, des Mystisch-Spirituellen zugesprochen wurde, schienen den Gegenstand oder vielmehr den konkreten Bezug zur zeitgeschichtlichen Realität gänzlich aus der Malerei verdrängt zu haben. Der Rezeption und dem Verständnis der abstrakten Malerei geriet dies nicht zum Vorteil.

Um die abstrakte Bildkunst und ihr Verhältnis zur Zeitgeschichte wurden im Deutschland der Nachkriegszeit erbitterte Diskussionen geführt. Die Dokumentation des ersten Darmstädter Gesprächs im Jahr 1950 mit dem Titel Das Menschenbild in unserer Zeit, in dem Befürworter und Gegner der modernen, abstrakten Kunst zu Wort kamen, gibt davon einen Einblick. Hier verteidigte unter anderem der Künstler Willi Baumeister (1889–1955) die Abstraktion gegen den Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, dessen konservative, gegen die moderne Kunst gerichtete Schrift Verlust der Mitte zwei Jahre zuvor erschienen war. 10 Eindeutige Worte waren auch noch 1985 zu hören, als Günter Grass in seiner Gedenkrede zum 8. Mai 1945 die unmittelbare, speziell die westdeutsche Nachkriegsmalerei der 1950er-Jahre kritisierte und ihr vorwarf, sie hätte sich der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs entzogen, sich dem Unverbindlichen preisgegeben und in den großformatigen, gegenstandlosen Werken alle Wirklichkeit ausgespart. 11 Ähnliche Argumente gebrauchte auch der Kritiker Hans-Joachim Müller in seiner im Mai 2022 erschienenen Rezension zur Ausstellung Die Form der Freiheit – Internationale Abstraktion nach 1945 im Potsdamer Museum Barberini, in der es heißt: »Davon erzählt die Geschichte der Abstraktion: Von der Form der Freiheit, von der gloriosen Okkupation der Westkunst, von Bildern, die in ihrer unzugänglichen Unbedingtheit auch ein wenig erkaltet scheinen. […] Nirgendwo Brüche, Fragmente, Inversionen. Das Verwundete, Unheilbare, es bleibt tunlichst verborgen. Noch immer eine Zierde, dieser abstrakte Anzug. Und doch ist er in allen privaten Kostümierungen auch eine perfekte Tarnung gewesen.«12

Dass jedoch auch dem eingangs erläuterten Beispiel Lapoujades vergleichbare »abstrakte Zeitgeschichtsbilder« in Deutschland, in der Bundesrepublik und der DDR, entstanden sind, in denen sich mit der deutschen Geschichte, aber auch mit dem Zeitgeschehen auseinandergesetzt wurde, steht noch heute nicht im allgemeinen Bewusstsein. Die Anerkennung jener Bilder scheint nicht nur durch die Geschichte der Abstraktion und die öffentliche Rezeption und Diskussion marginalisiert worden zu sein. Auch die bekannteren Positionen und Entwicklungen der Kunst ab den 1960er-Jahren, in der sich zum Beispiel Joseph Beuys (1921–1986), Wolf Vostell (1932–1998), Georg Baselitz (geb. 1938) oder Anselm Kiefer (geb. 1945) kritisch auf die deutsche Vergangenheit bezogen, und nicht zuletzt kulturpolitische Einflüsse trugen dazu bei. Die abstrakten Werke mit ihrer häufig deutungsoffenen Bildsprache erschwerten und erschweren indes nicht weniger ihre Rezeption und Anerkennung. Denn stärker noch als es beispielsweise bei einem Bild mit figürlicher Darstellung der Fall ist, bedarf es bei einem abstrakten Werk der intensiven Auseinandersetzung, möglicherweise zusätzlichen Wissens und der weiteren Recherche. Sartre sah darin einen starken Vorzug. Denn die abstrakten bildkünstlerischen Reflexionen der Zeitgeschichte würden schließlich der Kunst selbst entspringen und – zumindest allem Anschein nach – nicht einem ideologisch oder politisch motivierten Legitimierungs- und Repräsentationswunsch entsprechen. 13 Der allgemeinen Akzeptanz war die Eigenschaft indes nicht förderlich.

Dennoch versuchten Künstlerinnen und Künstler, sich mit stark abstrahierenden, abstrakten oder ungegenständlichen Mitteln mit den Ereignissen und Erfahrungen der Zeitgeschichte und zum Teil auch mit der persönlichen Vergangenheit zu befassen. Ihre Zahl ist nicht gering, viele Namen sind fest in der deutschen Nachkriegskunst verortet, ihre Werke Teil von privaten und öffentlichen Sammlungen wie zum Beispiel der repräsentativen Kunstsammlung des Deutschen Bundestages. Einige ausgewählte Namen und Beispiele aus dem Bereich abstrakter und informeller, west- und ostdeutscher Maler seien an dieser Stelle genannt: Hans Richter (1888–1976) mit Stalingrad (Sieg im Osten) (1943/44), Wols (1913–1951) mit It’s all over (1946/47), Carl Buchheister (1890–1964) mit der Komposition mit brutalen Gegensätzen (KZ-Bild) (1949), Karl Otto Götz (1914–2017) mit dem Triptychon Jupiter, U. D.Z, Matador (1958), den Bildern Moga I und II (1977), der Jonction-Reihe (1990/91), Dresden I und II (2005), Menetekel I und II (2008), Hubert Berke (1908–1979) mit der KZ-Serie, der Folge Figurinen der Vorhölle, Arbeiten aus der Serie der Totenbüsten, darunter KZ-Häftling (alle 1964/65) und der Folge Biafra

(ab 1967), Gerhard Hoehme (1920–1989) mit Deutsches Gleichnis – Ein Fragment – Das Hakenkreuzbild (1964), Luftziele (1968) oder Protokoll einer Vergasung (1965/86), Georg Karl Pfahler (1926–2002) mit dem  War schau-Zyklus (ca. 1964–72) und der Reihe Ost-West-Transit (ca. 1965–72), K. R. H. Sonderborg (1923–2008) mit der Reihe um Spur Andreas B. (1979–96), Carlfriedrich Claus (1930–1998) unter anderem mit Denk-Mal für den Rebben Jizchok Leib Safra. (1944 in Auschwitz ermordet) (1961/62), Michael Morgner (geb. 1942) mit Einsiedel 5. 3. 1945 (1985/86), dem Komplex Für Bonhoeffer (1975–85) und den Requien (ab 1988), Dieter Tucholke (1934–2001) mit Die Nacht hat 12 Stunden –1933–1945 (1986) und »Glücklicher« Hiob (ca. 1984–85), Günther Uecker (geb. 1930) mit der Reihe der Aschebilder (1986–91) oder den Leipziger Blättern (1989), Martin Noël (1956–2010) mit den new york drawing objects (1999) und Gerhard Richter (geb. 1932) mit Birkenau (2014). Ergänzen lässt sich die Liste noch um Künstler wie Fritz Winter (1905–1976), Bernard Schultze (1915–2005), Emil Schumacher (1912–1999), Horst Zickelbein (geb. 1926) oder Werner Schubert-Deister (1921–1991). Alle genannten Arbeiten beziehen sich direkt auf ein konkretes Ereignis oder aber nehmen es zum Anlass, verarbeiten komplexe geschichtliche Zusammenhänge oder reflektieren die deutsche Erinnerungskultur – auch wenn dies nicht immer auf den ersten Blick zu erschließen ist.

Bezieht man nicht allein die deutsche Malerei nach 1945 ein, gewinnt die Aufzählung sogar noch an Umfang. So befasste sich beispielsweise in Frankreich Jean Fautrier (1898–1964) in den Otages (1943/44) mit den Opfern der nationalsozialistischen Besetzung Frankreichs, Georges Mathieu (1921–2012) fertigte großformatige Gemälde vor Publikum und versah sie mit Titeln, die unter anderem an Schlachten der französischen Feudalgeschichte erinnern und ihm die Bezeichnungen als »offizieller Staatskünstler« und »Maler der Republik« 14 einbrachten. Der dänische Maler Asger Jorn (1914–1973) arbeitete über Jahre am Gemälde Stalingrad, le non-lieu, ou le fou rire du courage15 (1957–72)16, in Amerika schuf Barnett Newman (1905–1970) den Zyklus The Stations of the Cross: Lema Sabachtani (1957–66)17 sowie Frank Stella (1936–2024) die Serien Polish Village (1970–74)18 und Black Paintings (1958–60) – zu letzterer zählen Werke mit Titeln wie Arbeit macht frei (1958) oder Die Fahne hoch! (1959).

Allein diese Aufzählung macht die Vielzahl existierender Werke abstrakter Malerei, die einen Bezug auf die Zeitgeschichte nehmen, deutlich. Zugleich schließt sie eine stilistische und formalästhetische Vielfältigkeit ein, die von der Ungegenständlichkeit abstrakt-expressionistischer,

informeller und konkreter bis hin zu abstrahierenden und daraus abgeleiteten abstrakten Malweisen reicht, Stilkombinationen enthält oder materielle und technische Erweiterungen des Grundmediums Malerei aufweist. Dass die auf diesen unterschiedlichen Formen der Abstraktion basierenden Bezüge zur Geschichte bislang, insbesondere für die deutsche Malerei, noch nicht systematisch untersucht worden sind, lässt es umso notwendiger erscheinen, dieses Desiderat zu füllen. Sartres Äußerungen zu den Werken Lapoujades aufgreifend, ist für eine solche Untersuchung die Prämisse zu setzen, dass abstrakte Malerei dazu in der Lage ist, konkrete zeitgeschichtliche Ereignisse zu repräsentieren. Es geht folglich nicht um die Frage, ob, sondern wie abstrakte Malerei Geschichte repräsentiert: Auf welche Weise wird mithilfe der Abstraktion im 20. (speziell nach 1945) und frühen 21. Jahrhundert ein neues, aber der Malerei seit Jahrhunderten bekanntes Themengebiet erschlossen? Welche Funktionen übernimmt dabei die Abstraktion und wie ist ihr Verhältnis zur Realität zu bestimmen?

Mit der grundlegenden Frage des Wie, also einer Frage der Funktionsbestimmung, sind dabei grundlegende Begriffe verbunden, die es in ihrer Spezifik für die vorliegende Studie zu bestimmen gilt: Abstraktion, Repräsentation und Geschichte.

Die Begriffe seien an dieser Stelle zunächst nur summarisch erläutert: In der bildenden Kunst bedeutet Abstraktion den mehr oder weniger deutlichen Verzicht auf Mimesis, in der Malerei damit die Abbildung äußerer Realität. An die Stelle der nachahmenden Darstellung und der Gegenstandsreferenz treten die Bildmittel, also Formen, Farben und mitunter auch Materialien. Verweise auf die Realität werden folglich verstärkt über Bildtitel hergestellt, die jedoch meist eine deutliche Differenz zu dem auf der Bildfläche Sichtbaren aufweisen. Dabei hat sich im kunstgeschichtlichen wie allgemeinen Sprachgebrauch das Adjektiv »abstrakt« als eine Sammelbezeichnung für diverse stilistische Ausprägungen der Abstraktion entwickelt. Worte wie absolut, konkret oder gegenstandslos und ungegenständlich versuchen hingegen die unterschiedlichen Ursprünge der Abstraktion zu differenzieren. Während ein abstraktes Werk entsprechend der Ableitung vom Verb abstrahieren an sich als eine Darstellung zu charakterisieren ist, die aus einem Abstraktionsvorgang, das heißt einem Prozess der Reduzierung einer gegenständlichen oder figürlichen Vorlage erwachsen ist, kann ein Werk als ungegenständlich oder konkret beschrieben werden, wenn es auf jeglichen Gegenstandsbezug verzichtet, das heißt auf konkreten, wie zum Beispiel geometrischen Formen und/oder formlosen Farbzusammenstellungen basiert.

Hinsichtlich der weiteren Ausführungen ist das Bewusstsein für diese grundlegende Differenzierung notwendig, auch wenn zugunsten der vereinfachenden Beschreibung hier ebenfalls auf die vereinheitlichende Bezeichnung »abstrakte Malerei« zurückgegriffen werden wird, die dabei gleichermaßen die ungegenständliche Malerei einschließt. In jenen Fällen, in denen es auf die Betonung des Abstraktionsgrads ankommt, wird wiederum auf dessen Spezifik verwiesen werden. Gleich ob abstrakt oder ungegenständlich gilt die Annahme, dass der Verzicht auf Abbildlichkeit nicht gleichbedeutend mit Bedeutungslosigkeit ist. Entsprechend des Ziels einer Funktionsbestimmung der Abstraktion bei der Repräsentation zeitgeschichtlicher Ereignisse, wird davon ausgegangen, dass Bedeutungen im abstrakten Bild durch andere Eigenschaften und Elemente, wie zum Beispiel Farb- und Materialsymbolik, Formassoziationen oder wahrnehmungspsychologische Effekte, gestiftet werden. Auch die Beziehungen zwischen Bild und Text, wobei hier in erster Instanz Bildtitel, in zweiter auch Künstleraussagen, Kommentare und Ähnliches gemeint sind, werden bedeutungsstiftend.

Der zweite Begriff, Repräsentation, nimmt insbesondere mit Blick auf die Malerei eine gesonderte Stellung ein. Kann er einerseits als Synonym für die bildliche Darstellung verwendet werden, mit der ein auf Mimesis basierender Bildbegriff verbunden ist, gilt er andererseits als das Kernelement aller menschlicher – und damit auch einer wie auch immer gearteten bildlichen – Kommunikation. Repräsentation muss daher, vor allem wenn es um ihre Spezifik im abstrakten Gemälde geht, im umfassenderen Sinn und nicht nur als eine bloße Abbildung äußerer Realität verstanden werden. Dies setzt wiederum zweierlei voraus: Erstens, dass das abstrakte Bild als eine spezifische Art der Darstellung, also der Repräsentation begriffen wird, die sich durch ein gewandeltes Mimesis-Verständnis auszeichnet. Zweitens, dass Repräsentation nicht allein synonym und beschränkt auf die Darstellung, das Bildmedium, verwendet wird. Vielmehr muss Repräsentation, basierend auf Überlegungen der semiotischen Kulturwissenschaft und Bildtheorie und in Ergänzung durch bildwissenschaftliche Aspekte, als komplexer Prozess verstanden werden, der sich auf mehreren Ebenen und über das abstrakte Bild hinaus vollzieht. Sie kann daher auch in der Auseinandersetzung mit respektive als eine Reflexion von Realität bestehen, wodurch abstrakte Bilder Repräsentationsfunktionen übernehmen können.

Der dritte Begriff, Geschichte, ist nicht weniger komplex. Der Kollektivsingular bindet dabei mehrere Aspekte: die Bezeichnung kultureller,  gesellschaftlicher und politischer Entwicklungsprozesse, Ereignisse,

Situationen und Tatbestände, deren wissenschaftliche Darstellung (Historiografie), eine in einen logischen Handlungsablauf gebrachte Schilderung eines tatsächlichen oder fiktiven Geschehens (auch Erzählung) und im allgemeinen Sprachgebrauch eine Angelegenheit oder Sache. Die Geschichte konstituiert sich dabei aus mehr als einer bloßen Aneinanderreihung singulärer historischer Ereignisse und Fakten. Sie bildet ein komplexes Geflecht aus Zusammenhängen und Deutungen, wodurch sie selbst abstrakt, unanschaulich und im Moment ihrer Schilderung auch immer schon Repräsentation ist.

Der Begriff der Zeitgeschichte wird dabei vor allem bei der Untersuchung der ausgewählten abstrakten Bilder relevant. Einerseits entstanden sie im Miterleben des Vergangenen, andererseits werden sie zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Behandlung,19 die in einer Zeit verortet ist, in der viele der von den Künstlern reflektierten Ereignisse nachwirken, erinnert und von wissenschaftlichen Disziplinen untersucht werden und in der die Künstler zum Teil selbst noch am Leben sind. Gleichfalls ergeht damit die Problematik der Zeitgenossenschaft aufseiten der kunsthistorischen Untersuchung, die insbesondere die abstrakte Malerei nach 1945 betrifft. Werden für die Deutung der angenommenen Bezüge auf die Zeitgeschichte zwar zunächst die Bildtitel relevant, so sind für ihre Historisierung und Kontextualisierung nicht weniger Künstlerkommentare und -deutungen oder Dokumentationen der künstlerischen Tätigkeit bedeutsam, welche indes die Legitimation der Kunstgeschichte zu untergraben drohen.20 Ignoriert werden können sie jedoch nicht und müssen ebenso wie die Stimmen der zeitgenössischen Kunstkritik zur Kontextualisierung herangezogen werden. Auch die vorliegende Untersuchung wird dabei nicht umhinkommen, kunstkritische Beiträge, Künstlerinterviews und Ähnliches zu berücksichtigen, die zum Teil in aktuellere Zeiträume, also in die letzten fünf bis zehn Jahre, einzuordnen sind. Unter Besinnung auf die grundlegende Frage der Funktion von Abstraktion bei der Repräsentation von Zeitgeschichte geben insbesondere diese Zeugnisse Aufschluss über die Wechsel- und Spannungsverhältnisse zwischen der abstrakten Bildlichkeit, ihrer hermeneutischen Betrachtung und ihrer Kontextualisierung durch ihre Urheber und ihre Rezeption. Sie bedürfen allerdings einer kritischen Befragung, der Überprüfung und des Rückbezugs auf das jeweilige Bild.

Zum Stand der Forschung

Nicht weniger komplex und vielgestaltig sind die bisherigen Forschungen zu den drei genannten Begriffen und ihren Bedeutungen. Allerdings blieb die Frage, wie abstrakte Malerei auf Ereignisse der Zeitgeschichte Bezug nimmt, bisher wenig beachtet. Untersuchungen zu anderen Fragestellungen, die auf unterschiedliche Weise Teilaspekte der drei zentralen Setzungen Abstraktion, Repräsentation und Geschichte in den Blick genommen haben, bieten jedoch eine wichtige Grundlage, aus der Schlüsse für die vorliegende Forschungsfrage gezogen werden können. Dabei sind sie unterschiedlichen fachspezifischen und interdisziplinären Diskursen zuzuordnen und stammen sowohl aus der Kunstgeschichte und -wissenschaft als auch der Kulturwissenschaft, Bildtheorie und -wissenschaft respektive -philosophie sowie der Geschichtswissenschaft.

Die Kunstgeschichte und -wissenschaft liefern dabei wesentliche Beiträge zur Entwicklung der Gattung Historie und des profanen Ereignisbilds, die als Bildgattung und -typus dem abstrakten Zeitgeschichtsbild vorausgehen. Die unter anderem in akademischen Lehren gefestigten Traditionen und Konventionen der Gattung wirken noch in der Malerei des 20. Jahrhunderts nach und erscheinen als bewusste Rekurse, Aktualisierungen oder auch gezielte Dekonstruktionen. Insbesondere die Entwicklungen der Gattung Historie im Spannungsfeld der (historischen und kunsthistorischen) Moderne sind hierbei von Interesse. Konnten verschiedene Forschungsbeiträge aufzeigen, dass sich diese Gattung sukzessive aufgelöst hat, bildliche Darstellungs- und Sinnstiftungsversuche mittels Gattungslehren, Ikonografie, Kompositions- und Erzählprinzipen durch die Erfahrungen der Moderne seit circa 1800 in Zweifel gezogen wurden und ihre Gültigkeit verloren,21 erbrachten sie andererseits Versuche der Typologisierung des profanen Ereignisbilds22 und der begrifflichen Neubestimmung auf Basis unterschiedlicher Phänomene23. Daraus ging ein kunsthistorischer Kanon an Bildern wie Francisco de Goyas Die Erschießung der Aufständischen (3. Mai 1808) von 181424, Édouard Manets Die Erschießung Kaiser Maximilians von 1868/6925 oder Pablo Picassos Guernica aus dem Jahr 193726 hervor. Anhand dieser Bilder lassen sich die Veränderungen und Umbrüche im Typus des Ereignisbilds seit dem 19. Jahrhundert exemplarisch aufzeigen. Dabei profitierte die Kunstgeschichte auch von Beiträgen der Geschichtswissenschaft – zu nennen ist hier vor allem Reinhart Koselleck, der zur Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs im 18. Jahrhundert wichtige Erkenntnisse

hervorbrachte27 und Kunsthistorikern wie Stefan Germer als Bezugspunkt diente. Untersuchungen einzelner Phänomene in der Malerei, die mit Abstraktion und einem neuen Umgang mit dem künstlerischen Material eine Reaktion auf die Beschleunigung der Zeiterfahrung in der Moderne bezeugen, konnten somit die Wechselwirkung zwischen den Erkenntnissen der zeitgenössischen Wissenschaften und der Infragestellung klassischer Vorstellungen vom Bild nur bestärken.28

Diese grundlegenden Forschungsbeiträge bilden in den Auseinandersetzungen mit den Entwicklungen des Bildtypus Ereignisbild im 20. Jahrhundert eine wichtige Quelle. Sie zeigen eindrücklich die Brüche in der Gattungshierarchie sowie den Darstellungstraditionen und -strategien der Malerei und die unter anderem daraus erwachsene Krise der Repräsentation, also die Infragestellung des Bildbegriffs und seiner Funktionen zur Welt- und Wirklichkeitsdarstellung auf. Innerhalb der vergangenen Jahre ist die Zahl an kunsthistorischen Beiträgen, Ausstellungen und Projekten, die sich den Darstellungsstrategien von Geschichte in der modernen und auch abstrakten Kunst widmen, gewachsen. Vermehrt beziehen sich die Schriften nicht alleinig auf Malerei und sind zum Teil in den umfangreichen Korpus aus Beiträgen zum Forschungsfeld »Kunst und Erinnerungskultur« einzuordnen.29 Hierbei profitiert die Kunstgeschichte auch von interdisziplinären Diskursen zum Thema, unter anderem durch Beiträge von Aleida Assmann, Jürgen Habermas oder Peter Burke, wie zum Beispiel der 1996 erschienene, von Kai-Uwe Hemken herausgegebene Sammelband Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst belegt.30

Andere Beiträge, insbesondere jene, die sich mit der Malerei im 20. Jahrhundert befassen, fragen hingegen explizit nach Darstellungs- und Bildstrategien. Die in der Neuzeit entstandenen Gattungs- und Bildbegriffe wie Historienbild oder Ereignisbild stoßen dabei an ihre Grenzen.31 So subsummierte Sven Beckstette in seiner Untersuchung der Darstellungsstrategien der Malerei des 20. Jahrhunderts auch abstrakte Werke, darunter Arbeiten von K. R. H. Sonderborg, Asger Jorn und K. O. Götz, unter dem Begriff des Historienbilds.32 Dabei betonte er die Schwierigkeiten einer Lesbarkeit der abstrakten Malerei und damit der expliziten Bezugnahme auf ein zeitgeschichtliches Ereignis. Erst über die Entschlüsselung des Zusammenspiels ästhetischer und kontextueller Werkebenen lasse sich diese erkennen.33 Zu ähnlichen Schlüssen kommen einige Beiträge zur modernen Malerei in dem 2014 von Uwe Fleckner herausgegebenen Band Bilder machen Geschichte. Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst, der Fallstudien zum künstlerischen Umgang mit Geschichte aus

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