JUGENDSTIL
Made in Munich
HERAUSGEGEBEN VON Roger Diederen, Anja Huber, Nico Kirchberger und Antonia Voit
JUGEND STIL
MADE IN MUNICH
VORWORTE, DANK UND EINFÜHRUNG
8 Vorwort
Zur Ausstellung
Jugendstil. Made in Munich
Roger Diederen
9 Vorwort
Zum Jugendstil im Münchner Stadtmuseum
Frauke von der Haar
12 Dank
Gemeinsamer Dank der Kunsthalle München und des Münchner Stadtmuseums
Roger Diederen und Frauke von der Haar
17 Jugendstil . Made in Munich Einführung
Anja Huber, Nico Kirchberger und Antonia Voit
NATUR
31 Natur revolutioniert Kunst »Anders als bisher geht man hier der Natur zu Leibe«
Antonia Voit
86 Die Lebensreform
Ein Traum von der Rückkehr zur Natur
Hubertus Kohle
94 »Die Kleidung ist ein erotisches Problem …«
Damenmode im Jugendstil
Isabella Belting
ABB. 1
Bernhard Pankok: Vorsatzpapier aus: Amtlicher Katalog der Ausstellung des Deutschen Reiches. Weltausstellung in Paris 1900 , Berlin 1900
HISTORISMEN
105 Die Geburt des Jugendstils aus dem Historismus
oder der Triumph des Georg Hirth
Nico Kirchberger
132 Vorwärts auf (un)gesichertem Terrain
Zur künstlerischen Fotografie in München um 1900
Rudolf Scheutle
138 Ein Besuch in München und eine Ein ladung nach Paris
Zur Entwicklung des style munichois
Anna Grosskopf
MÄRCHEN, MYTHEN , SAGEN
145 Am Ende wird alles … schön! Märchen, Mythen und Sagen in der Kunst des Jugendstils
Anja Huber
168 Eine kleine Revolution des Theaters
Figurentheater in München zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Mascha Erbelding
NAH UND FERN
179 Die nahe Ferne
Außereuropäische und regionale Inspirationen
Susanne Glasl und Nico Kirchberger
198 Von München inspiriert
Der japanische Künstler Yumeji und die Zeitschrift Jugend
Sabine Schenk
NÄCHSTE DOPPELSEITE
KAT. 1
Ludwig von Zumbusch: Titelblatt der Jugend. Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben , 1, 12, 1896. Farblithografie, 29 × 22 cm. Paul und Diana Tauchner
SCHLICHT UND FUNKTIONAL
217 Sachliche Tendenzen
Von der Demokratisierung der Gebrauchskunst zur Corporate Identity
Anja Huber
242 »Street Art« um 1900
Die klassische Ära der modernen Plakatkunst in München
Henning Rader
250 Von München in die Welt Ästhetische Konzepte und ihre Verbreitung
Maaike van Rijn
255 Das Künstler-Theater
Spielort des Münchner Jugendstils
Birgit Kadatz-Kuhn
261 Das neue Ornament im Stadtbild Münchner Jugendstilarchitektur und Städtebau
Jasmin Gierling
ANHANG
265 Liste der Exponate
269 Bildnachweis
272 Impressum
KAT. 2
William Wauer: Persiflage auf Ludwig von Zumbuschs Titelblatt für Jugend. Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben , 1898. Druck: Deutscher Kunst-Verlag Gerhard Wauer, Berlin. Farblithografie, 29 × 22 cm. Paul und Diana Tauchner
JUGENDSTIL . MADE IN MUNICH Einführung
Anja Huber, Nico Kirchberger und Antonia Voit
Blickt man zurück auf die großen Umbrüche, die die Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Atem hielten, so erscheinen sie denen des beginnenden 21. Jahrhunderts überraschend nah. Neue Technologien und Innovationen lösten bei der Bevölkerung gleichermaßen Angst und Euphorie aus. Der Produktionsbetrieb wurde durch Maschinen grundlegend verändert, und die voranschreitende Industrialisierung machte sich im alltäglichen Leben bemerkbar. Fragen nach gesunden Lebensbedingungen und fairen Beschäftigungsverhältnissen wurden gestellt. Stimmen nach einer Reform der Arbeitswelt wurden laut. Auch der Umgang mit der Natur und damit einhergehend der Schutz der Umwelt rückten zunehmend in den Fokus. Wer es sich leisten konnte, verließ die lärmenden, sich immer weiter ausdehnenden Städte und floh aufs Land – zumindest am Wochenende zur Erholung. Tierschutz organisationen wurden ins Leben gerufen und Fleisch als Nahrungsmittel auf den Prüfstand gestellt. Vegetarische Kochbücher kamen auf den Markt und entsprechende Restaurants wurden eröffnet (Kat. 74). Wer sich gesund ernähren wollte, kaufte im Reformhaus ein. Dort gab es auch Reformkleidung: Mode, die das gesundheitsgefährdende Korsett überflüssig machen und identitätsstiftend sein wollte (Kat. 80–82). Durch die Psychoanalyse rückte das Individuum ins Sichtfeld – mit all seinen körperlichen und seelischen Befindlichkeiten, die wahrgenommen werden wollten. Frauenrechtler:innen kämpften für das Recht
KAT . 3 · DETAIL
Fritz Erler: Titelblatt der Jugend. Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben, 8, 42, 1903. Farblithografie, 29,3 × 22,2 cm. Münchner Stadtmuseum
auf Selbst- und Mitbestimmung und brachen mit den vorgegebenen Geschlechterrollen.
Für die Kunstschaffenden des ausgehenden 19. Jahrhunderts lieferten diese gesellschaftlichen Veränderungen wichtige Impulse. Angetrieben durch die Frage »Wie wollen wir künftig leben?«, traten sie an, um das Leben mittels Kunst zu reformieren.
Die Zeitschriften Jugend und Simplicissimus
Ein publizistisches Sprachrohr waren die ab 1896 in Mün chen erschienenen Zeitschriften Jugend und Simplicissimus , die sich – mit unterschiedlichem Programm, aber beide in fortschrittlicher Manier – den großen Themen ihrer Tage widmeten.
Der »Simpl«, wie der Simplicissimus im Volksmund auch genannt wurde (Kat. 204), war ein satirisches Blatt. Der Name war Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens 1668 erschienenem Schelmenroman Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch entlehnt. Als Böse-Jungen-Streiche wollte man dem Herausgeber Albert Langen und dessen künstlerischem Mitarbeiter Thomas Theodor Heine ihre bissigen Zeitkommentare aber nicht immer durchgehen lassen. 1898 musste Heine wegen Majestätsbeleidigung eine sechsmonatige Gefängnisstrafe in Festungshaft absitzen. Ob deswegen oder trotzdem: Die Zeitschrift war ein großer Erfolg.
Gleiches gilt für die von Georg Hirth1 begründete Jugend (Kat. 1, 3, 9, 83, 119, 144, 174) Als Mitarbeiter und ab 1881 als Leiter der viel gelesenen Münchner Neuesten Nachrichten sowie als wichtiger Förderer der 1892 gegründeten »Münchener Secession« hatte Hirth einen festen Platz im kulturellen
NATUR REVOLUTIONIERT KUNST
»Anders als bisher geht man hier der Natur zu Leibe« 1
Antonia Voit
Nichts weniger als eine »Sensation«2 wollte Hermann Obrist erreichen, als er seine von Berthe Ruchet und ihren Mitarbeiterinnen ausgeführten Stickereien 1896 in München der Öffentlichkeit präsentierte. Erst anderthalb Jahre zuvor hatte er sein Atelier von Florenz in die Stadt an der Isar verlegt. Die Sensation gelang. So äußerte etwa August Endell, der spätere Gestalter des Hof-Ateliers Elvira (Kat. 51), begeistert: »Diese Stickereien sind das Reifste und Herrlichste, was die Kunst seit dem Rokoko aufzuweisen hat […]. Diese Ornamentik ist der neue Stil, den alle suchen, dessen Möglichkeit manche bezweifeln. Hier ist das große Rätsel gelöst, spielend selbstverständlich.«3 In der Ausstellung, die im Kunst-Salon J. Littauer am Odeonsplatz präsentiert wurde, waren rund 30 Arbeiten mit von der Natur inspirierten Motiven zu sehen. Obrist, ein gebürtiger Schweizer, hatte sich von Kindheit an für Flora und Fauna begeistert und Medizin sowie Naturwissenschaften studiert, bevor er sich auf die angewandte und die freie Kunst verlegte.
Einzelne der bei Littauer gezeigten Arbeiten haben sich in öffentlichen Sammlungen erhalten, zwei davon in München: der über drei Meter hohe Wandbehang Großer Blütenbaum (Die Neue Sammlung) sowie der – auch nicht gerade kleinformatige – Wandbehang mit Alpenveilchen (Münchner Stadtmuseum; Kat. 44). Letzteren ziert als einziges und zentrales Motiv eine stark vergrößerte Pflanzendarstellung, die ein botanisches Vorbild nur noch partiell erkennen lässt und auf
KAT . 9 · DETAIL
Richard Riemerschmid: Titelblatt der Jugend. Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben, 2, 25, 1897. Farblithografie, 30,5 × 22,9 cm. Münchner Stadtmuseum
charakteristische Merkmale des Alpenveilchens, wie etwa die Knolle, verzichtet. Statt der korrekten Wiedergabe einer bestimmten Pflanze scheint etwas anderes im Vordergrund zu stehen: die in großen, nah aufeinanderfolgenden Schwüngen zum Ausdruck gebrachte Bewegung und Dynamik. Georg Fuchs, Autor einer zeit genössischen Rezension der Werke, assoziierte mit dieser »rasende[n] Bewegung« mal einen »Blitz«, mal erschien sie ihm »[w]ie die jähen, gewaltsamen Windungen der Schnur beim knallen [sic] eines Peitschenhiebes«.4 Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die verwendete Sticktechnik. Je nach Lage reflektiert der glänzende Seidenfaden das Licht unterschiedlich,5 »es flutet auf den ornamentalen Formen dahin, wie von einem Pulsschlage belebt, wie die Zellen eines lebenden Körpers von organischer Kraft und Rhythmik bewegt«.6
Das »große Rätsel«, das Obrist hier gelöst hat,7 besteht im Entwurf eines lebendig anmutenden und eigenständigen Ornaments, das weder starre, schematisierte Vorlagen früherer Epochen nachahmt, noch einfach Naturvorbilder kopiert.
Ganz anders stellte sich zu dieser Zeit die allgemeine Situation des Kunstgewerbes in Deutschland dar. Besonders die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war geprägt von der intensiven Rezeption und dem Wiederaufgreifen vergangener Stile und Techniken. Historische Formen und Ornamente etwa der Gotik oder Renaissance wurden nacheinander, teilweise auch nebeneinander reaktiviert oder sogar in einem Werk vereint. Dabei stand bereits für diese Künstler:innen nicht das bloße Kopieren im Vordergrund. Vielmehr hofften sie, durch das Studium früherer Stile zu einer eigenen, neuen und der Zeit entsprechenden Ausdrucksform zu finden. Als ab den
KAT. 11
Richard Riemerschmid: Garten Eden (zweite Fassung), 1900. Öl auf Leinwand, Originalrahmen: Holz, bemalter Stuck, Rahmenmaß: 160 × 164 cm. Münchner Stadt museum, Schenkung Sammlung
K. Barlow und A. Widmann
Riemerschmids großformati ges gerahmtes Ölgemälde Garten Eden existierte in zwei Fassungen, wobei er die erste, heute als verschollen geltende Version von 1896 zu seinen male rischen Hauptwerken zählte. Die vorliegende Komposition weist im Vergleich zu den noch erhaltenen Vorstudien bemerkenswerte
Unterschiede auf, die scheinbar darauf abzielen, explizit biblisch- narrative Elemente zugunsten einer Betonung des reinen verherrlichten Naturmotivs zu relativieren: Der Baum des Lebens ist aus dem Zentrum gerückt, sein zuvor strahlender Nimbus ist zur feinen Lichtlinie geworden, die
grell-expressive Farbigkeit zu einer herbstlich-warmen Idylle gedämpft, und Adam und Eva, die in den Studien noch als Bildpersonal auftraten, sind in der finalen Version gänzlich verschwunden und auch in der Rahmengestaltung durch ornamentale Rankenmotive ersetzt worden. ( SG )
KAT. 36
Richard Riemerschmid: Teppich, 1903. Schurwolle, geknüpft, 400 × 300 cm. Münchner Stadtmuseum
SCHLICHT FUNKTIONAL
SCHLICHT UND FUNKTIONAL
KAT. 181
Bruno Paul: Armlehnstuhl, 1904. Ausführung: Vereinigte Werkstätten für Kunst im Handwerk, München. Eiche massiv, Leder (Polster), 87,5 × 63,5 × 69,5 cm. Münchner Stadtmuseum
KAT. 182
Bruno Paul: Armlehnstuhl, 1902. Ausführung: Vereinigte Werkstätten für Kunst im Handwerk, München. Esche massiv, Textil (Bezug erneuert), 79 × 69,5 × 58,4 cm. Münchner Stadtmuseum
KAT. 183
Richard Riemerschmid: Tisch aus dem Maschinenmöbel-Programm, vor 1905. Ausführung: Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst, Dresden. Mahagoni, partiell gedrechselt, 73,5 × 85,5 × 85,5 cm. Münchner Stadtmuseum, Schenkung Sammlung K. Barlow und A. Widmann
MÄRCHEN MYTHEN
MÄRCHEN , , SAGEN
KAT. 125
Fritz Erler: Rübezahl auf Reisen , 1897. Öl auf Leinwand, 150 × 450 cm. Münchner Stadtmuseum
Fast wähnt man Parsifal im Zaubergarten vor sich, doch es ist der bärtige Rübezahl aus dem Riesengebirge, der in einer psychedelisch gefärbten Landschaft von feenhaften, nackten Mädchen und Kindern umtanzt wird.
In der VII . Internationalen Kunstausstellung 1897 erstmals präsentiert, wurde das großformatige Gemälde in der Jugend -Ausgabe vom 29. Januar 1900 auf einer Doppelseite publiziert. Dazu reimte Fritz von Ostini eine Erzählung, wie Rübezahl aus Langeweile und Neugier
aufbrach, um die Welt zu erkunden. In den Dolomiten schließlich erteilten ihm die dortigen Berg- und Wassergeister eine Lektion, die ihn beschämt seine Reise beenden und erkennen ließ: »Schöner als daheim […] ist’s nirgend […] zu Hause bin ich wer, da draußen bin ich Keiner!« ( NK )
KAT. 139
Thomas Theodor Heine: Teufel , um 1904. Ausführung: Adalbert Brandstetter, München. Bronze, gegossen, patiniert, 41,5 × 19 × 23 cm. Münchner Stadtmuseum, Schenkung Sammlung K. Barlow und A. Widmann
Neben der bissigen Bulldogge vor rotem Hintergrund (Kat. 204) zählt der Bronzeguss des Teufels zu den bekanntesten Schöpfungen Heines, der als Mitherausgeber und Karikaturist der Zeitschrift Simplicissimus berühmt geworden ist. Sein Teufel wirkt eher wie ein harmloser Spaziergänger, der grantelnd dahinschlendert, als wie eine höllische Kreatur. Weitaus weniger bekannt ist, dass zu dem täppischen Teufel mit seinem bodenverhafteten, untersetzten Körperbau auch ein Pendant existiert, ein ungleich unnahbarerer Engel , der als dürres Vogelwesen mit stolzgeschwellter Brust erscheint. ( NK )
KAT. 140
Walter Magnussen: Kanne, um 1899. Ausführung: Kunsttöpferei Jakob Julius Scharvogel, München. Steinzeug, glasiert, Zinn (Deckel), H: 34,8 cm. Münchner Stadtmuseum, Schenkung Sammlung K. Barlow und A. Widmann