Gefördert von / Supported by Die Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit – Ein Jahrhundertjubiläum“ steht unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. "The New Objectivity—A Centennial Anniversary" is under the patronage of Federal President Frank-Walter Steinmeier.
DIE NEUE SACHLICHKEIT
Ein Jahrhundertjubilä um
THE NEW OBJECTIVITY
A Centennial Anniversary
Herausgegeben von Inge Herold und Johan Holten
GELEITWORT
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
7 GRUSSWORT
Markus Hilgert
8 VORWORT
Johan Holten
10 DIE NEUE SACHLICHKEIT –
EIN JAHRHUNDERTJUBILÄUM
Inge Herold
28 KATALOG
Inge Herold
30 MAX BECKMANN
40 OTTO DIX
50 GEORGE GROSZ
56 ZEITGESCHICHTE
142
182
204 STADT, INDUSTRIE, MOBILITÄT
234 NATUR UND LANDSCHAFT
246 STRUKTUR UND DISTANZ –
GEDANKEN ZUR ZEICHNUNG UND GRAFIK
DER NEUEN SACHLICHKEIT
Gunnar Saecker
258 OTTO DIX, NEUE SACHLICHKEIT UND NATIONALSOZIALISMUS
James A. van Dyke
268 „DIE GEGENSTÄNDLICHKEIT IN EINER NEUEN
KUNSTFORM ZUR DEBATTE STELLEN“ –
MAX BECKMANN, GUSTAV FRIEDRICH HARTLAUB
UND DIE NEUE SACHLICHKEIT
Olaf Peters
276 NEOREALISMUS IN DEN NIEDERLANDEN –
PROBLEME DER KANONISIERUNG
Jelle Bouwhuis
282 „EINE ART REINLICHER BESCHEIDUNG
DER ZEITGENÖSSISCHEN KUNST“ –
ZUR NEUEN SACHLICHKEIT IN DER SCHWEIZ UND IHREN VERBINDUNGEN ZU DEUTSCHLAND
Christoph Vögele
288 DIE DEUTSCHE SPRACHE IN DER ZEIT
DER WEIMARER REPUBLIK
Henning Lobin
292 IM RAUSCH DER BILDER –
DIE WEIMARER REPUBLIK IM SPIEGEL
DER FOTOGRAFIE
Claude W. Sui
298 ZWISCHEN AUFBRUCH UND KRISE –
MANNHEIM IN DEN 1920ER-JAHREN
Harald Stockert/Anja Gillen
308 DER HISTORISCHE KATALOG / THE HISTORIC CATALOG 1925
314 CHRONOLOGIE / TIMELINE 1918–45
Markus Stadtrecher
322 FOREWORD
Federal President Frank-Walter Steinmeier
322 GREETINGS
Markus Hilgert
323 FOREWORD
Johan Holten
325 THE NEW OBJECTIVITY: A CENTENNIAL
Inge Herold
337 CATALOGUE
Inge Herold
337 MAX BECKMANN
338 OTTO DIX
340 GEORGE GROSZ
341 HISTORY
344 THE IMAGE OF THE HUMAN BEING
348 THE IMAGE OF WOMEN
351 BODY IDEALS
352 THE SELF-PORTRAIT
355 THE STILL LIFE
356 CITY, INDUSTRY, MOBILITY
359 NATURE AND LANDSCAPE
361 STRUCTURE AND DISTANCE: THOUGHTS ON THE DRAWINGS AND PRINTS OF NEW OBJECTIVITY
Gunnar Saecker
366 OTTO DIX, NEW OBJECTIVITY, AND NATIONAL SOCIALISM
James A. van Dyke
373 “TO OPEN UP REPRESENTATIONALISM TO DEBATE IN A NEW ART FORM”: MAX BECKMANN, GUSTAV FRIEDRICH HARTLAUB, AND NEW OBJECTIVITY
Olaf Peters
377 NEO-REALISM IN THE NETHERLANDS: PROBLEMS OF CANONIZATION
Jelle Bouwhuis
380 “A KIND OF NEAT RESTRAINT OF CONTEMPORARY ART”: ON NEW OBJECTIVITY IN SWITZERLAND AND ITS CONNECTIONS TO GERMANY
Christoph Vögele
383 THE GERMAN LANGUAGE IN THE ERA OF THE WEIMAR REPUBLIC
Henning Lobin
386 IN THE RUSH OF IMAGES: THE WEIMAR REPUBLIC IN THE MIRROR OF PHOTOGRAPHY
Claude W. Sui
389 BETWEEN UPHEAVAL AND CRISIS: MANNHEIM IN THE 1920 s
Harald Stockert / Anja Gillen
394 QUOTES
395 VERZEICHNIS DER AUSGESTELLTEN WERKE / LIST OF EXHIBITED WORKS
405 BIBLIOGRAFIE (AUSWAHL) / BIBLIOGRAPHY (SELECTION)
406 BILDNACHWEIS / PHOTO CREDITS
408 IMPRESSUM / IMPRINT
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
Geleitwort
Liebe Leserinnen und Leser,
sagen zu können, in welcher Zeit man lebt, was das Signum einer bestimmten Gegenwart ist, ist schwierig bis unmöglich. Die Unmittelbarkeit des Erlebten bietet den Abstand nicht, der für ein Urteil notwendig ist. Ernst Bloch, der gegenüber von Mannheim, in Ludwigshafen, geborene Philosoph, sprach darum vom „Dunkel des gelebten Augenblicks“.
Manchmal gibt es jedoch Menschen mit hoher Sensibilität und ausgeprägter Ausdrucksfähigkeit, die – vielleicht durch eine glückliche Eingebung – wesentliche Aspekte ihrer Zeit oder ihrer Gegenwart treffend beschreiben können.
Dazu gehört offenbar Gustav Friedrich Hartlaub, der einer neuen, dominant werdenden Kunstrichtung seiner Zeit den Namen „Neue Sachlichkeit“ gab. Ein Begriff, der sofort einschlug, weil er einleuchtend war – auch für andere Künste der damaligen Zeit wie Fotografie oder Literatur. Und heute ist es noch immer so: Wenn man die Bilder sieht, die dazu gerechnet werden, kann man gar nicht anders als denken:
Neue Sachlichkeit!
Die wunderbare Kunsthalle Mannheim erinnert nun an die Ausstellung mit diesem Namen im Jahr 1925. Ich finde gut, dass sie sie nicht einfach nachstellt – was ja, wegen empfindlicher Verluste durch Krieg und Nationalsozialismus auch gar nicht möglich wäre. Vielmehr bekommt die Ausstellung einige zusätzliche Aspekte, etwa durch damals „vergessene“ Künstler*innen. Entweder hat Hartlaub sie nicht gekannt (aber wir müssen uns immer wieder vor Augen halten, wie beschränkt die Kommunikationsmittel waren – und eher darüber staunen, welche große Kollektion er ausfindig gemacht und ausgestellt hat!) oder man hat bei anderen erst im Laufe der Zeit bemerkt, dass auch sie zu dieser Stilrichtung gehören; darunter die großartigen Frauen, deren Kunst 1925 überhaupt nicht vorkam. Der weibliche Anteil an der Neuen Sachlichkeit wurde damals gar nicht gewürdigt. Umso wichtiger, dass dies jetzt geschieht.
Für die malenden Frauen gilt das Gleiche wie für die Männer: Ihre Bilder sind oft von einer Melancholie durchwebt, die nicht nur von vergangenem Schrecken weiß, sondern auch von kommendem Unheil zu ahnen scheint.
Kein Künstler ist nur „Vertreter“ einer Richtung, keine Künstlerin passt mit ihrem Werk einfach in eine Stilschublade. Jede und jeder steht immer ganz für sich. Ich bin der Kunsthalle Mannheim dankbar, dass sie eine solche Fülle von individuellen Welt-Sichten versammelt, die aber doch – manchmal offensichtlich, manchmal eher untergründig – eine gemeinsame Art, die Welt ins Bild zu bringen, verbindet.
Den ersten Blick gibt es nie ein zweites Mal: Niemand von uns kann die Kunst der Neuen Sachlichkeit noch einmal mit den Augen der Zeitgenossen sehen. Ihr Staunen, ihr Befremden oder ihre Bewunderung sind von uns heute nicht wiederholbar.
Aber dennoch ist diese Kunst nicht einfach museal. Sie spricht zu uns – nicht „wie am ersten Tag“, sondern eben heute. Und auch heute können wir daraus lernen, die Dinge so zu sehen, wie sie sind: „sachlich“ – und dass sie gerade so noch ein Geheimnis bergen, eine Bedeutung über sie hinaus. In Auseinandersetzung mit diesen Bildern, mit diesem sehr spezifischen Blick auf die Welt, können also auch uns ein wenig anders die Augen aufgehen: über uns selbst und unsere Welt und über die – wie immer – schwer zu begreifende Gegenwart, in der wir leben.
Frank-Walter Steinmeier Bundespräsident
Grußwort
Als Gustav Friedrich Hartlaub in seiner noch vergleichsweise jungen Funktion als Direktor der Kunsthalle Mannheim die Ausstellung Die Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus im Juni 1925 eröffnete, ahnte er vermutlich nicht, dass er mit seinem Ausstellungsprojekt gewissermaßen Geschichte schreiben sollte: Nicht nur wurde die Schau im Anschluss von anderen Häusern in Dresden, Chemnitz, Erfurt und Dessau übernommen und gezeigt. Mit dem Begriff „Neue Sachlichkeit“ fing Hartlaub vielmehr das Zeitgefühl einer Künstlergeneration ein und prägte damit schließlich eine ganze Epoche – von der Malerei und der Grafik über die Architektur bis hin zur Literatur. Künstler wie George Grosz, Max Beckmann, Otto Dix, Adolf Erbslöh oder Alexander Kanoldt waren in der damaligen Ausstellung vertreten und standen mit ihren Werken für den kulturellen, von sozialen und politischen Umwälzungen geprägten Aufbruch der 1920er-Jahre. In ihnen manifestierte sich die Reflexion des eigenen Selbst in der Weimarer Republik zwischen Arbeitslosigkeit, sozialen Missständen, wirtschaftlichem Aufschwung und dem Börsencrash im Jahr 1929.
100 Jahre später lässt die Kunsthalle Mannheim diesen Zeitgeist wieder aufleben und widmet sich Hartlaubs legendärer Ausstellung von 1925. Ich freue mich sehr, dass die Kulturstiftung der Länder dieses wichtige Projekt im Verbund mit weiteren Partnern unterstützen konnte. Neben der Förderung des Erwerbs, des Erhalts und der Dokumentation von Kulturgütern gehört es zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben, im Auftrag der 16 Länder die Vermittlung von Kunst und Kultur von gesamtstaatlicher Bedeutung zu unterstützen und ein Bewusstsein für ihren Wert in der breiten Öffentlichkeit zu schaffen. Das Mannheimer Ausstellungsprojekt ist weit mehr als eine reine Rückschau auf die Genese der Ausstellung Hartlaubs, die Entstehungsgeschichte der Stilrichtung und deren Protagonisten. Es schlägt vielmehr eine aufschlussreiche Brücke in die Gegenwart und wirft einen kritischen Blick auf das Ausstellungskonzept des damaligen Direktors, das bedeutende Künstlerkolleginnen wie Jeanne Mammen, Kate DiehnBitt oder Lotte Laserstein komplett ausschloss. Doch auch internationale Positionen werden in die aktuelle Ausstellung mit einbezogen. So etablierte sich die Kunstrichtung auch in Österreich, Italien, der Schweiz, den Niederlanden und weite-
ren Ländern. Darüber hinaus befasst sich die Ausstellung mit dem damaligen politischen Klima des aufkommenden Nationalsozialismus, das sowohl Hartlaubs privates wie berufliches Leben als auch das vieler Künstlerinnen und Künstler schlagartig ändern sollte. Mit ihrer Jubiläumsausstellung widmet sich die Kunsthalle Mannheim dem wohl wichtigsten Kapitel ihrer eigenen Sammlungs- und Ausstellungsgeschichte und würdigt die Rolle des eigenen Hauses um 1925 für die Stadt Mannheim und die Region. Mit dem vorliegenden Katalog und einer digitalen Zusammenschau der damals präsentierten, heute zum Teil zerstörten oder unauffindbaren Werke werden die Ergebnisse der Jubiläumsausstellung der Kunsthalle Mannheim der Forschung wie der Öffentlichkeit nachhaltig zugänglich gemacht.
Prof. Dr. Markus Hilgert
Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder
Johan Holten
Vorwort
„Die Neue Sachlichkeit”, so betitelte Gustav Friedrich Hartlaub, damals Direktor der Kunsthalle Mannheim, die Zusammenstellung der wichtigsten Künstler seiner Gegenwart. Die Ausstellung war bahnbrechend und ist bis heute die wichtigste in der Geschichte der Kunsthalle. Nicht unähnlich dem Vorgehen von Kurator*innen heute, hat Hartlaub die künstlerischen Tendenzen seiner Gegenwart beobachtet und sah darin Reaktionen auf die politische und gesellschaftliche Lage. Er bemerkte, dass die schwierige Lage in den 1920er-Jahren mit einer für ihn neuen und sehr sachlichen Art des Malens festgehalten wurde. Die Neue Sachlichkeit war als Stilrichtung geboren und breitete sich von Mannheim über die junge Weimarer Republik aus, auch mittels der weiteren Stationen der Ausstellung u.a. in Chemnitz, und wurde im Rückblick betrachtet zur Bezeichnung der Ästhetik einer Epoche. Eine Zeit geprägt von Hoffnung, von Aufbruch und neuen technischen wie sozialen Möglichkeiten, aber ebenso von Verwerfungen, Herausforderungen und dem Gefühl eines großen Umbruchs.
Ich selbst habe als Direktor der Kunsthalle Mannheim und Kurator mittels Ausstellungen versucht, meine Gegenwart zum Ausdruck zu bringen, und habe 2019 eine Ausstellung mit dem Titel „Umbruch“ konzipiert, nicht ahnend, dass der Titel ein Jahr später, im Juli 2020 nach Ausbruch einer weltweiten Pandemie, eine vollkommen andere Bedeutung annehmen sollte. Ganz sicher konnte auch Hartlaub nicht ahnen, welche enorme Bedeutung der Begriff Neue Sachlichkeit in den folgenden 100 Jahren erlangen sollte. So üben gerade die 1920er-Jahre auf unsere Gegenwart eine ungebrochene Faszination aus, vermutlich weil wir spüren, in einer Zeit mit Brechungen und Veränderungen zu leben. Wenngleich Geschichte sich nie wiederholt, können vergangene Epochen in einem so unruhigen Jahrzehnt wie unserem einen Fundus an Beobachtungen, Empfindungen und Ähnlichkeiten bereithalten. Diese liefern zwar keine Erklärungen für unsere Zeit, aber sie erlauben uns empathischer und verständnisvoller auf unsere Gegenwart zu blicken, da wir nachvollziehen können, dass nicht nur unsere Zeit unruhig ist, dass nicht nur wir mit Herausforderungen zu tun haben. Generationen vor uns haben womöglich viel größere Verwerfungen erlebt - und überlebt.
Dennoch gibt es auch markante Unterschiede zwischen der Art, wie Hartlaub seine Zeit gesehen hat, und wie wir mit dem Wissen der Nachgeborenen darauf zurückblicken. Obwohl er, wie wir aus den Quellen wissen, kurz vor der endgültigen Ausstellung Überlegungen angestellt hatte, Werke von Pablo Picasso und Alexander Archipenko zu zeigen, beschränkte er sich schließlich auf die deutsche Perspektive. Heute steht fest, dass Künstler*innen in ganz Europa, ob in der Schweiz und Österreich, aber auch in den Niederlanden, Italien und weiteren Ländern, auf die gesellschaftlichen Verwerfungen des Jahrzehnts mit einem sachlichen Malstil reagiert haben. Also muss es heute darum gehen, einige dieser anderen künstlerischen Positionen zusammen mit den deutschen zu zeigen. Künstlerinnen fehlten gänzlich auf der Liste der ursprünglichen Ausstellung. Einige der heute zur Neuen Sachlichkeit gerechneten Künstlerinnen konnte Hartlaub zugegebenermaßen nicht kennen, da sie, wie Hanna Nagel, erst 1925 ihr Studium an der Kunstakademie in Karlsruhe aufnahmen. Andere hat er vielleicht einfach übersehen. Aus heutiger Sicht eine historische Ungerechtigkeit, die es mit der Jubiläumsausstellung zu korrigieren gilt. Die Kolleg*innen des Museums in Chemnitz präsentieren ab April 2025 zudem einen eigenen Rückblick auf das Phänomen der Neuen Sachlichkeit mit Fokus auf osteuropäischen Künstler*innen und erweitern somit den Blick der Mannheimer Jubiläumsausstellung.
Ebenso wenig konnte Hartlaub wissen, wie es den von ihm so geschätzten Künstlern nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ergehen würde. Einige passten sich erstaunlich schnell an das neue Regime an und nutzten die Merkmale des sachlichen Stils, um nationalkonservative Themen in Szene zu setzen. Andere mussten dagegen emigrieren oder sind, wie Felix Nussbaum, wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt und ermordet worden. So ging es also 1933 nicht nur um die bereits in der Auswahl von Hartlaub angelegten Aufteilung in einen rechten konservativen und linken gesellschaftskritischen Flügel, sondern plötzlich um sehr existenzielle menschliche Fragestellungen – und um Leben und Tod.
Den Unterschieden dieser beiden Flügel geht eine der eigentlichen Hauptausstellung vorgelagerte Ausstellung zur Grafik der Neuen Sachlichkeit nach. Kuratiert von Dr. Gunnar Saecker, zeigt die Kunsthalle darin zahlreiche Blätter aus dem eigenen Bestand, erweitert um wichtige Leihgaben, in denen man schon im Strich und Duktus der Blätter die Aufteilung in unterschiedliche Weltauffassungen nachempfinden kann. Eine Tatsache, die umso erschütternder ist, wenn man bedenkt, dass wir heute auch nicht ahnen können, ob die gegenwärtig um sich greifende gesellschaftliche und politische Entzweiung sich weiter verfestigt, oder ob es uns stattdessen gelingen wird, den gesellschaftlichen Frieden, gerade wegen unseres historischen Bewusstseins der Vergangenheit, zu wahren.
Sowohl bei den Beständen der Grafik wie bei der Malerei hat die Kunsthalle im Zuge der Beschlagnahmeaktion des nationalsozialistischen Regimes im Jahr 1937 zahlreiche Werke verloren. Somit wurden auch die Bestände zur Neuen Sachlichkeit schmerzlich dezimiert. Nach 1945 konnten einzelne Werke, wie zum Beispiel das ikonische Porträt von Max Herrmann-Neiße, von seinem Freund George Grosz 1925 gemalt, zwar wieder erworben werden (Kat. 19). Andere Bilder sind heute weltweit verstreut, kommen nun aber erneut nach Mannheim, wie Max Beckmanns Christus und die Sünderin aus dem Saint Louis Art Museum (Kat.1). Für die Bereitschaft von Kolleg*innen in zahlreichen Museen weltweit, diese Leihgaben zur Verfügung zu stellen, sind wir unendlich dankbar. Da viele Werke aber heute verschollen sind, haben wir uns dafür entschieden, die physische Jubiläumsausstellung um eine digitale Komponente zu erweitern. In einem Ausstellungssaal des Altbaus der Kunsthalle, in deren Räumen die ursprüngliche Ausstellung zu sehen war, können Besucher*innen in eine Bildwelt eintauchen, mit der nicht so sehr die exakte wissenschaftliche Rekonstruktion evoziert werden soll, sondern vielmehr das Gefühl vermittelt, wie Hartlaubs Werkauswahl ausgesehen hat. Als Ergänzung zu der großartigen Zusammenstellung von mehr als 230 Malereien und einigen Skulpturen, die den Hauptteil der so brillant von Inge Herold kuratierten Ausstellung auf zwei Etagen des Neubaus der Kunsthalle ausmacht, dient zudem die digitale Rekonstruktion in Form einer Datenbank dazu, den aktuellen wissenschaftlichen Stand zu vermitteln. Visuelles Erlebnis und Forschung spielen in der Vermittlung solchermaßen eine wichtige Rolle.
Hinzu kommt das reichhaltige Programm, das ein Partnernetzwerk von nicht weniger als 35 Institutionen in und um Mannheim unter dem Motto „Die 1920er in Mannheim“ parallel zur Ausstellung zeigen und veranstalten wird. Dazu zählen zwei Opern- und zwei Schauspielpremieren des Nationaltheaters Mannheim, aber ebenso Ausstellungen in den Reiss-Engelhorn Museen und im Marchivum sowie Konzerte, Lesungen, Stadtführungen, Stummfilmaufführungen, Vorträge und vieles mehr. Ein eigenes gedrucktes Heft fasst das komplette Programm zusammen, das auch über eine eigene Webseite abzurufen ist. Dass der Handel in der Mannheimer Innenstadt die Initiative ebenso aufgegriffen hat und das Programm mitbewirbt, freut uns ebenso wie die breitflächige Bewerbung, die mit dem Mannheimer Stadtmarketing als Partner initiiert wurde. Für die große Begeisterung und das Engagement danke ich an dieser Stelle allen Beteiligten des Partnernetzwerks.
Besonderer Dank gilt den zahlreichen Unterstützern, die das Zustandekommen dieses groß angelegten Ausstellungsprojekts ermöglicht haben. Es sind dies die Stiftung Kunsthalle
Mannheim, die Hector Stiftungen, die Kulturstiftung der Länder, die Baden-Württemberg Stiftung, der Förderkreis für die Kunsthalle Mannheim, die Ernst von Siemens Kunststiftung, die Ernst-Ludwig-Seibert-Stiftung, die Fontana Stiftung, die Joe und Xaver Fuhr-Stiftung, die VR Bank Rhein-Neckar eG sowie private Spender. Die Ausstellung steht unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, wofür wir sehr dankbar sind und was die Bedeutung unseres Unternehmens unterstreicht.
Ein großer Dank gebührt allen Institutionen und privaten Leihgeberinnen und Leihgebern, die so großzügig und bereitwillig ihre Werke zur Verfügung gestellt haben und das Projekt durch vielfältigen Rat unterstützt haben. Ohne dieses kollegiale Vertrauen wäre die Ausstellung nicht zu realisieren gewesen.
Bedanken möchte ich mich ebenso herzlich bei den Autor*innen des umfangreichen, im Deutschen Kunstverlag erscheinenden Katalogs: Jelle Bouwhuis, James A. van Dyke, Inge Herold, Olaf Peters, Gunnar Saecker, Markus Stadtrecher, Harald Stockert und Anja Gillen, Claude W. Sui und Christoph Vögele, die aus unterschiedlichen Perspektiven das Phänomen Neue Sachlichkeit beleuchten. Dank gilt auch Luise John und Tobias Gallé für die intelligente Szenografie der Ausstellung und die Visualisierung der digitalen Rekonstruktion der historischen Schau.
Inge Herold gilt mein besonderer Dank für ihre langjährige Recherchearbeit für diese Ausstellung und das umsichtige Kuratieren der äußerst zahlreichen Leihgaben. Ebenso gilt mein Dank allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Teams der Kunsthalle, hervorheben möchte ich Gunnar Saecker und Manuela Husemann, die sich vor allem um die Rekonstruktion der historischen Ausstellung verdient gemacht haben. Aber auch Selini Andres und Nina Körbe-Brahm sei für ihre Arbeit als Registrarinnen dieses Jahrhundertprojektes gedankt, ebenso wie Katrin Radermacher und Isabel Schulz für die restauratorische Betreuung, dem Arthandling-Team um David Maras sowie Heiko Daniels für die Umsetzung der digitalen Konzepte und Claudia Dausch für die umfangreiche Bildbeschaffung und Rechteklärung. Verwaltung, Fund Raising, Facility Management, Presse, Marketing und Kommunikation, Veranstaltungsmanagement, Kunstvermittlung und Besucherservice mit annähernd 30 Personen haben ebenfalls zur Realisierung beigetragen, auch ihnen allen gilt mein herzlichster Dank.
Möge die Ausstellung dazu beitragen, dass Mannheim mit diesem wichtigen, kulturellen Projekt Besucher*innen aus aller Welt begrüßen kann.
Johan Holten
Direktor Kunsthalle Mannheim
DIE NEUE SACHLICHKEI T –
EIN JAHRHUNDE R T-
JUBILÄUM
Inge Herold
EIN BLICK ZURÜCK NACH 100 JAHREN
Gustav Friedrich Hartlaub (1884–1963), der zweite Direktor der Kunsthalle Mannheim, gab mit der von ihm 1925 kuratierten Schau Die Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus bekanntlich nicht nur einer ganzen Strömung innerhalb der Malerei des 20. Jahrhunderts einen prägnanten, bis heute weltweit verwendeten Namen. Weit über diese kunsthistorische Bedeutung hinaus ist der Begriff zum Synonym für den kulturellen Aufbruch der 1920er-Jahre und die in Malerei und Grafik, aber auch in Architektur, Design, Fotografie oder Literatur zu beobachtende Rationalität und sachliche Präzision geworden. Gleichzeitig diskutierte man kaum eine künstlerische Entwicklung und den dafür gefundenen Begriff derart kontrovers, wurden doch darunter eine Vielzahl von widersprüchlichen Erscheinungsformen und nur schwer zu vereinbarenden künstlerischen Haltungen subsumiert. So unterschied schon Franz Roh 1925 sieben verschiedene Richtungen.1 Der Realismus dieser Zeit galt den einen in seiner Hinwendung zu klassischer Formgestaltung und an alten Meistern geschulter Maltechnik geradezu als reaktionär, während andere nach den Gefühlsausbrüchen und Farb- und Formekstasen des Expressionismus die gegenwartsnahe, kritische Themenwahl und die „Rückkehr zur Ordnung“ begrüßten. Tatsächlich wurde die neue Kunst – und darin war man sich überwiegend einig – als Folge des Expressionismus und in Abgrenzung zu diesem definiert, so auch von Gustav F. Hartlaub:
Der Untertitel seiner Ausstellung lautete Deutsche Malerei seit dem Expressionismus. Gleichzeitig war es Konsens, dass der neue Stil eine Folge des Krieges mit all seinen Auswirkungen ebenso wie ein Reflex auf die Umbrüche und Krisen der Jahre danach war. Die meisten Diskussionen über die Sinnhaftigkeit des Begriffs kommen zu dem Ergebnis, ihn weder formal-stilistisch noch inhaltlich zu fassen, sondern ihn als Zeichen des herrschenden Zeitgeistes zu interpretieren und ihn als „Vereinbarungsbegriff“ für eine Kunst unter dem Dach einer gemeinsamen „neuen Gegenständlichkeit“ zu nutzen.2 Auch Hartlaub hatte seine Zweifel und führte die Zwei-Flügel-Theorie ein, die jedoch auch nur unzureichend das gesamte Spektrum widerspiegelte. Das Schlagwort „Neue Sachlichkeit“ eignet sich deshalb, da es nicht als Stilbegriff im engeren Sinn zu verstehen ist, vielmehr als Bezeichnung für ein Epochenphänomen. Bereits in der Weimarer Republik wurde dieses disziplinübergreifende Phänomen als „Schule“ oder „Zeitbewegung“ anerkannt.3 Zuletzt konstatierten auch Angela Lampe und Florian Ebner, „dass die Sachlichkeit weniger eine klassische Bewegung von Künstlern, mit einem Manifest und entsprechenden
Zentren, ist als vielmehr eine neue Art und Weise, die Welt zu sehen“.4 Vielleicht war dies letztlich der Grund, warum die historische Ausstellung und ihr Titel so erfolgreich und wegweisend werden konnten.
Die aktuelle Ausstellung steht in der Folge der 1994 in der Kunsthalle Mannheim gezeigten mit dem Titel Neue Sachlichkeit – Bilder auf der Suche nach der Wirklichkeit 5 Dreißig Jahre später hat sich der Kenntnisstand erweitert. Seither hat sich eine Vielzahl von Ausstellungen und Publikationen, auch außerhalb Europas, kritisch mit dem Stoff auseinandergesetzt, und dies sowohl in Übersichtsschauen als auch in monografischen Arbeiten zu einzelnen Künstler*innen oder zu Motivgruppen.6 Ein Blick auf die Genese der historischen Ausstellung sowie auf das in Mannheim und nachfolgend in den Folgestationen Präsentierte soll Hartlaubs kuratorische Leistung kritisch bewerten. Wenngleich es zur historischen Ausstellung keine fotografischen Raumaufnahmen gibt, lassen sich mittlerweile 112 der 132 gezeigten Arbeiten anhand von Fotos in einer digitalen datenbankbasierten Rekonstruktion belegen. Stärker als noch 1994 werden in unserer Ausstellung von Hartlaub Vergessenes, Übersehenes oder auch Ausgeschlossenes einbezogen. Auch gilt es Neuentdeckungen an künstlerischen Positionen oder Werken vorzustellen, die 1925 – aber selbst noch 1994 – im Dunkeln ruhten. 1925 war keine einzige Künstlerin in der Ausstellung vertreten. Dies lag einerseits daran, dass es Frauen im damaligen Kunstbetrieb selten gelang wahrgenommen zu werden; andererseits befand sich das Werk einiger neusachlich malender Künstlerinnen um 1925 erst in der Entwicklungsphase und entging so Hartlaubs Aufmerksamkeit. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis die Vertreterinnen der Neuen Sachlichkeit die verdiente Würdigung erhielten, und auch heute sind noch Neuentdeckungen möglich, etwa mit dem Werk von Ilona Singer. Hartlaub verzichtete, vermutlich aus organisatorischen Gründen, bewusst auf einen Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus, wenngleich die Hinwendung zu einer gegenständlichen Formensprache kein auf Deutschland beschränktes Phänomen war. Trotz der unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situationen in den europäischen Staaten wie Italien, Großbritannien, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich, aber auch in den USA, prägte auch dort eine realistische Bildsprache die Kunst. Um dies beispielhaft zu zeigen, werden in der Ausstellung auch Werke internationaler Künstler*innen präsentiert. Ausgespart bleibt der Blick auf Osteuropa, da dies 2025 Thema einer Ausstellung im Museum Gunzenhauser in Chemnitz sein wird.7 Hartlaub selbst reflektierte noch Jahre später über sein kuratorisches Tun und sah deutlich die Gefahren
der Verflachung, aber auch Vereinnahmung des neusachlichen „Stils“. Insofern ist ein Blick in die 1930er- und 1940erJahre aufschlussreich: Das Spektrum der künstlerischen Haltungen reicht von den Extremen einer Anpassung an den Nationalsozialismus und der Glorifizierung seines Weltbilds auf der einen Seite bis zu einer kritischen Haltung auf der anderen. Die Schicksale einzelner Künstler*innen umfassen Erfolg, Emigration und Verfolgung bis hin zu gewaltsamem Tod. Hartlaub selbst wurde 1933 aufgrund seiner avantgardistischen Museumspolitik von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben.
Die 1920er-Jahre sind en vogue, die rauschhaften Exzesse, wie beispielsweise in der Serie Babylon Berlin gezeigt, faszinieren das Publikum. Grund für das Interesse an jener Epoche ist aber auch, dass sich Parallelen zu unserer heutigen Situation ziehen lassen: Banken- und Finanzkrisen, verstärkte soziale Spannungen, das Erstarken politischer Extreme verbunden mit einer zunehmenden Brutalisierung sowie die rasante technische Entwicklung und nicht zuletzt das Bewusstsein, in einer Krisenzeit zu leben, lassen Bezüge aufscheinen. Aufgrund der anhaltenden Fokussierung auf die Epoche und der Vielzahl an Ausstellungen bereits in den letzten Jahren, aber auch zum Jubiläum, war die Akquise von Leihgaben nicht einfach. Die immer gleichen Highlights der bekannten Namen werden angefragt, sodass mittlerweile viele Werke aus konservatorischen Gründen gar nicht mehr ausgeliehen werden. Zudem lassen wirtschaftliche Gründe, aber auch die Verantwortung für Klima und Umwelt es nicht mehr zu, Arbeiten aus aller Welt für eine Ausstellung an einem Ort zusammenzutragen. Es galt daher, allzu Bekanntes oder Erwartetes sowie nicht Erreichbares durch Neues und Überraschendes zu ersetzen. Die Ausstellung umfasst 233 Arbeiten von 21 Künstlerinnen und 103 Künstlern und konzentriert sich mit wenigen Ausnahmen auf Malerei. Begleitet wird sie in den Räumen der Graphischen Sammlung durch eine Schau mit Arbeiten auf Papier unter dem Titel hart und direkt, überwiegend aus dem eigenen Bestand.8
EIN NEUER NATURALISMUS??
Die oben beschriebenen neuen Tendenzen und die Suche nach einer Begrifflichkeit setzten schon bald nach Ende des Ersten Weltkriegs ein. Bereits 1918 sprach Max Beckmann im „Bekenntnis“ davon, dass man zu einer „transzendenten Sachlichkeit“ kommen müsse.9 1919 diskutierte Paul Westheim in einem Artikel in der Zeitschrift Das Kunstblatt die Kunst der italienischen „Valori Plastici“ in Bezug zu deutschen Künstlern wie Heinrich Maria Davringhausen und George Grosz sowie ihr Streben nach „Verismus“.10 1921
Abb. / fig. 1 | Gustav Friedrich Hartlaub, ca. 1928
forderten unter anderen Otto Dix, Rudolf Schlichter und Georg Scholz in einem offenen Brief an die Novembergruppe: „Es muß als Ziel angesehen werden, die ästhetische Formelkrämerei zu überwinden durch eine neue Gegenständlichkeit.“11 1922 führte die Zeitschrift Das Kunstblatt eine Umfrage unter dem Titel „Ein neuer Naturalismus??“ durch, die sich an führende Künstler, Schriftsteller, Museumsleiter und Kunstgelehrte richtete – bemerkenswerterweise war keine einzige Frau unter den Befragten.12 Zu den Teilnehmern gehörten Fritz Wichert, Alfred Döblin, Hans Thoma, Ernst Ludwig Kirchner, Wilhelm Uhde, Ludwig Meidner, George Grosz, Wassily Kandinsky, Clive Bell, Alexander Archipenko, Rudolf Belling, Wilhelm Hausenstein und Kasimir Edschmid. Auch Gustav F. Hartlaub wurde um ein Statement gebeten, zählte er doch zu diesem Zeitpunkt schon zu den avantgardistischen Museumsvertretern. Geboren 1884 in Bremen, war er nach seinem Kunstgeschichtsstudium zunächst an der Kunsthalle Bremen als Assistent von Gustav Pauli tätig. 1913 holte ihn Gründungsdirektor Fritz Wichert als Mitarbeiter an die Kunsthalle Mannheim (Abb. 1).13 Hartlaub hatte zunächst mit dem Expressionismus eine Art universeller Heilserwartung für Kunst und Gesellschaft verbunden. Sein Statement in Das Kunstblatt spiegelte deshalb auch seine Enttäuschung und Resignation über das Versagen der expressionistischen Gesinnung und das Scheitern seiner Erwartungen wider. Bemerkenswerterweise betrachtete er die neuen Tendenzen vor dem Hintergrund dieser negativen Wahrnehmung und registrierte bereits 1922 die Ambivalenz der neuen Strömung:
„Ich sehe einen rechten, einen linken Flügel. Der eine konservativ bis zum Klassizismus, im Zeitlosen Wurzel fassend, will nach so viel Verstiegenheit und Chaos das gesunde, Körperlich-Plastische in reiner Zeichnung nach der Natur […] wieder heiligen. Michelangelo, Ingres, Genelli, selbst die Nazarener sollen Kronzeugen sein. […] Der andere linke Flügel, grell zeitgenössisch, weit weniger kunstgläubig, eher aus Verneinung der Kunst geboren, sucht mit primitiver Feststellungs-, nervöser Selbstentblößungssucht Aufdeckung des Chaos, wahres Gesicht unserer Zeit.“14
Den linken Flügel bezeichnete er als „neuen Naturalismus“, den rechten nannte er „neuen Klassizismus“. „So bekennen wir uns denn, wenn auch mit einigen Resignationsschmerzen, zu dieser jüngsten ‚Rückkehr zur Natur‘“, schrieb er und erhoffte eine „Einigung beider Ströme und damit die Schaffung eines breiteren Strombetts. Wir warten auf einen zukünftigen, einen erlösten Max Beckmann.“
19 23: DIE ERSTE IDEE ZUR AUSSTELLUNG
Die Idee, den neuesten Strömungen eine Ausstellung zu widmen, begann bei Hartlaub bereits im Frühjahr 1923 Gestalt anzunehmen. Er wollte damit auch sein eigenes Profil schärfen und sich von seinem Vorgänger Wichert abgrenzen.15 Nachdem er im März 1923 offiziell zum Direktor der Kunsthalle ernannt worden war, wurden die Planungen konkreter. Im Mai verschickte Hartlaub Briefe mit der Bitte um Unterstützung an sieben Kunsthändler und -kritiker, die sich inhaltlich unterschieden und individuell auf die Empfänger zugeschnitten waren: Wilhelm Hausenstein (München), Paul Ferdinand Schmidt (Dresden), Karl Nierendorf (Berlin), Hans Goltz (München), Walter Cohen (Düsseldorf), Israel Ber Neumann (Berlin) und Eckard von Sydow (Hannover). In diesen Schreiben benutzte er erstmalig den Begriff „Neue Sachlichkeit“ und schlug eine Ausstellung vor, die eine Zusammenstellung nachexpressionistischen Schaffens zeigen sollte. Am 18. Mai 1923 schrieb er an Wilhelm Hausenstein: „Ich möchte im Herbst eine mittelgrosse Ausstellung von Gemälden und Graphik veranstalten, der man etwa den Titel geben könnte ‚Die neue Sachlichkeit‘. Es liegt mir daran, repräsentative Werke derjenigen Künstler zu vereinigen, die in den letzten 10 Jahren weder impressionistisch aufgelöst noch expressionistisch abstrakt, weder rein sinnenhaft äusserlich, noch rein konstruktiv innerlich gewesen sind. Diejenigen Künstler möchte ich
Abb. / fig. 2 | Gustav Friedrich Hartlaub Künstlerliste für die Ausstellung / List of artists for the exhibition Die Neue Sachlichkeit , 1923 Archiv / Archive Kunsthalle Mannheim
zeigen, die der positiven greifbaren Wirklichkeit mit einem bekennerischen Zuge treu geblieben oder wieder treu geworden sind. […] In Betracht kommen sowohl der ‚rechte‘ Flügel (Neu-Klassizisten, wenn man so sagen will), wie etwa gewisse Sachen von Picasso, Kay H. Nebel etc., als auch der linke ‚veristische‘ Flügel, dem ein Beckmann, Grosz, Dix, Drexel, Scholz etc. zugezählt werden können.“16
In den Briefen, die er am selben Tag an Walter Cohen und an Paul Ferdinand Schmidt richtete, bat er um Diskretion bezüglich seines Vorhabens, während er im Schreiben an Nierendorf, bei dem er um Werke von Dix nachfragte, einschränkte:
„Betonen muss ich freilich, dass in einer öffentlichen Sammlung natürlich mit einiger Vorsicht darauf gesehen werden muss, dass die Publikumsmeinung nicht durch allzu grosse Handgreiflichkeiten gereizt wird. Es hat gar keinen Sinn, sich durch ein allzugrosses Bekennertum in dieser Richtung den Erfolg des ganzen Unternehmens zu verderben.“17
Im Brief vom 11. Juli 1923 an die Künstlerschaft wählte Hartlaub seine Worte noch vorsichtiger. Er legte eine Künstlerliste vor, die 52 Namen umfasste, von denen 32 angeschrieben werden sollten, darunter Max Beckmann, Otto Dix, Max Ernst, George Grosz, Karl Hubbuch, Alexander Kanoldt, Rudolf Schlichter, Wilhelm Schnarrenberger, Georg Scholz, Georg Schrimpf (Abb. 2): „Maßgebend für die Auswahl ist also abgesehen von dem angedeuteten Stilwillen nur der Qualitätsgesichtspunkt – soweit nicht kunst- und kulturpolitische
Max Beckmann
Gustav Friedrich Hartlaub hielt
Max Beckmann für den größten lebenden Maler. In ihm hoffte er die beiden Strömungen der Neuen Sachlichkeit zusammengeführt zu sehen. „Wir warten auf einen zukünftigen, einen erlösten Max Beckmann“, hielt er schon 1922 fest. Beckmann war in der Ausstellung zur Neuen Sachlichkeit 1925 mit 14 Gemälden äußerst repräsentativ vertreten. Doch war seine Zugehörigkeit zur Neuen Sachlichkeit keineswegs unumstritten, wie sich schon in den Pressekritiken zur Ausstellung zeigt. Während er einerseits als „Führer der modernen ‚neuen Sachlichkeit‘“ bezeichnet wurde, gehörte er für einen anderen Kritiker „nicht hierher“. „Max Beckmann steht allein für sich“, lautete ein Urteil, ein anderes charakterisierte ihn als „Vorläufer des Stils“. Letztlich war und blieb Beckmann ein Einzelgänger. Hartlaub richtete ihm schließlich 1928 seine erste museale Einzelausstellung aus.
Die Kunsthalle Mannheim hatte bereits 1914 mit dem Künstler über eine Erwerbung verhandelt, ein AtelierInterieur aus dem Jahr 1912 – um welches Werk genau es damals ging, ist nicht bekannt –, doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte dies. Erste Ankäufe gelangen dann 1919 mit Christus und die Sünderin (1917/18) und Bildnis Frau Tube (1919). In einem Brief vom 23. September 1918, in dem er seinen Vorgesetzten Fritz Wichert vom Kauf von Beckmann-Bildern zu überzeugen suchte, zog Hartlaub die hochrangigsten Vergleiche: „Lassen Sie mich Ihnen sagen, dass ich von den letzten grossen
Arbeiten Beckmanns (der Auferstehung, Ehebrecherin, Selbstbildnis) den reinsten und höchsten Eindruck empfangen habe, den mir neue Kunst seit Jahren gegeben hat. Hier ist Ausdruck in höchster Potenz und dabei doch die volle Rundheit einer lebendigen Natur. Vergeistigung wie noch nie, und doch Natur, so fest und stark und rassig, wie bei Signorelli, Dürer, Michelangelo.“ Fastnacht (1925) wurde 1927 erworben, 1928 folgten Stilleben mit Holzscheiten (1926) und Das Liebespaar (1912). Unter dem nationalsozialistischen Regime wurden 1937 Christus und die Sünderin, Fastnacht und Stilleben mit Holzscheiten als „entartet“ beschlagnahmt. Christus und die Sünderin gelangte 1955 über die Buchholz Gallery und Curt Valentin in New York in den Besitz des Saint Louis Art Museum. Stilleben mit Holzscheiten befindet sich heute in Privatbesitz. Fastnacht wurde 1950 vom Kunsthändler Günther Franke der Kunsthalle zum Rückkauf angeboten. Nach langen Verhandlungen schenkte er es der Kunsthalle; gleichzeitig wurde das Gemälde Große liegende Frau mit Papagei (1940) bei ihm angekauft. 2004 konnte schließlich das Porträt Tannenbaum geht nach New York (1947) erworben werden. Daneben befinden sich 20 Papierarbeiten sowie die Mappe Gesichter in der Sammlung der Kunsthalle Mannheim, 12 grafische Arbeiten hatte das Museum 1937 durch Beschlagnahmung verloren.
Christus und die Sünderin, von Hartlaub als Ehebrecherin tituliert, ist in einer fahlen reduzierten Farbigkeit gehalten und zeigt noch die für Beckmanns
Frühwerk typische, expressiv übersteigerte Formensprache (Kat. 1). Jesus – mit den Gesichtszügen Beckmanns – hält einen wütenden Mob davon ab, eine Frau zu steinigen, die vor ihm kniet. Die Botschaft der biblischen Geschichte – der Aspekt der Gewaltlosigkeit – ist auch Ausdruck der Kriegserfahrung des Künstlers. Er hatte sich zunächst freiwillig als Sanitäter gemeldet, doch die Erlebnisse traumatisierten ihn derartig, dass er nach einem Zusammenbruch 1915 aus dem Dienst entlassen wurde. Beckmann hatte von 1900 bis 1903 die Kunstschule in Weimar besucht. Dort hatte er 1902 seine erste Ehefrau Minna Tube kennengelernt, die als eine der ersten Frauen zum Malereistudium an der Schule zugelassen worden war. 1906 heirateten die beiden. Während Beckmann bereits 1907 in Weimar und 1908 in Berlin mit seinen Bildern erste Ausstellungserfolge verbuchen konnte, fand Minnas Weg als Malerin durch die Ehe ein abruptes Ende. Aufgrund der direkten Konkurrenz zu ihrem Mann gab sie die Malerei auf, absolvierte eine Ausbildung als Sängerin und begann eine Karriere mit Engagements in Elberfeld, Dessau, Chemnitz und Graz. 1919 malte Beckmann seine Schwiegermutter Ida Tube und 1924 porträtierte er Minna selbst (Kat. 2 und 3). Beide Bildnisse sind nun in einem „sachlicheren“ Stil gehalten und zeichnen sich durch eine gewisse Distanziertheit aus; der Blick der Dargestellten geht an den Betrachtenden vorbei. Mit dem 1923 entstandenen Doppelbildnis war Beckmann 1925 in der Mannheimer Ausstellung zur Neuen Sachlichkeit vertreten (Kat. 4). Dargestellt sind rechts Marie Swarzenski, die Ehefrau von Georg Swarzenski, Beckmanns Förderer und damaliger Städel-Direktor in Frankfurt, sowie links dessen Sekretärin Carola Netter, die 1952 die Max Beckmann-Gesellschaft mitgründen sollte. Beide saßen
dem Künstler getrennt Modell, bevor Beckmann sie collageartig in diesem Porträt zusammenführte. Die Komposition zwingt die beiden Frauen geradezu in eine unrealistisch enge räumliche Nähe, die gleichzeitig den Eindruck ihres distanzierten Verhältnisses verstärkt.
Das Bild Fastnacht aus dem Jahr 1925 vereint drei für Beckmann äußerst wichtige Motive: das Selbstbildnis, das Paarbildnis sowie die Fastnachtsdarstellung (Kat. 5). Beckmann vergewisserte sich zeit seines Lebens immer wieder in der Form des Selbstbildnisses seiner Position in Leben und Kunst. Gleichzeitig thematisierte er in zahlreichen Paarbildnissen das emotionale und sexuelle Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Häufig zeigte der Künstler die Frau in überlegener Pose, während die männlichen Protagonisten als Unterworfene oder unsicher Agierende auftreten. Hier nun erscheint der Künstler in einer Verkleidung, die sein Gesicht fast vollkommen verhüllt, während sein Körper, mit den nach oben ragenden Beinen, in einer unnatürlichen Sitzhaltung auf engstem Raum zusammengestaucht ist: Er hat im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen verloren. Verantwortlich für seine Position ist die Frauenfigur, die ihn bedrängt, aber letztlich auch schützend vor ihm sitzt. Es handelt sich um Mathilde „Quappi“ Beckmann, die zweite Ehefrau des Künstlers, die er 1924 kennengelernt und 1925 – nachdem die Ehe mit Minna Tube im selben Jahr geschieden worden war – geheiratet hatte. Während Quappi als selbstbewusste, dominante Person in Szene gesetzt ist, erscheint Beckmanns Alter Ego gefangen und traumatisiert: nicht zuletzt eine Verarbeitung seiner Erfahrungen im Ersten Weltkrieg. „Wenn man dies alles – den ganzen Krieg, oder auch das Leben nur als eine Szene im Theater der Unendlichkeit auffasst, ist vieles leichter zu ertragen“, so Beckmann in einem Tagebucheintrag. Damit ist
auch die dritte Ebene des Bildes angesprochen. Beckmanns Weltsicht charakterisiert den Künstler als Narren, der seine Rolle auf der Bühne des Welttheaters zu spielen hat. Motive aus Zirkus, Theater und Karneval tauchen in seinem Œuvre immer wieder als Metaphern für das Leben als großes Bühnengeschehen auf.
Ein Jahr nach der Mannheimer Ausstellung, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, malte Beckmann die Rugbyspieler, ein fulminantes Werk, das die Dynamik des Spiels in einer vertikal ausgerichteten Komposition, durch Hell-Dunkel-Kontraste und vielfache Überlagerungen der Körper aufs Wirkungsvollste visualisiert (Kat. 128).
1933 wurde Beckmanns Lehrauftrag an der Städelschule in Frankfurt beendet, vier Jahre später wurden zahlreiche seiner Werke in deutschen Museen als „entartet“ beschlagnahmt. Im selben Jahr, 1937, verließen der Künstler und seine Frau Deutschland, um in Amsterdam Zuflucht vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu suchen. Dort entstand 1940 das Querformat Große liegende Frau mit Papagei (Kat. 6). Die Darstellung zeigt die typische Handschrift des Spätwerks, das durch kräftige schwarze Konturlinien gekennzeichnet ist. Thematisch gehört auch diese Darstellung zu den Arbeiten, die das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Mann und Frau behandeln. Der Künstler präsentiert die schlafende Frau als üppige, verführerische Gestalt mit entblößten Brüsten. Ihre geschwungenen Körperformen finden ihren Widerhall in dem runden Tisch am unteren Bildrand, auf dem ein Stillleben aus Buch, Obst, Weinflasche und Blumenvase arrangiert ist. Mit dem Buch gibt Beckmann einen zusätzlichen Hinweis auf die erotische Atmosphäre des Bildes. Es handelt sich um Stendhals 1822 publiziertes Werk De l’amour, das psychologische Analyse, ideologischer
Essay und intimes Tagebuch in einem ist. In diesem Buch, das zu Lebzeiten des Autors kaum hundert Leser fand und dessen Einfluss erst Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, verarbeitete Stendhal letztlich die Erfahrung einer unerwiderten Liebe. Sachliche Reflexion und leidenschaftliche Betrachtung bestimmten Stendhals Sicht gleichermaßen – damit Beckmanns Weltsicht nicht unähnlich. Auch der Papagei entspricht in seiner symbolischen Bedeutung dem erotischen Charakter des Bildes. Charakteristisch für Fastnacht und Große liegende Frau mit Papagei ist – selbst wenn sie zeitlich 15 Jahre auseinanderliegen – die Verflechtung autobiografischer Erfahrungen, traditioneller Symbole und Requisiten der Kunstgeschichte zu Gesamtbildern, deren endgültige Aufschlüsselung der Künstler bewusst im Unklaren lässt. Das 1947 entstandene Gemälde Tannenbaum geht nach New York wiederum zählt zu Beckmanns Porträtwerk und zeichnet sich durch ein extremes Format aus (Kat. 7). Es zeigt den Mannheimer Kunsthändler Herbert Tannenbaum, der – als Jude zunehmenden Restriktionen unterworfen – wie Beckmann 1937 nach Amsterdam ausgewandert war. Hier lernten sich die beiden kennen. Schließlich emigrierten sie im selben Jahr, 1947, nach Amerika. Dies nahm Beckmann zum Anlass, den geschätzten Kunsthändler zu porträtieren. Das schmale Hochformat fokussiert auf die stark angeschnittene Gestalt Tannenbaums. Die Pfeife im Mund, hält er in seiner Rechten einen Bilderrahmen und einen Blumentopf mit einer kleinen Tanne – Hinweis auf seinen Beruf und humorvolle Anspielung auf seinen Namen.
„Wir warten auf einen zukünftigen, einen erlösten Max Beckmann.“
Gustav Friedrich Hartlaub, 1922
Werke, die 1925 in der Ausstellung präsentiert waren, sind schwarz hinterlegt /
Works that were shown in the exhibition in 1925, are highlighted in black
Das Bild der Frau
Die Kosmetikfirma Elida schrieb 1928 einen Wettbewerb aus: Gesucht wurde „Das schönste deutsche Frauenporträt 1928“. Willy Jaeckel gewann mit der Darstellung einer kräftigen blonden Sportlerin den mit 10.000 Reichsmark stattlich dotierten Preis, der große öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr. Die in Berlin gezeigte Ausstellung einer Auswahl der eingereichten Bilder reiste im Anschluss durch verschiedene deutsche Städte und war unter anderem auch im Mannheimer Kunstverein zu sehen. Die teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler gehörten mit Ausnahme von Christian Schad nicht zur neusachlichen Avantgarde. Das vorherrschende Bild zeigte einen konservativen Charakter, und der Wiederkehr traditioneller Frauenrollen in Kunst und Gesellschaft schien der Weg bereitet. Nur wenige Jahre nachdem mit Frauenwahlrecht und neuen Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit die Emanzipation der Frau große Fortschritte gemacht hatte, setzte ein Wandel ein, der in den 1930er-Jahren in das nationalsozialistische Frauenbild mündete. Nach einem Jahrzehnt der Experimente mit einer Vielzahl realer und potenzieller Rollenmodelle verengte sich das Bild der Frau Ende der 1920er-Jahre auf zwei Frauentypen: die sportliche und die repräsentative, modische Frau. In den 1930er-Jahren schließlich fokussierte es sich auf das Rollenklischee der Mutter. Den beginnenden Wandel veranschaulicht schon der Vergleich der beiden Wettbewerbsbilder von Lotte Laserstein und Werner Peiner (Kat. 90 und 92). Während Laserstein eine selbstbewusste
junge Frau zeigt, die sich schminkt und ihr Aussehen im Spiegel kritisch überprüft, präsentiert Peiner eine eher bieder wirkende Frau, die er zudem mit dem Keuschheitssymbol der Marienikonografie, der Lilie, ausstattet.
Doch zunächst waren die 1920erJahre noch von Aufbruch, Emanzipation und Selbstermächtigung der Frauen geprägt. Die Erlangung politischer Rechte wie das Wahlrecht 1918, der Zugang zu Akademien und Hochschulen und die verstärkte Teilhabe an einer Berufswelt, die noch vor dem Krieg in vielen Bereichen allein Männern vorbehalten war, führten zu einer Neuinterpretation des Frauenbildes und der Frauenrolle. Dies schlug sich auch im äußerlichen Erscheinungsbild nieder, die Annäherung der Geschlechter fand auch auf visueller Ebene statt. Viele Künstlerinnen wirkten an der Aufbrechung der etablierten Muster mit, wie sich in den Selbstbildnissen zeigt (Kat. 131–135). Mondänität, Eleganz, Selbstbewusstsein, Rätselhaftigkeit, Erotik, Lebenslust, Unabhängigkeit strahlen die Frauen aus, die von Arno Henschel, Albert Birkle, Karl Hubbuch oder Carl Walther dargestellt wurden und wie sie beispielsweise im Film Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (1927) zu sehen sind, der zahlreiche Facetten weiblicher Existenz in der Großstadt zeigte. Henschel konfrontiert die Betrachtenden in seinem Gemälde Dame mit Maske mit einer Darstellung von kühler Erotik: Während das Gesicht der jungen Frau durch die schwarze Maske fast verdeckt ist, aber doch den durchdringenden Blick zulässt, zeigt das transparente rote Kleid mehr,
als es verhüllt (Kat. 89). Die Emotionslosigkeit der jungen Frau steht in merkwürdigem Gegensatz zur sexualisierten Aufladung des Motivs. Das Spiel von Verstecken und Enthüllen war Teil des skandalträchtigen Großstadtvergnügens: In dem Berliner Kabarett „Weiße Maus“ beispielsweise war es üblich, sich an der Garderobe eine Maske zu kaufen, wollte man anonym bleiben. Albert Birkles Dame im offenen Wagen stellt die mondäne reiche Frau dar; sie kann sich einen Pelzmantel leisten und ist von einer fragilen Feingliedrigkeit, die nichts von körperlich schwerer Arbeit weiß (Kat. 94). In Italien und England entstanden zeitgleich Gesellschaftsporträts wie die von Achille Funi, Cagnaccio di San Pietro oder Meredith Frampton: Ihre gut situierten Damen in repräsentativem Ambiente sind in einem adäquaten, äußerst glatten, feinen Stil gemalt, der sich an Vorbildern der Renaissance orientiert und stärker den tradierten Konventionen folgt (Kat. 100–102). Äußere Zeichen symbolisierten den Wandel in der Rolle der Frau. Neben Mode und Frisur ist das entscheidende Accessoire die Zigarette, die in den 1920erJahren für Frauen zu einem unverzichtbaren Requisit der Emanzipation wurde, wie Carl Walthers Darstellung beispielhaft zeigt (Kat. 93) – ein Signal für Weltläufigkeit, die oft einherging mit einem Hauch Verruchtheit. Verruchtheit und ein Leben am Abgrund personifizierte wie keine andere die Skandaltänzerin Anita Berber, die Femme fatale par excellence, die von Otto Dix schonungslos dargestellt wurde, gezeichnet von Alkohol- und Drogenkonsum (Kat. 12).