WERNER
BUSCH
BUSCH
ISBN 978‑3‑422‑80253‑7
e ISBN (PDF) 978‑3‑422‑80256‑8
Library of Congress Control Number: 2024944920
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Einbandabbildung: Mark Tobey, ohne Titel, Serigraphie, Auflagennr. 18/77 aus der Mappe »Meanders«, Privatbesitz.
© 2024 Mark Tobey / Seattle Art Museum, Artists Rights Society (ARS), New York
Satz: Savage Types Media, Berlin
Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
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Vorwort 9
Voraussetzung: Herkunft aus Prag 11
Orientierung: Das Warburg Institute in London 19
Leopold Ettlinger (1913–1989) 29
Max J. Friedländer (1867–1958) 37
Fred Licht (1928–2018) 47
Johannes Dobai (1929–1985) 59
Ivan Nagel (1931–2012) 67
Hugo Oelze (1892–1967) 77
Karl Erich Haus (Charles Maison) 87
Edmund Schilling (1888–1974) 97
Nikolaus Pevsner (1902–1983) – Schlussbemerkung 109
Abb. 1: Nationalgalerie Prag; Abb. 2, 4, 7, 10, 15, 24, 26, 27, 29, Abb. Kapitel Max J. Friedländer: Public Domain; Abb. 3, 5, 12, 18, 20: The Trustees of the British Museum; Abb. 6, 8, 9, 14, 16, 17, 23: Privatsammlung; Abb. 9: Rahel und Konrad Feilchenfeldt; Abb. 11: Zitiert nach Fred Licht, Goya: Beginn der modernen Malerei, Düsseldorf 1985, Abb. 66; Abb. 13: CC BY 3.0, Foto: Dr. Jörg Bittner; Abb. 19: CC BY 4.0, Foto: Hossein Sehatlou; Abb. 21: Zitiert nach Ausst. Kat. Sotheby’s, The Rudolf Just Collection, Kunstkammer, 11. Dez. 2001, Kat. Nr. 31; Abb. 22, Abb. Kapitel Hugo Oelze: Unbekannter Fotograf, Privatsammlung; Abb. 25: Kenwood House, English Heritage; Abb. 28: Zitiert nach Rüdiger Klessmann, Im Detail die Welt entdecken: Adam Elshei mer 1578–1610, Wolfratshausen 2006; Abb. Kapitel Leopold Ettlinger: Unbekannter Fotograf, Privatsammlung; Abb. Kapitel Fred Licht: © Matthew Licht; Abb. Kapitel Johannes Dobai: Un bekannter Fotograf, Privatsammlung; Abb. Kapitel Ivan Nagel: © Isolde Ohlbaum; Abb. Kapitel Karl Erich Haus (Daumier): bpk / GrandPalaisRmn / Franck Raux; Abb. Kapitel Edmund Schilling: Städel Museum Frankfurt a. M.; Abb. Kapitel Nikolaus Pevsner: © Paul Joyce / National Portrait Gallery, London.
Braucht es eine Rechtfertigung besonders für ein Unterfangen wie dieses, das nicht streng wissenschaftlich mit Emigration und Exil umgeht, sondern auf persönlichen Begegnungen mit individuellen Emigranten und Exilanten beruht, die noch dazu weitgehend zufällig zustande gekommen sind, selbst wenn daraus zum Teil Freundschaften wurden? Ist nicht die Gefahr von eitler Selbstbespiegelung naheliegend, könnte ich mich nicht dem Vorwurf aussetzen, mir indi viduelle Geschichten anzueignen, ohne ein Recht dazu zu haben? Ich habe Freunde, vor allem Freunde mit jüdischem Hintergrund, gefragt, ob sie es für sinnvoll und gerechtfertigt hielten, meine Erinnerungen nicht nur festzuhalten, sondern auch zu veröffentlichen. Nachdem ich ihnen von der Art der Begegnungen und der Weise, wie ich damit umzugehen vorhatte, erzählt hatte, waren sie ausnahmslos dafür. Die Erinnerungen würden ein Stück historischer Erfahrung fest halten, das sonst verloren ginge. Dennoch war ich weiterhin skeptisch und so ist viel Zeit ins Land geflossen, bis ich mich dazu durchgerungen habe, meine individuellen Geschichten auf zuzeichnen.
Die folgenden Texte nehmen sich eine gewisse Freiheit. Sie erscheinen in einer leicht li terarisierenden Form, um das bloß Faktische ein wenig in Atmosphärisches zu tauchen, auch Anekdotisches kommt dabei zu seinem Recht, gelegentlich sind die Erinnerungen aber auch Anlass zu kunsthistorischen Überlegungen, nicht nur zum Stellenwert der jeweiligen Person in der Geschichte des Faches Kunstgeschichte. So handelt es sich um eine Sammlung von Essays. Ein sehr kleiner Teil ist zu bestimmten Anlässen bereits erschienen, an abgelegeneren, nicht primär kunsthistorischen Orten, diese Texte wurden relativ stark überarbeitet und erweitert. Die folgende Einleitung versucht in ausführlicherer Form zu erklären, warum es mir ein Bedürfnis war, mir dies von der Seele zu schreiben. Das zweite Kapitel reflektiert meine Arbeit am Warburg Institute in London und den Einfluss, den das Denken von Warburg und seinen Nachfolgern auf mich gehabt hat, auch hier in durchaus persönlicher Form. Diese beiden Kapitel bilden die Vo raussetzung für das Folgende.
Dieses kleine Buch stellt somit nicht den Versuch dar, historische Rekonstruktion oder auch Einschätzung der vom Nationalsozialismus ausgelösten Vertreibung oder von stalinistischer Verfolgung in umfassender Form zu leisten, darüber ist viel gearbeitet worden, vielmehr ging
es darum, das Bild einzelner Personen zu zeichnen, die mir begegnet sind und die mich beein druckt haben. Geschrieben auf der Basis von Erinnerungen und sicher nicht gänzlich ausreichen der Recherche, aber vielleicht doch auf andere Weise erhellend.
Etwas pathetisch formuliert: Mir ist auch darum zu tun, einer heutigen jüngeren Gene ration, nicht nur von Studierenden der Kunstgeschichte verständlich zu machen, was Emigranten und Exilanten durch Vertreibung und Verfolgung angetan wurde, wie sie versucht haben, damit umzugehen, und schließlich wie stark ihr Schicksal das Lebensverständnis und den Werdegang auch der nicht direkt Betroffenen geprägt hat. Noch direkter: Was hat die Kenntnis und die Erfahrung mit Emigranten aus den nicht direkt Betroffenen gemacht, inwieweit ist deren Wer degang von diesen Erfahrungen bestimmt? Und ganz persönlich: Inwieweit hat das Wissen um Krieg und Vertreibung meine eigene Beschäftigung mit Kunstgeschichte beeinflusst? Mein Stu dium am Warburg Institute in London, dem deutschen Emigranteninstitut, hat meinen Umgang mit Kunst in methodischer Hinsicht nachhaltig geprägt. Doch welchen Einfluss hat der Kontakt mit Emigranten vom Fach dabei gespielt? Darüber wird im Folgenden reflektiert. Etwas davon sei nicht nur meinen Absolventen, die mich immer wieder aufgefordert haben, meine Erfahrun gen aufzuschreiben, überliefert, sondern generell einer Generation, die nicht mehr in direkten Kontakt mit den Ereignissen und Folgen der Nazizeit gekommen ist. Letztlich ist es auch immer noch ihr Erbteil.
Dank für Rat, Hinweise, Informationen und sonstige Hilfe an Lenka Babická, Susanna Brogi, Anna Busch, Philipp Demandt, Maria Katalina Dobai, Kathrin Fischeidl, Regina Freiberger, Sabina Garnikol (geb. Licht), Karin Gludovatz, Hubert Graml, Agnes Harder, Alena Janatkowa, Daniel Licht, Matthew Licht, Christian Rümelin, Iris Schmeisser, Bernd Schultz, Hans Ulrich Theil käs und, wie immer, Monika Busch.
Für kritische Lektüre des Manuskripts danke ich Ingke Brodersen, Konrad Feilchenfeldt und besonders Claude Keisch.
Pablo Schneider danke ich für ein verständnisvolles Lektorat.
Ein besonderer Dank geht an die Karin und Uwe Hollweg Stiftung für finanzielle Hilfe, dabei kam es zu einer einschlägigen Koproduktion des Exil Museums Berlin und der Hollweg Stiftung. Namentlich danke ich Cornelia Vossen vom Exil Museum und Andreas Kreul von der Stiftung.
Lange habe ich darüber gegrübelt, was mein besonderer Antrieb schon seit Schülertagen ge wesen ist, einzelne Personen, die Emigration oder Exil erfahren hatten, aufzusuchen und mit ihnen zu reden, ohne dass ich je systematisch Recherche betrieben hätte, es musste sich ergeben. Spät ist mir klar geworden, dass zwei »Anlässe« mein Bedürfnis ausgelöst haben dürften. Zum einen: Ich bin Ende 1944 in Prag geboren und wollte schon als Kind von meinen Eltern wissen, wie es am Ende des Krieges zu diesem Geburtsort gekommen ist. Die Antworten waren nicht sehr aufschlussreich: Mein Vater hatte in Berlin Kunstgeschichte studiert und war dann seinem Lehrer gefolgt, der einen Ruf auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Deutschen Universi tät in Prag erhalten hatte. Anschließend habe er die neu gegründete Graphische Sammlung betreut, Ausstellungen gemacht ( Abb. 1) und darüber in den deutschsprachigen Zeitungen ge schrieben. Meine Mutter, gelernte Graphikerin, habe Plakate für ein Kaufhaus entworfen. Die Erklärung, warum mein Vater in sehr jungen Jahren ohne Berufserfahrung Kustos eines Graphi schen Kabinetts werden konnte, war einfach. Er hatte eine Beinbehinderung und konnte nicht zum Kriegsdienst eingezogen werden. Am Kunsthistorischen Institut in Prag sei er der einzige Mann gewesen, und so habe sein Lehrer dafür gesorgt, dass er diese Position übernehmen konnte – warum keine Frau in Frage gekommen ist, blieb ungeklärt. Diese Erklärungen haben mich nie ganz zufrieden gestellt. Wie konnte es zu einer Neugründung eines Museums durch einen Universitätslehrer kommen, warum konnte sein Lehrer Museumsstellen vergeben? Wo kamen die Bestände des neuen Museums her? Es wurde nicht thematisiert. Der zweite Anlass hatte bei mir früh eine gewisse Irritation ausgelöst. Mein Vater ist Jahrzehnte lang Direktor der Bremer Kunsthalle gewesen, deren Träger ein privater Kunstverein war, wie sonst nur noch beim Städel in Frankfurt, auch wenn die Gehälter von der Stadt gezahlt wurden. Das ließ meinem Vater erstaunlich freie Hand beim Erwerb von Kunstwerken. Vieles stand zuerst bei uns zu Hause auf dem Sofa, ehe es seinen Weg ins Museum fand. Um günstig kaufen zu können, erwarb mein Vater nicht selten Werke ohne feste Zuschreibung, und so saß regelmäßig abends die Familie vor der Erwerbung auf dem Sofa und blätterte in Kunstbänden, um zu einer Identifizierung des Urhebers des jeweiligen Werkes zu kommen. Ein Training, das
1 Plakat einer der ersten Ausstellungen des neu gegründeten Prager Kupferstichkabinetts, 1944
auch mein Auge früh geschult hat, zumal mein Vater mich auf seinen Einkaufsreisen, vor allem nach Paris und London gelegentlich mitgenommen hat. Verwundert aber hat mich, dass, wie ich im Laufe der Zeit realisierte, bei uns überwiegend Kunsthändler jüdischer Herkunft aus und ein gingen. In Einzelfällen bin ich bis heute mit deren Kindern befreundet.
Um den Zusammenhang von Geburtsort und den Besuchen durch von den Nazis verfolg ten Kunsthändlern zu verstehen, bedurfte es bei mir eines doppelten Anstoßes und dann doch nachfolgender intensiverer Forschung. Selbst wenn ich schon früh im Studium das Warburg Institute in London erkundet habe, um später dort meine Dissertation zu schreiben und damit einer der ersten deutschen Studierenden vor Ort war – Martin Warnke, Otto Karl Werckmeister und Dieter Wuttke dürften vorangegangen sein –, so war das doch kein sehr reflektierter Akt. Mein Lehrer Günter Bandmann war einer der Begründer der Architekturikonologie, und so konnte es als naheliegend erscheinen, das Studium am ikonologisch ausgerichteten Warburg Institute aufzunehmen. Doch unterschwellig muss auch das Faktum, dass es sich um ein Emi granteninstitut handelte, bei mir gewirkt haben.
Der eigentliche Anstoß, meine eigene Geschichte genauer zu verfolgen, ging von Prag aus. Mein Bruder und ich hatten unsere Eltern 1992 zu einem Besuch in meinem Geburtsort eingeladen, sie hatten nach einigem Zögern zugesagt. Für sie wurde es der erste Besuch Prags nach dem Kriege. Ich selbst war schon während des Studiums per Exkursion dort gewesen, hatte
mich auf die Suche nach meinem Geburtshaus begeben. Es findet sich nach Auskunft eines erhaltenen Briefumschlages mit Stempel vom 3. 2. 1945 in Prag Bubentsch in der Grundstraße 6. Ein alter 1942 datierter deutscher Stadtplan von Prag zeigte mir die genaue Lage im Prager Botschaftsviertel. Da die Straßenführung sich nicht verändert hat, war die heutige Adresse leicht zu verifizieren: Prag Bubeneč, 6 V Tišině. Inzwischen kann man mit Google Maps in der Straße spazieren gehen und mein Geburtshaus identifizieren. Meine Eltern wohnten bei Frau Direktor E. Müller, offenbar verwitwet, im Dachgeschoss zur Untermiete. Die großbürgerlichen Villen werden bis heute als Botschaftsgebäude genutzt, »meine« Straße ist voll davon. Mein erster Pragbesuch fand ein Jahr nach dem Einmarsch der Russen in der Tschechoslowakei statt. Es gab kaum etwas zu essen, in den Lokalen gab es nur Bier, alte deutschsprachige Prager erklärten uns, Bier sei besonders nahrhaft, und so könnten sie auf Brot verzichten. Ich erinnere mich, dass ich in doppelter Hinsicht ein schlechtes Gewissen hatte, zum einen wegen der zu diesem Zeit punkt in Prag herrschenden Verhältnisse, die für uns als Besucher nicht galten und zum anderen wegen meiner Herkunft als Prager der Nazizeit. Vor den Synagogen am Jüdischen Friedhof muss ich sehr unsicher herumgestanden haben, wurde auf Deutsch angesprochen und um mein Bargeld erleichtert.
Beim Besuch mit den Eltern hatte ich bereits eine Professur in Berlin inne. Oben auf dem Hradschin stehend sagte mein Vater plötzlich: »Da in der Beletage des Schwarzenberg Palais’ [mit Blick über alle Brücken der Moldau] hat mein Lehrer gewohnt«. Mein Erstaunen hätte nicht größer sein können, ein Universitätslehrer in einer der schönsten und luxuriösesten Wohnungen in ganz Prag, wie konnte das sein? Meine Nachfrage löste vorerst nur Verlegenheit aus, abends im Lokal kam es zu einem Erklärungsversuch, der, wie mir sofort klar war, allenfalls die halbe Wahrheit darstellen konnte. Von da an wusste ich, dass ich die Zusammenhänge genauer erfor schen musste. Denn der Hinweis meines Vaters, sein Lehrer sei für die Prager Kultur zuständig gewesen, konnte als Erklärung nicht ausreichen. Denn wie war das möglich?
Auch dazu gab es einen letzten Anstoß. Alena Janatkova war von 2006 bis 2009 an der Humboldt Universität in Berlin mit dem Projekt: »Kunsthistoriographien im gesellschaftspoliti schen Umbruch. Kunstgeschichte in Böhmen und Mähren 1930–1950« befasst. In diesem Rahmen hat sie mich kontaktiert und gefragt, ob ich etwas über die Tätigkeit meines Vaters an der Gra phischen Sammlung in Prag wüsste. Viel mehr als das bloße Faktum war mir nicht geläufig, ich konnte ihr nur mein großes Interesse an ihren Forschungen versichern. Alena Janatkova hat über Jahre die primären Prager Quellen untersucht, die Geschichte der Prager Museen in den Jahren der deutschen Besetzung im Detail erforscht und ist früh darauf gestoßen, dass Karl Maria Swoboda, der Lehrer meines Vaters, die zentrale Figur in der Prager Museumspolitik gewesen ist und systematisch die schrittweise Germanisierung der böhmischen und mährischen Kunst geschichte, die Ausrichtung der verschiedenen Prager Museen unter einer gemeinsamen deut schen Kontrolle, betrieben hat. Offiziell verantwortet durch den Reichsprotektor, inoffiziell durch Swoboda, dessen Zuständigkeitsbereiche und seine Ämtervielfalt von Jahr zu Jahr zunahmen.
Das Folgende fußt sehr weitgehend auf den Forschungen von Alena Janatkova: Um den Prozess zu begreifen, muss man etwas weiter ausholen. Die Galerie alter Kunst wurde zwischen
1934 und 1937 in staatliche Verwaltung überführt und sollte als Nationalgalerie der jungen tschechischen Republik ausgebaut werden. Direktor wurde Februar 1939 Josef Cibulka, promo vierter Theologe und promovierter Kunsthistoriker, er blieb Leiter auch in der Folgezeit. Allerdings hatte er bereits ab März 1939 auf Protektoratsforderungen zu reagieren. Er war ungemein wendig, arbeitete vorzüglich mit Swoboda zusammen, musste allerdings mit ansehen, wie dessen Einfluss immer größer wurde. So war Cibulka zu Kompromissen gezwungen, wollte er im Amt bleiben. Es war auch sein Ziel, die wichtigsten Bestände im Nationalmuseum zu konzentrieren. Im Mai 1945 resümierte er diesen Prozess, erklärte, was er alles für das Museum erworben hätte, ohne allerdings über die Bedingungen des Erwerbs zu sprechen. Alle wichtigen Objekte aus staatlichem und kirchlichem Besitz waren zusammengeführt worden, ganze enteignete Samm lungen aus jüdischem Besitz integriert, und zwar aus dem gesamten böhmischen und mährischen Raum. Was er nicht verhindern konnte, war die vom Reichsprotektor betriebene und von Swo boda umgesetzte Interpretation und Umwidmung einer national tschechischen Kunsttradition in eine vermeintlich in ihren Ursprüngen deutsche, vor allem sudetendeutsche Abkunft, der tschechische Nationalstaat wurde als deutscher Raum deklariert. Die Beschriftungen der Kunst werke in zwei Sprachen trugen dieser Umwertungstendenz Rechnung. Swoboda hat es direkt und unmissverständlich formuliert: »Die dem böhmischen und mährischen Raum entstammen den Kunstwerke in Galeriebesitz aller Epochen sind […] von deutschen Künstlern geschaffen. Sie gehören durch entscheidende künstlerische Charakterzüge der deutschen Kunst an.« Da spricht der interpretierende Kunsthistoriker der Universität, der Kunstwerke nach Charakter und Rassezugehörigkeit sortiert und räumlich verortet. Das gipfelt in dem Satz: »Der böhmisch mährische Raum ist eine deutsche Kunstlandschaft.«
Bereits 1940 sah sich Cibulka per Verordnung des Reichsprotektors gezwungen, jeden einzelnen Ankauf seines Museums mit Swoboda abzustimmen. Swoboda hat seine Rolle im Prager Kulturbereich systematisch ausgebaut. Er war Vorsitzender des Bauausschusses, für die Denkmalpflege zuständig, Leiter der Grabungen auf der Prager Burg, für den Hradschin und den Veits Dom. Ziel war hier eine große, deutsch geprägte Geschichte der Burg. September 1944 war Swoboda endgültig am Ziel, er wurde »Verwalter der reichseigenen Kulturgüter der Prager Museen«. Will man etwas Positives über Swobodas Tätigkeit sagen, so kann man darauf hin weisen, dass er dafür sorgte, dass die enteigneten Kulturgüter zumindest in Prag verblieben und nicht ins »Reich« abtransportiert wurden, sofern die Agenten von Hitlers Linzer Museum ihre Finger nicht danach ausstreckten.
Eine zentrale Rolle bei der Interpretation der Kunstwerke und ihrer Eindeutschung spielte die von Swoboda neu gegründete Graphische Sammlung. Bereits Ende 1941 hat Swoboda dem Reichsprotektor einen Vorschlag zur Einrichtung eines graphischen Kabinetts gemacht und als Vorbild auf die deutschen Kupferstichkabinette hingewiesen, die Tschechen hätten sich nicht wirklich um Entsprechendes gekümmert. Nachdruck verleiht er seinem Antrag durch folgenden Schlusssatz: »Es gehört zu den wichtigsten deutschen kulturellen Aufgaben in Prag, dass diese [tschechische] Unterlassung wieder gut gemacht wird.« Letzteres war ihm besonders wichtig, denn die bestehenden Museen wurden von tschechischen Beamten getragen, die, soweit es
noch möglich war, ihre nationalen Interessen verfolgten. Das Protektorat sollte dafür Sorge tragen, dass die Graphische Sammlung ein eigenständiges deutsches Institut ohne tschechische Beteiligung würde. Dafür, so argumentierte Swoboda, brauchte es auch einen angemessenen noblen Ort, so wie er ihn für sein Büro im Palais Schwarzenberg gefunden hatte, wo er auch gleich Wohnung nahm. Er schlug für die Graphische Sammlung das Rudolfinum vor »als alte(r) deutsche(r) Kunstanstalt«. Swoboda propagierte weiter die Zusammenführung der graphischen Bestände der wichtigsten übrigen Prager Museen. Dabei handelte es sich um das zum National museum gewordene Landesmuseum mit 77.000 Blatt, die Landesgalerie mit 21.000 Blatt, die Moderne Galerie mit 10.000 Blatt und um weitere kleinere Bestände. Swoboda versuchte Nägel mit Köpfen zu machen, schlug vor, in den ersten beiden Jahren für die neue Institution syste matisch Kunstwerke zu erwerben aus »reichseigenen« Beständen, wobei es sich weitgehend um Beschlagnahmungen handeln sollte, von Enteignungen aus jüdischem Besitz zu schweigen. Dafür schlug er einen einmaligen Etat von 600.000 Kronen vor, in den Folgejahren sollten jähr lich 300.000 Kronen zur Verfügung stehen. Und um die Sache abzurunden, unterbreitete er den Gedanken, das Kunsthistorische Institut der Deutschen Universität in unmittelbarer Nähe der graphischen Sammlung ebenfalls im Rudolfinum unterzubringen. Ab April 1942 konnte entspre chend mit der Einrichtung der Sammlungsräume und dem Umzug des Universitätsinstituts ins Rudolfinum begonnen werden. Offenbar wurde auch im »Reich« die kulturpolitische Bedeutung der Neugründung erkannt, der Etat konnte sogar noch einmal erweitert werden. Die Sammlung sollte in der Lage sein, bedeutende Erwerbungen zu tätigen. Zugesagt wurden Mittel aus dem »Sonderfonds des Führers«.
Mein Vater ist 1944 von Swoboda promoviert worden, er fungierte offenbar aber auch zuvor schon als dessen Assistent, und nun wurde er primär verantwortlicher Kustos der Graphi schen Sammlung, offizieller Leiter war Swoboda. Wenig lässt sich über die genauere Tätigkeit meines Vaters sagen. Eine offenbar aus Pietät aufbewahrte Postkarte des damaligen Direktors der Bremer Kunsthalle Emil Waldmann, Jahrgang 1880, vom 16. 1. 1945 aus Würzburg erhellt die Umstände ein wenig: Waldmann war aus Bremen nach Würzburg ausgewichen, lebte dort mit seiner Frau in einer ungeheizten Wohnung, beide erkrankten. Was ihn auf der Postkarte zu der resignierenden Bemerkung führte: »Es ist keine Lust zu leben.« Am 16. März 1945 fand der verheerende Luftangriff auf Würzburg statt. Obwohl wie durch ein Wunder das Treppenhaus der Würzburger Residenz mit den Fresken Tiepolos erhalten blieb, wurde die Stadt beinahe völlig zerstört, und wie in Dresden oder Hamburg hatten es die Engländer darauf angelegt, dass eine Feuerwalze durch die Stadt raste. Bei Waldmann und seiner Frau stellte sich der Eindruck ein, die Kultur gehe endgültig zugrunde. Hatte Waldmann doch auch in Bremen in seinem Museum bei der Aktion »Entartete Kunst« erleben müssen, dass ein Gutteil der von ihm angelegten mo dernen Sammlung konfisziert wurde. Am 17. März, dem Tag nach dem Bombenangriff auf Würzburg hat Waldmann sich mit seiner Frau das Leben genommen. Zuvor jedoch hatte er dafür gesorgt, dass mein Vater in Nachfolge des bei einem Luftangriff in Bremen in seiner Wohnung umgekommenen Kustos Wilken von Alten dessen Stelle übernehmen konnte. Der Kontakt meines Vaters zu Waldmann muss eng gewesen sein, denn nach Ausweis der Postkarte gratuliert er
nicht nur zu meiner Geburt, sondern nimmt Stellung zu einer Reihe von Kunstwerken, zu denen mein Vater ihm offensichtlich Fotos geschickt hatte. Er entschuldigt sich, dass er die Fotos nicht zurückschicken könne »aus Kuvertmangel«. Bei den Kunstwerken handelt es sich um Neuerwer bungen der Prager Graphischen Sammlung: »Und dann gratuliere ich Ihnen zu Ihren wirklich sehr schönen und vorteilhaften Einkäufen. Das ist ja erstaunlich.« Er nennt die Namen von Roos, wohl Johann Heinrich, von Daniele da Volterra, Guido Reni (Kreis), Brosamer und schließlich, nicht ganz leicht zu entziffern, da doppelt unrichtig geschrieben, dann aber doch ohne Alter native, Pieter Schoubroeck, dem Frankenthaler Maler mit einer seiner nicht sehr häufigen Zeichnungen, zu der sogar der Preis der Erwerbung angegeben ist: 800 Mark. Dafür, schreibt Waldmann, hätte er sie auch genommen, zumal ihre Provenienz durch den berühmten Samm lerstempel von William Esdaile besonders gut sei. Ob Waldmanns Erstaunen über die zahlreichen und günstigen Erwerbungen von Unkenntnis der Verhältnisse in Prag getragen oder postalischer Vorsicht geschuldet war, muss offenbleiben. Überraschend ist schon, dass Anfang 1945 ein derartiger Handel überhaupt noch stattfinden konnte, aber es entspricht der Naziideologie, an geordneten Geschäften festzuhalten, komme, was da wolle. Die genannte Zeichnung lässt sich heute nach Auskunft der Leitung nicht oder nicht mehr in der Prager Graphischen Sammlung nachweisen.
Mein Vater sollte seine Kustodenstelle in Bremen zum 1. Januar 1945 antreten, auf Grund der Prager Verhältnisse war der Termin nicht einzuhalten. Waldmann hatte meinem Vater kurz vor seinem Tod seinen Siegelring mit einem geschnittenen Skarabäus geschickt. Das Zeichen war eindeutig, er wünschte sich meinen Vater als seinen Nachfolger. So ist es gekommen, wenn auch nicht ganz ohne Probleme. Als die Russen vor Prag standen, besorgte Swoboda meinen Eltern (und mir) eine sonst kaum noch mögliche Reiseerlaubnis aus dienstlichen Gründen, und so konnten wir am 8. oder 10. Februar Prag mit dem Zug verlassen. Der Zug wurde angegriffen und einige Waggons wurden zerstört, so dass wir eine Nacht auf einem Feld verbrachten, ich in einem Kartoffelkorb, der zeitlebens in Ehren gehalten wurde, selbst wenn er später auf dem Boden verstaubte. Unmittelbar vor dem endgültigen zerstörerischen Angriff auf Dresden vom 13. bis zum 15. Februar konnten wir die Stadt durchqueren und bis nach Bremen gelangen. Die Umstände in Prag und in der unmittelbaren Zeit danach wären aus dem Lebenslauf von Swoboda und meinem Vater noch zu ergänzen, ich will das nur andeuten. Swoboda war mit einer Jüdin verheiratet, der von Oskar Kokoschka in zahlreichen zeichnerischen Porträts festgehaltenen Kamilla Rabl, von der Swoboda sich 1934 scheiden ließ, sie wurde später im KZ Theresienstadt umgebracht. 1934 stand sein Ruf nach Prag an. Swoboda war nie Mitglied der NSDAP, was klug war, denn sonst wäre seine Berufung nach Prag durch die tschechische Regie rung nicht möglich gewesen – auf der Prager Berufungsliste stand auch Kurt Gerstenberg, überzeugtes Parteimitglied, an diesem Faktum scheiterte seine Bewerbung im Vorfeld. Swobo das nicht vorhandenes Parteibuch ließ ihm im Verhältnis zu den Tschechen Spielraum. Zudem sprach er als geborener Prager perfekt Tschechisch und sagte im Vorfeld seiner Berufung zu, die tschechische Staatsbürgerschaft annehmen zu wollen. Beim Einmarsch der Russen wanderte er ins Gefängnis, doch die positiven Aussagen der tschechischen Kollegen, vor allem in der Person
von Cibulka, der sich indirekt damit auch für seine Kompromisse entlasten wollte, ließen ihn bald freikommen. Bereits 1946 übernahm er das verwaiste Ordinariat am Kunsthistorischen Institut in Wien, nicht ohne nun wieder die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Er wurde Dekan der Fakultät und 1960 in Ehren emeritiert. Otto Pächt – bei dem wiederum ich bei meinem Wiener Semester im Hauptseminar gesessen habe – und Otto Demus, nach ihrer Emi gration seine Kollegen in Wien, dürften die Geschichte ihres Kollegen nicht im Detail gekannt haben. Aber haben sie nicht wenigstens seine Schriften gelesen? Aus heutiger Sicht ist es schwer zu begreifen, wie sie zusammen das Institut geleitet haben sollen.
Und mein Vater? Er schulterte den Wiederaufbau der Bremer Kunsthalle, vorerst als ein ziger Fachvertreter vor Ort. Der Dichter Rudolf Alexander Schröder, als nicht Belasteter, wurde kommissarischer Leiter der Kunsthalle, mein Vater versuchte einen normalen Museumsbetrieb zu organisieren. Im Sommer 1947 kam es zu einem Streit mit der amerikanischen Militärregierung. Sie hatte sich in den wenigen Räumen der teilweise wiedereröffneten Kunsthalle einquartiert, im Direktorenzimmer und im Kupferstichkabinett, was Proteste des Kunstvereins auslöste. Die Militärregierung reagierte darauf, indem sie meinen Vater entließ, mit der Begründung, er habe sich mehrfach als Leiter oder stellvertretender Leiter der Kunsthalle ausgegeben, was ihm als ehemaligem NSDAP Mitglied nicht zugestanden hätte. Meine Suche in den ins Netz gestellten Mitgliederlisten der NSDAP nach seinem Namen blieb ohne Resultat, Namen von Kollegen an derer Museen fanden sich durchaus. Die Tatsache, dass sein Lehrer Swoboda ausdrücklich kein Mitglied der Partei war, was ihn ganz am Ende noch ins Visier der SS gebracht hat, könnte, wie auch die schnelle Wiedereinstellung meines Vaters nach vierzehn Tagen, dafür sprechen, dass die Annahme der Parteizugehörigkeit von Seiten der Amerikaner vorgeschoben war.
So weiß ich manches nicht und werde es wohl auch nicht mehr erfahren. Was ich aber begriffen habe, sind die Gründe für mein Bedürfnis mit Emigranten der Kunstgeschichte zu sprechen, von ihnen, so sie es zuließen, über ihre Geschichte zu hören und diese Geschichten in Grenzen auch in mein Leben zu integrieren. Und auch die besondere Pflege der Kontakte zu Kunsthändlern jüdischer Herkunft durch meinen Vater, meine ich verstanden zu haben. Es war womöglich seine ihm mögliche Form mit der Schuld umzugehen, die er in Prag auf sich geladen hatte. Das erklärt mir Vieles auch in meiner Erziehung, so die besondere Strenge und Distanz. So bleibt mir nichts anderes übrig, als das, was ich von meinem Vater ererbt habe, zu erwerben, um es zu besitzen, wenn auch auf meine eigene Art und Weise.
Mein ganzes akademisches Leben habe ich mich mit diesem Erbteil, ob ich es wollte oder nicht, auseinandergesetzt. London und das dortige Warburg Institute wurden mein regelmäßi ger Bezugspunkt. Zweimal habe ich später versucht, einen umfangreicheren ikonologischen Aufsatz zu schreiben (1982 zu Lucas van Leyden, 1989 zu Rembrandt, beide in der Zeitschrift für Kunstgeschichte erschienen). Offenbar war es mir ein Bedürfnis, nachzuweisen, dass ich meine Lektion am Warburg Institute gelernt hatte, dabei ging mein eigentliches Fachinteresse längst in eine andere Richtung, was 1993 in meine Untersuchungen zur Kunst um 1800 mündete, mit dem Schwerpunkt England. Quasi privatim habe ich weiter zu Aby Warburg und seinem Umfeld gelesen, selten dazu publiziert, immerhin zu Edgar Wind. Die Möglichkeit, nach Hamburg
zu gehen, um dort an die Warburg Tradition im wiederbelebten Warburg Haus anzuknüpfen, habe ich ausgeschlagen, dagegen verstärkt mit Beiträgen an Ausstellungen teilgenommen bzw. Ausstellungen kuratiert. Es war der Versuch, die beiden bis heute nicht wirklich aufeinander abgestimmten Seiten der Kunstgeschichte zusammenzubringen: die methodisch interessierte, kulturhistorisch determinierte Seite mit der durchaus kennerschaftlich legitimierten, auf das individuelle Kunstwerk bezogenen Seite in ein sinnvolles Verhältnis zu bringen. Um den direkten Kontakt zum Kunstwerk nicht zu verlieren, habe ich bereits in London um 1970 angefangen, zu sammeln und den Kontakt zu den Kupferstichkabinetten gepflegt, in der Überzeugung, dass es zu einschlägigen Interpretationen von Kunstwerken nur auf der Basis einerseits technischer Kenntnisse, andererseits durch den Nachvollzug künstlerischer Entstehungsprozesse kommen kann. Es scheint mir, die eine Seite ist ohne die andere nicht zu haben. So habe ich mich schritt weise eher von der Warburgschen Tradition gelöst, doch subkutan war sie weiterhin wirksam, als könne sie meine Herkunft aus Prag im doppelten Sinne des Wortes aufheben.
Alena Janatkova, Karl Maria Swoboda (1889–1977). »Von einem kulturgeschichtlichen biologischen Per spektivismus her«, in: Karel Hruza (Hrsg.), Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Bd. 2, Wien Köln Weimar 2012, S. 411–450 dies., Die Umstrukturierung der Prager Nationalgalerie im Protektorat, in: Alena Janatkova und Vít Vlnas (Hrsg.), Die Prager Nationalgalerie im Protektorat Böhmen und Mähren, Praha 2013, S. 5–62 dies., Die Berufung von Karl Maria Swoboda an das Kunsthistorische Institut der Prager Deutschen Univer sität, Bereich Kunstwissenschaft, in: Beate Störtkuhl, Jens Stüben, Tobias Wagner (Hrsg.), Aufbruch und Krise. Das östliche Europa und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg, München 2010, S. 469–480
Hans H. Aurenhammer, Hans Sedlmayr und die Kunstgeschichte an der Wiener Universität, in: Jutta Held, Martin Papenbrock (Hrsg.), Schwerpunkt: Kunstgeschichte an den Universitäten im Nationalsozialismus, Göttingen 2003, S. 161–194 ders., Zäsur oder Kontinuität? Das Wiener Kunsthistorische Institut im Ständestaat und im Nationalsozia lismus, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 53, 2004, S. 11–54 Vít Vlnas, Josef Cibulka (1886–1968) Kunsthistoriker. Zwischen Resistenz und Zusammenarbeit, in: Monika Glettler und Alena Mišková, Prager Professoren 1938–1948. Zwischen Wissenschaft und Politik, Essen 2001, S. 153–173
Ebenda, Sigrid Canz, Karl Maria Swoboda (1889–1977) Kunsthistoriker. Wissenschaftler zwischen Wien und Prag, S. 175–190
Bei der Arbeit an der Dissertation im Warburg Institute 1970/71 saß ich in der vordersten Reihe des Lesesaals neben Alex Potts, später für einige Jahre Professor in Reading, dann lange bis zu seiner Emeritierung an der University of Michigan, Ann Arbor, Spezialist vor allem für Skulptur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Die Arbeitsplätze im Warburg Institute waren durch hölzerne, geschwungene Trennwände voneinander geschieden. So konnte man sich besser konzentrieren. Stand man jedoch, so konnte man die aufgereihten, an die Trennwand gelehnten Bücher seines Nachbarn erkennen. Der Engländer Alex Potts hatte dort so gut wie ausschließlich deutsche Bücher stehen, primär zu Winckelmann und zur Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts, ich dagegen, der Deutsche, hatte überwiegend englische Literatur aufgestellt, zu William Hogarth und zur englischen Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts. Es konnte nicht ausbleiben, dass wir das realisier ten und ins Gespräch kamen, in der Teeküche des Instituts, die Alex mir zeigte.
Das Resultat seiner Bemühungen war die bei Ernst H. Gombrich abgeschlossene, allerdings erst sehr viel später 1994 in überarbeiteter Form publizierte Dissertation, die als schönes Buch den Titel trägt »Flesh and the Ideal. Winckelmann and the origins of art history«. Meine Disser tation trug in der 1973 eingereichten Form den Titel »Borrowings – Entlehnungen bei Hogarth und in seiner Nachfolge. Zur Entstehung einer bürgerlichen Kunstform«, in der weit weniger schönen Buchform 1977 den Titel »Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip. Ikonographische Zitate bei Hogarth und in seiner Nachfolge«. Schaut man auf die Titel der beiden Arbeiten, so wird schnell deutlich, dass sie dem Denken des Warburg Institutes entsprungen sind. Alex’ Titel bezieht sich stärker direkt auf Warburg, indem er das Paradox von Materie und Geist beruft, eine Antithese oder besser Polarität, die nach Synthese strebt, zugleich aber in ihrer Spannung erhalten bleibt. Leopold Ettlinger spielt in dem zitierten Aufsatz zu Winckelmann (siehe Kapitel über Leopold Ettlinger) ebenfalls damit, wenn er »marble boys« »better« sein lässt. Warburg geht immer vom Gegenstand in seiner Materialität aus, um ihn dann als Erinnerungs und Ener giespeicher zumeist antiker Traditionen zu begreifen. Mein Titel ist stärker an den Arbeiten von Edgar Wind zur englischen Kunst des 18. Jahrhunderts orientiert, vor allem denen, die in den allerersten Nummern des Warburg Journals, von Wind und Rudolf Wittkower begründet und redigiert, publiziert sind, 1937 und 1938. Der erste von 1937, kaum mehr als eine Seite lang,
trug den Titel »The Maenad under the Cross. 1. Comments on an Observation by Reynolds«. Er hat mich nachhaltig beeinflusst. Der zweite von 1938, etwas länger, trug die Überschrift »›Bor rowed Attitudes‹ in Reynolds and Hogarth« und hat mich nicht weniger geprägt. Nun greift Winds erster Aufsatz ein direktes Warburg Thema auf. Die antike rasende Mänade wird in ihrem Ausdruckscharakter adaptiert und in eine dramatisch unter einem Kreuz Christi trauernde Maria transformiert. Der Nachweis des Nachlebens der Antike ist auf den Punkt gebracht. Der zweite Aufsatz beschäftigt sich eher mit generellen, nicht allein auf den Ausdruckscharakter bezogenen Übernahmen von einprägsamen Figurationen, allerdings häufig – und insofern wieder nahe an Warburg – in invertierter Form, sowohl bei Hogarth wie bei Reynolds. Bei Hogarth, um Vorbild und Nachbild einander zu konfrontieren und um nachzuweisen, wenn man sie aneinander misst, dass das Vorbild in der Gegenwart inhaltlich nicht mehr trägt, die Transformation grundsätzlicher Natur ist, letztlich einen Traditionsbruch markiert. Bei Reynolds handelt es sich eher um ein in tellektuelles Spiel, bei dem die Inadäquatheit der Übernahme für den, der sie realisiert, einen besonderen »wit« ausmacht. Bei Hogarth bezieht sich die Übernahme auf ganze szenische Zu sammenhänge, sie gewinnen damit eine soziale Aussage. Bei Reynolds prägt die Übernahme allein die Erscheinung individueller Porträts, ohne damit die Dargestellten wirklich treffen zu wollen, eher ist das Spiel mit dem Sinntransport etwas, dass die Dargestellten sich qua sozialem Status leisten können.
Am 26. Juni 1971 kam Alex Potts aufgeregt ins Warburg Institute: »Hast Du schon Times Literary Supplement von gestern gelesen?« Ich hatte nicht. Er knallte mir sein Exemplar auf den Tisch, leicht grinsend und sagte nur: »Lies«.
Was ich zu lesen bekam, war die drastischste Rezension eines Buches, die ich je gelesen hatte (und bis heute gelesen habe). Ein Verriss, der auch nicht vor der Person des Autors Halt machte, geradezu von Wut getragen war. Der Vernichtungsfeldzug wurde gegen Gombrichs gerade erschienene intellektuelle Biographie Aby Warburgs von Edgar Wind geführt. Ich war geschockt. Alex konnte eine klammheimliche Freude nicht gänzlich unterdrücken. Dabei ging es gegen seinen Lehrer, doch wie ich bald begriff, ging es ihm wie mir, wir hatten Gombrich gegenüber eine gewisse Reserviertheit. Ich hatte die englische Ausgabe der Biographie von 1970 bis dato allenfalls bis zur Hälfte gelesen, jedoch eine Ahnung davon bekommen, dass er bei aller Bewunderung Warburg nicht wohl wollte. Allein darauf hob Wind in seiner langen Rezension ab. Dass Gombrich Warburgs Verfolg von Motivwanderungen durchaus zu würdigen wusste, er seinen Überlegungen zur Pathosformel oder zum Denkraum der Besonnenheit in ihrem an tithetischen Charakter, auch seinem Bemühen, den bloßen Reflex auf womöglich ängstigende enthemmte Leidenschaften per Reflexion zu bändigen – um in Warburgschen Begriffen zu bleiben – folgen konnte, interessierte Wind nicht. Er sah nur die in der Tat nicht zu überlesende Infragestellung der Person Warburgs mit Konsequenzen zur Einschätzung seiner kunsthistori schen Arbeiten. Warburgs unzählige Notizen kreisten nach Gombrich geradezu manisch um nie zum Ziel führende Formulierungen. Nichts bei Warburg sei in eine definitive Form geronnen. Er habe beim Schreiben große Schwierigkeiten gehabt, habe seine Gedanken unablässig verändert, das habe ihn schließlich »praktisch gelähmt«. Seine Sprache sei mehr und mehr zu einer Privat