GEGENBILDER Bildparodistische Verfahren in der Frühen Neuzeit
GEGEN BILDER
BILDPARODISTISCHE VERFAHREN IN DER FRÜHEN NEUZEIT
Herausgegeben von Jürgen Müller, Lea Hagedorn, Giuseppe Peterlini und Frank Schmidt
Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ an der TU Dresden.
Umschlagabbildung: Niccolò Boldrini (nach Tizian), Der Affenlaokoon, ca. 1540–1545, Holzschnitt, 30,1 × 43,6 cm, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv. RP-P-OB-30.980 Umschlagentwurf: Andreas Eberlein, Berlin Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Verlag: Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München Lützowstraße 33 10785 Berlin www.deutscherkunstverlag.de Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston www.degruyter.com Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München ISBN 978-3-422-98239-0
INHALT
VORBILDER UND IHRE GEGENBILDER Eine Einleitung
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Jürgen Müller
SYSTEMATISCHE UNTERSUCHUNGEN KOSMETIK UND LITERATURKRITIK
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Parodie und spöttische Intertextualität im europäischen Antipetrarkismus Jörg Robert IMMER DIE GLEICHE LEIER Parodie und Kritik der imitatio veterum in deutscher und flämischer Kunst des 16. Jahrhunderts
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Jürgen Müller / Wolf Seiter INVEKTIVE BILDNISSE ABSEITS DER KARIKATUR Druckgraphische Porträtparodien in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur
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Hole Rößler
HISTORISCHE FALLSTUDIEN HÖFISCHER REIGEN UND BAUERNTANZ
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Bewegungscodes im Fokus parodistischer Darstellungsstrategien am Beispiel der Neidharttänze am Großen Wendelstein der Albrechtsburg in Meißen Harald Wolter-von dem Knesebeck
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RETIBUI HCI REFPO RID Parodistische Inversionen im zeichnerischen Werk Urs Grafs
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Frank Schmidt PARODISTISCHER SCHLAGABTAUSCH in illustrierten Flugschriften der Reformationszeit
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Seraina Plotke ALLZU MENSCHLICHE GÖTTER Giovanni Bellinis Götterfest als Mythenparodie?
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Hans Aurenhammer DER EHRWÜRDIGE PROPHET UND DER LÄCHERLICHE ZYKLOP
201
Der Polyphem von Giulio Romano in der Villa Madama als eine Michelangelo-Parodie Giuseppe Peterlini WITZ, IRONIE, PARODIE, TRAVESTIE AM HOF VON FONTAINEBLEAU
229
Christine Tauber EIN BILDERSTREIT UND SEINE PARODIEN Hogarth, Sandby und die Zukunft der Kunst
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Lea Hagedorn WILLIAM HOGARTH / SIR JOSHUA REYNOLDS : RAFFAEL-PARODIE ODER PARODIE RAFFAELS ?
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Henry Keazor ABBILDUNGSNACHWEISE
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PERSONENREGISTER
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FARBTAFELN
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VORBILDER UND IHRE GEGENBILDER Eine Einleitung Jürgen Müller
I. Parodien gehören zum ‚kulturellen Handgepäck‘ und sind uns heute vor allem durch Kino und Fernsehen vertraut. Nicht wenige Filmkomödien nutzen parodistische Verfahren.1 In der Regel werden ‚kultische‘ Werke aufs Korn genommen, da Parodien doch eines bekannten Vorbilds bedürfen, das zugleich nachgeahmt und in komischer Weise verfremdet wird.2 Demzufolge zielt die Parodie „auf Herabsetzung der verarbeiteten Vorlagen, und zwar mit Hilfe bestimmter Komisierungsstrategien.“ 3 Dabei sind es zumeist Helden und ihre mythische Identität, die zum Gegenstand komischer Bloßstellung werden. James Bond etwa hat es den Regisseuren und Drehbuchautoren seit jeher angetan. Dies beginnt mit Casino Royale aus dem Jahre 1967 und setzt sich in den Austin-Powers-Filmen und jenen mit Johnny English fort, um nur wenige populäre Beispiele zu nennen.4 Auf spöttische Weise werden sowohl einzelne Filme und Szenen als auch die mit der Serie verbundenen Klischees imitiert.5 Parodien machen aus dem Ernsten und Heroischen einen lächerlichen Gegenstand oder verwenden einen hohen Stil statt eines niederen und banalen Stoffes. Zentral ist dabei der Akt der Inversion, welcher im Sinne der Umkehrung das Hohe und Erhabene komisch erscheinen lässt und eine Kippfigur darstellt. Und nimmt man die genannten Bond-Parodien als Beispiel, so ist es vor allem der ‚Ladykiller‘ 007, der Anlass zu Übertreibungen bietet. Wenn Heather Graham in The Spy who shagged me aus dem Jahre 1999 in einem atemberaubenden Bikini aus dem Meer steigt, spielt die Sequenz auf den legendären Auftritt von Ursula Andress in Dr. No an, 1
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So sieht Uwe Wirth ein „imitierendes, distanzierendes oder opponierendes Verhältnis zwischen Parodie und Vorlage zum Ausdruck“ gebracht: Uwe Wirth, Parodie, in: Ders. (Hg.), Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Unter Mitarbeit von Julia Paganini, Stuttgart 2017, S. 26–30, hier S. 26. Zudem berücksichtigt Wirth die „Traditionslinie der mehr oder weniger ernsten Parodie, der parodia seria, die gerade keine herabsetzende, auf komische Effekte abzielende Intention verfolgt“, ebd. Siehe dazu auch: Jörg Robert, Nachschrift und Gegengesang. Parodie und „parodia“ in der Poetik der Frühen Neuzeit, in: Reinhold F. Glei und Robert Seidel (Hgg.)‚ „Parodia“ und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit (Frühe Neuzeit; Bd. 120), Tübingen 2006, S. 47–66. Vgl. Frank Wünsch, Die Parodie. Zu Definition und Typologie, Hamburg 1999, S. 13–24. Theodor Verweyen und Gunther Witting, Walpurga, die taufrische Amme. Parodien und Travestien von Homer bis Handke, München [u. a.] 1989, S. 477. Einführend zur Filmparodie siehe Cécile Sorin, Pratiques de la parodie et du pastiche au cinéma, Paris 2010. Vgl. Hannes Böhringer, Spott und Bewunderung, in: Merkur 68,6 (2014), S. 560–566.
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bis Austin Powers ins Bild kommt und die Szene ins Grotesk-Komische überführt.6 So versteht es sich von selbst, dass Parodien Schnittmengen mit der Satire und grotesken Darstellungsformen aufweisen. Der Witz, den solche Sequenzen bereiten, geht nicht allein von parodistischer Überschreitung aus, sondern hat seinen Ursprung bereits im hyperbolischen Charakter der Vorbild-Filme selbst: Parodien machen den übertriebenen Charakter ihrer Vorlagen augenscheinlich, und so wird der legendäre Geheimagent als männlich-phantasmagorische Konstruktion durchschaubar. Als Übertreibungen von Übertriebenem bieten Parodien somit Möglichkeiten der Ideologiekritik.7 Mag uns der komisierende Charakter der Filmparodien heute auch selbstverständlich erscheinen, bildet sich die dem Film zugrundeliegende Bildparodie erst relativ spät heraus. Ursprünglich bezeichnet das dem Griechischen entstammende Wort ‚Parodie‘ sowohl den Gegen- als auch den Nebengesang. Dem Begriff nach kann sich die Parodie also gegen ein anderes Werk richten oder dieses ergänzend begleiten. Dies hängt vom Verständnis der Vorsilbe para ab, die etymologisch beides bedeuten kann.8 In der Antike liefern Aristoteles und Quintilian Definitionen, die einen ersten Ausgangspunkt für die Begriffsgeschichte bilden. Dabei wird der Homer-Rezitator Hegemon als Erfinder der Parodie betrachtet, hat er doch die üblicherweise gesungenen Verse von seinen Schauspielern vortragen lassen. Allerdings scheint sein Ziel nicht darin bestanden zu haben, die Vorlage auf diese Weise zu konterkarieren.9 Quintilian erwähnt in seiner Institutio oratoria die Parodie en passant als „Bezeichnung für Lieder, die anderen Mustern nachkomponiert worden sind“.10 Zugleich redet er von der komischen Latenz und dem „witzigen Ton“, wenn die Übernahmen von Versen dazu dienen sollen, einen Gegner lächerlich zu machen.11 Die Fähigkeit zur Parodie gehört in den größeren Zusammenhang urbanen Spotts. Sie kennzeichnet die Gewandtheit des Orators. Erst mit den Überlegungen von Julius Caesar Scaliger (1484–1558) in den Poetices libri septem aus dem Jahre 1561 erfahren diese knappen Definitionen eine Fortsetzung. Die Parodie wird vom Humanisten als ein ins Scherzhafte gewendeter Vortrag epischer Dichtungen aufgefasst, bei dem ernste und komische Beiträge aufeinanderfolgen. Laut Scaliger solle der Tragödie durch einen komischen Vortrag ein Gegengewicht verliehen
6 Austin Powers – Spion in geheimer Missionarsstellung (Orig.: Austin Powers – The Spy Who Shagged Me), USA 1999, Regie: Jay Roach; James Bond – 007 jagt Dr. No (Dr. No), GB 1962, Regie: Terence Young. 7 Übertreibungen können Indikatoren des parodistischen Geschehens darstellen. Vgl. Theodor Verweyen und Gunther Witting, Die Parodie in der neuen deutschen Literatur. Eine systematische Einführung, Darmstadt 1979, S. 59. 8 Alle Autoren sprechen von der mehrfachen Bedeutung des Wortteils „para“: als „Nebengesang und Gegengesang“. Vgl. Winfried Freund, Die literarische Parodie, Tübingen 1981, S. 1. 9 Verweyen und Witting erkannten in den antiken Parodie-Begriffen und in jenem von Julius Caesar Scaliger (Poetices libri septem) eine dreifache Bedeutungsebene: „äquivok“ (Nebengesang), „additiv“ (Beigesang) und „adversativ“ (Gegengesang), siehe Verweyen und Witting (wie Anm. 7), S. 4–13. 10 Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. und übers. von Helmut Rahn, 2 Bde., Darmstadt 31995, hier Bd. 2, IX , 2, 35. 11 Vgl. ebd., Bd. 2, VI , 3, 96.
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werden.12 Dem Nebengesang kommt die Aufgabe zu, das Pathos zu moderieren. Ernst und Scherz, Tragödie und Satyrspiel, Rhapsodie und Parodie bilden eine Einheit. Sie können im Sinne einer Ausgleichsästhetik begriffen werden, wie sie bereits Horaz in seiner Ars poetica als Miteinander von Tragödie und Satyrspiel beschreibt.13 Mag die Parodie als Nebenrede eine additive Bedeutung haben, ist ihr zugleich das adversative Moment einer Gegenrede eigen, wie Theodor Verweyen und Gunther Witting ausführen.14 In keinem der frühen Quellentexte findet freilich die Bildparodie Erwähnung, was jedoch mitnichten bedeutet, dass es in der Antike keine parodistisch-satirischen Darstellungen gegeben hätte. So berichtet Plinius etwa von „Schmutzmalern“, die für die Wiedergabe niederer Themen sehr gut bezahlt wurden, und vom Apelles-Schüler Ktesilochus, der Zeus als gebärende Frau gemalt habe.15 In diesen vom Autor der Naturgeschichte erwähnten Bildern, Malern und Episoden lässt sich das Parodistische allerdings nicht vom satirischen Anliegen trennen und sich weder auf ein überliefertes Werk noch auf einen Stil beziehen. Parodien im Sinne von ‚Gegenbildern‘ finden keine Erwähnung. Die Gleichzeitigkeit von Ernst und Komik, von Nachahmung und Zurückweisung eines Vorbildes beschäftigt die Parodie-Forschung seit ihren Anfängen. Mit Blick auf die ursprünglich musikalische Herkunft des Begriffs schlägt Gérard Genette vor, den in erkennbar veränderter Tonlage stattfindenden Gegengesang als Grundlage parodistischer Erfahrung ins Auge zu fassen.16 Darüber hinaus thematisiert er die mediale Vielfalt, wenn er von der prinzipiellen Konvertierbarkeit aller Formen spricht: „Jedes Objekt läßt sich verwandeln, jede Ausdrucksweise nachahmen, es gibt also naturgemäß keine Kunst, die sich diesen zwei Ableitungsweisen entzieht, die in der Literatur die Hypertextualität definieren […].“ 17 Ähnlich offen wird der Parodiebegriff von Verweyen und Witting gefasst, denen nicht nur Werke und Gattungen, sondern auch Autoren- und 12 Vgl. Freund (wie Anm. 8), S. 2; Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst, hg., übers., eingel, und erl. von Luc Deitz, Gregor Vogt-Spira und Manfred Fuhrmann, 6 Bde., Stuttgart [u. a.] 1994–2011, hier Bd. 1: Buch 1 und 2, 1994, S. 370, V. 22–28. Die zitierte Passage und eine ausführliche Besprechung derselben findet sich in dem Beitrag von Jörg Robert, S. 34–35. 13 Vgl. Horaz, De Arte Poetica / Von der Dichtkunst, übers. von Gerd Herrmann, hg. von Gerhard Fink, Düsseldorf/ Zürich 2003, S. 128 f., V. 220–250. 14 Verweyen und Witting (wie Anm. 7), S. 11–14. 15 Vgl. Gaius Plinius Secundus, Naturkunde. Lateinisch – Deutsch, hg. und übers. von Roderich König, 37 Bde., München [u. a.] 1973–1994, hier Bd. 35: Farben, Malerei, Plastik, 1978, S. 113. Zum Zusammenhang von Genremalerei und Parodie vgl. Jürgen Müller und Birgit Ulrike Münch, Zur Einführung. Bauern, Bäder und Bordelle?, oder: Was soll uns die frühe Genremalerei sagen?, in: Dies. (Hgg.), Peiraikos’ Erben. Die Genese der Genremalerei bis 1550, Wiesbaden 2015, S. 3–14. Mit weiteren Quellen zu Parodien in der Antike: Theodor Panofka, Parodieen und Karikaturen auf Werken der klassischen Kunst, Berlin 1851. 16 „Zunächst zur Etymologie: ôde, das ist der Gesang; para: ‚längs‘, ‚neben‘; parôdein, daraus parôdia, es könnte sich […] um ein Daneben-Singen handeln, also um einen falschen Gesang, oder um einen Gesang in einer anderen Stimme, um die Gegenstimme im Kontrapunkt, oder um einen Gesang in einer anderen Tonlage: eine Melodie also verformen oder transponieren“, siehe Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, übers. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1993, S. 21 f. (Hervorhebungen und Einschübe im Original). 17 Genette (wie Anm. 16), S. 513 f.
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Epochenstile in allen Künsten als parodierbar gelten.18 So sei die Parodie nur schwerlich als Gattungsbegriff zu etablieren, vielmehr handelt es sich bei ihr um ein gattungsübergreifendes Verfahren.19 Zentral ist das Moment der Kippfigur, die zur Transition führt und aus dem Umschlagen des einen zum anderen Komik generiert. Parodien lassen das Inkommensurable kommensurabel werden. Dabei entsteht keine Kopräsenz von Parodie und parodiertem Objekt, sondern eine Überformung, die auf das abwesende Vorbild verweist und perspektiviert. Parodien zeichnen sich durch Negation und prozesshafte Refiguration des Vorbilds aus. Angesichts der Omnipräsenz parodistischer Phänomene haben sich zahlreiche Autoren vom Gattungskonzept gelöst, um anthropologische Erklärungen für dieses Verfahren in Anschlag zu bringen. Der Volkskundler Lutz Röhrich konzediert, Parodien würden „vom angeborenen menschlichen Spieltrieb zeugen, von der Umkehr des tierischen Ernstes, und dem nicht selbstverständlichen Mut des Menschen, sich über Konventionen hinwegzusetzen, um sich von überlieferten Ordnungen zu befreien.“ 20 Ähnlich universell erklärt Alfred Liede das bewusste Nachahmen zu einem menschlichen Urtrieb und das Parodieren als spielerische Geschicklichkeitsübung, die aus der Fähigkeit des Menschen entstünde, einen Ist-Zustand zu transzendieren.21 Es realisiert Formen des Möglichen und erzählt von der prinzipiellen Unabschließbarkeit künstlerischer Werke.22 Historisch gesehen haben Parodien zu unterschiedlichen Zeiten Konjunktur. Während sie in der Literatur in nahezu allen Epochen präsent sind, tauchen sie in Musik und bildender Kunst nicht mit derselben Kontinuität auf, was sich auch auf die Erforschung dieses Verfahrens ausgewirkt hat. Dabei kommt den Philologien das Verdienst zu, sowohl in systematischer wie auch in historischer Perspektive bedeutende Studien vorgelegt zu haben.23 Im Prinzip lassen sich dabei zwei Ansätze unterscheiden: Entweder thematisiert man die Parodie als Ausdruck von Protest oder man sieht sie als notwendiges Krisen- oder Übergangsphänomen, das aus der Vernutzung und Entleerung bestimmter epochaler Formeigenschaften resultiert.24 Michail Bachtins 1965 erschienene Untersuchung Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur steht exemplarisch für ein politisches Anliegen der Parodie und ist auch deshalb an erster Stelle zu nennen, weil sie nicht nur Fragen der Parodie, sondern auch solche der Texttheorie in fundamentaler Weise erörtert. Keine andere Arbeit betont so 18 19 20 21
Vgl. Verweyen und Witting (wie Anm. 7), S. 110. Verweyen und Witting (wie Anm. 3), S. 478 sprechen von „Gattungsunabhängigkeit“. Lutz Röhrich, Gebärde – Metapher – Parodie. Studien zur Sprache und Volksdichtung, Düsseldorf 1967, S. 221. Vgl. Alfred Liede, Nachtrag: Parodie, in: Ders., Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache, Berlin ²1992, S. 319–406, hier S. 322. 22 Gleichwohl geht mit dieser Hypostasierung keine pragmatisch-hermeneutische Hilfestellung einher. 23 Ein Blick auf die in der Literaturwissenschaft beheimatete Parodie-Forschung zeigt, dass bis heute große Schwierigkeiten existieren, dem Begriff ein konzises Beschreibungsmodell zuzuordnen. So schreibt Wolfgang Karrer: „Die Parodieforschung hat bis heute keine befriedigende Vermittlung von Varianten und Invarianten ihres Gegenstandes, von Theorie und Geschichte gefunden.“ Wolfgang Karrer, Parodie, Travestie, Pastiche (Information und Synthese; Bd. 6), München 1977, S. 11. 24 Vgl. Röhrich (wie Anm. 20), S. 181.
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sehr das kritische Verhältnis der Parodie zur Macht. Schon im Titel tritt die Ventilfunktion der Parodie vor Augen und verweist auf den impliziten Konformitätsdruck, den ein klassischer Kanon ausübt und der bestritten wird.25 Die zweite maßgebliche Perspektivierung parodistischer Praxis beschreibt Röhrich, wenn er von Abstumpfung und Ennui durch das zum ‚Überdruss Wiederholte, Veraltete, Abgenutzte und Sentimentale spricht, das modernem Lebensgefühl‘ nicht mehr entspräche.26 Parodien fordern Veränderung und karikieren das veraltete künstlerische Wirken als unerträgliche répetition eternelle.
II. Die Bildparodie im Sinne des ‚Gegenbildes‘ wird in der kunstgeschichtlichen Forschung häufig gemäß der Definition Linda Hutcheons als „repetition with critical distance“ beschrieben.27 Doch wird eine solche Definition der dialektischen Qualität des parodistischen Prozedere gerecht? Parodien sind in sich widersprüchlich. In ihnen fallen Affirmation und Negation des Vorbilds zusammen. Sie widersprechen dem klassischen Werkbegriff von Ganzheit und Geschlossenheit. Eine gelungene Parodie zeichnet sich denn auch weniger durch kritische Distanz als vielmehr durch intime Kenntnis des Vorbilds und große Nähe zu dessen Details aus. In diesem Sinne hat etwa Eva Wattolik Parodien im Frühwerk Roy Lichtensteins (1923–1997) thematisiert, allerdings ohne dabei auf die lange Tradition parodistischer Verfahren zu verweisen 28 So gilt es, die bisherigen Ansätze in historischer Hinsicht zu ergänzen, da sie weder eine Vorstellung von der Entstehung noch von der historischen Entwicklung der Bildparodie vermitteln, sondern altbekannte Beispiele der klassischen Moderne präsentieren. Gleichwohl ist zu bedenken, zu welchem Zeitpunkt Bildparodien zum ersten Mal auftreten, da deren Vorkommen in der bildenden Kunst sich nicht früher als für die Zeit um 1500 nachweisen lässt. So verdeutlicht bereits dieser historische Befund, dass es für das Aufkommen von Bildparodien spezifischer Voraussetzungen bedurfte. Parodien sind keinesfalls Ausdruck bloßer Herabsetzungen; sie stellen vielmehr Kunstübungen und eine besondere Form des Wettbewerbs dar.29 Entsprechend müssen wir für die Zeit um 25 Vgl. Michail M. Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a. M. 1995, S. 58. Vgl. Peter Fuß, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln 2001, S. 78 f. 26 „Wo sich die Parodie volkstümlicher Stoffe annimmt, wird vor allem das oft Gehörte, das bis zum Überdruß Wiederholte, das Veraltete, Abgenutzte oder auch das Sentimentale, modernem Gefühl nicht mehr Gemäße verspottet. Abgewandelt wird auch das Nicht-mehr-für-wahr-Gehaltene, das nicht mehr Geglaubte, dem man mit kritischer Distanz begegnet.“ Röhrich (wie Anm. 20), S. 115 f. 27 Linda Hutcheon, A Theory of Parody. The Teachings of Twentieth-century Art Forms, New York 1985, S. 6. 28 Vgl. Eva Wattolik, Die Parodie im Frühwerk Roy Lichtensteins. Comic-Gemälde 1961–1964, Bonn 2005. 29 Lutz Röhrich hat denn auch den elitären Charakter parodistischen Sprechens betont, das zu allen Zeiten eine exklusive Äußerungsform dargestellt hat: „Außerdem setzt die Parodie eine gewisse geistige Wendigkeit und rasche Auffassungsgabe voraus. So ist es nicht das ‚Volk‘ in seiner Gesamtheit, das Parodien hervorbringt, sondern bestimmte Schichten, die dazu imstande sind, und in ihnen wiederum nur bestimmte, eigens dafür begabte Einzelpersönlichkeiten.“ Röhrich (wie Anm. 20), S. 218.
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1500 zunächst einmal die Vertrautheit der Künstler mit klassischer Nachahmungslehre ergänzen. Dabei wird die Differenzierung abendländischer Dichtungslehre in translatio, imitatio und aemulatio die Frage parodistischer Nachahmung insofern beeinflusst haben, als Parodien eine Art Imitation unter negativen Vorzeichen bedeuten.30 In ihnen fallen per se Nachahmung und Wettbewerb zusammen. Darüber hinaus geht mit der Nachahmungslehre eine für die Bildparodie notwendige Kultur vergleichenden Sehens einher. Der Parodist muss die Qualität und die besonderen ästhetischen Merkmale eines Kunstwerks erkannt haben, um es in komischer Weise verfremden zu können. Schließlich bedarf die Parodie eines Kanons. Unter dem Pontifikat Julius’ II . (1443– 1513) entsteht zum ersten Mal ein in ganz Europa propagierter und oft auch anerkannter Kanon, der die römischen Werke der Antike ebenso umfasst wie die Arbeiten Michelangelos (1475–1564) und Raffaels (1483–1520). Voraussetzung hierfür ist die Verbreitung der entsprechenden Werke in Reproduktionsstichen, die eine allgemeine Kenntnis der Werke überhaupt erst möglich macht. Zum Kanon gehören Motive der Sixtinischen Kapelle Michelangelos ebenso wie solche aus den Stanzen Raffaels, aber auch Werke wie die Cascinaschlacht oder das Fresko der Galatea, die sowohl vollständig als auch in Details reproduziert werden.31 Mit der Antikensammlung des Papstes im Belvedere-Garten sei ein weiterer Bereich genannt, der die relevanten kanonischen Werke definiert. So entsteht in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ein Kanon, der für die Entwicklung europäischer Kunst von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Erst im Zusammenspiel der genannten Voraussetzungen werden Parodien also möglich. Dieser Entwicklung ist Rechnung zu tragen, will man sich die Anfänge parodistischer Kunst in Malerei und Graphik vor Augen führen, denn bisher ist selten gefragt worden, wann parodistische Verfahren im Sinne komischer oder herabsetzender Nachahmung bekannter Vorlagen in den Bildkünsten erstmals zur Anwendung kamen. Zudem hat die kunstgeschichtliche Forschung im Unterschied zur Literaturwissenschaft die Entstehung, Erscheinungsformen und historische Entwicklung von Parodien nicht systematisch aufgearbeitet. So kann es nicht wundern, dass in der Monographie zum Thema Parodie, Intertextualität, Interbildlichkeit von Margaret A. Rose philologische Begriffe bedenkenlos auf Bilder übertragen werden.32 Entsprechend stellt sich über Rose hinaus grundsätzlich die Frage nach der Entstehung und Wirkungsweise von Parodien in den Bildkünsten.
30 Vgl. Arno Reiff, Interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern, Köln 1959, bes. S. 111–121. Ohne den Hinweis auf die antike Rhetorik schreibt bereits Wolfgang Karrer: „Zu den Selbstzwecken des Parodisten rechnet man vor allem das Lernen, das sich Emanzipieren und das Spielen.“ Karrer (wie Anm. 23), S. 44. 31 Vgl. zur ersten Orientierung und quasi pionierhaft Gerhard Langemeyer und Reinhart Schleier (Hgg.), Bilder nach Bildern. Druckgrafik und die Vermittlung von Kunst (Ausst.-Kat. Münster, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte), Münster 1976. Zur Galatea siehe Bettina Gruber und Jürgen Müller, Fortuna Revalued. On the Goddess’s Sexualisation in the Renaissance, in: Arndt Brendecke und Peter Vogt (Hgg.), The End of Fortuna and the Rise of Modernity, Berlin [u. a.] 2017, S. 82–107. 32 Vgl. Margaret A. Rose, Parodie, Intertext, Interbildlichkeit, Bielefeld 2006.
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1. Albrecht Dürer, Tanzende Bauernpaar, 1514, Kupferstich, 11,7 × 7,4 cm, Amsterdam, Rijksmuseum
2. Albrecht Dürer, Dudelsackpfeifer, 1514, Kupferstich, 12,2 × 8 cm, Amsterdam, Rijksmuseum
Mit Parodien geht zunächst einmal das Ziel einher, einen inneren Widerspruch herzustellen. Sie stellen eine Form der Verstellung dar, bei der das Gesagte und das Gemeinte, das Gezeigte und Zitierte auseinandertreten, wie es auch bei der Ironie der Fall ist.33 Dies jedenfalls wird deutlich, wenn wir uns die vermutlich frühesten Bildparodien der Kunstgeschichte vor Augen führen. Albrecht Dürers (1471–1528) Kupferstiche des Bauerntanzes (Abb. 1) und des Dudelsackpfeifers (Abb. 2) von 1514 spielen auf die Laokoon-Gruppe (Abb. 3) und den Musizierenden Satyr (Abb. 4) des Praxiteles an. Beide Arbeiten gehören in den größeren Zusammenhang der Meisterstiche und zeugen von der brillanten Technik des Nürnbergers.34 Trotz ihrer wenig repräsentativen Größe sind sie von außerordentlicher Qualität, und der Künstler hat sich bemüht, die unterschiedlichen Texturen der Oberflächen genau wiederzugeben. Bereits die brillante Stichtechnik befindet sich in einem anschaulichen Gegensatz zum vermeintlich schlichten Thema und zum wenig repräsentativen Format. Durch diesen inszenierten Widerspruch gibt
33 Vgl. Quintilianus (wie Anm. 10), Bd. 2, VIII , 6, 54 und IX , 2, 48. 34 Siehe Peter-Klaus Schuster, Melencholia I. Dürers Denkbild, 2 Bde., Berlin 1991, hier Bd. 1, S. 359–368.
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3. Athenedoros, Hagesandros, Polidoros, Laokoon-Gruppe, röm. Kopie n. hellen. Vorbild, ca. 40–20 v. Chr., Marmor, 208 × 163 × 112 cm, Vatikanstadt, Musei Vaticani, Museo Pio Clementino
4. Römische Kopie nach Praxiteles, Flötespielender Faun, 2. Jh. n. Chr., Marmor, H.: 132 cm, Paris, Louvre
der Künstler dem Rezipienten ein Zeichen, nach dem Grund dieses Gegensatzes zu suchen. Es ist immer wieder gefragt worden, ob Dürers zweite Italienreise ihn bis nach Rom geführt habe, worauf unterschiedliche Antworten gegeben wurden. Es war Fedja Anzelewsky, der in der Mailänder Samson-Zeichnung von 1510 italienische Architektur und die römische Torre delle Milizie hat erkennen wollen (Abb. 5).35 Dieser konstatierte Rom-Bezug ist aber vor allem deshalb plausibel, weil der Künstler bereits in der Mailänder Zeichnung kein geringeres Motiv als die zentrale Figur der Laokoon-Gruppe zitiert, deren Auffindung in dasselbe Jahr fällt wie Dürers zweiter Aufenthalt in Italien.36 Mit der Verwendung des Laokoon-Motivs hat der deutsche Künstler eine bedeutsame Vor35 Vgl. Fedja Anzelewsky und Hans Mielke (Bearb.), Albrecht Dürer. Kritischer Katalog der Zeichnungen, Berlin 1984, S. 62. 36 Zur literarischen und bildkünstlerischen Rezeption der Laokoon-Gruppe – insbesondere auch in den von der Forschung lange vernachlässigten Epochen – siehe das instruktive Standardwerk von Christoph Schmälzle, das erstmals einen Gesamtüberblick über das Thema von den spätmittelalterlichen Anfängen bis zur Forschungsgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert bietet: Christoph Schmälzle, Laokoon in der Frühen Neuzeit, 2 Bde., Frankfurt a. M. [u. a.] 2018.
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lage gewählt. Schon in der Antike galt die Figurengruppe als unübertreffliches Werk, von dem Plinius d. Ä. schreibt, es sei „allen Schöpfungen der Malerei und Bildhauerei“ überlegen.37 Die Geschichte des trojanischen Priesters bedarf keiner weiteren Nacherzählung. In Vergils Aeneis warnt er vor der Einnahme der Stadt durch das Trojanische Pferd, woraufhin Athene zwei Schlangen über das Meer schickt, die ihn und seine beiden Söhne umbringen. Bernard Andreae hat auf die politische Bedeutsamkeit des Werks verwiesen, führt der Untergang Trojas doch zum Aufstieg Roms.38 So kann es nicht wundern, dass der Fund der im Mittelalter unbekannten Figurengruppe im 5. Albrecht Dürer, Samson kämpft gegen die Philister, Jahr 1506 großes Aufsehen erregte, 1510, Federzeichnung, 20,9 × 25,3 cm, Mailand, Biblioteca da mit den Worten von Plinius Ambrosiana große Erwartungen einhergingen.39 Und in der Tat haben wir es mit einem außergewöhnlichen Kunstwerk zu tun. Die Bildhauer haben es vermocht, den Kampf sinnbildhaft zu überhöhen. Der gewaltige Körper erzählt davon, mit welch ungeheurer Anstrengung sich der Priester gegen die Bisse der Schlangen zur Wehr setzt. In anschaulicher Form erleben wir den Wendepunkt des Kampfes, indem das übermächtige Schicksal im Begriff ist, die Oberhand zu gewinnen. Dieser Übergang findet im Motiv des Vaters insofern eine Entsprechung, als er durch eine kluge Verbindung von Stehen und Sitzen zum Ausdruck gebracht wird. Mag sich der Oberkörper auch gegen die Reptilien zur Wehr setzen, haben die Füße bereits ihre Standfläche eingebüßt. Es ist der letzte Moment des Widerstands und zugleich der erste des Unterliegens, was
37 Die Übersetzung des Passus aus der Naturgeschichte des Plinius „opus omnibus et picturae statuaiae artis praeferendum“ ist umstritten. Vgl. hierzu Bernard Andreae, Laokoon und die Gründung Roms (Kulturgeschichte der antiken Welt; Bd. 39), Mainz 1988, S. 11 f. 38 Vgl. Andreae (wie Anm. 37). 39 Entsprechend rege nehmen vor allem die italienischen Humanisten Anteil an der Fundnachricht, zumal die Identifikation der Marmorgruppe mit dem von Plinius erwähnten Kunstwerk zahlreiche Fragen aufwirft. Vgl. Schmälzle (wie Anm. 36), Bd. 1, S. 71–97.
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sich auch an der Haltung der Söhne spiegelt, von denen der Jüngere bereits verstorben ist, während der Ältere in banger Erwartung zum Vater aufblickt. Die Wiederauffindung der Figurengruppe stellte eine Sensation dar. So ereignete sich die Ausgrabung der antiken Skulptur im Beisein Michelangelos, der sich vom Papst als Kunstexperte beauftragt sah, die Echtheit der Skulptur zu bestätigen. Seitdem ist das hellenistische Werk von zahlreichen Künstlern kopiert und schon früh in Kupferstichen und Radierungen reproduziert worden.40 Vor allem Michelangelo selbst trug mit seinen an der muskulösen Körperlichkeit des Hauptmotivs orientierten Männerakten dazu bei, die universelle Gültigkeit des antiken Vorbildes zu untermauern. Ob Dürer die Chance ergriffen hat, nach Rom zu reisen, als er von der Auffindung der Gruppe erfuhr, oder ob ihm das Werk nur als Reproduktionsstich zugänglich war, wird sich nicht mehr zweifelsfrei klären lassen. Dies ist indes verschmerzbar, da er sich mehr als offensichtlich auf das Hauptmotiv der Figurengruppe bezogen hat. Unter Humanisten wird das Urteil des Plinius jedenfalls dafür gesorgt haben, sich mit der Gestalt des Kunstwerks vertraut zu machen. Daher konnte der Nürnberger Künstler durchaus mit einem gebildeten Publikum rechnen. In jedem Fall handelt es sich bei dem zentralen Motiv des Vaters um das berühmteste Sinnbild des Schmerzes, wie es in der europäischen Kunst seit der Renaissance verwendet und über Jahrhunderte hinweg zur Nachahmung empfohlen wird. Auch das Vorbild des praxitelischen Satyrs ist hochberühmt und in jener Zeit sehr verbreitet. Wenn sich der Nürnberger Künstler also auf solche klassischen Kunstwerke bezieht, wählt er die prominentesten antiken Beispiele und tut dies zudem augenzwinkernd, indem er sich über die neidischen Kollegen amüsiert, die ihn der Unkenntnis zeihen. Mehr noch, er entwirft eine Kunstallegorie, deren Inhalt sich normativer Kunstauffassung entgegenstellt, mit welcher die sklavische Wiederholung der immer gleichen Vorbilder einhergeht. So lässt das Spiel mit dem Hauptmotiv der antiken Figurengruppe aus dem gewaltigen Männerkörper eine tapsige Bäuerin werden und aus dem eleganten Satyr einen eigensinnigen Musikanten. Mit diesen Parodien gewinnen die Kupferstiche einen Witz, der das Gesehene in anderem Licht erscheinen lässt. Offensichtlich stand dem Nürnberger bei seinen Parodien die musikalische Bedeutung des griechischen Wortes GegenGesang vor Augen, wenn die Stiche durch die bäuerliche Musik des Dudelsacks und die rhythmischen Bewegungen der Tanzenden verbunden sind. Aber was hat den Künstler dazu veranlasst, diese parodistischen Formspiele zu entwickeln? Bekanntlich hat Dürer bei seiner zweiten Venedigreise den Druck zunehmender Kanonisierung verspürt, als ihm seine venezianischen Kollegen mit Zurückweisung begegneten. Dies belegt in drastischer Form der Brief an Willibald Pirckheimer (1470–1530) 40 Neben Reproduktionen, freien Adaptionen und Parodien der Laokoon-Gruppe muss nach Schmälzle eine weitere Gruppe an Rezeptionszeugnissen berücksichtigt werden, nämlich das Feld der „selbständigen“ Laokoon-Darstellungen, die sich bewusst vom Vorbild der vatikanischen Gruppe abwenden und dafür am Text der Aeneis orientieren, wobei diese Abgrenzung im Sinn einer unbefangenen Illustration des Mythos vielfach durch das subkutane Nachleben der kanonischen Formen unterlaufen wird. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 189–249.
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vom 7. Februar 1506.41 Dort beschwert sich der Künstler, dass ihn die italienischen Maler dafür tadeln, nicht in antiker Art gestalten zu können und sie zugleich zu bestehlen. Er erachtet deren Kritik jedoch als Heuchelei.42 Er fürchtet sogar, vergiftet zu werden. Die ersten Bildparodien entstehen somit im Kontext eines Konflikts, bei dem die antike der volkssprachlichen Kultur gegenübersteht. Dürers Experimente mit der visuellen Form des Gegengesangs werden dabei nicht als Konsequenz der Lektüre lateinischer oder griechischer Texte entstanden sein, sondern eher in Willibald Pirckheimer einen wichtigen Stichwortlieferanten gefunden haben. So sind es weniger die Äußerungen von Aristoteles oder Quintilian, welche die Bildparodien auf den Weg gebracht haben, als vielmehr die paradoxen Enkomien von Lukian von Samosata. Seit dem Erscheinen von Erasmus von Rotterdams (1466/69–1536) Lob der Torheit verdankt sich das paradoxe Enkomion in Humanistenkreisen großer Beliebtheit und bewog den Nürnberger Gelehrten wie auch Ulrich von Hutten (1488–1523) zum Abfassen eigener Texte. In der Tradition Lukians geht mit der Gattung des paradoxen Enkomions das Lob des Niedrigen und Unwürdigen einher, deren Konjunktur im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts deutlich festzustellen ist.43 Dabei ist es weniger die Gattung widersprüchlicher Lobrede als die mit ihr verbundene Ironie, die das Hohe niedrig und das Niedrige hoch erscheinen lassen kann. Zentral ist die Inversion, die Auf- oder Abwertung bedeutet. Dürers Parodien loben und tadeln zugleich. Bedienen wir uns der Definition der Parodie als Gegengesang, mit dem Gegnerschaft einhergeht, so sind beide Kupferstiche insofern als kritisch zu bezeichnen, als sich der Künstler gegen eine zwangsverordnete Antikennachahmung wendet und auf künstlerische Selbstbestimmung pocht. Der Nürnberger beschwört mit dem Motiv des Dudelsacks den Eigensinn, der sich gegen den Nachahmungszwang zur Wehr setzt.44 Bereits im 54. Kapitel von Sebastian Brants (1457/58–1521) Narrenschiff aus dem Jahre 1494 sieht man einen Dudelsack spielenden Narren, der die zu seinen Füßen liegende Harfe und Laute unbeachtet lässt und den Konflikt von Apoll und Marsyas beschwört. Bei diesem symbolischen Konflikt entscheidet sich der Künstler gegen Apoll und für eine antiklassische Position. Mit der Bezugnahme auf den Satyr ist vermutlich weniger 41 Zu diesem und zu zahlreichen weiteren Briefen Dürers an den befreundeten Pirckheimer siehe Jürgen Müller, „Antigisch Art“ – Un contributo alla ricezione ironica dell’ antichità da parte di Albrecht Dürer, in: Sybille Ebert-Schifferer und Kristina Herrmann Fiore (Hgg.), Dürer, l’Italia e l’Europa (Studi della Bibliotheca Hertziana; Bd. 6), Mailand 2011, S. 47–71. Zum Protonationalismus siehe v. a. Caspar Hirschi, The Origins of Nationalism. An Alternative History from Ancient Rome to Early Modern Germany, Cambridge 2012, S. 121–155. 42 „Awch sind mir jr vill feind vnd machen mein ding in kirchen ab vnd wo sy es mügen bekumen. Noch schelten sy es vnd sagen, es sey nit antigisch art, dorum sey es nit gut.“ Albrecht Dürer, Schriftlicher Nachlaß, hg. von Hans Rupprich, 3 Bde., Berlin 1956–1969, hier Bd. 1, 1956, S. 43 f. 43 Vgl. Barbara Könneker, Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus, Wiesbaden 1966, S. 88–91. 44 „Eyn sackpfiff ist des narren spil / Der harppfen achtet er nit vil / Keyn gu(o)t dem narren in der welt / Baß dann syn kolb / und pfiff gefelt […].“ Sebastian Brant, Das Narrenschiff. Studienausgabe. Mit allen 114 Holzschnitten des Drucks Basel 1494, hg. von Joachim Knape, Stuttgart 2005, S. 283–285, hier S. 284.
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jene Hybris zum Ausdruck gebracht, der es bedarf, um einen Gott zum musikalischen Wettstreit herauszufordern, als vielmehr das Wissen um die Unvollkommenheit eines jeden Kunstwerks. Der unterlegene Marsyas wird zum Sinnbild der Grenzen des Künstlers, aber auch der Grenzen der Kunst. Und kommt es nicht per se einer programmatischen Aussage gleich, wenn Dürer seine beiden Bauerndarstellungen im gleichen Jahr wie die anderen Meisterstiche anfertigt, denen dadurch eine gewisse Prominenz zuwächst und die in einem Atemzug mit der Melancholie zu nennen sind? So erscheinen das Hohe und das Niedrige, das Ernste und das Komische, wie auch das Schöne und Hässliche nicht mehr hierarchisch geordnet, sondern stehen gleichberechtigt nebeneinander. Und es ist auch kein Zufall, dass Dürers Parodien im Medium des Kupferstichs stattfinden, und damit in der technisch avanciertesten Form. Wie der Buchdruck auch, gehören Kupferstiche zu den Nova reperta, jenen mit der Renaissance einhergehenden Erfindungen, die selbstbewusst gegen die Antike in Stellung gebracht werden, um die Überlegenheit eigener Modernität hervorzuheben.45 Den geistesgeschichtlichen Beschreibungen sei eine Funktionsbestimmung des parodistischen Verfahrens hinzugefügt. Mit der Parodie als Kippfigur entsteht innerbildliche Polyperspektivität insofern, als die Figuren der Bäuerin und des Musikanten eine Verbindung mit den Vorbildern eingehen und diese umdeuten. Dürer erzählt die Geschichte von tanzenden und musizierenden Bauern, die sich trotz mangelnder Eleganz prächtig amüsieren. Dabei bedürfen die verborgenen Motivübernahmen eines kundigen Betrachters, denn der Künstler zeigt und verbirgt zugleich. Die dargestellten Szenen legen sich derart passend über die Vorbilder, dass es eine Herausforderung ist, sie zu entdecken. Dies ist deshalb zu betonen, weil wir die Folgen des parodistischen Geschehens nun genauer beurteilen können, um deren Wirkung im Sinne von Komik und Witz zu unterscheiden. Komisch sind Dürers Motive per se, aber witzig im Sinne der Kippfigur werden sie erst in der plötzlichen Erkenntnis der Vorbilder, die den Betrachter überwältigt. Deshalb stellt der Künstler einen Ausgleich von Zeigen und Verbergen her. Er verbirgt insofern, als nur ausgewählte Details zitiert werden. Hier seien mit dem Schrei des johlenden Partners der Bäuerin, dessen signifikanten Armstellungen und der Hand der Bäuerin wichtige Indizien benannt, die ein Wiedererkennen der Vorlage ermöglichen. Dabei handelt es sich um Markierungen, die den Interpreten in seiner Vermutung des Zitats bestätigen. Ähnliches gilt für die Fußstellung des Musikanten und die Anwesenheit des Instruments. Markierungen sind perspektivisch. Sie ermöglichen es, ihre Inhalte auf ein Vorbild hin zu transzendieren und funktionieren als Teil-GanzesBeziehung im Sinne einer analeptischen Metonymie. Wir erkennen Details, um auf das vorhergehende Ganze rückschließen zu können. In den Kupferstichen wird der Rezep45 Vgl. Jürgen Müller, Stil und Geschichte. Erasmus von Rotterdams „Ciceronianus“ aus dem Jahre 1528 – Eine Skizze, in: Christiane Kruse und Victoria von Flemming (Hgg.), Fassaden? Strategien des Zeigens und Verbergens von Geschichte in der Kunst, München 2017, S. 240–255. Zur Querelle des Anciens et des Modernes siehe Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 256–261.
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tionsakt also durch ein souveränes Spiel mit Teilzitaten und den daraus resultierenden Assoziationen gesteuert. Parodien sind vielstimmig. Sie stellen offene Formen dar, die eine semantische Differenzierung eröffnen, die es nun für Dürer nachzuvollziehen gilt. Mit dem Parodiegeschehen geht ein Wechsel vom Leiden zur Lebensfreude einher. Im Zuge dessen erweist der Künstler die Arbitrarität der Form, die semantisch nicht festgelegt erscheint, sondern als prinzipiell übergängig und kontextabhängig. Darüber hinaus kritisiert er den Nachahmungszwang, der die Gefahr kunstloser Wiederholung birgt, um schließlich das Hohe zu invertieren und das Niedere in Form der Hirten und Bauern, von Satire und Bukolik zu legitimieren. Mit dieser Ästhetik des Ausgleichs geht schlussendlich eine philosophische Reflexion einher, die das Wesen der Kunst als nicht-hierarchisch und unbestimmbar erscheinen lässt. Davon unbenommen bleibt freilich die Tatsache, dass die Parodien auf Seiten des Rezipienten die Vertrautheit mit dem Vorbild voraussetzen und ein kennerschaftliches Publikum adressieren. Erst dann setzt sich die hier genannte Polyperspektivität in Gang. Dabei bricht Dürer mit den Erwartungen jenes Adressaten, der an einem ästhetischen Kanon festhält, welcher hier zur Diskussion gestellt wird. In gewisser Hinsicht begibt er sich ins Innere eines ästhetischen Wertekanons, den er zugleich subvertiert, um damit die Möglichkeit zu ergreifen, Machtverhältnisse zu bestreiten. Seine Parodien stellen nicht nur Reflexionsfiguren dar, sondern dienen auch dem Autoritätserwerb und formulieren das Anspruchsniveau des Parodisten. Bildparodien sind also Legitimationsfiguren! Sie entstehen in der rhetorischen Kultur der Frühen Neuzeit, in der Autorisierung eine essenzielle Ressource darstellt.46
III. Die witzigen Motiv-Inversionen Dürers erlangen schon bald eine gewisse Berühmtheit und finden zahlreiche Nachfolger.47 In der Kunst der Reformationszeit finden sich an zahlreichen Orten solche Späße, die den neuen, auf Antike und italienischer Renaissance fußenden Kanon karikieren.48 Zunächst in Nürnberg, Antwerpen, Basel und Brüssel nutzen Künstler diese Möglichkeit parodistischer Bildrhetorik. Der Dürer-Schüler Hans Baldung (1484/85–1545) bedient sich für seinen um 1520 entstandenen Holzschnitt eines trunkenen Silens mit spielenden Putten des Laokoon-Motivs (Abb. 6). Be46 Zu diesem Aspekt: Wulf Oesterreicher [u. a.] (Hgg.), Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität (Pluralisierung & Autorität; Bd. 1), Münster 2003. 47 Vgl. Jürgen Müller, Holbein und Laokoon. Ein Beitrag zur gemalten Kunsttheorie Hans Holbeins d. J., in: Bodo Brinkmann und Wolfgang Schmid (Hgg.), Hans Holbein und der Wandel in der Kunst des frühen 16. Jahrhunderts, Turnhout 2005, S. 73–89. 48 Vgl. Jürgen Müller, Moritz von Sachsen als „Hercules germanicus“ – Zur Deutung der Herkulestafeln Lucas Cranach d. J., in: Andreas Henning [u. a.] (Hgg.), „Man könnt vom Paradies nicht angenehmer träumen“. Festschrift für Prof. Dr. Harald Marx zum 15. Februar 2009, München [u. a.] 2009, S. 50–57.
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rauscht ist der Silen eingeschlafen und liegt ausgestreckt auf dem Boden. Er wird durch knabenhafte Satyrn verspottet, die ihm auf den Kopf urinieren. Sie treiben Schabernack und kitzeln dessen Hoden. Baldung entwirft eine mythologische Szene, in welcher das Phänomen der Trunkenheit als Kontrollverlust illustriert wird. Wir sehen den komatösen Silen, Weinreben, einen Pokal, Weintrauben am Boden und das riesige Fass, in dem sich das berauschende Getränk befindet. In der Forschung ist auf einen Kupferstich aus dem Umfeld Andrea Mantegnas (1431–1506) hingewiesen worden, aber für das Motiv des schlafenden Silens nutzt Baldung das Laokoon-Vorbild. Im Anschluss an Dürer verwendet er die zentrale Figur des Vaters. Für diese Identifikation sprechen zahlreiche Details wie die Beinstellung, der kräftige Körper, die Haltung 6. Hans Baldung gen. Grien, Der trunkene Bacchus, um 1520, Holzschnitt, 22,4 × 15,3 cm, Basel, Kunstdes rechten Armes und die Anordnung museum, Kupferstichkabinett der Satyrn links und rechts des Silens, die uns an Laokoons Söhne erinnern. Die Szene an sich wirkt komisch, doch geht es eigentlich darum, die Gefahren einer antiken Poetik der Inspiration des schöpferischen Genies infrage zu stellen, denn nur allzu schnell ist der inspirierte Künstler zu betrunken, um Kunst zu schaffen. Der Wein mag den Verstand schärfen, wie Erasmus in einem eigenen Adagium feststellt, aber in Bezug auf den Silen Baldungs hat die vermeintliche Inspiration des Rebensaftes stattdessen zu tiefem Schlaf geführt. Zahlreiche weitere Beispiele für die parodistische Nachahmung des Laokoon-Motivs ließen sich nennen, aber nur in exemplarischer Form sei auf jenen Holzschnitt von Niccolò Boldrini (gewirkt 1540–1566) nach Tizian (1488/90–1576) verwiesen (Abb. 7), in dem die Kunst der Nachahmung als bloßes Nachäffen karikiert wird.49 In diesem Werk wird die parallele Anordnung dreier Affen genutzt, um auf die Gesamtansicht der Gruppe anzuspielen, die man der symmetrischen Anordnung wegen sofort wiedererkennt. Mehr noch, Boldrini spielt auf den Medienwechsel von Skulptur zu Graphik an, wenn er die Plinthe unterhalb der beiden Affen rechts parallel zum vorderen Bild49 Tizians Wissen um die antike Skulptur ist oft beschrieben und dessen Motivübernahme im Triumph des Bacchus oft diskutiert worden. Siehe etwa Rona Goffen, Renaissance Rivals. Michelangelo, Leonardo, Raphael, Titian, New Haven [u. a.] 2002, S. 279.
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