Impressum Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung „Im Detail. Die Welt der Konservierung und Restaurierung“, 25.11.2022 – 27.08.2023, im Ferdinandeum, Tiroler Landesmuseum. Herausgeberin: Laura Resenberg, Leitung Bereich Restaurierung, Tiroler Landesmuseen-Betriebsgesellschaft m.b.H., Museumstr. 15, A-6020 Innsbruck Direktor: Karl C. Berger, Tiroler Landesmuseen-Betriebsgesellschaft m.b.H., Museumstr. 15, A-6020 Innsbruck Lektorat: Catharina Blänsdorf, Astrid Flögel Die Untersuchung des Retabels erfolgte im Ferdinandeum, Tiroler Landesmuseen, Innsbruck. Die Forschung wurde geleitet durch Laura Resenberg, durchgeführt in Zusammenarbeit mit Cristina Thieme und Anna Rommel-Mayet, Oberammergau. www.tiroler-landesmuseen.at www.tiroler-landesmuseen.at/forschung/altar-von-schloss-tirol
Verlag und Vertrieb: Deutscher Kunstverlag www.deutscherkunstverlag.de Ein Verlag der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston www.degruyter.com Projektmanagement Verlag: Imke Wartenberg Herstellung Verlag: Anja Haering Schlusskorrektorat: Rudolf Winterstein, München Layout und Satz: Anna Risch, Berlin Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Tiroler Landesmuseen-Betriebsgesellschaft m.b.H., Deutscher Kunstverlag Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung der Herausgeberin urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Für den Inhalt der einzelnen Beiträge sowie die Bildrechte sind die Autorinnen verantwortlich. ISBN 978-3-422-80079-3
Das Retabel von Schloss Tirol Kunsttechnische Untersuchungen Herausgegeben von Laura Resenberg, Tiroler Landesmuseen, Innsbruck
Mit Beiträgen von Laura Resenberg und Cristina Thieme
Inhalt Vorwort und Dank
7
Das Retabel von Schloss Tirol
11
Geschichte des Retabels
19
Kunsthistorische Einordnung
24
Tabellarischer Überblick über die Geschichte des Retabels
30
Darstellungen
36
Geschlossene Flügel: Kreuzigungsgruppe mit Stiftern und Schutzpatronen
36
Geöffnete große Flügel und geschlossene Gefacheflügel: Marienzyklus
42
Schrein
45
Holzkonstruktion
53
Untersuchungsmethoden
53
Aufbau der Holzkonstruktion
53
Retabelschrein
53
Kriech- und Kreuzblumen
70
Markierungen am Holz
87
Qualität und Bearbeitung
87
Spätere Veränderungen an der Holzkonstruktion
88
Schmiedeeiserne Elemente am Retabel
90
Zusammenfassung
95
Mal- und Fasstechniken der großen Flügel und der Gefacheflügel
97
Untersuchungsmethoden
97
Vorbereitung des Malgrunds
99
Vorleimung, Pergament- und Leinwandkaschierung
99
Graubraune und weiße Grundierung
99
Isolierung/Trennschicht
100
Unterzeichnung
101
Ritzungen
101
Blattmetallauflagen
102
Ziertechniken der Metallauflagen
112
Malerei
127
Malmaterialien
127
Marienzyklus
128
Kreuzigungsgruppe
149
Rekonstruktion der Ornamente und Muster der Brokatgewänder und Plattenröcke
157
Überkreuzte Anordnung der Wappenschilder
172
Zusammenfassung
172
Farbfassung des Schreins
176
Wergabklebung, Pergament und Leinwandkaschierung
176
Graubraune und weiße Grundierung
176
Metallauflagen
178
Farbfassung
178
Zum Ablauf der Maßnahmen zur Fertigung des Retabels
185
Vergleiche der Maltechniken der Flügelbilder mit der böhmischen Tafelmalerei
188
Kunsttechniken
189
Fazit
198
Schäden und Alterung
201
Überarbeitungen zeitnah nach der Herstellung und frühe Übermalungen (15.–18. Jahrhundert)
201
Napoleonische Zeit
203
Wien 1813/1814
203
Wiederherstellung des Retabels in Innsbruck 1828
215
Restaurierung in der Alten Pinakothek München 1940–1942
216
Retusche in Innsbruck nach 1945
217
Schäden und Veränderungen
217
Schlussfolgerung
234
Schlussbetrachtung
236
Anhang
238
Anhang 1: Auswertung von Querschliffen und Streupräparaten
238
Anhang 2: Angaben zu den verwendeten Untersuchungsmethoden
249
Literatur
252
Abbildungsnachweis
256
Vorwort und Dank Forschen zu den eigenen Beständen gehört zu den wesentlichen Aufgaben eines Museums. In Vorbereitung der geplanten Konservierung und Restaurierung initiierten Direktor Wolfgang Meighörner, Kunsthistorikerin Claudia Mark und Restauratorin Laura Resenberg im April 2016 das Projekt zur Untersuchung des Retabels von Schloss Tirol. Damit konnte das Retabel, eines der bedeutendsten Werke des Mittelalters in Tirol, erstmals kunsttechnisch erforscht werden. Im vorliegenden Buch werden die Ergebnisse der eingehenden Untersuchungen vorgestellt, die 2023 abgeschlossen wurden. Im Fokus stand dabei zum einen eine detaillierte Erfassung des Zustands als Grundlage eines Konservierungskonzepts, zum anderen die Entstehung und Geschichte des Retabels. Die Erkenntnisse zur Maltechnik und den verwendeten Materialien ermöglichen einen neuen Blick auf dieses einzigartige Werk und eine weitergehende Einordnung. Neben seiner hohen kunst- und kulturgeschichtlichen Bedeutung ist das Retabel von Schloss Tirol auch bezüglich seiner Wichtigkeit für die Sammlungsgeschichte des Ferdinan deums hervorzuheben. Bloß drei Jahre nach der Gründung des „Tirolischen National museums“ gelangten Retabelschrein und Altarflügel 1826/1827 über verschlungene Wege in die Sammlung einer noch jungen Institution und zählen bis heute zu seinen Preziosen. 1948 publizierte Vinzenz Oberhammer, damaliger Kustos am Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, die bislang einzige umfassende Monografie zum Altar von Schloss Tirol, die er bemerkenswerterweise mit einem Lob auf die Restaurierungstechniken seiner Zeit einleitete: „Immer wieder setzt es in Staunen, wie auf dem Gebiete der Kunstgeschichte auch heute noch Neufunde möglich sind, die gelegentlich einem ganzen Kunstkreise Licht geben. […] Zugleich fördert auch eine außerordentlich verfeinerte Technik der Restaurierung selbst an bereits bekannten Kunstwerken gelegentlich völlig Unbekanntes, Überraschendes zu Tage […].“ 1 Oberhammer bezog sich darin auf die Restaurierungskampagne während des Zweiten Weltkriegs in München. 70 Jahre nach seiner Veröffentlichung erschien eine wissenschaftliche Neubewertung durch verfeinerte kunsttechnische Verfahren und naturwissenschaftliche Analysen angebracht und vielversprechend. Wenngleich zwischenzeitlich zahlreiche Aufsätze vornehmlich zu Fragen der Zuschreibung, Formaltypologie und Ikonografie erschie nen sind, stand eine Untersuchung der Kunsttechniken noch aus. Kunsttechnische Untersuchungen geben Aufschluss über die Art der Herstellung von Kunstwerken, die dafür verwendeten Materialien und können Aussagen zum Werkprozess und späteren Änderungen liefern. Hier war es das Ziel, die materielle Entstehung des Werkes nachzuzeichnen und zu eruieren, was originale Substanz und was spätere Veränderungen waren. Neben den augen scheinlichen und stereomikroskopischen Untersuchungen wurden Röntgenaufnahmen,
1
Oberhammer, Vinzenz: Der Altar von Schloss Tirol, Innsbruck 1948, S. 7.
VORWORT UND DANK
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3D-Modelle, Infrarotreflektografien und Hochdigitalisate angefertigt. Auch Materialanalysen mit verschiedenen Verfahren wurden eingesetzt, gefolgt von maltechnischen Rekonstruktionen. Digitale Rekonstruktionen sollten noch die Visualisierung verloren gegangener Darstellungspartien leisten. Geschichte, Herkunft des Retabels und sein Zeit-Kontext mussten natürlich rezipiert und angeboten werden. Dies bildete einen weiteren Teil der Studien. Das Retabel von Schloss Tirol war während der gesamten Laufzeit des Projekts in einem eigens gestalteten Raum in der Dauerausstellung des Ferdinandeums zu sehen. Zusammen mit Claudia Mark wurde dieser Raum von dem Architekten Christian Höller gestaltet. Das Retabel wurde in die bisher geleisteten Ergebnisse der geschichtlichen und kunsthisto rischen Forschung sowie in die Erwartungen der laufenden kunsttechnischen Untersuchungen gleichsam eingebettet. Mit einer interaktiven digitalen Präsentation wurden Fotoaufnahmen der Restaurierung von 1940 bis 1942 in München und neu erstellte Aufnahmen mit bildgebenden Verfahren vergleichend gezeigt und auch online veröffentlicht (https://altarinteraktiv.tiroler-landesmuseen.at).2 Es wurde außerdem regelmäßig in der Zeitung des Vereins Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, „ferdinandea“, über den Fortschritt der Arbeiten berichtet 3 und eine neue Reihe namens „Forschung im Gespräch“ begründet, die in Form von Veranstaltungen wie Vorträgen, Führungen oder Diskussionen, für Interessierte zugänglich war.4 Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Expert*innen aus verschiedenen Diszipli nen wurde angeregt.5 Am 20. und 21. April 2023 wurden anlässlich der Tagung „Das Retabel von Schloss Tirol. Kunsttechnologie, Geschichte, Ikonografie“ im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum erstmals die Ergebnisse der Untersuchungen vorgestellt und gemeinsam 2 3
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Die Fotografien wurden im Archiv der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München aufgefunden. Die Gestaltung übernahm Christian Höller, die Umsetzung erfolgte durch die Agentur Plural. Resenberg, Laura / Zenz, Christina: Altar von Schloss Tirol. Die kunsttechnologischen Untersuchungen an diesem bedeutenden Altar haben begonnen, in: ferdinandea. Die Zeitung des Vereins Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, November 2016–Jänner 2017, S. 9. – Resenberg, Laura / Thieme, Cristina: Der Altar von Schloss Tirol. Aktueller Stand und Einblick in die kunsttechnologischen Untersuchungen, in: ferdinandea. Die Zeitung des Vereins Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Februar–April 2019, S. 11. – Resenberg, Laura: Untersuchung und Konservierung des Altars von Schloss Tirol. Bericht zum aktuellen Stand der Arbeiten, in: ferdinandea. Die Zeitung des Vereins Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, November 2021–Jänner 2022, S. 11. Folgende Veranstaltungen fanden im Rahmen des Projekts statt: 19. Februar 2017 um 11 Uhr: „Forschung im Gespräch“. Direktor Wolfgang Meighörner, Kunsthistorikerin Claudia Mark und Restauratorin Laura Resenberg stellen das Projekt im Ferdinandeum vor; 2. Juli 2017 um 11 Uhr: „Forschung im Gespräch“. Georg Habenicht, Nicola Weber und Christian Höller und Claudia Mark; 23. November 2017 um 11 Uhr: „Forschung im Gespräch“. „Wandlung des Retabels im Hoch- und Spätmittelalter“ mit Victor M. Schmidt; 25. März 2018 um 11 Uhr: „Forschung im Gespräch“. „Drunter und drüber. 100 Jahre technische Kunstgeschichte“ mit Professor Andreas Burmester, Restauratorin Laura Resenberg und Kunsthistorikern Claudia Mark; 3. Mai 2018 um 11 Uhr: „Forschung im Gespräch“. „Das Inkarnat in der mittelalterlichen Malerei“ mit Cristina Thieme und „Zu den Unterschieden zwischen Tempera- und Ölmalerei“ mit Patrick Dietemann; Tagung: „Special Objects. Norm und Form als Fragezeichen der Kunst, 1300–1500“ von 23. bis 24. November 2018. Dematté, Rosanna / Mark, Claudia: Forschungslaboratorien. Kunstgeschichte in Innsbruck zwischen Museum und Universität, in: Moser-Ernst, Sybille / Bertsch, Christoph (Hg.): Kunst: Wissenschaft. Eine fächerübergreifende Untersuchung am Beispiel der Universität Innsbruck, Innsbruck 2019, S. 617–636. – Ein Juwel Tiroler Gotik, Interview von Uta Baier mit Laura Resenberg, URL: https://www.restauro.de/altar-tirol/ (Zugriff: 8. März 2023).
mit Kunsthistoriker*innen, Historiker*innen und Kulturwissenschaftler*innen diskutiert.6 Wir freuen uns nun, in diesem Band die Ergebnisse zur Kunsttechnologie präsentieren zu dürfen. Gedankt werden soll an dieser Stelle Wolfgang Meighörner, Peter Assmann und Karl Berger, den drei Direktoren der Tiroler Landesmuseen, unter welchen dieses Projekt angestoßen, weiterverfolgt und schließlich präsentiert werden konnte. Ich danke Claudia Mark für die kreativen Ideen in der Projektgenese sowie für ihre Recherchearbeit und Christian Höller für die Gestaltung des Raumes und der Online-Präsentation. Ein Dank für die inten sive Zusammenarbeit gilt Anna Rommel für die kunsttechnischen Untersuchungen und maltechnischen Rekonstruktionen, Marco Raffaelli für die Anfertigung der multispektralen Infrarotreflektografien, Ottaviano Caruso für die Herstellung von Hochdigitalisaten und UV-Aufnahmen, Christine Berberich und Marcus Koch für die Analysen der Metallauflagen sowie Jana Sanyova für die Analyse von Binde- und Malmitteln und Isabell Raudies für die Holzbestimmungen. Gedankt wird auch Andrij Kutnyi für die 3D-Modelle und Johannes Plattner für die mit Geduld angefertigten Fotografien, Patrick Dietemann für die Gespräche zur Frage der verwendeten Bindemittel und des Verhaltens der Malfarben und Andreas Burmester für die spannenden Diskussionen. Ich danke weiterhin Stefan Schuster und Rudolf Göbel vom Bayerischen Nationalmuseum für den hilfreichen wissenschaftlichen Austausch an Vergleichsobjekten und Martin Schawe für die Recherche zu den Restaurierungsarbeiten in München. Danken möchte ich auch Cecilia Frosinini und Roberto Bellucci vom Opificio delle Pietre Dure, Florenz für ihre Hilfe bei den bildgebenden Verfahren. Außerdem danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen der Tiroler Landesmuseen für ihre vielfältigen Arbeiten im Projekt: Claudia Bachlechner, Sonia Buchroithner, Lourdes Canizares-Flores, Astrid Flögel, Ulrike Fuchsberger-Schwab, Jana Hess, Ulrike Hofer, Wolfgang Prassl, Hansjörg Rabanser, Roberta Renz-Zink, Lisa Saxl, Peter Scholz, Marlene SprengerKranz, Michael Thalinger, Kerstin Wehinger und Christina Zenz. Mein besonderer Dank gilt Cristina Thieme für ihre umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten, ihren unermüdlichen Einsatz für das Projekt und die immer erfreuliche und produktive Zusammenarbeit. Zuletzt danke ich herzlich Catharina Blänsdorf und Erwin Emmerling, die mit ihrer großzügigen Unterstützung, ihrem Interesse, ihren Anregungen und Diskussionen einen unerlässlichen Beitrag geleistet haben. Laura Resenberg
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Vgl. dazu: Andergassen, Leo / Berger, Karl C. / Resenberg, Laura (Hg.): Der Altar von Schloss Tirol im Fokus. Kunsttechnologie, Geschichte, Ikonografie. Ferdinandeum und Schloss Tirol, Tagungsband, Innsbruck 2023 (im Druck).
VORWORT UND DANK
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Das Retabel von Schloss Tirol Maße Breite: offen ca. 270 cm, geschlossen ca. 139 cm Höhe: mit Turm ca. 253 cm, Schrein: 113 cm Tiefe: ca. 28,5 cm Das Retabel von Schloss Tirol ist das älteste erhaltene Retabel im Alpenraum und das einzige aus dem 14. Jahrhundert, das im höfischen Umfeld beauftragt wurde. Die Datierung der Entstehung in die Jahre zwischen 1366 bis 1375 nahm 1948 Vinzenz Oberhammer, der damalige Kustos am Ferdinandeum, vor, nachdem bei den Freilegungsarbeiten 1940–1942 an den Flügelaußenseiten die Darstellungen der Stifterfiguren und ihrer Wappen sichtbar und damit die historische Bedeutung des Retabels offenkundig geworden waren.1 Erstmals brachte Oberhammer die Entstehung mit einem konkreten politischen Ereignis in Ver bindung: 1363 war die Grafschaft Tirol von Gräfin Margarete von Tirol-Görz (Margarete „Maultasch“) an Herzog Rudolf IV. von Österreich übergeben worden. Nach dessen Tod 1365 sicherten sich seine auf dem Retabel dargestellten Brüder Albrecht III. und Leopold III. die Herrschaft über Tirol. Das Retabel besteht aus einem Retabelschrein mit aufgesetztem mittigem Turm und zwei unterschiedlich großen Flügelpaaren. Im geschlossenen Zustand befinden sich auf der Flügelaußenseite die Malereien von Maria und Johannes einer Kreuzigungsszene, begleitet von den Stiftern und deren Schutzpatronen. Das Kruzifix war vermutlich plastisch gestaltet und vor dem Öffnen der Flügel zu entfernen (Abb. 1, 2). Es fehlt heute, ebenso wie die Skulpturen im Turmaufsatz und in der Mittelnische. Nach dem Öffnen der großen Flügel wird ein gemalter Marienzyklus auf Goldgrund sichtbar (Abb. 3), der sich über die Innenseiten der großen Flügel und die Außenseiten der kleinen Flügel erstreckt. In der heute leeren Mittelnische des Schreins stand wohl eine Marienfigur. Die Wimperge der großen Flügel zieren Heiligendarstellungen, im Wimperg des Turms ist eine Vera Icon dargestellt. Die Wimperge, die sich über den kleinen Flügeln befanden, sind verloren (Abb. 5). Die kleinen Flügel, die sogenannten Gefacheflügel, links und rechts der Mittelnische verschließen zwei Gefache zur Aufnahme von Reliquiaren (Abb. 4). Die in der unteren Zone des Schreins um 1828 montierten eisernen Gittertüren ersetzen verlorene Flügel zum Verschluss dieses Querfaches (Abb. 6).
1
Oberhammer, Vinzenz: Der Altar von Schloß Tirol, Innsbruck 1948, S. 21 f.
DA S R E TA B E L VO N S C H L O S S T I R O L
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1 — Retabel von Schloss Tirol, Flügelaußenseiten, Kreuzigungsgruppe mit Stifterfiguren und Schutzpatronen
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2 — Retabel von Schloss Tirol, Flügelaußenseiten, Kreuzigungsgruppe mit Stifterfiguren und Schutzpatronen, digitale Rekonstruktion mit Kreuz und Figur des Gekreuzigten
DA S R E TA B E L VO N S C H L O S S T I R O L
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3 — Retabel von Schloss Tirol, Flügelinnenseiten, Marienzyklus
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4 — Retabel von Schloss Tirol, geöffnete Gefacheflügel mit sichtbaren Reliquiengefachen
DA S R E TA B E L VO N S C H L O S S T I R O L
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5 — Retabel von Schloss Tirol, Rekonstruktionszeichnung mit Ergänzung der fehlenden Wimperge am Schrein, Oberhammer: Altar (wie Anm. 1)
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6 — Retabel von Schloss Tirol, virtuelle Rekonstruktion der verlorenen Wimperge, der Flügel des Querfachs und der grauen Figur der Muttergottes
DA S R E TA B E L VO N S C H L O S S T I R O L
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7 — Retabel von Schloss Tirol, Rückseite mit offenen Flügeln
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8 — Retabel von Schloss Tirol, rechte Seitenwand
9 — Retabel von Schloss Tirol, linke Seitenwand
Besonders bemerkenswert am Retabel von Schloss Tirol ist die Montage der Gefache flügel am Retabelschrein. Sind diese kleinen Flügel geschlossen, ist die Funktion des Reta bels als Reliquienbehältnis nicht zu erahnen, besonders wenn die verlorenen Flügel am unteren Querfach auch bemalt gewesen wären. Norbert Wolf schreibt dazu 2001: „Das Retabel mit der quergelagerten oberen Sequenz von Wimpergen und Fialen, mit dem hohen Mittelturm und mit seiner exquisiten Fassung muss wie ein durch Flügel verschließbares Großreliquiar, wie ein monumentalisiertes Werk der Schatzkunst gewirkt haben. Doch die Schließung der Innenflügel bewirkte die Metamorphose vom monumentalen Reliquiar zum Bildretabel.“ 2
Geschichte des Retabels Vinzenz Oberhammer identifizierte die Stifterfiguren als die habsburgischen Brüder, die Herzöge Albrecht III. und Leopold III. mit ihren Gemahlinnen. Rechts sind Albrecht und Elisabeth von Böhmen, links Leopold und Viridis Visconti aus Mailand dargestellt: „Die beiden Wappen oben erweisen sich sofort als der österreichische Bindenschild und der rote Tiroler Adler. Auf Grund dieser Wappen und der ganzen Art der Darstellung lassen sich auch die beiden Stifterpaare unschwer identifizieren. Unter dem Mantel des Heiligen auf dem rechten Flügel sind Herzog Albrecht III. von Österreich und seine erste Gemahlin Elisabeth dargestellt; diese trägt als Tochter Kaiser Karls IV. die Bügelkrone. Auf dem Flügel gegenüber entspricht diesen beiden Herzog Leopold III., der jüngere Bruder Albrechts III., und seine Frau Viridis, die Tochter des Bernabò Visconti von Mailand.“ 3 (Abb. 1, 40, 41). Albrecht und Leopold hatten nach dem Tod ihres älteren Bruders Rudolf IV. im Jahre 1365 das Land Tirol geerbt. In ihrer Regierungszeit entstand das Retabel von Schloss Tirol.4 Die im Rahmen der jetzigen kunsttechnischen Untersuchung rekonstruierten Verzierungen des Plattenrocks des Stifters am rechten Flügel unterstützen die Zuschreibung Oberhammers. Verziert ist der Plattenrock zwischen Kronreifen mit dem gotischen Großbuchstaben „A“, wohl für Albrecht 5 (Abb. 315–322).
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Wolf, Norbert: Das Retabel aus Schloß Tirol im Kontext von Kult und politischer Propaganda, in: Krohm, Hartmut / Krüger, Klaus / Weniger, Matthias (Hg.): Entstehung und Frühgeschichte des Flügelaltarschreins, Berlin 2001, S. 111–124. Oberhammer: Altar (wie Anm. 1), S. 21 f. Oberhammer: Altar (wie Anm. 1), S. 23: „… ein einziger Zeitpunkt, der sich einer noch genaueren Datierung und Deutung der Stiftung anbietet: die Zeit der Zusammenkunft und der gemeinsamen Huldigungsreise der Brüder durch Tirol zu Beginn des Jahres 1370.“ Vgl. dazu Kapitel: Rekonstruktion der Ornamente und Muster der Brokatgewänder und Plattenröcke, im vorliegenden Band S. 157.
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Das Retabel wurde für das Schloss Tirol gestiftet. Ob es für die untere oder die obere Kapelle der Schlosskapelle geschaffen wurde,6 ist strittig. Die Wände beider Altarräume wurden um 1335 bis 1345 mit Heiligenfiguren bemalt.7 Die untere Kapelle („capella publica“) 8 mit dem Patrozinium des hl. Pancratius war für Besucherinnen und Besucher zugänglich (Abb. 10), die Oberkapelle („capella privata“), der hl. Elisabeth geweiht, war der herzoglichen Familie vorbehalten (Abb. 11, 12). Ob das Retabel nur für die herzogliche Familie geschaffen wurde oder die Funktion hatte, die höchste Macht der neuen habsburgischen Herrscher in Tirol zu demonstrieren, ist nicht geklärt. Beim Vergleich der Breiten der noch erhaltenen steinernen Mensaplatten der oberen und der unteren Kapelle ist zu beobachten, dass die untere Mensaplatte die gleiche Breite wie der Retabelschrein (139 bis 140 cm) aufweist. Die Mensa der oberen Kapelle ist um ca. 9 bis 10 cm schmaler als der Retabelschrein (Abb. 13–15). In der unteren Kapelle ist die Triumphbogenwand mit Weinranken bemalt. Auch die Schreinwände des Retabels zeigen (in der zweiten Fassung) Weinranken (Abb. 16–18). Ein ähnliches Ornament wie an der Rückwand des gemalten Thrones (Marienkrönung) findet sich an der unteren Scheibe des Fensters des 13. Jahrhunderts der unteren Kapelle (Abb. 19, 20). Zuletzt sprechen auch die eingeritzten Graffitis auf der Rückwand dafür, dass das Retabel zugänglich und somit in der unteren Kapelle aufgestellt war. Die Schreinrückwand zeigt unten links und rechts ca. 10 cm breite und 55 cm hohe grundierte Flächen ohne Farbfassung (Abb. 7, 346). Dies ist ein Hinweis, dass der Retabelschrein erst nach der Befestigung am Altartisch gefasst wurde.9 Die Funktion aufgemalter roter Markierungen an den Schreinseitenwänden ist ungeklärt (Abb. 21–23). Über die frühe Geschichte des Retabels ist wenig bekannt.10 Nach der Teilung der habsburgischen Länder 1379 erhielt Leopold IV. das Land Tirol.11 Nach seinem Tod im Jahre 1386 übernahm sein Bruder Albrecht IV. die Regierung des Landes. 1420 verlegte Leopolds Sohn 6
Hörmann, Julia: Schloss Tirol. Mit einem Leitfaden zu den Portalen von Siegfried de Rachewiltz, Bozen 22004, S. 23. Die Kapellengeschosse sind nicht miteinander verbunden. Jede Kapelle hat eine Apsis und eine steinerne Mensa. Der Zugang zur oberen Kapelle war nur durch die oberen Räume des Schlosses möglich. Die untere Kapelle ist mit einer Vorhalle verbunden. 7 Hörmann: Schloss Tirol (wie Anm. 6), S. 57 ff. Wandmalereien der Arkaden der Apsis der Unterkapelle: hll. Magdalena, Paulus, Ambrosius, Gregorius, Augustinus, Hieronymus; nördl. Rundbogenfenster: Schutzmantelmadonna; Mittelfenster: Kreuzigungsgruppe und Auferstehung Christi; südl. Rundbogenfenster: Verkündigung; Triumphbogenwand: Kreuzigungsgruppe. Wandmalereien der Arkaden der Apsis der Oberkapelle: Links die Anbetung der Könige, anschließend die stehende Madonna, rechts vom Mittelfenster die Kreuzigung mit Maria und Johannes zwischen der hl. Catharina und einem hl. Bischof. Weiter folgen die hll. Elisabeth von Thüringen und Pankratius, Patron der Unterkapelle und an der Eingangswand der hl. Christophorus. 8 Hörmann: Schloss Tirol (wie Anm. 6), S. 51 ff. 9 Die hölzernen Rahmenleisten der Seitenwände neben diesen Aussparungen sind erneuert. 10 Ammann, Gert: Zur Geschichte der Provenienz des Altares von Schloss Tirol, in: Veröffentlichungen des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum 80, Innsbruck 2000, S. 57–66. Die Geschichte der Provenienz des Altares von Schloss Tirol nach Innsbruck ist u. a. auch von Egg, Erich: Gotik in Tirol. Die Flügelaltäre, Innsbruck 1985 erörtert worden. Vgl. Schlorhaufer, Bettina: Zur Geschichte eines Regionalmuseums der Donaumonarche im Vormärz. Der Verein des Tiroler Nationalmuseums Ferdinandeum 1823–1848, phil. Diss., Universität Innsbruck, Innsbruck 1988. 11 Teilungsvertrag von Neuburg an der Mürz.
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Friedrich IV. den Sitz des Landesfürstens von Schloss Tirol nach Innsbruck. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts soll das Schloss teils zerstört und absturzgefährdet gewesen sein.12 Im Jahre 1638 erfolgten durch den Innsbrucker Baumeister Elias Gumpp, im Auftrag von Erzherzogin Claudia Medici, der Tiroler Landesfürstin, Sicherungsmaßnahmen am Schlossbau. Ein Visitationsprotokoll von 1638 vermerkt eine enorme Zahl von im Schloss vorhandenen Reliquien.13 Für das 18. Jahrhundert sind keine Nachrichten überliefert. In den Akten des Ferdinan deums wird ein im Jahre 1804 erfolgter Besuch von Erzherzog Johann (1782–1859) auf Schloss Tirol erwähnt. In diesem Dokument wird ein Retabel genannt: „einen Feldaltar, welchen 2 Schuh hohe, wieder 2 Schuh hohe, und 6. einen Schuh hohe Gemählde wahrhaft köstlich machten: auf den 6. letzten von Pyramidenformen waren verschiedene Heilige; auf den 4. letzten aber der Erzengel Gabriel – die Jungfrau von Nazareth – die Geburt – und die H.3. Könige angebracht.“ 14 Auch wenn die Beschreibung nicht ganz passend erscheint (z. B. hatte das Retabel acht Wimperge und sechs Szenen des Marienlebens), könnte hier das Retabel von Schloss Tirol gemeint sein. Während der napoleonischen Zeit fiel Tirol im Jahr 1805 an Bayern.15 Das gesamte Inventar des Schlosses wurde von der Bayerischen Regierung verkauft, das Schloss Tirol geplündert und im Jahre 1807 öffentlich versteigert.16 Das Retabel erwarb der ehemalige Schlossverwalter Johann Georg von Goldrainer.17 Am Wimperg des Turms ist rückseitig „Goldrainer“ eingeritzt. Anlässlich einer Visitation im Jahre 1809 durch Freiherr Joseph von Hormayr („k. k. Hofcommissär Frh. v Hormayr“) aus Wien verschenkte Johann Georg von Goldrainer die Flügel
12
Andergassen, Leo: Schloss Tirol. Residenzburg der Tiroler Grafen, Bozen 2014, S. 12 ff.; Hörmann: Schloss Tirol (wie Anm. 6), S. 29 ff. 13 In einem Visitationsprotokoll vom 1638 werden die Reliquien im Schloss Tirol beschrieben: „Das Protokoll erwähnt vor allem ‚capita integra holoserico rubro inclusa de 11.000 virginibus‘, also vollständige Reliquienhäupter (eine Zahlenangabe fehlt), die in rote Seide eingehüllt waren. Es ist dabei nicht ganz klar, ob diese rote Seide als eine Art Burse, als eine Zierhülle für die Zurschaustellung (möglicherweise an Stelle der ursprünglichen kostbareren Fassung) oder mehr als Zweckhülle zum Schutz der Reliquien (und vielleicht deren Gehäuse) aufzufassen ist. In der Aufzeichnung folgen, wiederum ohne Zahlenangabe, ja sogar ohne Namensnennung der Heiligen, ‚instar pugni holoserico inclusae (!)‘, also offenbar Hand- und Arm- (wörtlich Faust-) Reliquiare, die ebenfalls mit Seidenhüllen versehen waren. Dann folgt eine Unzahl von (wohl kleineren) Reliquien, die „in scriniolo panneo florido“, also in einem Gehäuse (wörtlich einem Schreinchen) aus geblumtem, vielleicht gesticktem Tuch aufbewahrt waren. Als Behälter für die sehr zahlreichen weiteren Reliquien – ihre Aufzählung würde viel zu weit führen – sind ein ‚scriniolum‘ ohne weitere Kennzeichnung, dann ein ‚vasculum‘, schließlich aber sechs ‚vascula quadrata‘ genannt, diese also viereckige Gefäße, unter denen man sich nach dem Sprachgebrauch doch wohl metallene Kästchen vorzustellen haben wird. Gewiß muß vieles bei dieser flüchtigen Aufzählung ungeklärt bleiben. Auch ist nach dem Protokoll nicht gesichert, daß alles Genannte dem einen Altar zugehörte; denn das Reliquieninventar bildet einen gesonderten Abschnitt, der sich der Aufzählung sämtlicher Altäre anschließt.“ Oberhammer: Altar (wie Anm. 1), S. 16 f. 14 Tiroler Landesmuseum, Museumsakten 1826, Nr. 126, in: Schlorhaufer: Geschichte (wie Anm. 10), S. 4. 15 1805 musste Österreich Tirol und Vorarlberg an Bayern abtreten (Frieden zu Preßburg); 1813/1814: Wiedervereinigung ganz Tirols mit Österreich. 16 Ammann: Geschichte (wie Anm. 10), S. 58, Anm. 9, und Andergassen: Schloss Tirol (wie Anm. 12), S. 12. 17 Ammann: Geschichte (wie Anm. 10), S. 58 f.
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