Einbandabbildung: Detail: Giulio Romano und Werkstatt, Polyphem, 1526–1528, Fresko, Mantua, Palazzo Te, Sala di Psiche, Ostwand, © Comune di Mantova, Musei Civici Einbandgestaltung, Layout und Satz: hawemannundmosch, Berlin Druck und Bindung: Beltz Gra sche Betriebe GmbH, Bad Langensalza
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ISBN 978-3-422-80108-0
e-ISBN (PDF) 978-3-422-80109-7
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 317232170 – SFB 1285.
5 Vorwort 6 Einführung in die Welt der Bildparodie 9 Der wilde Satyr und der anständige ignudo 9 Problematiken des Forschungsfelds und eorie der Invektivität 11 Struktur der Arbeit, Fragestellungen und Methodologie 12 Parodie im Quattro- und Cinquecento 14 Imitatio als Kommunikationsform 17 Die Bildparodie in der nord- und mittelitalienischen Kunst des Cinquecento 27 A en statt Priester 27 Ein unpassendes, deformierendes Gegenbild 29 Variatio und dissimulatio als Modi der Bildparodie 31 Erscheinungsformen und Mechanismen 34 Funktionen, Akteure und Vorbilder 51 Eine Technik der Komisierung und der Herabsetzung 67 Gegen Michelangelo 75 »Ideal del perfetto«: Michelangelo Buonarroti und die Norm in der Kunst 75 Michelangelo vs. Ra ael: Die Eskalationsdynamiken einer erbitterten Rivalität 95 Der Halbgott der Malerei und seine lächerlichen Giganten 115 Der Mann in Lumpen, der Unterworfene und der Lastenträger 163 »Scherzi di donne ignude« 199 Schlussbetrachtung 241 Quellen- und Literaturverzeichnis 247 Ausstellungskataloge 247 Quellen/Sekundärliteratur vor 1900 247 Sekundärliteratur seit 1900 249 Vorträge 258 Bildnachweise 259
Inhalt
Quednau 1984; Gombrich 1985–1988, Bd. 1, S. 158–166; Pochat 1987; Irle 1996; Irle 1997; P sterer 2002, S. 272–280; Müller 2015, S. 128–155.
75 Vgl. Hansen 2013, S. 8 f.; zum Begri »Ein uss« und seiner problematischen Bedeutung sowie Anwendung in kunsthistorischer Hinsicht siehe auch Ruda 2004, S. 150.
76 Rohlmann 2011, S. 51. Vgl. Campbell 2011, S. 194.
77 Prochno 2006, S. 6 f.
78 Vgl. Müller 2015, S. 138 f. Siehe auch Müller 2009a; Müller 2011; Müller, Küster 2011; Müller 2013b; Müller 2017; Müller 2021a; Müller, Seiter 2021.
79 Campbell 2011, S. 197.
80 Vgl. Müller 2015, S. 138 f.
81 Vgl. ebd.
82 Vgl. Gombrich 1985–1988, Bd. 2, S. 28.
83 Vgl. Müller 2015, S. 138 f.; Tauber 2009, S. 58–62.
84 Vgl. Caporossi 2018, S. 30.
85 Vgl. ebd.; 1 Kor 15, 21 und 45; Röm 5,14.
86 Vgl. Caporossi 2018, S. 30.
87 Dass die am Anfang des Quattrocento in den bildenden Künsten im Gegensatz zur sklavischen Übernahme eines Vorbildsstehende variatio bereits die Basis der imitatio-Lehre bildete, wurde von Ulrich P sterer in seiner Studie zu Donatello dargelegt. Vgl. P sterer 2002, S. 272–280.
88 Vgl. Augustyn, Söding 2010, S. 7.
89 Vgl. ebd.
90 Lomazzo 1584, S. 286. Vgl. auch Irle 1996, S. 131; Übersetzung des Verfassers: »[manche Maler, die] eine Hand des Moses von Michelangelo stehlen oder ein Tuch aus einer Druckgra k, einen Fuß von Apoll, einen Kopf von Venus, Sachen, die unmöglich zusammenpassen können.«
91 Vgl. Augustyn, Söding 2010, S. 7.
92 Vgl. Müller 2015, S. 138 f.
93 Siehe dazu unter anderem die exemplarischen Beiträge von Jürgen Müller zu Dürers Antikenparodien: Müller 2009a; Müller 2011; Müller 2013b; Müller 2021a; Müller, Seiter 2021.
94 Vgl. Ovid 2010, X, 243–297, S. 596–601.
95 Zu Bronzinos Pygmalion und Galatea siehe Currie 2000, S. 237–253; Hendler 2013, S. 284–288; Eclercy 2016, S. 186.
96 Vasari 1966–1987, Bd. 5, S. 325 (Vita di Iacopo da Puntormo); Vasari 2004a, S. 49; Eclercy 2016, S. 186.
97 Vgl. Currie 2000, S. 244 .
98 Vgl. Currie 2000, S. 244 .; Macola 2012, S. 238 .; Eclercy 2016, S. 186.
99 Bastian Eclercy bezeichnet Bronzinos dissimulatio als ein »explizites Zitat« von Michelangelos berühmtem David, obwohl der Maler seine Nachah-
mung so gut verborgen hat, dass sie erst 2000 enthüllt wurde. Siehe Eclercy 2016, S. 186.
100 Vgl. Currie 2000, S. 245 f.; Macola 2012, S. 238.
101 Vgl. Currie 2000, S. 245. Ovid 2010, Buch X, 252, S. 598 f.; deutsche Übersetzung aus Eclercy 2016, S. 187. Zur dissimulatio in der Rhetorik siehe Népote-Desmarres, Tröger 1994. Zu dieser Nachahmungsform in den italienischen Kunsttraktaten des 16. Jahrhunderts siehe den Exkurs von Armeini über die Nachamungsfähigkeiten von Perin del Vaga: So imitiert der Schüler von Raffael, laut Armenini, Vorbilder aus anderen Kunstwerken, verändert sie, charakterisiert sie durch seine Manier, und dissimuliert sie, als ob er die nachgeahmten Modelle erfunden hätte. Dadurch macht er sie sich zu eigen. Siehe Armenini 1587, Buch 1, Kap. 8, S. 65. In Bezug auf dissimulatio in der frühneuzeitlichen Kunst und als künstlerische Praxis siehe auch Müller 2011, S. 389–414, vor allem S. 393; Müller, Küster 2011, S. 29–30; Müller 2015, S. 138–155; Müller 2021a, S. 18; Müller, Seiter 2021, S. 56 . und 68. Zum Topos ars est celare artem siehe Dolce 1557, S. 150; Lomazzo 1590, Kap. 37, S. 145 f.; Lomazzo 2013, Kap. 37, S. 158; Ripa 1603, S. 405; Castiglione 2000, Buch 1, Kap. 26 ., S. 59–65; Rosen 2003, S. 323–350; D’Angelo 2014.
102 Vgl. Currie 2000, S. 244 .; Macola 2012, S. 239 f.
103 Vgl. Macola 2012, S. 239 f.
104 Vgl. Macola 2012; Campbell 2011.
105 Vgl. Ebert-Schi erer 2012, S. 221; Stone 2012, S. 572 f.; Marini 2014, Kat. 90, S. 308 und 538 .; Schütze 2017, S. 265; Müller 2020b.
106 Zu dieser einzigartigen Signatur siehe vor allem den Artikel von David
M. Stone: Stone 2012. Vgl. auch Ebert-Schi erer 2012, S. 223; Marini 2014, Kat. 90, S. 308 und 540; Schütze 2017, S. 265; Müller 2020b, S. 2.
107 Vgl. Stone 2012, S. 582.
108 Vgl. Ebert-Schi erer 2012, S. 221; Stone 2012, S. 572 und 571; Marini 2014, Kat. 90, S. 308 und 540; Schütze 2017, S. 265; Müller 2020b, S. 2 f.
109 Vgl. Ebert-Schi erer 2012, S. 223.
110 Zu diesen beiden Skulpturen siehe Motzkin 1992 und Gaborit 2004.
111 Vgl. Gaborit 2004, S. 10 f.
112 Zur aemulatio siehe Bauer 1992; in Bezug auf die Bildkunst der Frühen Neuzeit siehe P sterer 2002, S. 272–280, insbesondere S. 278; Bleuler, Jonietz, Müller, P sterer 2011
113 Vgl. Go en 2005, S. 113. Zu der Grablegung Caravaggios und der Pietà Michelangelo siehe Preimesberger 2011.
114 Das enge Verhältnis Caravaggios mit der Kunst und der Figur seines gleichnamigen Vorläufers, Michelangelo, wurde bereits 1601 zum zentralen ema eines Lobgedichts von Marzio Milesi, einem Freund des lombardischen Malers. Siehe Papa 2010, S. 47.
Einführung in die Welt der Bildparodie
26
Die Bildparodie in der nord- und mittelitalienischen Kunst des Cinquecento
A en statt Priester
In einer voralpinen Landschaft sind drei aufgeregte A en zu sehen (Abb. 11). Der größte steht auf der vertikalen Bildachse, während zwei kleinere ihn ankieren und somit eine an der Bildmitte ausgerichtete pyramidale Komposition bilden. Um sie herum windet sich eine genauso endlos wie tödlich wirkende Schlange, die sie zu zermalmen droht. Verzweifelt aufschreiend, versuchen sich die Primaten mit aller Kraft und mit dramatischer Geste aus der Gewalt des Reptils zu befreien. Links im Hintergrund dehnt sich eine Hügellandschaft aus, in der drei Welpen einem ausgewachsenen Hund hinterherlaufen. Eine Kirche, einige Häuser und die Berge in der
Ferne verdecken die Horizontlinie, während Büsche und Bäume den rechten Bildrand charakterisieren. Dennoch kehrt der Blick immer wieder zu der geheimnisvollen zentralen Szene zurück, dem wahren Sujet der Darstellung, wobei ein Steinsockel die Bühne bildet, auf welcher der Kampf ausgetragen wird. Dieses szenische Element erinnert unmittelbar an eine Skulptur. Zusammen mit der manierierten Körperhaltung der A engruppe im Moment ihres Überlebenskampfes verrät dieses Detail dem scharfsinnigen Betrachter den Scherz, der sich hinter dieser eigentlich unsinnigen Szene verbirgt: Auf der vertikalen Bildachse gespiegelt, entspricht das kämpferische Trio und sein Gegner der im 16. Jahrhundert allberühmten vatikanischen Laokoon-Gruppe (Abb. 12).1
27 A en statt Priester
11 Niccolò Boldrini nach Tizian (?), Der A enlaokoon, 1540–1545, New York, Metropolitan Museum of Art
In dem soeben beschriebenen Holzschnitt von Niccolò Boldrini, der vermutlich nach einer verlorenen Zeichnung von Tizian gestochen wurde und der als A enlaokoon bekannt ist, sind der trojanische Priester und seine beiden Söhne in A en verwandelt.2 Diese lächerliche und unerwartete Darstellung, die dazu noch in eine voralpine Landschaft versetzt ist, steht in starkem Kontrast zu dem ernsten, tragischen Pathos der imitierten antiken Vorlage. Aufgrund der komischen Umdeutung hat die Forschung den Holzschnitt als eine Werkparodie der berühmten Gruppe identi ziert, die gegen toskanische und römische Antikennachahmer gerichtet ist.3 Parodien bereiten zunächst Vergnügen und befriedigen damit ein Grundbedürfnis des Menschen: das Lachen. Es gibt jedoch verschiedene Arten des Lachens, darunter auch das Auslachen, das gesellschaftliche Inklusions- und Exklusionsmechanismen impliziert. 4 Im 16. Jahrhundert sah die römische und orentinische Kunsttheorie in den Werken der Antike die edelsten Vorbilder, die es umfassend nachzuahmen gelte, um an Qualität und Schönheit in der Kunst zu gewinnen.5 Diejenigen, die diese Kunstau assung bedingungslos vertreten, werden in dieser Bildparodie verächtlich als scimmie (wörtlich A en, ge-
meint sind Nachä er) der Antike dargestellt, weil sie die antiken Meisterwerke ständig scimmiottano (nachä en).6 Ohne den Blick nach links oder rechts zu wenden, folgen sie nur einem Vorbild, genauso wie im Hintergrund des Holzschnitts die drei Welpen dem Hund nachfolgen.7 Der A enlaokoon kann also als eine invektive sowie spöttische venezianische Kritik an der römischen und orentinischen Kunst, Kunsttheorie und Nachahmungspraxis interpretiert werden.8
Dem Topos ut pictura poesis entsprechend und wie der Holzschnitt von Niccolò Boldrini nach Tizian zeigt, funktionieren frühneuzeitliche Bildparodien ähnlich wie intertextuelle Wortspiele:9 Sie imitieren ein Vorbild, kehren es um, überführen es in unpassende sowie abwertende Kontexte und geben somit die parodierte Vorlage selbst, ihre Urheber oder Dritte der Lächerlichkeit preis.10 Mittels der witzigen Diskrepanz zwischen der Bildparodie und dem imitierten Prätext entstehen Kontraste zwischen dem Ernsten und dem Absurden, dem Keuschen und dem Unkeuschen, der Antike und der Moderne.11 Tradierte und kanonisierte Werthierarchien werden infrage gestellt, das Hohe wird ins Niedrige umgewandelt.12 Der ursprüngliche Inhalt der Vorlage wird drastisch
28 Die
Bildparodie in der nord- und mittelitalienischen Kunst des Cinquecento
12 Athenedoros, Hagesandros, Polidoros, Laokoon-Gruppe, 40–20 v. Chr., Marmor, römische Kopie nach hellenistischem Vorbild, Vatikanstadt, Vatikanische Museen
verändert, doch die formale Struktur bleibt ähnlich und gilt infolgedessen als Träger und Vermittlungsinstanz der imitatio bzw. der parodistischen Bearbeitung.13
Es ist jedoch schwierig, die Bildparodie theoretisch von anderen künstlerischen Imitationsformen abzugrenzen, da es sich bei ihr gleichermaßen um eine Nachahmungsform handelt, sie mithin also Teil des gleichen Kommunikationssystems ist. Was die Bildparodie jedoch von anderen bildnerischen Imitationsformen unterscheidet, ist das Lächerliche, wie auch Scaliger in seiner De nition von parodia als Gegengesang feststellt: Sie sei »eine umgekehrte Rhapsodie, die durch eine veränderte Ausdrucksweise den Sinn ins Lächerliche zieht«.14 Die Rolle des Lachens und des Humors bei der Konzeption eines frühneuzeitlichen Kunstwerkes ist in der Tat nicht zu unterschätzen.15 Obszöne, blasphemische Witze, lächerliche Situationen, sexuell konnotierte Anspielungen sowie spottende und invektive Aussagen konnten mehr oder weniger heimlich thematisiert werden oder sogar das Hauptthema eines Bildes sein.16 Die verborgene Transgression oder die kritische Infragestellung der herrschenden gesellschaftlichen und/oder künstlerischen Normen in visueller Form kann daher zur Entstehung einer eigenen Bildpoetik beitragen, einer »Ästhetik des Spotts«.17 Obwohl das Lächerliche als Konzept immer subjektiv und kontextabhängig ist, hat Baldassarre Castiglione es als wesentlichen Bestandteil der höschen Kultur seiner Zeit betrachtet und theoretisiert. So widmete der Humanist und Botschafter der Mantuaner Familie Gonzaga in Il cortegiano das zweite Buch dem riso (Lachen). In dialogischer Form untersucht Castiglione dabei das Lächerliche, indem er dessen verschiedene Arten und Erscheinungsformen – vom bissigen Witz bis zum lustigen Schwank – vorstellt sowie die Gelegenheiten identi ziert, in denen gelacht werden konnte.18 Als wesentliche Quellen für seine eoretisierung des Lachens nutzte Castiglione zwei Werke, die die humanistische Kultur der Renaissance zutiefst prägten: Ciceros De oratore und Quintillians Institutio oratoria, in denen der Gegenstand des Lächerlichen gleichermaßen in den Blick genommen wird.19 Castigliones Ziel war die Scha ung eines Handbuchs zur Bildung des perfekten cortegiano (Hö ing), das die hö schen Manieren und die dafür notwendigen physischen und sozialen Fähigkeiten, die ein ideeller Hö ing beherrschen sollte, verzeichnet und normiert.20 Zu den grundlegenden Sozialkompetenzen eines Hö ings gehörte, dass er Humor hatte, dass er imstande war, andere zu unterhalten, und dass er ironisch sein konnte; und indem er über diese Kompetenzen verfügte, konnte ein Hö ing seine Würde, seine Gelehrsamkeit wie auch seine Macht unter Beweis stellen.21 Im zweiten Buch des Cortegiano formuliert Castiglione aber nicht nur Verhaltenshinweise und -muster, sondern er legt auch soziale Strategien dar und wartet mit witzigen Anekdoten auf. Dadurch zeichnet er ein detailliertes Bild der
damaligen hö schen Lachkultur, das Aufschluss gibt über das Verständnis, die Rolle und die mündlichen Erscheinungsformen des Humors, sowie über den Witz und das Lächerliche im Italien vom ersten Viertel des 16. Jahrhunderts.22
Ein unpassendes, deformierendes Gegenbild
Castigliones Cortegiano bildet daher einen wichtigen Ausgangs- und Anhaltspunkt, um das Phänomen der Bildparodie in den Kontext der Renaissancekultur einzuordnen und tiefgehend zu untersuchen.23 Im 45. Kapitel des zweiten Buches des Cortegiano werden der omo (Mensch) als animal risibile (zum Lachen fähiges Tier) und das Lachen als a noi proprio (das ihm [dem Menschen] Eigene) beschrieben. 24 Was das Lächerliche ist, d.h. wie es genau zu de nieren ist, woraus es hervorgeht, wie es angeregt wird, welche Funktion es erfüllt und welche Bedeutung es für den Hö ing hat, sind die Schlüsselfragen, von denen Castiglione in seiner eoretisierung dieses allein menschlichen Phänomens ausgeht. Wesentlich für die Erforschung der Bildparodie in der italienischen Kunst des Cinquecento ist es, ein genaues Verständnis vom damaligen Konzept des Lächerlichen zu gewinnen, da das Lächerliche Bestandteil des (bild-)parodistischen Verfahrens war.
Für Aristoteles ist das Lächerliche ein wesentliches Merkmal der Komödie. Es könne, schreibt er in seiner Poetik, beschrieben werden als
[…] eine bestimmte Art der Verfehlung und eine Abweichung vom Schönen, die keinen Schmerz verursacht und nicht zerstörerisch ist. So ist ja bereits die Komödienmaske irgendwie häßlich und verzerrt, aber ohne Ausdruck von Schmerz.25
An diese Stelle schließt Cicero in seinen Überlegungen unmittelbar an:
Beim Scherzen muss man also in erster Linie diese Mäßigung üben. Deshalb treibt man am leichtesten seinen Spott mit den Dingen, welche weder großen Hass noch besonders großes Mitleid verdienen. Deshalb ist der ganze Sto des Lächerlichen in den Fehlern enthalten, die es im Leben der Menschen gibt, soweit diese weder beliebt noch unglücklich sind noch wegen eines Verbrechens, wie es scheint, zur Hinrichtung geschleppt werden müssen. Man lacht, wenn solche Fehler in netter Weise gegeißelt werden. Auch Missgestalt und körperliche Gebrechen bieten genug netten Sto zum Scherzen; aber wir stellen dieselbe Frage, die man auch in anderen Bereichen am ehesten stellen muss: ›Wie weit darf man gehen?‹.26
29
Ein unpassendes, deformierendes Gegenbild
In dieser philosophischen und rhetorischen Tradition wurzeln die Ausführungen von Baldassarre Castiglione. In seinem Dialog wird dem Kardinal Bernardo Dovizi da Bibbiena die Ehre zuteil, zu erklären, woraus das Lächerliche hervorgeht: »Il loco adunque o quasi il fonte onde nascono i ridiculi consiste in una certa deformità; perché solamente si ride di quelle cose che hanno in sé discovenienza […].«27 Das Lächerliche entsteht also laut Castiglione aus dem unpassenden Umgestalten eines Gegenstands, das auch mittels einer deformierenden contra azione (Nachä ung bzw. Entstellung) oder imitazione (Nachahmung) erreicht werden kann.28 Die Imitation, die jemanden zum Lachen bringt, wird von Kardinal Bibbiena als ingegnosa (einfallsreich) gelobt.29 Dieser eoretisierung nach geht das Lächerliche aus der Ungestalt, der Deformation bzw. aus der unpassenden, deformierenden Imitation einer Person oder eines Stils hervor. Der Nachahmer, so der Kardinal, müsse mittels Gestik und Sprache ein Bild des Nachgeahmten beschwören und dadurch heimlich auf dessen Charakter anspielen. Dabei dürfe eine Ergänzung des Betrachters oder des Zuhörers bei der Interpretation des beschworenen Bildes also von zentraler Bedeutung sein.30 Eine wesentliche Rolle bei der Steigerung des Komischen, der Schärfe und der Schlagfertigkeit der Nachahmung komme der stravaganza (Extravaganz) und der bizzaria (Bizzarie) zu.31 Angesichts der Tatsache, dass die imitatio auch bei Castiglione als a rmative Nachahmung einer Vorlage de niert ist, stellt sich die Frage, was mit der unpassenden, deformierenden imitatio gemeint ist.32
Wenn man vor dem Hintergrund der im Cortegiano enthaltenen De nition des Lächerlichen als eine Unschicklichkeit, die durch die verzerrende Nachahmung eines Gegenstands beschworen werden kann, nun den A enlaokoon (Abb. 11) betrachtet, fällt sofort ins Auge, dass es sich bei der (Bild-)Parodie um eine deformierende, unpassende imitatio handelt, aus der das Komische hervorgehen kann: So wird im A enlaokoon die imitierte Vorlage (Abb. 12) nicht nur in formaler Ansicht unangemessen verzerrt, sondern auch auf inhaltlicher Ebene »deformiert«, wodurch sich ihr semantischer Gehalt in unpassender Weise verändert; allerdings passiert dies derart, dass das Ergebnis der imitatio oder die Bildparodieden Zusammenhang mit dem parodierten Vorbild nicht verliert.33 Infolgedessen wird die von Castiglione als mögliche Quelle der Lächerlichkeit identi zierte unpassende, deformierende imitatio in der vorliegenden Studie als Parodieprinzip interpretiert. Geht es mithin um eine Bildparodie, müssen die Ausführungen Castigliones, die sich auf die soziale bzw. theatralisch-performative Ebene beziehen, auf die bildnerische Ebene übertragen werden: Wie der Hö ing in seinen Konversationen seine Gäste durch das komische Nachä en eines Gegenstands erheiterte, konnte ein Künstler die Betrachter mittels der unpassenden, verzerrenden Nachahmung eines Vorbilds in sei-
nen Kunstwerken zum Lachen bringen. Damit erschuf er eine Bildparodie.
Diese zieht ihre Kraft aus der Abweichung vom parodierten Gegenstand. Nach Castiglione wird »d’alcune cose discrepanti« (»über Unzusammengehöriges«) und »delle comparazioni« (»über Vergleiche«) gelacht.34 Wenn die deformierende, lächerliche imitatio die Basis des parodistischen Verfahrens bildet, ist eine ausgeprägte Komparationsfähigkeit notwendig, um eine Bildparodie zu enthüllen und dann die von ihr erzeugten formalen und semantischen Unterschiede zu erfassen.35 Ohne Vorlage ist eine Parodie nicht denkbar.36
Ein zentraler Aspekt von Castigliones Überlegungen zur Quelle der Lächerlichkeit liegt in der sconvenienza (Unschicklichkeit) der Umgestaltung. Unpassend müsse die deformierende imitatio sein, denn nur so könne sie komisch oder lächerlich wirken. Bei einer Nachahmung entsteht die sconvenienza aus dem Kontrast zwischen dem Nachgeahmten und seiner Imitation. Im Cortegiano wird mehrmals betont, dass zum Beispiel gegensätzliche Wörter zum Lachen anregen können und deren Vergleich »spesso […] facetissimo« (häu g besonders witzig) sei.37 Dementsprechend entsteht auch bei einer Bildparodie aus der Gegenüberstellung des parodierten Gegenstands mit seiner Parodie ein lächerlicher Kontrast, der aber freilich erst sichtbar wird, nachdem die unpassende, deformierende imitatio erkannt wurde.38 Diese Aufdeckung kann einen überraschenden Kippe ekt auslösen. Durch die O enbarung des lächerlichen Kontrasts werden die Erwartungen des Rezipienten unterlaufen. Er blickt gleichsam mit neuen Augen auf das Bild, was ihn insofern zum Lachen bringen kann, als nun etwas anderes vor seinen Augen erscheint, als er bisher gesehen hatte: eine neue Deutungsebene.39 Castiglione beschreibt das komische Potenzial dieses Kippe ekts in zwei Kapiteln des Cortegiano. Demnach hänge seine Stärke mit dem unvermuteten Verhältnis zwischen einem Spruch und einem sich darauf formal oder semantisch beziehenden (parodistischen) Gegenspruch zusammen:
Di questa sorte di motti adunque assai si ride, perché portan seco risposte contrarie a quello che l’omo si aspetta di udire, e naturalmente dilettaci in tai cose il nostro errore medesimo; dal quale ci trovamo ingannati di quello che aspettiamo, ridemo. 40
Wenn dann diese »risposte contrarie« auch ambigue sind, fällt die Lächerlichkeit des Ausspruchs noch mehr auf:
Quella sorte adunque di motti che più s’usa per far ridere è quando noi aspettiamo d’udir una cosa, e colui che risponde ne dice un’altra e chiamasi ›fuor d’opinione‹. E se a questo è congiunto l’ambiguo, il motto diventa, salsissimo. 41
30 Die
Bildparodie in der nord- und mittelitalienischen Kunst des Cinquecento
Gegensätzliche Sprüche können daher aufgrund ihrer Ambiguität noch witziger wirken. Bei einer imitatio lässt sich ein solcher Kontrast mittels eines decorum-Verstoßes erzeugen, und zwar durch eine absichtlich unangemessene Nachahmung, bei der die Würde und der Rang des Nachgeahmten nicht adäquat geachtet, sondern verletzt wird. 42 Mit decorum (Angemessenheit) ist in der Rhetorik ein »Akt der Vermittlung zwischen der dem Inhalt zukommenden Würde und der passenden Form« gemeint. 43 Das decorum der imitatio war eine Norm, laut der jede Nachahmung »der Gattung des Gemäldes und einzelnen Darstellungsgegenständen angemessen« sein müsse. 44 Bedeutsame Inhalte verlangten mithin nach einer hohen Form. Eine Imitation war demzufolge angemessen, wenn sie trotz Gattungs- und Sujetveränderung das würdige Gleichgewicht von Form und Inhalt des Vorbilds und dessen Rang respektvoll berücksichtigt und gewahrt wurde, wie auch Albrecht Dürer in seinem Lehrbuch der Malerei feststellte. 45 Laut Dürer solle zum Beispiel die schöne Gestalt Apollos als Vorbild für die Darstellung Christi genommen werden, weil der Herr »der schönste aller welt« sei. 46 Diese künstlerische Norm, die für die a rmative imitatio charakteristisch war, wird in der Bildparodie verletzt. Da sie gegen die Angemessenheit der Imitation verstößt, könnte die Bildparodie möglicherweise als »negative« imitatio bezeichnet werden. 47 Ist bei einer imitatio das decorum verletzt, wird mit ihr wahrscheinlich eine parodistische Absicht verfolgt. Der decorumVerstoß kennzeichnet also die Bildparodie und macht sie zur einzigen, permanent die Norm brechenden Nachahmungsform. Und ebendieses Charakteristikum, zusammen mit der daraus entstehenden Lächerlichkeit, ist es, das es erlaubt, eine imitatio als Bildparodie zu identi zieren. In Anlehnung an Scaligers De nition der Parodie als Gegengesang lässt sich die Bildparodie daher als ein unpassendes, normbrechendes Gegenbild des nachgeahmten Vorbilds fassen, das im lächerlichen Kontrast zur parodierten Vorlage steht und seine sconvenienza (Unangemessenheit) dem decorum-Verstoß verdankt. 48
Variatio und dissimulatio als Modi der Bildparodie
Nachahmungen sind an sich kein Sujet. Sie erö nen aber innerhalb von tradierten Darstellungstypen oder ikonograschen Experimenten eine mögliche weitere Deutungsebene. Bildparodien wie der A enlaokoon oder René Boyvins Ops (Abb. 11 und 13) stellen auf den ersten Blick kuriose invenzioni (Er ndungen) dar. Ihre Ikonogra en erscheinen komisch und rätselhaft zugleich. Betrachtet man sie ober ächlich, handelt es sich um drei A en auf einem Sockel in einer Landschaft bzw. um eine in einer Nische stehende abgezehrte Greisin
mit einigen Tieren. In beiden Fällen haben sich die Autoren einer variatio (Variation) bedient und die parodierten Vorbilder in gewissem Maße verändert, damit die Ergebnisse der unpassenden, deformierenden imitatio anders aussehen, doch zugleich auch schnell auf die Vorbilder zurückgeführt werden können. Einem der berühmtesten imitatio-Topoi folgend, könnte man behaupten, diese variationes sind ihren Vorbildern so ähnlich wie ein Sohn seinem Vater: Sie müssen Ähnlichkeit aufweisen, gleichzeitig aber auch von der imitierten Vorlage abweichen. 49 Als unpassende und deformierende Nachahmungen verbergen der A enlaokoon (Abb. 11) und
31
Variatio und dissimulatio als Modi der Bildparodie
13 René Boyvin, Ops, um 1550, Kupferstich, Düsseldorf, Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf [1/4, s/w]
Boyvins Ops (Abb. 13) ihre ursprüngliche Verwandtschaft mit und ihre enge Abhängigkeit von dem parodierten Gegenstand nicht, sondern machen daraus das semantische Hauptthema der Darstellung (Abb. 12 und 14).50 Erst nachdem der Betrachter das parodierte Vorbild enthüllt hat, wird der polyseme Charakter sichtbar und gewinnt mithin deutlich an Bedeutung.51
Im Cortegiano betont Castiglione die polyseme Struktur der Sprache, indem er konstatiert, das Lächerliche resultiere aus einer alternativen Deutung des Gesagten, die von dessen
ursprünglich gemeinter Bedeutung abweicht.52 In diesem Zusammenhang kommt auch die Ambiguität ins Spiel, die, wie bereits ausgeführt, noch an komischem Potenzial gewinnt, wenn es sich um gegensätzliche Antworten handelt. Castiglione beschreibt die Ambiguität als die scharfsinnige Fähigkeit von »[…] pigliar […] le parole in signi cato diverso da quello che le pigliano tutti gli altri […]«.53 Bildparodien im Cinquecento waren von wiedererkennbaren Formen, zum Beispiel den »laokoonischen« A en, de niert, die gleichwohl ambigue sind.54 Ihre Wiedererkennbarkeit in anderen semantischen Kontexten, in denen sie einen neuen Inhalt gewinnen, generiert Ambiguität und Polysemie, wodurch die Künstler anders kommunizierten.55 Ambigue Formen sind Träger der Parodie, erzeugen Mehrdeutigkeit und ermöglichen es dem aufmerksamen Betrachter, die bildparodistische Deutungsebene zu enthüllen und somit die jeweiligen Bilder anders zu interpretieren (»interpretare altramente«).56
Während im Fall von Bildparodien, die auf einer deformierenden variatio eines Gegenstands basieren, das parodierte Vorbild sofort ins Auge fällt, ist es in anderen Fällen gezielt dissimuliert. Da jede variatio einen bestimmten Grad von dissimulatio aufweist, sind diese Nachahmungsformen gleichwohl eng verbunden. Nicht zufällig bringt Francesco Petrarca in seinen Überlegungen über die imitatio die Variation einer Vorlage in einen Zusammenhang mit ihrer Verbergung, wobei der Dichter die Prinzipien dieser Kunst anhand des vorher erwähnten Vater-Sohn-Topos erklärt.57 Die Di erenz zwischen dissimulatio und variatio und dementsprechend das, was die dissimulierte Bildparodie kennzeichnet, besteht folglich darin, dass der Künstler den parodierten Gegenstand so behutsam verbirgt, dass er vom Betrachter nicht zu schnell erkennbar ist.58 Dissimulierte Bildparodien können sich beispielsweise unter der Ober äche eines Historien- oder eines Genrebildes, aber auch in mythologischen Darstellungen verstecken. Wie die auf den Modus der variatio sich stützenden Bildparodien, bilden die dissimulierten eine der möglichen Deutungsebenen des abgebildeten Sujets, die die anderen nicht ausschließt, sondern vielmehr ergänzt.59 Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass auch Castiglione die dissimulatio als Modus der facezie (Scherze) und der Ironie hochschätzte und sie entsprechend als Teil der sozialen und kommunikativen Fähigkeiten des perfekten Hö ings erachtete, auch weil mehrere große Persönlichkeiten sie meisterten:
Assai gentil modo di facezie è ancor quello che consiste in una certa dissimulazione, quando si dice una cosa e tacitamente se ne intende un’altra. […] E questa sorte di facezie che all’ironico pare molto conveniente ad omini grandi, perché è grave e salsa e possi usare nelle cose giocose ed ancor nelle severe. Però molti antichi e più estimati l’hanno usata, come Catone, Scipione A ricano minore; ma
32 Die
Bildparodie in der nord- und mittelitalienischen Kunst des Cinquecento
14 Gian Jacopo Caraglio nach Rosso Fiorentino, Ops, um 1526, Kupferstich, New York, Metropolitan Museum of Art
sopra tutti in questa dicesi esserer stato eccellente Socrate losofo, ed a’ nostri tempi il re Alfonso Primo d’Aragona […].60
In der Rhetorik versteht man unter Ironie »eine Form des Sprachgebrauchs, bei der das Gemeinte durch sein Gegenteil ausgedrückt wird«.61 Eine erste Darlegung dieses Terminus ist in der Institutio Oratoria von Quintillian zu nden, laut der der Ironiker das Gegenteil des Gesagten meint.62 Im rhetorischen Kontext und auch im Fall der nord- und mittelitalienischen Bildparodie des Cinquecento versteht man daher unter der dissimulatio eine Form der Verstellung, die das Wahre verbirgt und somit als ironische Strategie verwendet werden kann.63
Eine solche ironische Vorgehensweise, die auf Ambiguität und dissimulatio basiert, nutzte vier Jahre nach dem Erscheinen des Cortegiano auch François Rabelais in seinem grotesken Meisterwerk Gargantua et Pantagruel 64 So richtet er sich in der Einleitung an den Leser und verlautbart, dass sich hinter den im Buch verstreuten lustigen, nichtigen und silenischen Bildern trotz ihrer anscheinend wertlosen Hässlichkeit und Verdrehtheit »wertvolle Schätze« bzw. Wahrheiten für denjenigen Rezipienten verbergen, der zu ihrer Enthüllung fähig ist.65 Durch die Entschlüsselung dieser versteckten Botschaften bzw. Assoziationen entsteht eine Diskrepanz zwischen der niedrigen Form und dem in ihr versteckten hohen Konzept, die den Leser zum Lachen bringen kann.66
Ausgehend von der Verwendung der Ironie und vor allem der dissimulatio als Strategien der Kritik und der Subversion, basierend auf der Lehre Sokrates’, der Redewendung Silene des Alkibiades in Erasmus’ Adagia und auf Rabelais’Roman Gargantua et Pantagruel, hat Müller eine eorie des subversiven silenischen Bildes entwickelt. Laut Müller gri en nordalpine Künstler auf die dissimulatio als Modus der Bildparodie zurück, um ihre kritischen Einwände und subversiven Angri e hinsichtlich des sozialen, des religiösen wie auch des künstlerischen Felds in einer verborgenen Art und Weise auszudrücken.67 Gleichwohl war diese parodistische Strategie auch ihren italienischen Kollegen nicht unbekannt.68 In Bezug darauf hat auch Christine Tauber die ursprüngliche Verwendung der dissimulatio als ironisches Subversions- und Kritikmittel in der Rhetorik – etwa bei Cicero und Quintilian –betont. Ausgehend davon hat sie den Akzent auf Castigliones Erwähnung dieses Kritikmodus gelegt und dessen wichtige Beobachtungen dazu mit der Kunst des italienischen Manierismus in Verbindung gebracht.69
Zusammenfassend entsprachen die variatio und die dissimulatio den beiden modi operandi der Bildparodie, die den Künstlern zur Verfügung standen (Abb. 15). Ihre praktische Anwendung fand mittels der deformierenden Mechanismen der Bildparodie statt. Durch die strukturellen Änderungen, die Inversion, die Kontextverschiebung, die Animalisierung, das falsche Pathos, die Übertreibung und die groteske Akzentuierung der dargestellten Elemente wurden die parodierten
33 Variatio und dissimulatio als Modi der Bildparodie
aemulatio variatio dissimulatio imitatio artis Funktionen Erscheinungsformen Mechanismen Graduationen Bildparodie Zitat Kopie Akteurskonstellation Wirkung Ziel Normen und auctoritas
15 Imitatio artis als Kommunikationssystem
Erscheinungsformen:
Gattungsparodie
Werkparodie
Stilparodie
Motivparodie
Kryptoporträt
Funktionen:
aemulatio
Vergnügen
Selbstrepräsentation
Eigenwerbung
Anerkennung
Distinktion
Mechanismen:
Strukturelle Änderung
Kontextverschiebung
Umkehrung
Animalisierung
Falsches Pathos
Übertreibung
Positionierung
Distanzierung
Kritik
Tadel
Provokation
Devaluation
Vorbilder in verschiedenen Graden so gezeigt oder verborgen, dass dadurch formale sowie semantische Ambiguität und Polysemie erzeugt wurden.
Erscheinungsformen und Mechanismen
Was kann im künstlerischen Feld parodiert werden? Welche Mechanismen liegen den frühneuzeitlichen bildparodistischen Verfahren zugrunde?
Bereits in Barolskys Studie In nite Jest werden unterschiedliche Mechanismen und einige Erscheinungsformen der Bildparodie erwähnt: so die Parodie auf ein ganzes Kunstwerk, wie etwa im A enlaokoon (Abb. 11), die Parodie auf eine Ikonogra e, wie zum Beispiel in Lippis Verkündigung (Abb. 4), die Parodie auf einen künstlerischen Stil bzw. eine Manier und abschließend die Parodie auf eine bestimmte Figur bzw. ein Motiv in einer Darstellung.70 In der vorliegenden Studie werden diese bildparodistischen Erscheinungsformen entsprechend dem betro enen Vorbild als Werk-, Gattungs-, Stilund Motivparodien bezeichnet (Abb. 16).71 Hinzu kommt außerdem das Kryptoporträt, das, wie gezeigt werden wird, ebenfalls einen bildparodischen Charakter aufweisen kann. Diese bildparodistischen Erscheinungsformen mussten nicht unbedingt exklusiv in einem Kunstwerk vorkommen, viel-
Machtdemonstration
Deligitimierung
Di amierung
Herabsetzung
Schmähung
Vernichtung
mehr konnten mehrere Formen in ein und demselben Bild koexistieren oder sogar auch bei einer einzelnen Figur kombiniert werden. Um diese Erscheinungsformen zu prägen, kamen ferner verschiedene bildparodistische Techniken zum Einsatz. Was also zuerst präzisiert werden muss, sind die Mechanismen der Gestaltung und die semantischen Mechanismen, die der Bildparodie als unpassender, deformierender Imitation in der italienischen Kunst zugrunde liegen.72
Strukturelle Änderungen, Kontextverschiebung und Umkehrung
Im zweiten Buch des Cortegiano stößt der aufmerksame gebildete Leser überraschenderweise auf eine rein literarische Parodie. So ist im 61. Kapitel von bischizzi (Wortspiele) und anderen facezie die Rede, deren lächerliche Wirkung auf dem Hinzufügen, dem Weglassen oder dem Verändern von Buchstaben, Silben oder Wörtern basiert:
Un’altra sorte è ancor, che chiamiamo ›bischizzi‹; e questa consiste nel mutare o vero accrescere o minuire una lettera o sillaba, come colui che disse: ›Tu dèi esser piú dotto nella lingua »latrina«, che nella greca‹. Ed a voi, Signora, fu scritto nel titulo d’una lettera: ›Alla signora Emilia impia‹. È ancora faceta cosa interporre un verso o piú, pigliandolo in altro proposito che quello che lo piglia l’autore, o qual-
Bildparodie in der nord- und mittelitalienischen Kunst des Cinquecento
34 Die
16 Erscheinungsformen und Funktionen der Bildparodie
che altro detto vulgato; talor al medesimo proposito, ma mutando qualche parola; come disse un gentiluomo che avea una brutta e dispiacevole moglie, essendogli domandato come stava, rispose: ›Pensalo tu, ché Furiarum maxima iuxta me cubat [la più grande delle Furie dorme vicino a me – G. P.]‹.73
Im letzten Witz der zitierten Passage wird nichts weniger als der Vers »Furiarum maxima iuxta accubat« (doch die größte der Furien legt sich neben sie [das goldene Gestell und das Mahl] hin) aus der Aeneis von Vergil parodiert.74 Die Parodie entsteht einerseits aus der Veränderung der semantischen Struktur bzw. der Substitution des konjugierten Verbs accubat durch me cubat, die zudem eine gelungene Assonanz erzeugt; und andererseits ist es die unerwartete, verfremdende Kontextverschiebung von der vergilianischen Hölle in das Schlafzimmer eines Ehepaars, die die Komik der Darstellung steigert. Abschließend gipfelt diese deformierende, lächerlich machende imitatio in der Herabsetzung der betro enen Protagonistin, der Ehefrau, die in der Parodie aufgrund ihrer Hässlichkeit und Unerträglichkeit zu einer infernalischen Furie wird. Infolge dieser Herabsetzung und der neuen unerwarteten Kontextualisierung ndet eine bildparodistische Umkehrung statt: Das Schlafzimmer des Ehepaars wird zur Hölle.
Wie die im Cortegiano versteckte Vergilparodie zeigt, sind die formale Änderung der Struktur des Prätexts, seine neue –herabsetzende – Kontextualisierung und seine inhaltliche Umkehrung parodistische Mechanismen, durch die der Gegenstand der Parodie ins Lächerliche gezogen wird und eine neue »überraschend abweichende Bedeutung gewinnt«.75 Diese Mechanismen gelten nicht nur im literarischen, sondern auch im bildnerischen Feld.76 Mit drei von Guy Tal miteinander verknüpften Motivparodien aus der Hand von Giulio Romano, die sich jeweils auf dasselbe Vorbild beziehen, lässt sich diese Feststellung am besten belegen.77 Das betre ende Motiv aus Michelangelos Kunst wird vom Schüler Ra aels zu Beginn der 1520er Jahre sowohl in einem Fresko als auch in zwei druckgra schen Werken parodiert. Dabei wird es in drei unterschiedliche Kontexte übertragen, die Michelangelos Vorlage fremd sind, womit es formell verändert, lächerlich imitiert, inhaltlich umgekehrt und neu interpretiert wird.
Im Deckenfresko der Sala del Sole e della Luna im Palazzo Te (Abb. 17) hat Giulio Romano einen blauen Himmel gemalt und dadurch ein ra niertes illusionistisches Spiel mit der Betrachterwahrnehmung inszeniert.78 Dem Rezipienten wird der Eindruck vermittelt, er würde durch ein großes Dachfenster direkt in den Himmel blicken. Über seinem Kopf erblickt er den fahrenden Sonnen- und den Mondwagen, die metaphorisch das Vergehen der Zeit darstellen. Beide Wagen sind in einem starken sotto in su (von unten gesehen bzw. in perspektivisch verkürzender Untersicht) freskiert. Während der
Mondwagen im Begri ist, in die dargestellte Szene hineinzufahren, und die Nacht anbricht, fährt der Sonnenwagen zusammen mit dem Tageslicht aus dem Bild. Dabei treten die Pferde auf eine Wolke, sodass der Wagen ins Holpern kommt
35 Erscheinungsformen und Mechanismen
17 Giulio Romano und Werkstatt, Der Sonnen- und der Mondwagen, 1526–1527, Fresko, Mantua, Palazzo Te, Sala del Sole e della Luna
und Apoll das Gleichgewicht verliert. Der Umhang und das Obergewand des Sonnengotts werden dabei hochgeweht und geben freie Sicht auf den göttlichen Intimbereich, der sich nunvor aller Augen be ndet. Diese spaßhafte, laszive Szene gewinnt noch an Lächerlichkeit, wenn der Rezipient bemerkt, dass Giulio Romano sich eines berühmten Vorbilds bedient, um seinen zügellosen Sonnengott zu gestalten: die Gott darstellende Rücken gur aus der Episode DieErscha ung der Sonne, des Mondes und der P anzen aus Michelangelos Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle (Abb. 18).79 In dieser Episode aus dem Genesis-Zyklus stellt Michelangelo den Gottvater zweimal dar. Von rechts betritt der von Engelsputten geleitete Schöpfer die Szene und weist mit entschlossenen Armgesten den Himmelskörpern ihren Platz zu, während links der unmittelbar folgende Schöpfungsakt sichtbar wird: die Erscha ung der P anzen.80 Michelangelo bildet daher den Gott, der uns seinen Rücken zeigt, aus zwei Gründen ab: einerseits, um dem Betrachter die Kontinuität zwischen den zwei dargestellten Aktionen Gottes zu vermitteln, und andererseits, um zu veranschaulichen, dass »nicht das göttliche Wort, sondern göttliche Energie die Schöpfung bewirkt hat«.81 Doch verletzt der Florentiner dadurch das decorum der heiligen Darstellung, da er höchstwahrscheinlich zum ersten Mal in der christlichen Kunst das Gesäß des Gottvaters in einer derart deutlichen und sogar prominenten Art und Weise in Szene setzt.82 Darüber hinaus betont er die Anatomie des »göttlichen« Hinterns durch das sich an diesen Körperteil anschmiegende Gewand und die Lichtregie des Freskos.83 Damit tritt das Gesäß au ällig in Erscheinung und wirkt aufgrund seiner
prallen und runden Form sogar erotisch.84 Giulio Romano hat diesen gewagten und bewussten decorum-Verstoß o ensichtlich bemerkt, da diesen zum Ziel seiner kritischen und verspottenden Bildparodien auswählte.
Der Mantuaner Ho ünstler hat im Deckenfresko der Sala del Sole e della Luna im Palazzo Te das nachgeahmte Motiv auf der vertikalen Achse horizontal gespiegelt und es auf einen Wagen versetzt, der außer Kontrolle zu geraten scheint (Abb. 17 und 18). Giulio hat den alten christlichen in einen jüngeren mythologischen Gott verwandelt, das Gesicht von Apoll im Vergleich zu dem Gottes sichtbar gemacht und ihn zudem mit einer Peitsche versehen. Der Künstler imitiert und variiert das Vorbild aufmerksam. Das linke Bein bei Michelangelo stimmt mit dem rechten bei Giulio Romano überein. Beide Figuren weisen eine ähnliche Verkürzung von unten auf und bewegen sich vorwärts, wie ihre Gewänder deutlich machen. Genau von dieser Bewegung geht Giulio aus, um seine Motivparodie zu entwickeln. Der sixtinische Gott wird entkleidet: Der hochrangige Besucher des Mantuaner Palastes bekommt nun die Geschlechtsteile und den Hintern Apolls zu Gesicht! Dadurch parodiert der Schüler Ra aels die ernsthafte und heilige Figur Michelangelos und gibt sie mittels dieser strukturellen Änderung bzw. mittels des spöttischen Bloßstellens der Lächerlichkeit preis; eine Lächerlichkeit, die darüber hinaus durch die witzige Parallele des zarten Hinterns von Apoll und der gewaltigen Hinterteile der Pferde gesteigert wird.85 Die erwähnten strukturellen und formalen Änderungen sind Teil der Resemantisierung des parodierten Vorbilds. Beide Deckenfresken weisen ein viereckiges Format
36 Die Bildparodie in der nord-
und mittelitalienischen Kunst des Cinquecento
18 Michelangelo, Die Erscha ung der Sonne, des Mondes und der P anzen, 1508–1512, Fresko, Vatikanstadt, Sixtinische Kapelle
auf, haben Gestirne zum ema und sind somit ikonogra sch verbunden. Giulio Romano erscha t einen neuen Kontext für das imitierte Motiv und profaniert es: Der christliche Gott, der die Sonne erscha en hat, wird in den heidnischen Sonnengott verwandelt. Es ndet daher eine ikonogra sche und inhaltliche Umkehrung von ernsten und heiligen christlichen Werten in witzige und laszive mythologische statt.86 Damit könnte Giulio Romano Kritik an Michelangelos plakativer Darstellung vom Gesäß Gottes üben: Der Schüler Ra aels scheint im Palazzo Te zeigen zu wollen, wie sich bestimmte gewagte Darstellungsweisen eher für mythologische Gegenstände als für religiöse eignen, vor allem wenn es sich um die Darstellung Gottes handelt. Allerdings muss präzisiert werden, dass Giulio Romano schon vor seiner Berufung nach Mantua andere Motivparodien von dem analysierten Vorbild schuf, die im Vergleich zu der spöttischen und lasziven Profanierung der Sala del Sole e della Luna schmähend und provozierend ausfallen.
In den Stellungen III und IX aus dem Toscanini-Band (Abb. 19), dem einzigen überlieferten Exemplar der Sonetti lussuriosi von Pietro Aretino, parodiert Giulio Romano nochmals die Rücken gur aus der Sixtinischen Kapelle und ihr prominentes Hinterteil (Abb. 18).87 Diese beiden Darstellungen zeigen zwei auf einem Bett kopulierende Paare. Giulio Romano versetzt die von ihm imitierte Form mithin von einem christlichen in einen pornogra schen Kontext. Die hünenhaften Männer sind nichts Anderes als lächerliche Bearbeitungen der sixtinischen Figur Gottes. Wie ihr Vorbild, wenden sie dem Rezipienten den Rücken zu und sind so nach vorn
gebeugt, dass sie ihm ihren Hintern präsentieren. Anders als der violett gewandete Gott Michelangelos sind Giulio Romanos unerwartete Imitationen komplett nackt dargestellt. Ihre plumpen, titanenhaften Formen erinnern an eine aufgebauschte Version des ursprünglichen Motivs. Darüber hinaus rückt Giulio Romano die Geschlechtsteile der Beteiligten ins Zentrum seiner lasziven Darstellungen und verleiht diesen somit die prominenteste Stellung innerhalb der Kompositionen. Damit möchte er womöglich den inhaltlichen Schwerpunkt seiner entheiligenden und spöttischen Bildparodien betonen, der nicht nur in der herabsetzenden Umkehrung der göttlichen creazione (Erscha ung) in die menschliche procreazione (Zeugung) liegt, sondern auch in der freizügigen Au assung und Ausübung letzterer gipfelt, in der Welt des eischlichen Genusses und der Pornogra e.
Neben der parodistischen Sexualisierung des Vorbilds ndet sich im sogenannten Lo stregozzo (Abb. 20) zudem ein Beispiel für eine Dämonisierung des Imitierten.88 Tal hat in einem Aufsatz zu diesem sehr gelobten Kupferstich überzeugend herausgearbeitet, dass die Er ndung dieser gleichermaßen meisterhaften wie merkwürdigen Druckgra k Giulio Romano zuzuschreiben ist.89 In der rechten Hälfte der Darstellung, auf einer vertikalen Achse zwischen der grausamen alten Hexe und der bizarren Chimäre, zeigt ein auf einem der Ungeheuer kniender nackter Mann dem Rezipienten seinen Hintern und wendet seinen Blick nach oben zu den von der Hexe gefangenen Kindern. In seiner linken Hand hält er eine Gabel, auf der schlangenförmige Objekte hängen, die sich nicht genau identi zieren lassen. Die Rolle des Mannes in der
37 Erscheinungsformen und Mechanismen
19 Unbekannter Künstler, Stellungen III und IX, um 1555 (?), Holzschnitt nach Marcantonio Raimondis und Giulio Romanos I Modi aus: Pietro Aretino: I sonettilussuriosi (sog. Toscanini-Band), Genf, Privatsammlung
inszenierten Handlung ist schwer zu greifen. Augenscheinlich ist allerdings, dass er durch sein ausgestelltes Hinterteil die harmonische Fortsetzung des höllischen Zuges in Richtung der linken Bildhälfte unterbricht. Darüber hinaus kontrastiert diese unangemessene Figur unmittelbar mit den statuenhaften anderen männlichen Akten und erscheint im Vergleich mit ihnen zu klein und somit »unclassical«.90 Die ganze Komposition wurde aus imitationes und variationes unterschiedlicher Vorbilder – von der Antike bis Albrecht Dürer, von Mantegna bis Hans Baldung Grien – konzipiert.91 Als Erste hat Emison die Nachahmungen aus Michelangelos Werk identi ziert und gedeutet. Der rechts direkt neben dem Bock positionierte laufende Akt in der linken Bildhälfte ist ein getreues Zitat eines Soldaten am rechten Bildrand der CascinaSchlacht, zu dem Giulio Romano ein geraubtes Kind hinzugefügt hat (Abb. 20 und 52).92 Die Enthüllung dieses Zitats führte Emison dazu, die Frage nach der »Herkunft« des grotesken nackten Mannes auf der anderen Seite der Darstellung zu stellen: Bei dieser Figur handelt es sich in der Tat erneut um eine Motivparodie der Rücken gur Gottes aus dem sixtinischen Deckenfresko (Abb. 18), doch diese Parodie ist, wie ein Vergleich der Darstellungen zeigt, sogar noch herabsetzender, entweihender und lächerlicher als die bis dato in den Blick genommenen Parodien der Gestalt Michelangelos.93 Die provozierende und plumpe Deformation der göttlichen Figur hat Emison als eine ironische, quasi blasphemische Verwandlung der ursprünglich michelangelesken hohen Form verstanden, weshalb der nackte Mann im Kupferstich wohl den Teu-
fel selbst darstellen könnte.94 Ausgehend davon und angesichts der semantischen Herabwürdigung des Vorbilds ist Tal der Meinung, dass es sich bei Giulios Romanos Nachahmung wahrscheinlich nicht um eine Hommage an Michelangelo handelt.95 Die komische und erniedrigende strukturelle Veränderung des Vorbilds ist vielmehr Teil einer parodistischen Degradation, bei der vor allem die Mechanismen der Kontextverschiebung und der Umkehrung eine grundlegende Rolle spielen, da sich diese auf besondere Weise mit dem dargestellten Sujet verbinden lassen. Gerade durch diese beiden Mechanismen gewinnt die Druckgra k Lo stregozzo ungemein an Bedeutung:96
A dei ed Devil, a degraded God, an incapable God, God as an ironic epitome of the upside-down world – each of these overlapping and contradictory identities highlights early modern witchcraft as a perversion of Christianity and as an idea fundamentally grounded in opposition and inversion. e distance between the respectable gure of God in the Sistine Chapel and the debased, demonized God in the Stregozzo is to such an extent that the hovering man transcends a ›heuristic‹ imitation and demonstrates a ›dialectical‹ imitation. e latter imitation […] occurs when the text is incompatible with the source to the degree that its oppositional voice may be read as an implicit criticism of its source, or as a parody. Giulio rendered the Sistine God as a Raphaelesque parody and displayed God in an ironic and satirical disrespect.97
38 Die Bildparodie in
der nord- und mittelitalienischen Kunst des Cinquecento
20 Agostino Veneziano nach Giulio Romano (?), Lo stregozzo, 1520er Jahre, Kupferstich, New York, Metropolitan Museum of Art [1/2, s/w]
Heutzutage könnte man die vier analysierten MichelangeloParodien von Giulio Romano – auch aufgrund der ausgewählten Vorlage – literarische prese per il culo (Verarschungen) nennen. Diese folgen einem roten Faden und zwar einer grundsätzlichen Kritik an der Hybris Michelangelos, der es sich als Einziger erlaubt, nicht nur den Hintern Gottes darzustellen, sondern es sogar in der heiligsten Kapelle der Christenheit in einer plakativen Art und Weise zu tun.98
In den analysierten Bildparodien wird also ein Motiv aufgegri en und durch die Hinzufügung, das Weglassen oder das Verändern von strukturellen Elementen so deformiert, dass aus der Diskrepanz zwischen dem Nachgeahmten und der Nachahmung das Lächerliche entsteht. Indem ein vom Vorbild abweichender semantischer Zusammenhang aufgebaut wird, spiegeln die vernichtende Umkehrung und die unpassende neue Kontextualisierung des Vorbilds die von Castiglione als zum Lachen anregend beschriebene Praxis der Wiederverwendung von »una parola medesima, ma ad altro n di quello che s’usa« (demselben Wort, aber in einem anderen Sinn), die in den vorgestellten Fällen zu einer parodistischen Profanisierung, einer Sexualisierung und einer Dämonisierung des parodierten Gegenstandes führt.99 Alle diese Bildparodien machen ebenso wie Castigliones Vergilparodie deutlich, dass das lächerliche Potenzial der strukturellen Änderung, der Inversion und der Kontextverschiebung als parodistische Mechanismen in der Umwandlung der Werthierarchien, insbesondere vom Hohen ins Niedrige, liegt.100 Ausgehend von den beschriebenen bildparodistischen Prinzipien können sogar ganze Darstellungstypen parodiert werden, wie es sich etwa in den Gattungsparodien der Verkündigung, des letzten Abendmahls, des Göttermahls oder des Parnass zeigt.101
Animalisierung, Übertreibung und falsches Pathos
1474 erschien beim Verleger Tommaso Ferrando in Brescia die erste, gedruckte Version der Batrachomyomachia, des Froschmäusekriegs, in Latein mit dem griechischen Originaltext.102 Dieses griechische Werk, das circa im 1. Jahrhundert v. Chr. verfasst wurde, gilt als Parodie der Ilias von Homer, wird in ihm doch ein Krieg zwischen Fröschen und Mäusen dargestellt, der den epischen Krieg zwischen Trojanern und Achaiern herabsetzt und komisch widerspiegelt. Es handelt sich um die einzige vollständig überlieferte literarische Stilparodie des griechischen Epos: In ihr wird zwar die gravitas (Würde) beibehalten, doch der ernste, hohe Inhalt des Poems wird mittels der Ersetzung der menschlichen Helden durch kleine, aber stolze Tiere ins Lächerliche gezogen.103 Wie die Trojaner und die Achaier haben auch die Frösche und die Mäuse ihre Helden, die ehrenhaft kämpfen und sich heroisch für ihre Partei opfern. Darüber hinaus nehmen auch die Götter, unter ihnen Athena, Mars und Zeus, an der als universell charakte-
risierten, bitteren – und im Vergleich zum Trojanischen Krieg im kleinen Maßstab statt ndenden – Konfrontation teil und sorgen damit für eine deutliche Steigerung des Kontrasts zur Ilias und den ernsten Werten, auf denen Homers Epos basiert. Das humanistische Interesse an der Batrachomyomachia als Eposparodie blühte bereits im Quattrocento anlässlich der Wiederentdeckung von klassischen griechischen und römischen Texten.104 Vor der in Brescia gedruckten Edition, deren Textanalyse und lateinische Übersetzung von dem Humanisten Carlo Marsuppini ausgeführt wurden, wurde die Batrachomyomachia bereits zweimal ins volgare übersetzt, 1456 von Aurelio Simmaco de Iacobiti und 1470 von Giorgio Sommariva, ohne jedoch publiziert zu werden.105 Der Schluss der Version von Simmaco enthält eine Zuschreibung der Parodie an Homer selbst, der demzufolge sein eigenes Epos parodiert hätte.106 Gegen diese Au assung steht die Meinung von Plutarch, die Simmaco, sich an den Leser wendend, in seinen letzten Versen auch durch die Betonung des ingegno (Geist) von Homer widerlegen möchte:107
Oh mira, lectore, et sappi quisto expresse: che quisto è decto da Homer divini, che miro ingegno è in bassi cosi pilgiar principii alti e gloriosi.108
Mit diesem Panegyrikus lobt Simmaco unmittelbar die parodistischen Fähigkeiten des Autors der Batrachomyomachia, die in der Darstellung eines niedrigen Gegenstands unter Verwendung von hohen und ruhmreichen Prinzipien kulminieren. Der Humanist unterstreicht daher in dem zitierten Vierzeiler, dass im Fall dieser Eposparodie die parodistische Herabsetzung der hohen Vorlage nur das Produkt eines »göttergleichen« ingegno sein kann.109 Ähnlich wie in der Batrachomyomachia nden sich solche Animalisierungen der Protagonisten auch in der frühneuzeitlichen parodistischen Literatur, etwa in der Moscheide von Teo lo Folengo, einer direkten Rezeption der Batrachomyomachia, in der die antike Parodie gewissermaßen nachgeahmt wird, da in ihr ein Krieg zwischen Fliegen und Ameisen statt ndet.110 Doch Beispiele für diesen geistvollen parodistischen Mechanismus gibt es ebenso in der bildenden Kunst.
In der mittelalterlichen Buchmalerei tauchen am Seitenrand oft Tiere auf, die menschliche Handlungen oder Rollen –auch religiöse – parodistisch nachahmen, etwa Füchse, die mit Mitra und Bischofsstab vor Vögeln predigen, oder Hasen, die als Kleriker verkleidet sind und Prozessionen anführen oder Beerdigungen zelebrieren.111 Die parodistische Animalisierung solcher Tätigkeiten erinnert stark an die spielerischen Rollenwechsel anlässlich mittelalterlicher Feiertage oder beim Karneval. In der Reformationszeit wurde diese Praxis häu g als satirische Wa e in der Auseinandersetzung der
39 Erscheinungsformen und Mechanismen
Konfessionen verwendet, wie zum Beispiel der berühmte Papstesel oder das Mönchskalb deutlich zeigen.112 Mit Blick auf Bildparodien, die sich nicht auf soziale Handlungen oder Rollen beziehen, sondern Kunstwerke zum Gegenstand haben, ist der A enlaokoon (Abb. 11) das prominenteste Beispiel für eine parodistische Animalisierung in Italien – diesbezüglich hat die Forschung die lächerliche Deformation der Protagonisten des antiken Meisterwerks in A en bereits mit der herabsetzenden und komischen Verwandlung der homerischen Helden in Frösche und Mäuse in Verbindung gebracht.113 Ein weiteres, sehr gelungenes Beispiel für den parodistischen Mechanismus der Animalisierung ist Pellegrino Tibaldis Fresko
Die Gefährten des Odysseus rauben die Rinder des Helios aus der kleinen Sala di Ulisse im Bologneser Palazzo Poggi (Abb. 21).
In dieser Darstellung wenden zwei Figuren ihren Blick direkt zum Betrachter, um ihn in das abgebildete Geschehen einzubeziehen: der Gefährte von Odysseus auf dem Boot im linken unteren Vordergrund und das liegende weiße Rind in der rechten Bildhälfte. Mit dem gestreckten Zeige nger auf seinen Lippen fordert der muskulöse Seemann den Rezipienten gleichsam zum Schweigen auf: Weder soll der Betrachter
Odysseus vom Raub der heiligen Rinder erzählen noch soll er mit seiner Stimme die Tiere verschrecken und in die Flucht schlagen. Morten Steen Hansen hat scharfsinnig konstatiert, dass die aufgerissenen Augen und die Kop edeckung des Seemannes auf einer Imitation des infernalen Fährmanns Charon aus dem Jüngsten Gericht Micheangelos beruhen und dass Tibaldi ferner den erschrockenen Blick des überfallenden Rinds von jenem isolierten und traumatisierten Verdammten übernommen hat, der sich mit seiner linken Hand das rechte Auge bedeckt und der auf einer Wolke über dem Boot Charons steht (Abb. 22).114 Dieser Verdammte wird von einer Schlange in den Oberschenkel gebissen, und zugleich wird er von Dämonen, die ihn umklammern, hinab in die Hölle gezogen. Der Blick dieser Figur drückt bei Michelangelo unmissverständlich die Angst vor der ewigen Verdammnis aus, wird bei Tibaldi jedoch verwendet, um den Schrecken eines Rinds zu zeigen. Tibaldis Fresken im Palazzo Poggi stellen ein berühmtes Heldenepos, die Odyssee, komödienhaft dar. Die Angst eines Verdammten am Tag des Jüngsten Gerichts wird in einer witzigen Art und Weise mit jener eines Rinds verglichen und dementsprechend verwandelt, wobei
Die Bildparodie in der nord- und mittelitalienischen Kunst des Cinquecento
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21 Pellegrino Tibaldi, Die Gefährten des Odysseus rauben die Rinder des Helios, 1550–1551, Fresko, Bologna, Palazzo Poggi, Piccola Sala di Ulisse
sich der Künstler hier neben der Animalisierung noch eines weiteren parodistischen Mechanismus bedient, nämlich dem des falschen Pathos.115 Gemeint ist mit falschem Pathos die absichtliche, bildironisch motivierte Übertragung einer hohen, ernsten und pathetischen Ausdrucksform – wie sie für religiöse, tragische oder epische A ektdarstellungen typisch ist –, in einen niedrigen, banalen Kontext.116 Die semantische Abweichung, die durch diese Übertragung entsteht, erscha t eine lächerliche Diskrepanz, die die parodistischen Züge der unpassenden Anwendung einer solchen affektiven Ausdrucksgebärde aufdeckt.117
Eine klare Inszenierung dieses parodistischen Mechanismus ist auch in der sogenannten Furia von Rosso Fiorentino (Abb. 23) zu nden, die 1524 von Giovanni Jacopo Caraglio in Rom gestochen und von Ra aels Drucker Baverio de’ Carrocci, genannt »il Baviera«, verlegt wurde.118 Vasari beschreibt und lobt diesen Kupferstich in der Vita von Marcantanio Raimondi:
[…] capitando in Roma il Rosso, gli persuase il Baviera che facesse stampare alcuna delle cose sue; onde egli fece intagliare a Gian Iacopo del Caraglio […] una sua gura di
notomia secca, che ha una testa di morte in mano e siede sopra un serpente, mentre un cigno canta; la quale carta riuscì di maniera […].119
Wie Vasari berichtet, zeigt die merkwürdige Furia einen dürren, schreienden nackten Mann, der auf einem monströsen Drachen sitzt und sich in einem dunklen Wald be ndet. Neben ihm ist am linken Bildrand ein riesiger Schwan zu sehen, während mehrere Schlangen die trockenen Bäume im oberen Teil der Komposition umschlingen. Eine davon ist um den erhobenen linken Arm der makabren Haupt gur und um den von ihr gehaltenen Totenschädel gewunden. Eine andere hingegen schlängelt unter dem Schwan über den Waldboden.120
Wie die Forschung gezeigt hat, hat man es hier aufgrund der hohen Komplexität der bildnerischen Verweise und ihrer parodistischen Behandlung mit einem Meilenstein der italienischen Bildparodie des Cinquecento zu tun. Nicht nur parodiert Rosso in der Furia mehrere Motive, sondern er wendet dabei zudem auch unterschiedliche parodistische Mechanismen an. Die Kombination der Schlangen und des Schreis
41 Erscheinungsformen und Mechanismen
22 Michelangelo, Jüngstes Gericht, 1536–1541, Fresko, Vatikanstadt, Sixtinische Kapelle (Details)
42 Die Bildparodie in der nord- und mittelitalienischen
Kunst des Cinquecento
23 Gian Jacopo Caraglio nach Rosso Fiorentino, sog. Furia, nach 1524, Kupferstich, New York, Metropolitan Museum of Art
deutet hier zusammen mit der Haltung der ungewöhnlichen männlichen Gestalt darauf hin, dass das Hauptziel der unpassenden, deformierenden imitatio das Werk ist, das damals als das antike Meisterwerk schlechthin galt. Die Furia stellt zuallererst eine Werkparodie der Laokoon-Gruppe (Abb. 12) dar, wie sie in den 1520er Jahren rekonstruiert wurde, und zwar mit dem hochgestreckten rechten Arm des Priesters und seines – vom Betrachter aus – linken Sohnes sowie der hochgehobenen rechten Hand des rechten.121 Rosso hat die Pose des Laokoon in der verschollenen Vorzeichnung zu diesem Kupferstich allgemein nachgeahmt und den Körper der Figur grotesk verändert, sodass der dargestellte Mann die Form des parodierten Vorbilds behalten hat, doch im Stich spiegelverkehrt erscheint. 122 Darüber hinaus transformiert bzw. animalisiert Rosso auch die Söhne des Priesters, wie Tauber feststellt:
Die Armhaltung des jüngeren Sohnes gibt Anlaß zur Darstellung des überlangen Schwanenhalses; die Schlangenwülste, die sich im Original um seine Arme winden, sind zu den Flügeln des Schwans mutiert. Und der Handgestus des älteren Sohnes, der höchstes Erschrecken signalisiert, ndet seinen Re ex in der Pathosformel des weit geö neten Mauls des Drachens, das wiederum den Schrei der Haupt gur parodierend verdoppelt.123
Doch der Schrei wird nicht nur verdoppelt, er wird durch den Totenschädel, der aufgrund des fehlenden Unterkiefers weit geö net erscheint, sogar verdreifacht.124 Diese Motivwiederholung führt im Kupferstich zu einer Steigerung der Intensität: Es scheint so, als ob die dargestellten schreienden Wesen jedes andere Geräusch akustisch übertönen würden. Zugleich wirken die beiden weit aufgesperrten Münder aufgrund ihrer grotesken, übertriebenen Charakterisierung wie auch aufgrund des Vergleichs mit dem Totenschädel komisch. Das dargestellte Rätsel scheint unlösbar.125 Doch die spöttische Umkehrung vom Pathos des parodierten epischen Vorbilds, der Laokoon-Gruppe, fällt sofort ins Auge. Dieses wird ins Lächerliche gezogen, indem das erschrockene Gesicht des älteren Sohnes und der pathetische, schmerzhafte Ausdruck des Priesters von Rosso deformiert und durch die irren, grotesken Grimassen des Drachen und des Abgemagerten ersetzt werden. Auf diese Weise entsteht das falsche Pathos, das die Furia im Allgemeinen charakterisiert. Denn mittels dieser parodistischen Verzerrung der imitierten A ekte verlieren die im Kupferstich dargestellten absurden Ausdrücke an Ernsthaftigkeit und gewinnen im Vergleich zu denen des parodierten antiken Meisterwerks gleichzeitig an Komik und bizzarria (Bizzarie).126 Der Kontrast zwischen dem Ernst und dem Absurden, zwischen dem Hohen und dem Niedrigen wird auf der Ebene der A ektdarstellung nochmals verstärkt, wenn
das Vorbild für das Gesicht des nackten Mannes enthüllt wird: Es ist die sogenannte Furia oder Anima dannata (Verdammte Seele) von Michelangelo (Abb. 24).127 Von dieser Zeichnung, die Antonio Salamanca in eine druckgra sche Form gebracht hat, geht Rosso bei der Konzeption des Kopfes seiner Figur aus, wobei er von der michelangelesken A ektdarstellung nicht nur das heftige Schreien und die plötzliche Kopfdrehung, sondern auch die nach vorn wehenden Haare übernimmt.128 Wie im Fall der Laokoon-Gruppe parodiert Rosso dabei allerdings die pathetische michelangeleske Zeichnung, indem er den Gesichtsausdruck seines abgemagerten Protagonisten durch die extrem aufgerissenen Augen, die gerunzelte Stirn und den äußerst weit geö neten Mund unpassend übertreibt. Das groteske Antlitz, das aus dieser A ektparodie resultiert, erinnert an die Grotesken Köpfe von Leonardo da Vinci, nimmt es doch sowohl die visaggi ridicoli e deformi (die lächerlichen und unförmigen Mienen) im Gigantensturz von Giulio Romano (Abb. 80–83) als auch die übertriebenen a ektiven Reaktionen in den späteren Genrebildern von Bartolomeo Passerotti auf einer ästhetischen Ebene vorweg.129
Zu den parodistischen Mechanismen der physischen Deformation, auf die Rosso in seiner Furia zurückgreift, um die
43 Erscheinungsformen und Mechanismen
24 Michelangelo, sog. Verdammte Seele oder Furia, o. J., Zeichnung, Florenz, U zien, Gabinetto dei Disegni e delle Stampe (Detail)
parodierten Vorbilder herabzusetzen und ad absurdum zu führen, gehören im engen Sinne nicht nur, wie gesehen, die Animalisierung und das falsche Pathos, sondern, wie bereits erwähnt, auch die Übertreibung. Bezüglich der Schwankart der piacevole narrazione (gefälligen Erzählung), zu der etwa die novella gehört, bemerkt Castiglione in seinem Cortegiano, dass, um Lachen und Genuss hervorzurufen, es genügt »[…] [dire] la verità, adornarla con qualche bugietta, crescendo o diminuendo secondo ’l bisogno«130. Hinsichtlich der Verben crescere und diminuire ist anzumerken, dass sie auf Italienisch auch das Vergrößern und das Schmälern meinen. Darüber hinaus betont Castiglione an einer anderen Stelle des zweiten Buchs, dass die »a ettazioni […] quando son fuor di misura inducono da ridere assai […]«131. In diesen knappen Beobachtungen wird also das Prinzip der Übertreibung als zum Lachen anregende Strategie erwähnt und theoretisiert.
Im Gegensatz zu Giulio Romano, dessen Bildparodien oft auf einer physischen Übertreibung in crescendo (in zunehmendem Maße) basieren, stellt Rosso das diminuiere (Vermindern)
in den Mittelpunkt seines parodistischen Verfahrens und macht aus den menschlichen Körpern seiner Vorbilder sogar »wandelnde Leichen«.132 Eine davon ist die Haupt gur der Furia (Abb. 23), die den anatomisch perfekten, muskulösen Körper des Priesters Laokoon (Abb. 12) ent eischlicht und bis auf seine notomia secca (ausgetrocknete Anatomie) reduziert.133
Die unpassende, parodistische imitatio des pathetischen, anatomisch perfekt gestalteten Vorbilds, dessen absurde, übertriebene Exkarnation führt in der Furia zur Entstehung einer grausamen, außergewöhnlichen Komik, zu einem Bild des prominenten Laokoon als einer irren, »wandelnde[n] Leiche«, die von einem Schwan und einem Drachen durch einen dunklen Wald begleitet wird.134 Und genau durch den Gegensatz zwischen dem abgemagerten Protagonisten und dem fülligen Ungeheuer treibt Rosso den parodistischen Mechanismus der Übertreibung auf die Spitze: Nicht nur di eriert die Körperfülle der beiden Gestalten, sondern witzigerweise wird dem Betrachter auch der Größenunterschied ihrer Geschlechtsorgane, die Rosso untereinander auf einer vertikalen Achse in der Bildmitte anordnet, deutlich vor Augen geführt.135 Das Fehlen des Penis und die kleinen Hoden könnten als eine Anspielung auf das parodierte Vorbild, die antike Skulptur, betrachtet werden.136 Die Hoden des Mannes scheinen sogar vertrocknet zu sein, während das Glied des Drachen ausgesprochen imposant anmutet! Beide der von Castiglione erwähnten antithetischen Möglichkeiten der physischen Übertreibung, das crescendo und das diminuendo, tauchen also hier in ihrer gegensätzlichen parodistischen Wirkung parallel auf: sowohl in den Figuren als auch in den Geschlechtsorganen.
Die Übertreibung kann also als einer der grundlegenden Mechanismen der Bildparodie verstanden werden. Durch sie wird der parodierte Gegenstand spöttisch verzerrt und damit herabsetzend profaniert, vulgarisiert und/oder sexualisiert. Darüber hinaus lässt sie sich vielleicht sogar als ein ästhetisches Prinzip verstehen, das durch die lächerliche Deformation eines Vorbilds die Entstehung einer Ästhetik des Hässlichen, des Grotesken137 oder des Makabren, wie sie bei Rosso Fiorentino sichtbar wurde, ermöglicht.
Dass die parodistischen Mechanismen auch Michelangelo bekannt waren, wird von einer witzigen Bildparodie bestätigt, die der divino in seinem Jüngsten Gericht versteckt hat (Abb. 51). In der rechten unteren Ecke seines Freskos ist der danteske, dämonische Minos zu sehen (Abb. 25). Sein Schlangenschwanz schlingt sich zweimal um seinen mächtigen, nackten Körper und bezeugt somit die Sünde des Verdammten, der sich ihm mit aufgerissenen Augen zuwendet und bald in den zweiten Kreis der Hölle, jenen der Wollüstigen, hinabsteigen wird. Groteske Gesichtszüge charakterisieren sowohl Minos als auch die maskenhaften Köpfe der Dämonen, die um den Höllenrichter herumstehen. Die Pose des Verdamm-
44 Die Bildparodie in der nord-
und mittelitalienischen Kunst des Cinquecento
25 Michelangelo, Jüngstes Gericht, 1536–1541, Fresko, Vatikanstadt, Sixtinische Kapelle (Detail)
ten hinter dem Monster, das Antlitz Minos’ und seine physische Stattlichkeit sind Merkmale, die überraschenderweise auch in der freskierten Decke zu nden sind. Bernardine Barnes hat bemerkt, dass die Figur des Verdammten aus der Bearbeitung des stehenden Genius’ neben dem Prophet Jesaja stammt (Abb. 62).138 Doch es ist Campbell, der ausgehend von der von Barnes entdeckten, unpassenden Nachahmung und Umkehrung die folgende schlagende Feststellung macht:
It has been observed that Michelangelo’s Minos is prompted by a little devil derived from the angelic genius who inspires Isaiah on the ceiling. In a further citation of inspired gures from the Sistine vault, Minos is a transgendered, monstrous parody of the gure of the Cumaean Sibyl, with the same pro le, corpulent body, and massive breasts. Inspired gures of the ceiling are thus reborn in a grotesque, hybrid form, and the artistic fabrication of beautiful bodies through a composite procedure is transformed into a generation of monsters.139
Ein anderes, kleines Motiv, das in dem Deckenfresko der Sibylle von Cumae (Abb. 26) zu sehen ist, ndet sich bei Minos ebenfalls und bekräftigt die Feststellung von Campbell, dass der Richter der Toten eine Motivparodie von der früher gemalten weiblichen Gestalt ist. Es handelt sich um die körperliche Pose des vorderen Genius’ neben der Sybille, dessen Armstellung mit dem ausgestreckten rechten Arm Minos’ und dem unteren Schlangenring übereinstimmt. In dieser entheiligenden Selbstparodie und lächerlichen Zusammenstellung mehrerer Figuren und Motive aus seinem Deckenfresko scheint Michelangelos Selbstironie zu gipfeln. Michelangelo invertiert sowohl den Inhalt der Vorbilder als auch deren Ausdrucksregister. Das Hohe und Ernste werden grotesk und vulgär. Der divino bietet dem aufmerksamen Betrachter nicht nur eine versteckte, unerwartete und parodistische neue Interpretation seiner Fresken, sondern gibt ihm auch eine Kostprobe von seiner künstlerischen fantasia (Er ndungskraft) und bizzarria (Bizzarie) im Feld der (auto)imitatio
»Lo esser travestito«: Das Kryptoporträt als bildparodistische Erscheinungsform
In Barolskys Studie wird die Verkleidung (travestimento) bestimmter Figuren im Bild als komisches Verfahren erwähnt und knapp behandelt.140 Das Ver– und Entkleiden oder das Bloßstellen einer nachgeahmten Figur aus einem anderen Kunstwerk kann sicherlich als eine Option der strukturellen Veränderung interpretiert werden. Darüber hinaus soll das travestir im künstlerischen Feld jedoch vor allem mit der Praxis des Kryptoporträts in Verbindung gebracht werden. Das Kryptoporträt ist eine Bildnisart, die seit der Antike existiert und in der Frühen Neuzeit einen beachtlichen Aufschwung
erlebte. Das Prä x »krypto-« kommt aus dem Griechischen und bedeutet verborgen, versteckt, geheim.141 Unter einem Kryptoporträt ist daher eine besondere Art des Porträts zu verstehen, bei der der Porträtierte verwandelt, verkleidet oder in einen ihm fremden Kontext eingefügt wird.142
Anlässlich von Feiertagen, beim Karneval oder bei privaten Festen war das Verkleiden im 16. Jahrhundert ein spaßhafter Zeitvertreib. Dass es jedoch auch zum Lächerlichen, Vulgären, Blasphemischen oder Sexuellen führen konnte, berichtet Benvenuto Cellini an einer Stelle seiner Autobiogra e, an der er von einem um 1523 organisierten Abendessen bei Michelangelo da Siena in Rom berichtet, zu dem auch Giulio Romano und Giovan Francesco Penni eingeladen waren.143 Cellini scheint zu diesem Anlass keine Begleiterin gefunden zu haben. Aus diesem Grund entschied er sich für ein Modell, das er in seinen Werken schon mehrmals porträtiert hatte. Es handelte sich um einen sechszehnjährigen Jungen namens Diego, der gebildet und aus Sicht des Künstlers nach schöner als der antike Antinoos war. Als Scherz für seine Freunde, Michelangelo da Siena, Giulio Romano und Giovan Francesco Penni, verkleidete Cellini ihn als Mädchen. Vom travestimento (Verkleidung) und dem falso visaggio (Annahme einer ande-
45 Erscheinungsformen und Mechanismen
26 Michelangelo, Sibylle von Cumae, 1508–1512, Fresko, Vatikanstadt, Sixtinische Kapelle