Bröhan Total (DE)

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/ Bröhan 100 /

Herausgegeben von Tobias Hoffmann und Anna Grosskopf Bröhan-Museum, Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus



/ Inhalt /

I

Einleitung Bröhan 100 – Ein Blick zurück und nach vorn — 6 Ein Lieblingsstück: Zierteller der KPM Berlin — 18

II

Katalog Französischer Art Nouveau — 20 Japonismus — 42 Arts and Crafts — 52 Die Weltausstellung 1900 in Paris — 64 Internationaler Jugendstil — 84 Jugendstil und Reformkunst in Deutschland — 98 Die Darmstädter Künstlerkolonie — 108 Berlin um 1900 — 118 Berliner Secession — 136 Die Werkstättenbewegung — 164 Gestaltung aus Wien — 176 Französischer Art Deco — 190 Die Exposition internationale des arts décoratifs et industriels modernes 1925 in Paris — 216 Deutscher Art Deco — 222 Industriedesign und funktionalistische Gestaltung — 236

III

Anhang Autorinnen und Autoren — 260 Bildnachweis — 262 Dank/Umschlag — 263 Impressum — 264


/ Bröhan 100 – Ein Blick zurück und nach vorn /


Der Sammler Karl H. Bröhan, 1970er Jahre

1 Bröhan, Karl H.: Zum Geleit. In: Ders. (Hg.): Porzellan. Kunst und Design 1889 bis 1939. Vom Jugendstil zum Funktionalismus (= Bestandskataloge des BröhanMuseums, Bd. V.I), Berlin 1993, S. 7.

Berlin 1993, Bröhan zitiert Goethe: „Sammlungen werden meist von Privatleuten zusammengetragen, sie sind späterhin aber am besten in öffentlichem Besitz untergebracht. Nur hier erfüllen sie ihre eigentliche Funktion … Die Direktion sollte für die Besucher gute Kataloge herstellen, möglichst in historischer Folge.“ 1 Heute, 2021, wollen wir diese Forderung mit dem vorliegenden Band einmal mehr erfüllen. Der Anlass seines Erscheinens ist der hundertste Geburtstag unseres Museumsgründers Karl H. Bröhan (1921–2000) – der die Funktionen des Sammlers und Direktors übrigens in Personalunion erfüllte – am 6. Juli 2021. Das Jubiläum macht nachdenklich: Die letzten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Karl H. Bröhan noch selbst einstellte, gehen derzeit eine nach dem anderen in den Ruhestand. Erstmals seit der Gründung arbeiten im Bröhan-Museum mehrheitlich Menschen, die den Sammler nicht mehr persönlich gekannt haben. Das Museum ist heute ein anderes – und dennoch: Auch als Landesmuseum mit jährlich über 80 000 Besucherinnen und Besuchern, mit neuen Themen und Schwerpunktsetzungen hat sich das BröhanMuseum den intimen Charakter eines privaten Hauses bewahrt. Manche berichten noch heute von den Anfängen

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Ausstellungsräume im Privatmuseum Sammlung Karl H. Bröhan, Max-Eyth-Straße 27

2 Bröhan, Karl H.: Rückblick. In: Ingeborg Becker / Dieter Högermann (Hg.): Zum 25jährigen Bestehen des BröhanMuseums, Berlin 1998, S. 7–11, hier S. 8. 3 Ebd., S. 7. Bei dem erwähnten Katalog handelt es sich um Bröhan, Karl H.: Porzellan-Kunst, Berlin 1969.

in der Max-Eyth-Straße, wo 1973 tief im Westen der geteilten Stadt Berlin das erste Bröhan-Museum eröffnete. Es muss ein besonders charmanter und inspirierender Ort gewesen sein, ganz dazu angetan, die schönen Dinge einer fast vergessenen Epoche zu bewahren und behutsam wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu heben. Außerdem, wenn auch hinter den Kulissen: ein Ort der Forschung über einstmals bedeutende Manufakturen, seinerzeit bahnbrechende Kunsthandwerkstechniken und all die Details echter Kennerschaft, die die frühen Bestandskataloge zum Evangelium einer ganzen Sammlergeneration gemacht haben. Die Geschichte des Bröhan-Museums beginnt 1965 mit dem Umzug des Hamburger Kaufmanns Karl H. Bröhan und seiner kleinen Familie nach WestBerlin. Sein Vermögen hat er, der selbst nicht aus reichem Hause stammte, als Inhaber einer zahnmedizinischen Großhandlung erworben und ist nun, in der Lebensmitte, auf der Suche nach neuen Herausforderungen jenseits des unternehmerischen Erfolgs. Berlin verspricht den ersehnten Neuanfang: eine Metropole mit glanzvoller Vergangenheit, zerstört und zerrissen durch den Zweiten Weltkrieg, traumatisiert und doch voller Leben. Seit 1961 verläuft eine Mauer durch die geteilte Stadt, John F. Kennedy spricht vor dem Rathaus Schöneberg, die Rolling Stones spielen in der Waldbühne, und in der Studentenschaft brodelt es. Gigantische Bauprojekte prägen die Stadt im Osten wie im Westen. Bröhan findet hier, was er im vergleichsweise bürgerlich-saturierten Hamburg vermisst hatte: „Offenheit, geistige Anregung, Unkonventionalität, künstlerischen Reichtum und Vielfalt.“ 2 In dieser Stadt, in dieser Zeit eine Kunstsammlung aufbauen? Ein verwegener Plan. Die Sammlung beginnt, wie Sammlungen eben beginnen: als Liebhaberei, mit gelegentlichen privaten Käufen. Doch rasch setzt eine Professionalisierung ein, es bilden sich Schwerpunkte heraus. Dem Berliner Porzellan des 18. Jahrhunderts, sowohl der 1763 gegründeten KPM als auch ihrer Vorgänger-Manufakturen Wegely und Gotzkowsky, gilt Bröhans erste Leidenschaft. In wenigen Jahren entsteht eine Sammlung von musealer Qualität, die 1969 im Schloss Charlottenburg ausgestellt wird, begleitet von einem umfangreichen Katalog, den Bröhan später als seine „Lehrlingsarbeit“ bezeichnen wird.3 Ausstellung und Katalog haben zwei Teile. Der erste, „Berliner Porzellane vom Rokoko bis zum Empire“, stellt

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4 Die erste Sammlung Bröhan, Berliner Porzellan des 18. und 19. Jahrhunderts, befindet sich heute im Besitz des Landes Berlin. Teile davon sind als Dauerleihgabe an die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten in dem von Carl Gotthard Langhans errichteten Belvedere im Park des Charlottenburger Schlosses ausgestellt.

eine abgeschlossene Sammlung vor, der zweite, „KunstPorzellane und Keramik um 1900“, ein neu erwachtes Interesse des Sammlers. Vom Porzellan des 18. und 19. Jahrhunderts trennt sich Bröhan kurz darauf, die Zeit um 1900 wird ihn dagegen nicht mehr loslassen.4 „Ich hatte bemerkt, dass in der Epoche um 1900 ein kaum bekannter Schatz lag, der nur darauf zu warten schien, gehoben zu werden“, schreibt der Sammler 1998 im Rückblick. Bröhan erwirbt Porzellan, Glas, Keramik, Möbel und Metallarbeiten des Jugendstils und des Art Deco, außerdem funktionalistische Gestaltung von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre. Den zeitlichen Rahmen seiner Sammlung definiert er genau: von der Pariser Weltausstellung 1889, bei der der Jugendstil erstmals zutage trat, bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939, der den letzten großen Epochenstilen ein Ende setzte. Dabei orientiert er sich an den wichtigen Figuren, Institutionen und Ereignissen der Zeit, kauft Objekte aus dem Umkreis von Siegfried Bings Pariser Galerie L’Art Nouveau und Meier-Graefes Maison Moderne, von Gestaltern des Deutschen Werkbunds und Künstlerinnen der Wiener Werkstätte. Noch heute zeugen rote Anstreichungen in den mittlerweile archivierten historischen Zeitschriften davon, wie intensiv er diese Publikationen studierte, um die seinerzeit bedeutenden, wirkmächtigen Entwürfe und Manufakturen zu identifizieren. Parallel zur Gestaltung interessiert sich Bröhan für die Kunst der Berliner Secession, denn auch hier gilt es, verschüttete Werke und Akteure wieder ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Er konzentriert sich zunächst auf Hans Baluschek, Karl Hagemeister und Willy Jaeckel, etwas später wird diesen „großen Drei“ noch Walter Leistikow an die Seite gestellt. Bröhans Ehefrau und Partnerin beim Aufbau der Sammlung und des Museums, die Kunsthistorikerin Dr. Margrit Bröhan, widmet diesem Bereich besondere Aufmerksamkeit und wird in den folgenden Jahren vielbeachtete Monografien zu Hans Baluschek, Walter Leistikow, Franz Skarbina und Karl Hagemeister vorlegen. Sammeln und Forschen gehen Hand in Hand. Die Sammlung wird begleitet vom Aufbau einer Fachbibliothek und eines Archivs. Bröhan, längst selbst Experte auf seinem Gebiet, beschäftigt einen kleinen Mitarbeiterstab, um seinen wachsenden Bestand zu katalogisieren und in mehreren Bänden zu veröffentlichen. Acht erscheinen zu seinen Lebzeiten, der letzte, „Glaskunst

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5 Bröhan 1998, S. 9.

6 Ebd.

1889–1939“, im Jahr 2010. Mit der Sammlung wächst der Wunsch nach einem dauerhaften Ausstellungsort, und so erwirbt Bröhan eine Villa in Berlin-Dahlem, die 1973 als Privatmuseum Sammlung Karl H. Bröhan eröffnet wird. Die 550 qm Ausstellungsfläche in dem 1922 erbauten ehemaligen Wohnhaus des Bankdirektors Ludwig Berliner reichen zwar schon damals nur für einen Teil der Sammlung, doch sie bieten einen kongenialen Rahmen: „In den eleganten Räumen des repräsentativen Hauses unter den Bäumen des Grunewalds konnten wir […] das Kunstwollen eines anspruchsvollen kultivierten Bürgertums vor dem Zweiten Weltkrieg vorzüglich vermitteln.“ 5 In diesem ersten Bröhan-Museum entwickelt der Sammler ein Präsentationskonzept, dem er fortan treu bleibt: Möbel, Gemälde und Skulpturen, Kunsthandwerk und Designobjekte werden zusammen ausgestellt und bilden räumliche Ensembles, um in ihrem Nebeneinander auf die Gleichwertigkeit aller Kunstgattungen aufmerksam zu machen. Auf einem historischen Foto der Räume sieht man Möbel von Louis Majorelle und eine Bodenvase von Sèvres neben Gemälden von Karl Hagemeister; im Vordergrund eine Vitrine mit Jugendstilporzellanen der KPM. „Jeder Sammler steht eines Tages vor der Frage, was aus seinem Hort werden soll.“ 6 Karl H. Bröhan entschließt sich zu einem mäzenatischen Akt: Anlässlich seines 60. Geburtstages schenkt er die Sammlung dem Land Berlin, einzige Bedingungen sind ihr Erhalt als geschlossenes Konvolut und eine dauerhafte Ausstellungsmöglichkeit. Mit der Eröffnung des Bröhan-Museums am heutigen Standort in der Charlottenburger Schloßstraße 1a am 14. Oktober 1983 wird beides Wirklichkeit. Das spätklassizistische Kasernengebäude, das zum Architekturensemble des Charlottenburger Schlosses gehört und seit dem Ersten Weltkrieg eine Vielzahl verschiedener Nutzungen erfahren hat, passt gut zu den Anforderungen des jungen Museums. Man bespielt erst nur das Erdgeschoss mit der stetig wachsenden Kollektion und ersten Sonderausstellungen, 1990 wird die dritte Etage hinzugewonnen, 1998 die erste. 1994 wird das Bröhan-Museum eine Stiftung öffentlichen Rechts in der Trägerschaft des Landes Berlin, das Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus, wie fortan der Untertitel lautet, ist zu diesem Zeitpunkt längst eine feste Größe in der Kulturlandschaft der wiedervereinigten Hauptstadt. Karl H. Bröhan erhält zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, unter anderem das Bundesverdienstkreuz und

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Das heutige Bröhan-Museum in der Charlottenburger Schloßstraße


7 Buddensieg, Tilmann: Zum Tod des Kunstmäzens und Berliner Museumsgründers. In: Tagesspiegel, 04.01.2000.

8 Bröhan 1998, S. 7.

9 Ebd., S. 12.

eine Berliner Ehrenprofessur. Er bleibt Direktor seines Museums und wird die Sammlung bis zu seinem Tod durch kontinuierliche Ankäufe erweitern. Als Bröhan am 2. Januar 2000 nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 78 Jahren stirbt, hinterlässt er nicht nur ein „wohlgeordnetes und vollendetes Lebenswerk“ 7, wie der Kunsthistoriker und Sammlerkollege Tilmann Buddensieg in seinem Nachruf schreibt, sondern mit dem Bröhan-Museum auch einen Ort, der für zahlreiche Sammlerinnen und Sammler seiner und der nachfolgenden Generation zur zweiten Heimat geworden ist. Es ist beeindruckend, wie viele Menschen Karl H. Bröhan mit seiner Entdeckerfreude, seinem forschenden Geist und seinem Sinn für Form, Material und Ästhetik inspiriert hat. Noch heute melden sich bei uns die Besitzer von kleinen oder größeren „Satellitensammlungen“ und berichten von ihren Erweckungserlebnissen vor den Vitrinen des Bröhan-Museums, von Ausstellungen, Vorträgen und Begegnungen mit dem Sammler, die eine lebenslange Passion für den einen Künstler oder die andere Gestalterin, eine bestimmte Kunsthandwerkstechnik oder Manufaktur auslösten. Nicht selten landen solche Sammlungen als Schenkung oder Erbschaft im BröhanMuseum. „Mich hat es als Sammler und Kunstliebhaber nie gereizt, ausgefahrene, bekannte Wege zu gehen“, schreibt Bröhan 1998.8 „Genau betrachtet ist das BröhanMuseum ein Dach, unter dem eine Vielzahl von Spezialsammlungen vereint ist […]. In fünfzig Jahren hat sich, gegen die leeren Formeln des Historismus, vom Jugendstil bis zum Industriedesign die Ästhetik des 20. Jahrhunderts entwickelt, ist die Formensprache ausgebildet worden, mit der wir heute leben.“ 9 Was für eine Sammlung – was für ein Vergnügen, heute mit ihr zu arbeiten! Seit 2013 hat das Bröhan-Museum mit Dr. Tobias Hoffmann erstmals einen Direktor, der nicht aus dem unmittelbaren Umfeld des Sammlers stammt. 2000 war ihrem Mann zunächst Dr. Margrit Bröhan, danach die langjährige Stellvertreterin Dr. Ingeborg Becker gefolgt, die beide jeweils eigene Akzente gesetzt, die grundsätzliche Linie jedoch beibehalten hatten. Was jedoch ist die grundsätzliche Linie des Bröhan-Museums und wie positioniert man sie in der heutigen Museumslandschaft Berlins? Mit einem Museum verhält es sich wie mit allen Dingen des Lebens – es muss sich weiterentwickeln.

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Es gibt nichts Schlimmeres und Traurigeres als Museen, die auf einem bestimmten Stand stehen bleiben und sich nicht mehr verändern. Dem haben wir in den letzten Jahren nach Kräften entgegengewirkt: Die Sammlung ist weiter gewachsen, und es ist – trotz beklagenswert geringer öffentlicher Ankaufsetats – gelungen, einige wichtige Werke und Objektgruppen für das Museum zu sichern. Vor allem im Bereich des Industriedesigns und der funktionalistischen Gestaltung sind bedeutende Neuzugänge zu verzeichnen, so etwa ein umfangreiches Konvolut zum Neuen Frankfurt inklusive einer „Frankfurter Küche“, Berliner Stahlrohrmöbel sowie Möbel und Beleuchtungskörper des tschechischen Funktionalismus. Durch den Erwerb verschiedener Möbel und Objekte u. a. von Edward William Godwin, William Morris, Charles F. A. Voysey und Ambrose Heal konnte die in Relation zu ihrer Bedeutung in der Sammlung bisher unterrepräsentierte Artsand-Crafts-Bewegung entscheidend ergänzt werden. Und auch der Sammlungsbereich Grafikdesign und Plakatkunst hat sich in den letzten Jahren äußerst positiv entwickelt – mit Arbeiten von Eugène Grasset, Alfons Mucha, Jules Chéret, Pierre Bonnard, Fidus, Ludwig Hohlwein, Willi Baumeister und George Grosz, um nur einige bekannte Namen zu nennen. Hinzu kommen immer wieder Entdeckungen abseits des kunsthistorischen Kanons – wie die Werke Martin Brandenburgs, eines bisher wenig erforschten symbolistischen Malers der Berliner Secession, von dem das Museum inzwischen vier bedeutende Werke besitzt. Ganz in der Tradition seines Gründers sammelt das Bröhan-Museum weiterhin antizyklisch und vermeidet die „ausgefahrenen Wege“, die schon ihn langweilten. Margrit Bröhan und der von ihr begründete Verein Freunde des Bröhan-Museums e.V. sind uns dabei oft eine unentbehrliche Hilfe. Die Sonderausstellungen der letzten Jahre haben das Themenspektrum erweitert und Kunst und Design der Jahrhundertwende vermehrt in einen Dialog mit zeitgenössischen Werken gebracht. Die ungeheure Vielfalt und Anschlussfähigkeit der Sammlung Bröhan, die ästhetische, kulturgeschichtliche, politische und noch viele andere Themenfelder streift, ermöglicht dies und fordert nachgerade dazu auf. So konnten wir in Ausstellungen wie „Do It Yourself Design“ (2016), „Berliner Realismus“ (2018), „Von Arts and Crafts zum Bauhaus“ (2019) oder „Luigi Colani und der Jugendstil“ (2020) unsere Bestände immer wieder neu kontextualisieren.

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Blick in die Dauerausstellung, 2020


Die Aufgaben eines Museums werden heute anders definiert als noch vor 20 Jahren. Neben der klassischen Sammlungs- und Ausstellungstätigkeit übernehmen Museen zunehmend auch gesellschaftliche Verantwortung, indem sie für niedrigschwellige, inklusive Zugänge sorgen und sich fragend und forschend mit der eigenen Sammlungsgeschichte auseinandersetzen. Mit den Bereichen Vermittlung und Outreach sowie Provenienzforschung wurden daher neue Arbeitsfelder erschlossen und diese wichtigen Zukunftsthemen auch personell im Museum verankert. Das Sammlerpaar Karl und Margrit Bröhan hat sich zweimal für Berlin entschieden. Einmal, als sie am Tiefpunkt der Stadtgeschichte kurz nach dem Mauerbau nach Berlin kamen, und dann Anfang der 1980er Jahre, als sie Berlin trotz anderer Optionen als Adressatin ihrer Sammlungsdonation auswählten. Die Stadt und damit auch die Rolle ihrer Museen hat sich seitdem gewaltig verändert. Das heutige Berlin – als deutsche Hauptstadt – ist der wichtigste Museumsstandort Deutschlands, der mit der sukzessiven wirtschaftlichen Erholung der Stadt auch immer noch wichtiger werden wird. In dieser einzigartigen Museumslandschaft ist es besonders wichtig, dass das Bröhan-Museum seine grundsätzliche Linie klar definiert und kommuniziert. Darum noch einmal die Frage nach der grundsätzlichen Linie des Museums. Obwohl es eine bedeutende Jugendstilsammlung besitzt und eine beachtliche Zahl von Gemälden der Berliner Secession, ist das Bröhan-Museum nicht das ultimative Jugendstil-Museum oder das Museum der Berliner Secession. Vielmehr war das Bröhan-Museum von Anfang an – wie Karl H. Bröhan feststellte – „ein Dach, unter dem eine Vielzahl von Spezialsammlungen vereint ist“. Gemeinsam haben sie, dass es sich um Spitzenstücke der angewandten Kunst, der Gestaltung, des Designs handelt. Warum diese drei Begriffe für die Objekte der Sammlung? Diese drei Begriffe verdeutlichen ein Dilemma, das ein Spezifikum der Designentwicklung in Deutschland darstellt. Der Reformstil Ende des 19. Jahrhunderts mit Arts and Crafts in England und dann dem Jugendstil in ganz Europa entwickelte sich als Reaktion auf die Veränderungen durch die Industrialisierung. Technisierung und Industrialisierung schufen eine völlig veränderte gesellschaftliche Situation in Europa, und dies in einem atemberaubenden Tempo. Eines der Resultate dieses Pro-

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zesses war die Geburt eines neuen Berufes. Nicht mehr der Handwerker oder bei der maschinellen Produktion der Ingenieur sollte allein für das Aussehen eines Gegenstandes verantwortlich sein. Zuerst waren es Künstler, die am Entstehen der Dinge mitwirkten, doch schon bald entwickelte sich gerade in Deutschland der Beruf eines künstlerisch, handwerklich und technisch geschulten Experten für die Formgebung heraus, der an speziellen Hochschulen ausgebildet wurde. Die deutsche Sprache liebt es zu differenzieren, weshalb sich für diesen Beruf in Deutschland – je nach Ausrichtung und Ausbildung unterschieden – neben dem Formgeber oder Formgestalter die schon erwähnten Begriffe angewandter Künstler, Gestalter oder Designer etablierten. Die englischsprachigen Länder taten sich da viel leichter, setzten sich über die feinen Nuancierungen hinweg und sprachen einfach nur vom Designer bzw. vom Design. Bei den Machern ist diese Diskussion mittlerweile entschieden – spätestens seit den 1970er Jahren nennen sich die Gestalter auch in Deutschland Designer und haben damit den internationalen Begriff akzeptiert. Bei den Museen dauerte es viel länger. Mit dem 1989 eröffneten Vitra Design Museum nutzte das erste Museum in Deutschland diesen Begriff. Das Bröhan-Museum ist kein Kunstgewerbemuseum, da es im Vergleich zu diesen Häusern nicht vom Mittelalter an sammelt. Die Sammlung des Museums setzt genau mit der oben beschriebenen Entwicklung ein. Schritt für Schritt – von den Künstlern, die im Jugendstil beginnen, Häuser und deren Einrichtung zu entwerfen, über den Deutschen Werkbund bis zur funktionalistischen Gestaltung der 1920er und 1930er Jahre, die nun konsequent für die industrielle Produktion entworfen wurde – lassen sich die Entwicklungen zeigen, die international als die Geburt des Designs und seine sukzessive Etablierung und Ausdifferenzierung verstanden werden. Aber das Bröhan-Museum ist auch kein reines Design-Museum. Denn von Anfang an hat das Zusammenspiel von angewandter und freier Kunst, von Design und Kunst das Sammlerpaar Bröhan interessiert. Von den angewandt arbeitenden Jugendstilkünstlern über Gropius’ Forderung „Kunst und Technik – eine neue Einheit“, die Rolle der Konkreten Kunst an der HfG Ulm, die Wiederverschmelzung von Kunst und Design bei Memphis und im Neuen Deutschen Design der 1980er

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10 Ebd., S. 12.

Jahre bis zur Design-Art-Bewegung Anfang der 2000er Jahre ist die Entwicklung gerade des Designs von einem intensiven Dialog der Disziplinen geprägt. Eine Trennung von Kunst und Design, wie sie fast alle Museen praktizieren, ergibt somit nicht nur keinen Sinn, sondern ist vor allem für das Verständnis des Designs kontraproduktiv. Es war deshalb Anfang der 1980er Jahre vom Sammlerpaar Bröhan geradezu revolutionär, ein Museum zu eröffnen, das sich diesen beiden Disziplinen gleichermaßen widmet. Genau das ist das Alleinstellungsmerkmal des Bröhan-Museums und damit die Antwort auf die oben gestellte Frage nach der grundsätzlichen Linie. Das Bröhan-Museum stellt – um es mit international gebräuchlichen Begriffen zu kommunizieren – die Entwicklung des Designs ausgehend von seinem Ursprung Ende des 19. Jahrhunderts dar und beleuchtet dabei immer besonders das Zusammenspiel von Design und Kunst. Das Bröhan-Museum ist ein Museum für Design und Kunst; und zwar in dieser Reihenfolge der Begriffe, da der Sammlungsblock Design der wesentlich größere ist. Die Sammlung stellt etwa 50 Jahre der Entwicklung von 1890 bis 1940 dar, die jedoch für das ganze 20. Jahrhundert prägend waren. In dieser Zeit ist, wie Karl H. Bröhan feststellte, „vom Jugendstil bis zum Industriedesign die Ästhetik des 20. Jahrhunderts entwickelt, ist die Formensprache ausgebildet worden, mit der wir heute leben“.10 Es liegt deshalb auf der Hand, ausgehend von den Fragestellungen, die in der Sammlung thematisiert werden, in Wechselausstellungen auch immer wieder nach der Relevanz dieser Frage heute oder nach den heutigen Antworten auf diese Frage zu suchen. Denn es ist geradezu erschütternd, wie sehr die Themen vor 100 Jahren unseren heutigen Problemen ähneln. Von der neuen Relevanz der sozialen Frage über das Bild der Natur in Zeiten des Klimawandels bis zur Rolle der Frau und der Umsetzung der Emanzipation. Die Fragen sind geblieben, nur die Antworten haben sich geändert. / Tobias Hoffmann /

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/ Anna Grosskopf /


/ 001 / Zierteller mit Heuschrecke, 1901

Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin (KPM) Porzellan mit Reliefgold- und Emaildekor Dm. 15,4 cm Inventar-Nr.: 77-178

In jeder Sammlung gibt es Lieblingsstücke, und oft sind es gar nicht die großen Formate und imponierenden Hauptwerke, an denen das Sammlerherz hängt. Im Gegenteil: Gerade von den kleinen, intimen Kostbarkeiten, die man in die Hand nehmen und zum Studium nah ans Auge führen kann, scheint ein besonderer Reiz auszugehen. So wie von diesem zierlichen, nur gut 15 cm breiten Teller der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin, der, so will es die Überlieferung, zu den Lieblingswerken Karl H. Bröhans gehörte. Der Dekor ist in Reliefgold- und Emailmalerei ausgeführt, beides Spezialitäten der KPM um 1900. Die Berliner Manufaktur zeigte sich in technischer Hinsicht stets experimentierfreudig, war europaweit führend in der Entwicklung von Kunstglasuren und meisterte so auch als erste das Aufschmelzen farbiger Glasflüsse auf Porzellan. Die in dieser Technik ausgeführten Objekte stehen zeitlich und stilistisch an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert – wie unser Teller, der historistische Gestaltungsmerkmale mit der neuen Formensprache des Jugendstils kombiniert. Den Rand ziert als schmales Band ein historistisches Volutenornament, das in regelmäßigen Abständen von geometrischen Schmuckmotiven und stilisierten Blüten unterbrochen wird. Ein vorsichtiges Tasten in Richtung Jugendstil ist dagegen die Darstellung einer nur leicht stilisierten, auf einer zarten Beerenrispe sitzenden Heuschrecke; ein auf den ersten Blick unspektakulärer, beinahe zufällig wirkender Naturausschnitt, der sich hier kostbar gerahmt und plastisch hervorgehoben in schimmernden Gold-, Gelb- und Orangetönen von dem dunklen Glasurfond abhebt. Die Asymmetrie und Lebendigkeit der kleinen Szene zeigen den Einfluss japanischer Naturdarstellungen, die für die Naturauffassung des Jugendstils von größter Bedeutung waren. Für die KPM waren Objekte dieser Art der Einstieg in eine moderne Gestaltung. Ab 1902, unter dem Einfluss des späteren Direktors Theo Schmuz-Baudiß, wandte sich die Manufaktur verstärkt dem Jugendstil zu. / AG /

18 · 19 / Ein Lieblingsstück



/ Impressum / Dieser Katalog erscheint anlässlich des 100. Geburtstags von Prof. Karl H. Bröhan (1921–2000), dem Gründer des Bröhan-Museums, am 6. Juli 2021. HERAUSGEBER: Tobias Hoffmann, Anna Grosskopf IDEE UND KONZEPTION: Tobias Hoffmann, Anna Grosskopf TEXT: Layla Fetzer, Anna Grosskopf, Julia Hartenstein, Simon Häuser, Sylvia Hinz, Tobias Hoffmann, Johannes Honeck, Alexandra Koronkai-Kiss, Sabine Meister, Nils Martin Müller, Fabian Reifferscheidt REDAKTION UND LEKTORAT: Anna Grosskopf, Markus Zehentbauer BILDREDAKTION: Anna Grosskopf GESTALTUNG: Gerwin Schmidt BILDBEARBEITUNG: Florian Zech, Eberl & Kœsel Studio GmbH PROJEKTMANAGEMENT VERLAG: David Fesser, Deutscher Kunstverlag HERSTELLUNG VERLAG: Jens Lindenhain, Deutscher Kunstverlag VERLAG: Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin / München Lützowstraße 33 10785 Berlin www.deutscherkunstverlag.de Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH Berlin / Boston www.degruyter.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliothek; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Die Geltendmachung der Ansprüche gem. § 60h UrhG für die Wiedergabe von Abbildungen der Exponate/Bestandswerke erfolgt durch die VG Bild-Kunst. © Bröhan-Museum. Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus © 2021 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin / München und die Autoren Druck und Bindung: Eberl & Kœsel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-422-98709-8 Veröffentlichung des Bröhan-Museums Nr. 41

264 / Impressum


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