Das subversive Bild

Page 1



DAS SUBVERSIVE BILD



B er tr a m K a s c h e k / Tere s a En d e / Ja n-Davi d Ment z e l / Fr a n k S c hm i d t ( Hg . )

DAS SUBVERSIVE BILD FESTSCHRIFT FÜR JÜRGEN MÜLLER


Lektorat: Bertram Kaschek, Teresa Ende, ­ Jan-David Mentzel, Frank Schmidt Layout: Rüdiger Kern, Berlin Druck und Bindung : Elbe Druckerei Wittenberg Verlag : Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München Lützowstraße 33 10785 Berlin www.deutscherkunstverlag.de Ein Unternehmen der / Part of Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston www.degruyter.com Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München ISBN 978-3-422-98769-2


INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT .

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

9

Barbara Borngässer und Bruno Klein

VON BABEL NACH BLAMABEL Überlegungen zur unfreiwilligen Selbstsubversion in der Architektur . . . . .

13

Harald Wolter-von dem Knesebeck

WURST WIDER WURST Zur Möglichkeit pseudosubversiver Bezugnahme auf Bildzeichen für das ­wohlversorgte Haus in der profanen Wandmalerei des Mittelalters .

.

.

.

ÜBER TRICKKÜNSTLER UND ANDERE SCHARLATANE (im Umkreis des Gemäldes Der Gaukler in Nachfolge von Hieronymus Bosch) .

.

.

27

Hartmut Böhme 43

Uwe Israel

MAULESEL-POET VS. MAULESEL-THEOLOGE Subversion und Invektivität bei humanistischen Kontroversen zu Beginn des 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Thomas Schauerte

»DER RECHT SCHYLTT/ IST EYN DOTTEN BEYN« Vorformen der Subversion in Dürers Kupferstich Das Wappen des Todes von 1503 . .

83

Mitchell Merback

SPRITZEFRAGEN Dürer’s Clyster Reconsidered .

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

99

Wolfgang Holler

IM WANDEL DER MEDIEN Cranach und sein Bild der Fürsten .

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

119


6

Inhaltsverzeichnis

Jeffrey Chipps Smith

ERHARD SCHÖN, HANS SACHS, AND THE ARTS OF COMMUNICATION . . . . . . . .

.

.

.

.

135

Ulrich Pfisterer

SUBVERSION UND REKREATION Bildwerke im studiolo, ca. 1350–1550 . . . . . . . . . . . . .

151

Beat Wyss

SOFONISBA ANGUISSOLA UND DIE V ­ ERGESSLICHKEIT DER KUNSTHISTORIK . . . . . . . . . .

.

.

165

Lothar Sickel

SPRANGERS LETZTER AUFTRAG IN ROM . . . . . . . .

Der Raub eines Antlitzes .

.

.

.

.

.

.

.

175

Giovanni Careri

DIE »AUTORITÀ QUASI IMMANENTE« DER GESTEN BEI CARAVAGGIO UND ANNIBALE CARRACCI . . .

.

.

187

Reindert Falkenburg

RHYPAROGRAPHIC SCHILDERACHTIGHEID Abraham Bloemaert’s Outhouses . . . . . . . .

.

.

.

.

.

.

203

Rubens und das christomorphe Selbstbildnis . . . . . . . . . . .

213

Birgit Ulrike Münch

SUBVERSIVES SELF-FASHIONING?

Nils Büttner

RUBENS UND DIE FREIHEIT DER BILDER

.

.

.

.

.

.

227

NACHDENKEN ÜBER REMBRANDTS ECCE HOMO .

.

.

.

237

Stephanie Buck

Bärbel Hedinger und Michael Diers

DIE FRAU AM FENSTER Über Vermeers Reallegorien . . . . . . . . . . . . . . .

253


7

Inhaltsverzeichnis

Henrik Karge

VON RAFFAELS DISPUTA ZU ZURBARÁNS APOTHEOSE DES HL. THOMAS VON AQUIN Das Bild der Theologie in dominikanischer Tradition . . . . . . . . .

271

Jörg Robert

ALAMODE-KRITIK UND SPRACHPURISMUS Der Einblattdruck Teutscher Michel . . . . . . . . . . . . .

291

Roland Kanz

PUTTEN UND KINDLICHE IRONIE .

.

.

.

.

.

.

.

309

Werner Busch

EMPFUNDENE ANTIKE Asmus Jakob Carstens’ Illustrationen zu Karl Philipp Moritz’ Götterlehre . . . .

323

Thomas Ketelsen

»HABAKUK« Die verborgenen Pfade eines Motivs von Goethe zu Peter Handke .

.

.

.

.

337

Berthold Hinz

MILOMANIA Venus von Milo: Ihre moderne Karriere .

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

353

Christine Tauber

VON DEN FRÖHLICHEN ZECHERN ZUM LUMPENPROLETARIAT Diego Velázquez’ Triumph des Bacchus und Édouard Manets Alter Musiker .

.

.

371

Horst Bredekamp

INVERSE FREUNDE Aby Warburg und Sigmund Freud: Ablehnung und Seelenverwandtschaft . . . .

385

Olaf Peters

»GESTALTUNG IST ERLÖSUNG« Zu Max Beckmanns anti-nazistischer Malerei der frühen 1940er Jahre . . . . .

397


8

Inhaltsverzeichnis

Lorenz Engell

INGLOURIOUS BASTERDS Oder: Film als medienanthropologische Subversion der Geschichte bei Quentin Tarantino . . . .

.

.

.

.

.

.

.

.

411

SCHRIFTENVERZEICHNIS JÜRGEN MÜLLER .

.

.

.

.

. 423

ABBILDUNGSNACHWEISE

.

.

.

.

. 442

.

.

.

.

.

.


VORWORT

Das subversive Bild ist die Passion des Kunsthistorikers Jürgen Müller. Wenn es einen roten Faden gibt, der sich von den ersten Beiträgen bis zu den jüngsten Texten durch seine Forschungen zieht, dann ist es die bohrende und unnachgiebige Frage nach dem Vermögen der Bilder, sich kritisch-subversiv auf andere Bilder zu beziehen, um auf diese Weise künstlerische Konventionen und kulturelle Normen in Frage zu stellen. Solche subversiven Bezugnahmen aufzuspüren und ihre möglichen Sinngehalte auszuloten, ist ein voraussetzungsreiches Unterfangen. Denn es bedarf hierfür nicht nur der breiten Kenntnis potenzieller Vorbilder, auf die sich nachfolgende Werke beziehen können, sowie eines geschulten Blicks, der im scheinbar Unähnlichen das Ähnliche zu erkennen vermag, sondern auch eines wachen Sinns für jene Bedeutungen, die sich in den formalen Bezügen verbergen. Dass eine unabweisbare Aufgabe der Interpretation künstlerischer Werke darin besteht, deren latente Botschaften mittels sprachlicher Artikulation manifest zu machen und zur Diskussion zu stellen, zählt denn auch zu den grundlegenden Überzeugungen des Bildforschers Jürgen Müller. Früh schon war er sich bewusst, dass der Transfer vom Bild zur Sprache ein performativer Akt ist, der mögliche Bedeutungen überhaupt erst hervorbringt – und dies sowohl im historischen Kontext als auch in der aktuellen kunsthistorischen Analyse. Sein Aufsatz »Vom lauten und vom leisen Betrachten« aus dem Jahr 1994 legt hiervon ein beredtes Zeugnis ab. Das in diesem Text erstmals programmatisch formulierte Interesse an »ironischen Bildstrukturen«, in denen das vorderhand zu Sehende nicht gleich schon das Gemeinte ist, hat sich bald zum zentralen Leitmotiv von Müllers Forschungen entwickelt, das er seither in einer Vielzahl von Fallstudien auf breiter Materialbasis entfaltet. Angesichts dieser stets vom Bildlichen ausgehenden Analysen mag es im Rückblick überraschen, dass der Ausgangspunkt seiner wissenschaftlichen Laufbahn eine Dissertation zur frühneuzeitlichen Kunsttheorie war. Concordia Pragensis (1993), eine Studie zu den Viten der Rudolfinischen Hofkünstler in Karel van Manders Schilder-Boeck, legt mit stupender Gelehrsamkeit und Quellenkenntnis die neoplatonischen Fundamente dieses Klassikers der Kunstliteratur frei, fungiert aber zugleich auch als philologische Grundlegung für Müllers darauffolgende Arbeit an den Bildern selbst. Denn bereits hier taucht – wenn auch nur am Rande – eine hermeneutische Schlüsselfigur auf, die sich für alle folgenden Studien als maßgeblich erweisen sollte: der Silen, der mit seinem hässlichen Äußeren seinen inneren Reichtum verbirgt. Diese Figur der Inversion und Dissimulation,

http://doi.org/10.1515/9783422987692/002


10

Vorwort

bei der Form und Inhalt auseinandertreten, um sich nur noch in umgekehrter Proportionalität zu entsprechen, wird für Müller zur erkenntnisleitenden clavis interpretandi, vor allem bei der Interpretation von Werken der sogenannten Genrekunst. Populär und europaweit bekannt wurde die ursprünglich platonische Figur des Silen durch Erasmus von Rotterdam. Dieser hatte in seinem vielfach publizierten und breit rezipierten Adagium Sileni Alcibiadis (ab 1508) eine regelrechte Poetik der silenischen Verkehrung entworfen, die Müller im theoretischen Kernstück seiner Habilitationsschrift Das Paradox als Bildform (1999) sorgfältig rekonstruiert und für die Interpretation der Werke Pieter Bruegels des Älteren fruchtbar gemacht hat. Mit der programmatischen Trennung von äußerer Erscheinung und innerem Wesen bietet die silenische Poetik ein veritables Gegenmodell zum klassisch-rhetorischen decorum, das einem Gutteil der frühneuzeitlichen Kunsttheorie zugrunde liegt. Während das decorum Stillagen und Gattungen im Sinne einer prästabilierten Harmonie einander zuordnet und hierarchisiert, kennt die silenische Form keine derartigen Entsprechungen und Abstufungen. Ihr konzeptueller Ursprung findet sich denn auch im sermo humilis, den bereits der Romanist Erich Auerbach in wegweisenden Studien als Matrix einer christlichen Poetik ausgemacht hatte: Gerade in der schlichten oder gar hässlichen Form der biblischen Sprache verbirgt sich ihr göttlicher Gehalt. Wie Jürgen Müller in den vergangenen 25 Jahren in immer neuen und oft überraschenden Bildlektüren dargelegt hat, folgt die Genrekunst mit ihren niederen, bisweilen auch zotigen Alltagssujets ebendieser Matrix und widersetzt sich so mit Witz und Verve den zumeist machtgestützten klassischen Idealen. Müllers bevorzugte Methode ist dabei bis heute das formal genaue und ikonographisch informierte ›close reading‹: die intensive, höchst aufmerksame und detailgenaue Analyse der Bilder. Mit dem Nietzsche der Morgenröte kann man ihn mit Fug und Recht einen »Lehrer des langsamen Lesens« nennen, der auf vorbildliche Weise »langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offengelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen« zu lesen und zu sehen weiß. Zugleich haben wir es bei ihm mit einem maulwurfgleich »Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden« zu tun, der seine Arbeit im Untergrund der Bilder leistet und dort dank seiner Beharrlichkeit ein ums andere Mal Bemerkenswertes zutage fördert. Dass ein derart wühlender Geist einen ausgeprägten Sinn für Subversion besitzt, erstaunt nicht. So hat ihn die erasmische Goldader, auf die er bei seinen ersten Tiefenbohrungen im Bergmassiv der frühneuzeitlichen Kunst gestoßen ist, zielsicher zu einer Reihe wichtiger Künstler geführt, deren von Müller gedeutete Werke sich Stück für Stück zu einem tendenziell antiklassischen Gegenkanon formieren: Hieronymus Bosch, Albrecht Dürer, Hans Holbein, Barthel und Sebald Beham, Jan van Amstel, Pieter Aertsen, Pieter Bruegel der Ältere, Gerrit van Honthorst und Rembrandt. Letzterem ist seine dritte Monographie in Buchform, Der sokratische Künstler (2015), ge-


Vorwort

11

widmet. In einer ganzen Reihe von Beiträgen zu Caravaggio konnte Müller zudem in jüngster Zeit plausibel machen, dass die silenische Poetik selbst in Italien Fuß gefasst und auch dort den antiklassischen Bilddiskurs mitgeprägt hat. Die Leidenschaft für anschauungsgeleitete Bildinterpretationen pflegt Jürgen Müller freilich nicht nur als forschender Autor, sondern auch als akademischer Lehrer und hochaktiver, polyglotter Vortragsreisender. Studierende in Hamburg, Marburg, Bordeaux, Berlin, Paris und vor allem an der TU Dresden haben in den letzten 30 Jahren von seinem pädagogischen Elan, seiner wissenschaftlichen Kreativität und seiner unbändigen Energie profitieren dürfen. An der TU Dresden hat er als Projektleiter an zwei Sonderforschungsbereichen mitgewirkt: zuletzt im SFB 1285 »Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung« mit dem Teilprojekt »Parodie und Pasquinade. Gestalt und Genese von Modernisierungsprozessen frühneuzeitlicher Kunst« sowie von 2009 bis 2014 im SFB 804 »Transzendenz und Gemeinsinn« mit dem Teilprojekt »Das subversive Bild. Religiöse und profane Deutungsmuster in der Kunst der Frühen Neuzeit«, dem der vorliegende Band seinen Titel verdankt. Als intellektueller Kopf wendet sich Jürgen Müller zudem nicht nur an eine akademische Fachöffentlichkeit, sondern versucht immer auch ein allgemeineres Publikum zu erreichen. So hat er als Autor für die Frankfurter Rundschau, die Neue Zürcher Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung in bislang mehr als 160 Artikeln eine breite Leserschaft an seinen Erkenntnissen teilhaben lassen – sei es in prägnanten Bildanalysen aus seinen Forschungsfeldern oder in Rezensionen aktueller Ausstellungen. Zudem ist ihm die Vermittlung seiner Forschungsergebnisse im Medium der Ausstellung ein großes Anliegen, das immer wieder zu erfolgreichen Kooperationen mit Museen geführt hat: etwa zu Pieter Bruegel in der Hamburger Kunsthalle (2001) und den Kunstsammlungen Chemnitz (2014), zu den Beham-Brüdern im Nürnberger Dürer-Haus (2011) sowie zu Rembrandt im Augustinermuseum Freiburg (2017) und am Dresdner Kupferstich-Kabinett (2019). Dass er für den DFB die Jubiläumsausstellung Der Ball ist rund im Oberhausener Gasometer (2000) mitorganisiert hat, wird zwar lediglich eine Fußnote seiner wissenschaftlichen Vita bleiben, zeigt aber deutlich, dass er keine Berührungsängste gegenüber den Kulturen des Populären hat. Weit über den Bereich der Frühneuzeitforschung hinaus ist Müller denn auch als Herausgeber der Dekaden-Filmbände des Taschen Verlags bekannt geworden, deren zehnter und jüngster Band, 100 Filme der 2010er, soeben erschienen ist. Mit Erwin Panofsky teilt er den Glauben, dass das Kino als schlechthin moderne Kunstform die Kathedrale des 20. Jahrhunderts darstellt, in der nochmals eine erfolgreiche Vermittlung von High und Low gelungen ist. Die vorliegende Festschrift ist Jürgen Müller zum 60. Geburtstag gewidmet. Sie versammelt 27 Beiträge von langjährigen Weggefährtinnen und Weggefährten, die sich mit dem Rahmenthema auf jeweils ganz unterschiedliche Weise auseinandersetzen und


12

Vorwort

dem Jubilar in dieser Form herzlich gratulieren. Ihnen gilt unser großer Dank für ihre Beteiligung und die angenehme Zusammenarbeit. Wir danken zudem Benedikt Taschen, ohne dessen großzügige Zuwendung das vorliegende Buch nicht möglich gewesen wäre. Andrea Kiehn und Martin Lottermoser möchten wir für ihre Unterstützung unserer Redaktionsarbeit danken, Frank Pawella für das fotografische Porträt des Jubilars. Darüber hinaus sei Léna Widerkehr und Henrique Simoes für die Bereitstellung des Titelbildes gedankt, das bei einem Buch dieser Art nicht bloßes Beiwerk ist. Für die souveräne Gestaltung des Bandes danken wir Rüdiger Kern. Schließlich gilt unser Dank den Mitarbeiter*innen des Deutschen Kunstverlags, namentlich Pablo S­ chneider und Imke Wartenberg, die das Unterfangen stets wohlwollend und kompetent betreut und den Band trotz des engen Zeitplans noch rechtzeitig zur Umsetzung gebracht ­haben. Stuttgart, Dresden und Hamburg, im April 2022 Bertram Kaschek, Teresa Ende, Jan-David Mentzel und Frank Schmidt


Barbara Borngässer und Bruno Klein

VON BABEL NACH BLAMABEL1 Überlegungen zur unfreiwilligen Selbstsubversion in der Architektur

Architektur hat am Thema des subversiven Bildes, wie überhaupt an Subversion, augenscheinlich nur geringen Anteil. Die Gründe hierfür sind vielfältig: So ist Bauen in der Regel viel zu kostspielig und zeitaufwendig, um im schnellen Spiel von Konstruktion und Dekonstruktion durch Subversion mithalten zur können: Architektur ist hierfür ein ganz ungeeignetes Medium; sie kann dies allenfalls der flink gezeichneten Architekturkarikatur überlassen. Andererseits wurden natürlich immer Gebäude errichtet, die als Kritik an architektonischen Leitdiskursen ihrer Zeit zu verstehen sind. Die bescheidenen Kirchen der Zisterzienser bedeuten Opposition zu den prachtvollen Bauten der Cluniazenser; Bettelordenskirchen zu den Kathedralen; dekonstruktivistische Architektur zur BetonModerne usw. Dies alles gehört aber eher in das von Martin Warnke so definierte Feld von »Bau und Gegenbau«2 und ist damit quasi systemimmanent, hat aber wenig mit spontaner, fluider und spielerischer Subversion zu tun. Diese sprießt hingegen gerne dort, wo hochmögenden Bauherren die praktische wie diskursive Kontrolle über ihre Projekte entgleitet. Ihr Status verfestigt sich dann nämlich nicht wie beabsichtigt, sondern wird im Gegenteil untergraben. Es kommt damit zur unfreiwilligen »Selbstsubversion«, die nie hätte stattfinden können, wenn nicht am Anfang die Initiative der Bauherren gestanden hätte. Das Urteil, ob ein Bau als visionär3 oder bombastisch gilt und sein Auftraggeber als genial, größenwahnsinnig oder bloß peinlich, hängt dabei von zahlreichen Variablen ab. Diese sind bisher nur selten zum Thema der Architekturgeschichte geworden, die sich eher den Erfolgsgeschichten als den fatalen Bauten widmet. Die folgenden Betrachtungen beruhen auf einer Sammlung zufällig zusammengetragener Beispiele – in der Hoffnung, dass das darauf errichtete Gedankengebäude seine Architekten nicht seinerseits blamieren möge.

http://doi.org/10.1515/9783422987692/003


14

Barbara Borngässer und Bruno Klein

Maß und Maßlosigkeit Literarisch beginnt die Architekturgeschichte mit einem für seine Auftraggeber fatalen Bauprojekt, dem Turm zu Babel (Abb. 1).4 Er wurde, laut der relativ kurzen Passage in der Genesis, von der gesamten Menschheit geplant, um mit seiner Spitze bis an den Himmel heranzureichen. Gott bemerkt dieses Projekt, schaut es sich an und führt dann zur Verhinderung potenziell noch weiterreichender menschlicher Hybris die bekannte Sprachverwirrung ein. Blamiert hat sich die Menschheit beim Turmbau zu Babel allerdings nicht: Denn vor wem, außer Gott, wäre dies überhaupt möglich gewesen? Das Verhältnis zwischen den menschlichen Bauherren und ihrem göttlichen Kritiker ist von vorneherein asymmetrisch, nicht variabel und im Resultat, z. B. durch den Einsatz von Medien, nicht zu korrigieren. Erstaunlicherweise hat sich nicht einmal Kaiser Nero mit seiner maßlosen Domus Aurea blamiert.5 Zwar gab es durchaus öffentliche Kritik an seinem hypertrophen Bauvorhaben,6 aber generell scheint solches dem Imperator zugestanden worden zu sein. Auch hat Nero – sofern den späteren Quellen, vor allem Sueton zu glauben ist – bereits früh ein effizientes Mittel eingesetzt, um den Eindruck von völliger Hybris zu vermeiden: Selbstironie! Obwohl er nämlich alle integren Personen verfolgte, soll er doch in seinem ganzen Zynismus gerade diejenigen geschont haben, die in Hinblick auf den Bau der Domus Aurea über ihn spotteten. Solche gelegentlichen Anflüge von Selbstkritik7 zeigen, dass selbst Bauherren von gigantischen Großprojekten sich manchmal deren zweifelhafter Wirkung bewusst waren und folglich ihren Kritikern den Wind durch echte oder vorgetäuschte Selbstkritik aus den Segeln nahmen. Selbst scheinbar maßlose Bauherren überschritten mit ihren Bauprojekten die Grenzen der Peinlichkeit nicht, wenn sie über eine hinreichende Ranghöhe verfügten und sich zugleich in einem anerkannten Leitdiskurs bewegten. Beispielsweise wurde der Kaiser Justinian bei Vollendung der Hagia Sophia (537) in den Mund gelegte Ausspruch »Salomon, ich habe Dich besiegt (übertroffen)«8 nicht als Hybris empfunden, weil ihm als imperialem Bauherren mehr als anderen zugestanden wurde – siehe Nero. Auch orientierte sich seine Äußerung an Leitbildern wie Frömmigkeit, am Vergleich zwischen Altem und Neuen Testament und auf künstlerischem Gebiet an den Konzepten Imitatio und Aemulatio. Gerade weil Imitation lange Zeit als ein Ideal galt, hielten sich die Folgen des Wettbewerbs, der Aemulatio, in Schranken. Daher wurde auch der Bau riesiger gotischer Kathedralen wie in Beauvais oder Köln zu ihrer Zeit nicht per se als Hybris empfunden, obwohl sie nicht vollendet werden konnten. Offenbar scheint der Bauaufgabe der Kirche, speziell der Kathedrale, im Mittelalter eine gewisse »Maßlosigkeit« zugestanden worden zu sein, was sich erst im Zeitalter der Reformation änderte. Die genannten Bauten stehen kurz vor oder genau auf der Grenze zwischen dem Angemessenen und dem Peinlichen. Dass deren Überschreiten durch Verletzung von


Von Babel nach blamabel

15

1 Pieter Bruegel d. Ä.: Turmbau zu Babel, 1563, Öl auf Eichenholz, 114,4 × 155,5 cm. Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie

nicht ausformulierten, doch subkutan vorhandenen Regeln für den Bauherren fatale Auswirkungen haben konnte, zeigt sich an Schloss Vaux-le-Vicomte in Frankreich: Nicolas Fouquet, der Finanzminister des jungen Ludwig XIV ., hatte 1651 anlässlich der Fertigstellung seines Schlosses den König zu einer exorbitanten Einweihungsfeier eingeladen. Ludwig empfand offenbar das, was ihm vorgeführt wurde, als maßlose Überschreitung der Grenzen des Decorum, ließ Fouquet wenig später verhaften und ins Gefängnis werfen, wo er den Rest seines Lebens verbringen sollte. Zwar nahm König Ludwig wenig später mit seinem Schloss Versailles ein noch viel größeres Projekt in Angriff, konnte sich dabei aber, zumindest innerhalb seines Königreichs, vor jeglicher Kritik gefeit fühlen, da er die Regeln zu bestimmen vermochte. Dass diese sich knapp 200 Jahre später im bürgerlichen Zeitalter grundlegend geändert hatten, verkannte ein anderer König gleichen Namens: Ludwig II . von Bayern ruinierte sich durch den Bau seiner Paläste.9 Zwar sind seine »Märchenschlösser« heute Besuchermagneten – ihn selbst kosteten sie aber erst die Krone und dann wahrscheinlich auch das Leben. Verspäteten absolutistischen Ideen anhängend, enthusiasmiert


16

Barbara Borngässer und Bruno Klein

2 Herrenchiemsee, Schloss, ­unvollendetes Treppenhaus

vom Glanz Ludwigs XIV . und zugleich begeistert von der Kultur des Mittelalters, ließ er sich drei romantische Schlossbauten errichten: Neuschwanstein (1869–1886), Linderhof (1874–1878) und Herrenchiemsee (1878–1886) (Abb. 2). Die historistischen, bis ins kleinste Detail exquisit ausgestatteten Anlagen zerrütteten die Kassen Bayerns, so dass Ludwig faktisch aufgrund seiner Schulden,10 aber nach außen hin wegen eines angeblich unheilbaren »Seelenleidens« am 8. Juni 1886 entmündigt wurde. Wenige Tage später fand er unter bis heute nicht völlig geklärten Umständen den Tod.11


Von Babel nach blamabel

17

Blamable Bauprozesse Die Grenzen zwischen gerechtfertigt und peinlich sind in der Architektur auch deshalb fließend, weil durchaus ein Zwang zur Errichtung praktisch wie repräsentativ notwendiger Großbauten besteht. Fürsten oder moderne Regierungen sind unbestritten in der Pflicht, diesem »Bauzwang« zu folgen. Nur dürfen sie diese Verpflichtung nicht als Quelle des persönlichen Ruhms missbrauchen. Über dieses Spannungsfeld zwischen gerechtfertigtem und überzogenem Aufwand, den finanziellen Möglichkeiten des Bauherrn und der Beanspruchung der zur Errichtung erforderlichen Personen und Mittel ist seit der Antike viel geschrieben worden. Für das Mittelalter hat Martin Warnke dies ausgelotet,12 während Leon Battista Alberti am Beginn der Neuzeit ein paar allgemeine Regeln hierfür aufgestellt hat. Das Thema ist somit zwar alt, seine Modellierung hängt aber immer wieder neu von wandelbaren Bedingungen ab. Geradezu klassisch ist die Kombination von Scheitern und daraus resultierender Blamage bei jenen Bauherren, die Aufwand und Kosten ihrer Projekte falsch kalkulieren. Dieser Fall wird im Neuen Testament sogar von Christus selbst als Negativbeispiel angeführt.13 Dabei entwickeln sich entsprechende Bauvorhaben in der Regel erst allmählich zur Schande für den Bauherrn: So ließ Abt Ratgar von Fulda am Beginn des 9. Jahrhunderts seine Klosterkirche erneuern und erweitern, weil sie sich zunehmend zum Wallfahrtsort des dort bestatteten Bonifatius entwickelte. Dies war legitim. Doch überforderte der Bau die Klostergemeinschaft in zunehmendem Maße, und da der Abt offenbar auch hochfahrend und nicht kompromissbereit war, wandten sich die Mönche schließlich mit einer Klageschrift an Kaiser Karl den Großen, in der sie das Unternehmen als »iuxta misuram et discretionem« charakterisierten.14 In der Tat wurde Ratgar deshalb 817 unter Ludwig dem Frommen abgesetzt und verbannt. Um 1030 begann Abt Airard von Saint-Remi in Reims einen großartigen Neubau seiner Kirche, nachdem er gesehen hatte, dass auch seine Amtsbrüder dies taten. Insofern war das Projekt vertretbar.15 Allerdings sollte er es mit dem Aufwand übertreiben. Denn nachdem er gestorben war, stand sein Nachfolger Theoderich vor der unlösbaren Aufgabe, den überdimensionierten, viel zu teuren Bau zu vollenden, weshalb er ihn größtenteils wieder abtragen lassen musste.16 Immerhin blieb Airard, dem ersten Bauherrn, durch seinen Tod die Schande erspart, dies selbst veranlassen zu müssen. Zudem haben die Autoren der Quellen, denen diese Informationen zu entnehmen sind, sich sehr bemüht, jeglichen Eindruck von Peinlichkeit für einen der Beteiligten zu vermeiden. Bei diesen älteren Beispielen blamierten sich die Bauherren nur vor einem relativ kleinen Personenkreis. Zwar gelangte der Fall Ratgars auf Reichsebene, dennoch dürfte die Menge derjenigen, die involviert und informiert waren, überschaubar gewesen sein.


18

Barbara Borngässer und Bruno Klein

3 Siena, Dom (rechts) mit dem Torso des Duomo Nuovo (links)

Im späten Mittelalter änderte sich dies, wie am Fall der Kathedrale von Narbonne abzulesen: 1272 begann das Domkapitel deren Neubau mit einem zinnenbekrönten Chor, der die tiefergelegene Stadt wie eine Burg dominiert.17 Dieses Monument sollte in einer Zeit langandauernder Konflikte eindeutig den Triumph des Domstifts über die Kommune demonstrieren. In ihrer Überheblichkeit unterschätzten die Kleriker die Stadt dabei völlig: Diese nämlich genehmigte den für den Weiterbau der Kathedrale nach Westen notwendigen Abriss der Stadtmauer nicht. Und so blieb der Dom ein für seine arroganten Bauherren peinlicher Torso. Ähnlich der Fall des sogenannten »Duomo Nuovo« in Siena (Abb. 3), bei dem es sich um ein völlig hypertrophes, eigentlich von Anfang an nicht realisierbares Projekt aus der Zeit der sich selbst zunehmend idealisierenden »Herrschaft der Neun« gehandelt hatte (1270–1355).18 Eine innerstädtische Revolution beendete nicht bloß dieses zunehmend elitär gewordene Regiment, sondern auch dessen Dombau, der anschließend zur Hälfte abgerissen wurde. Hierfür werden bis heute fast nur technische Gründe genannt, während kaum beachtet wird, dass dieser Teilabriss, gemeinsam mit dem Stehenlassen des Torsos, ähnlich wie in Narbonne Dokumente für den Triumph der einen Partei und die inszenierte Blamage der anderen sind.


Von Babel nach blamabel

19

4 Marten van Heemskerck: Skizzenbuch I, f. 15r., Rom, St. Peter, Zustand des Neubaus um 1536, Zeichnung (Ausschnitt). Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett

Beide Fälle ereigneten sich nahezu gleichzeitig – 1349 führten die Narbonneser Domherren einen erfolglosen Prozess um die Weiterführung ihrer 1272 begonnenen Kathedrale, 1355 beendete die innerstädtische Sieneser Revolte faktisch den 1339 begonnenen »Duomo Nuovo«. Wahrscheinlich war dies kein Zufall, vielmehr dokumentieren beide Fälle ein zu dieser Zeit sich entwickelndes Bewusstsein dafür, dass monumentale Bauwerke sowohl Zeugnisse für bauherrliche Triumphe wie deren Blamagen vor einer größeren Öffentlichkeit sein konnten.19 Jedenfalls wird die Rolle des Bauherrn seit dem 14. Jahrhundert signifikant kritischer gesehen. Eine der berühmtesten Bauherren-Blamagen ereignete sich dann beim 1506 unter Papst Julius II . begonnenen Neubau der römischen Peterskirche: Nachdem die vermeintlich einsturzgefährdete spätantike Basilika weitgehend abgerissen war, um durch einen viel größeren Neubau »all’antica« ersetzt zu werden, stockte das Neubauprojekt und lief sogar Gefahr, zur Bauruine zu werden (Abb. 4). Zwar konnte die Kirche nach über einhundertjähriger Bauzeit schließlich doch noch vollendet werden, aber der unterdessen eingetretene Imageschaden für die Päpste, die sich gerade in der Hochzeit der Konfessionalisierung von protestantischer Seite als inkompetente Bauherren vorführen ließen, war enorm!20 Denn das faktisch drohende Scheitern des Neubaus


20

Barbara Borngässer und Bruno Klein

rief zahlreiche Akteure auf den Plan, die daraus ein echtes mediales Ereignis machten: Architekten (Michelangelo), deren Historiographen (Vasari), Maler und danach auch zahllose Kunsthistoriker. Vom Odium des hypertrophen Bauwerks ließ sich St. Peter und ließen sich die Päpste als dessen Auftraggeber jedenfalls nie mehr ganz befreien. Die Bandbreite der Narration vom Bau der römischen Peterskirche umfasst es aber auch, dass einzelne Päpste wie Paul III ., Sixtus V. und Paul V. wiederum als Retter des Bauprojektes inszeniert werden konnten. Schließlich zeigt der Fall der Peterskirche auf dem Gebiet der Architektur, wie sehr es der seit dem 15. Jahrhundert entstandenen neuen Medien bedurfte, um größtmögliche Peinlichkeit in der Öffentlichkeit zu erzielen – was in der Gegenwart durch die sozialen Medien bis hin zum globalen Shitstorm erweitert wird.

Hypertrophe Imitationen Alle diese Peinlichkeiten rund um den Bau von St. Peter in Rom konnten nicht verhindern, dass die Kirche nach ihrer Vollendung zu einem Modell wurde, an dessen Imitation sich diverse Bauherren immer wieder verhoben, wie folgende Beispiele zeigen: Gold und Diamanten aus Brasilien verschafften der portugiesischen Krone zu Beginn des 18. Jahrhunderts unermesslichen Reichtum – das Ansehen der Monarchien in Frankreich, Spanien und im Deutschen Reich genoss sie indes nicht. So war es Lebensziel von König Johann V., mit Hilfe des Heiligen Stuhls die Aufwertung seines Königshauses zu erreichen: Finanzielle und militärische Unterstützung gegen die Türken (1716/17) sicherten ihm die Dankbarkeit von Papst Clemens XI . Dermaßen bestärkt entwickelte der Portugiese die Vorstellung, am Tejo ein »Rom des Westens« zu errichten und Lissabon als Kapitale des Atlantiks auszubauen.21 Im Mittelpunkt der damit verbundenen Maßnahmen stand die Einrichtung eines Palastes mit Kirche für das 1716 päpstlich neubegründete Patriarchat,22 wofür Filippo Juvarra die Entwürfe lieferte. Etwa gleichzeitig wurde mit der Klosterresidenz Mafra ein zweiter Monumentalbau in Angriff genommen, der den spanischen Escorial an Größe und Ausstattung übertreffen sollte. Insgesamt wurden alle Register gezogen, um den Vatikan und die päpstlichen Institutionen zu imitieren, weshalb in Rom ein ganzer Stab von Künstlern engagiert war, minutiös Bauten, Skulpturen, liturgisches Gerät und Zeremonien zu kopieren. Aber als die Gesundheit des Königs ebenso wie seine politische fortune schwanden, blieben die Bauvorhaben unvollendet. Vieles Weitere wurde schließlich 1755 vom großen Erdbeben fortgefegt. Mit dem unmittelbar danach beginnenden, drastisch rationalen Wirken des Marquês de Pombal gerieten die ruhmsüchtigen, innerhalb der spätbarocken politischen Kultur noch erklärbaren Projekte von Johann V. innerhalb kürzester Zeit zu Kuriosa, zum gescheiterten Entwurf eines Operettenvatikans.




Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.