Christa Lichtenstern »ICH BIN EIN PLASTIKER« GOETHES UNGESCHRIEBENESKULPTURÄSTHETIK
»Ich bin ein Plastiker« Goethes ungeschriebene Skulpturästhetik Für Emil Cimiotti (1927–2019)
Christa Lichtenstern »ICH BIN EIN PLASTIKER« GOETHES UNGESCHRIEBENESKULPTURÄSTHETIK
Inhalt
Zweiter Teil ASPEKTE EINER UNGESCHRIEBENEN SKULPTURÄSTHETIK 98 SKULPTUREVOKATIONEN IN DER DICHTUNG 99 SPRACHE UND PLASTIK: PARALLELISMEN 113 GOETHES FORMBEGRIFF IM WANDEL 121 »Innere Form« im Sturm und Drang 122 Formideal in der Klassik 124 Morphologische Erweiterung – Die »lebend sich entwickelnde« Form 127 SECHS ZUKUNFTSWEISENDE LEITBEGRIFFE 133 Zusammenfassung 142 ANMERKUNGEN PERSONENREGISTER146 BILD-LITERATURVERZEICHNIS192198UNDFOTONACHWEIS212
Vorwort 6 Im Echoraum der Gegenwart MODERNE BILDHAUER UND GOETHE 8 ANDREU ALFARO – ANGEWANDTE GEOMETRIE 8 JOSEPH BEUYS – DENKEN IN POLARITÄTEN 10
EMIL CIMIOTTI – »DENN WAS INNEN, DAS IST AUSSEN« 12 EDUARDO CHILLIDA – DIE SPIRITUALISIERUNG DES LICHTES 13 EWALD MATARÉ – DIE URFORM 15 HENRY MOORE – DAS ORGANISCHE GANZE 16 FAZIT Einführung17 »ICH BIN EIN PLASTIKER« – GOETHES IDENTIFIKATORISCHES PLASTIKVERSTÄNDNIS 18
Erster Teil GOETHE UND DIE SKULPTUR 22 KUNSTPRAXIS – HANDWERK – MATERIALKUNDE: WEGE ZUR PLASTIK 24 Frankfurt am Main – Kindheit und Jugend 25 Leipzig – Winckelmann 26 Mannheim – Antikenstudium 27 Straßburg – Herders neue Plastik- und Sprachtheorie und seine Wirkung in Weimar 28 Rom – Antikenstudium, Michelangelo, Cellini und Selbstbildung als »Plastiker« 35 Weimar – Ausgewählte Denkmalssetzungen im öffentlichen Raum 45 KREATIVE BEGEGNUNG MIT FÜHRENDEN BILDHAUERN: SCHADOW, TIECK UND D’ANGERS 54 RAUCH IM DIALOG MIT GOETHES KUNSTMAXIMEN 70 GRENZERWEITERUNGEN: AUSFLÜGE IN DIE »CHRISTLICHE PLASTIK« 86
76 | Goethe ist mehr denn je für Entdeckungen gut. Seine Farbenlehre gewinnt in der Physik an Gewicht. Der Faust gehört der ganzen Welt. Sein tiefes Naturverständnis fesselt neu. Seine ausgehaltene Spannung zwischen Weltbürgertum und antik-christlichem Erbe ist gerade heute vorbildlich. In vielen Ländern durch die Goethe-Institute präsent gehalten, durch ungewohnt breite Forschungsvorhaben wie die Propyläen. Forschungsplattform zu Goethes Biographica aktualisiert und in den Goethe-Museen von Weimar und Frankfurt am Main mit erweiterten Veranstaltungsprogrammen ausgestattet, erscheint Goethe als Ideengeber gefragt. Inwiefern dies auch sein Verhältnis zur Plastik betrifft, ist gemeinhin weniger bekannt. Und doch spiegelt sich in diesem Verhältnis der ganze Goethe: mit seinen als »plastisch« wahrgenommenen poetischen Verfahren ebenso wie mit seiner Naturanschauung des Ge genständlichen. In früher Jugend von Winckelmann und Herder geprägt, vollends in Rom vor den antiken Originalen und solchen, die dafür gehalten wurden, enthusiasmiert, bleibt Goethe für die zur Leitgattung des Klassizismus aufgestiegene Skulptur auf der Suche nach Gesetzen und Regeln. Sie sollten seiner Anschauung die nötige Erkenntnisgrundlage geben. Allerdings war es seine Sache nicht, theoretische Einsichten zu einer geschlossenen Ästhetik der Skulptur auszuformulieren. Hingegeben an das Studium seiner Bron zen, Medaillen, Gemmen und Münzen geht es ihm um Anschauung und mit ihr um die Erschließung epochenübergreifender skulpturgeschichtlicher Zusammenhänge. Sie um spannen, für jene Zeit ungewöhnlich weit, ägyptische wie griechisch-etruskische – römi sche – Antiken und zielen über die Renaissance, den Manierismus bis in seine Gegenwart. Vorwort
Hinzu kommen eigene Denkmalssetzungen und -entwürfe, sodann die Zusammenarbeit mit den Weimarer Hofbildhauern und den führenden Berliner Bildhauern des Klassizismus und nicht zuletzt, wenn auch in bescheidenem Umfang, das eigene Modellieren in Rom. Über die Darstellung dieser hinreichend komplexen Sachlage hinaus galt es den Blick zu weiten. So stand die Frage an, wie integral veranlagt bis in die eigene Dichtung hinein und wie ausgreifend in seine Morphologie Goethes erklärte Identifikation mit der Plastik war?
Die Arbeit wendet sich an Goethe-Liebhaber und Kenner, genauso an Bildhauer, Studie rende, Kollegen und Universalisten überhaupt.
Und was bedeuten seine Plastikstudien für die heute in unserer digitalen Zeit notwendige Intensivierung realer taktiler Erfahrungen?
Mein Dank an alle, die diese Arbeit unterstützten, geht weit. Unter den Freunden und Kollegen, die mir mit ihren wertvollen Hinweisen, ja bis hin zur Literaturbeschaffung bei pandemiebedingt geschlossenen Bibliotheken, geholfen haben, möchte ich namentlich sehr herzlich danken: Brigitte Scheer, Petra Maisak, Werner Schnell, Elsbeth Weymann, Marion Thielebein, Miriam Swast und Steffi Helbig. Großen Dank schulde ich Professor Dr. Anne Bohnenkamp-Renken, die bereit war, das Buch für ihr Goethe-Museum in Frankfurt am Main zu übernehmen. Durch diese Anbindung konnte die Hessische Kulturstiftung, bei der ich 25 Jahre im Beirat tätig war, einen namhaften Druckkostenzuschuss gewähren. Nicht minder herzlich bedanke ich mich bei meinen »Buchmachern«, Berlin, für ihren Zu spruch von Anfang an: bei Dr. Petra Kruse für ihr kluges Lektorat, für ihren unermüdlichen Einsatz bei der Gesamtherstellung und nicht zuletzt für die mühsame Beschaffung der Abbildungen und ihrer Rechteabklärung, Kai Reschke für sein gewohnt ingeniöses Layout. Beide schlugen erneut die bewährte Brücke zum Deutschen Kunstverlag, der die Publikation dankenswerterweise in sein Programm aufgenommen hat. Christa Lichtenstern Berlin, 12. Mai 2022
Was ergeben seine theoretischen Einsichten für eine ungeschriebene Skulpturästhetik?
ANDREU ALFARO – ANGEWANDTE GEOMETRIE Andreu Alfaro (1929–2012) hat in Spanien und stark nach Deutschland ausstrahlend der konstruktivisti schen Skulptur ein ganz eigenes Gepräge gegeben. Er entwickelte über die Linie das Erbe seines Vorläufers, Julio González, weiter. Seine »Zeichnung im Raum« (González) behauptet sich mittels Eisendrähten oder Vierkantstäben in vielansichtigen Verflechtungen geo metrischer Raumgebilde. Ab 1981 schuf er einen selten umfangreichen Werk komplex, der Goethe, seinen Werken, seiner Wissen schaft und seinen Freunden gewidmet ist.1 Die Arbeiten tragen Titel wie Charlotte von Stein, Cornelia Goethe, Goethe als Jüngling neben Schiller, Eckermann, Herder, Hegel, Wil helm von Humboldt. Über 100 Werke konnte Alfaro so bis in die 1990er-Jahre vereinen, mehr als ein Bildhauer je Goethe gewidmet hat. Eine eigene Gruppe bilden jene Skulpturen, mit denen sich Alfaro anhand seiner katalani schen Goethe-Ausgabe dem Naturforscher Goethe und dessen Erkenntnissen zuwendete. Es sind letztlich extrem verdichtete Zeichensetzungen, so etwa in Goethe und die Wissen schaften, Über die Farbtheorien Goethes und in Die Seele Goethes. 2009 fand die Aufstellung seiner großen diaphanen Stahlskulptur El Olimpo de Weimar in der Gallusanlage
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Dieses Buch widme ich meinem Lebenspartner, dem Bildhauer Emil Cimiotti. In den weni gen Jahren, die uns beschieden waren, bezogen sich unsere Gespräche öfter auf Goethe. Mit ihm verband Cimiotti viel. Der Dichter und Naturforscher grundierte explizit Cimiottis tiefes Naturerleben. So bot es sich an, diese Untersuchung gleichsam vom Echoraum der Gegenwart aus ein zuleiten. Am Beispiel von Andreu Alfaro, Joseph Beuys, Eduardo Chillida, Emil Cimiotti, Ewald Mataré und Henry Moore, die sich in der jüngeren Vergangenheit auf Goethe beriefen, sollen Annäherungen zeitgenössischer Künstler kurz exemplarisch vorgestellt werden. Sie bilden be stimmte Aspekte des Goethe’schen Plastikverständ nisses durch den individuellen Rückspiegel ihrer bild nerischen Anliegen ab. So bestätigen sie indirekt das Zukunftspotenzial, das von Goethes ungeschriebener Skulpturästhetik ausgeht.
Im Echoraum der Gegenwart MODERNE BILDHAUER UND GOETHE 1 Andreu Alfaro El Olimpo de Weimar1982Eisen 975 × 237 × 659 FrankfurtGallus-AnlagecmamMain
Die Seele Goethes bildete ein Rhombus das Kern stück (Abb. 2). Geht man weiter um El Olimpo de Weimar herum, schwindet der Rhombus. Er wird zusehends zum Strich reduziert, und zwar in dem Maße, wie die Kreisformen um ihn wachsen und an Raum gewinnen. Der Kreis als altes Symbol der Vollkommenheit2 wird hier in fortwährende Bewegung versetzt. Nach unten zu hat ihn der Künstler gleichsam geerdet durch zwei auf den Boden herabreichende Strahlenkompartimente, die auf der Plinthe verschweißt und verankert wurden. Plinthe und Skulptur bilden eine Einheit. Alfaro erfasst in diesem Hauptwerk seiner Goe the-Werkserie intuitiv den »hombre dialogo«. Punkthafte, im Rhombus zusammengeführte Verdichtung und kreisende Öffnung verweisen auf die polaren Grundprinzipien der Goe the’schen Metamorphosenlehre wie auf dessen Lebensgestaltung überhaupt: Systole und Diastole, Verselbstung und Entselbstung. Alfaros Sprachmittel ist in seinem gesamtem Goethe-Zyklus die Geometrie. Gut vorstell bar, dass er den folgenden Passus aus »Makariens Archiv« kannte, der aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderungen stammt: »Geometrie ist hier in ihren ersten Elementen ge dacht, wie sie uns im Euklid vorliegt und wie wir sie einen jeden Anfänger beginnen lassen. Alsdann aber ist sie die vollkommenste Vorbereitung, ja Einleitung in die Philosophie.«3
in Goethes Geburtsstadt große Aufmerksamkeit (siehe Umschlagabbildung).
2 Andreu Alfaro Die Seele Goethes 112Eisen1982× 34 × 20 cm Privatbesitz
Sie wurde von einem New Yorker Sammler, einem ehemaligen Bürger Frankfurts, der Stadt geschenkt. Die Arbeit entstand 1982 auf der Basis einer ersten kleineren Version und ist allansichtig an gelegt. Nach Alfaros eigenen Worten sollte der Titel an das geistige Zentrum erinnern, welches Goethe in Weimar begründete. Man erkennt in mitten der Skulptur einen Rhombus, von dem aus zunehmend größer werdende Kreise sich immer höher und weiter in den Raum öffnen. Schon in der gleichzeitig entstandenen Eisenkomposition
Botho Strauß wohnte der Aktion bei und betonte in einer Rezension den Hermetismus des absolut »fiktionslosen« Geschehens. In dem Pferd sah er eine »persönliche Epipha nie« von Beuys. Die Gesten der Hände des Künstlers stünden absichtsvoll außerhalb jeder Interpretation. »Alles, was er unternimmt, scheint ihm planlos, intuitiv einzufal len. Dann kommt seinen locker aufeinanderfolgenden, aber in sich beherrschten Aktio nen gegenüber dem konservierten Text, dessen eintönigem Ablauf, die Eigenschaft von Kontrastspielen, auch von Widerstand zu.«9 Goethes Iphigenie gewinnt mittels dieser »Kontrastspiele« Beuys’sches Profil. und Goethe
Moderne Bildhauer
Als Vertreter des Weiblichen und des Männlichen verweisen sie auf die miteinander ver bundenen Pole des Menschseins: Unten Montanus in seiner Selbstverpflichtung auf die Erde und oben Makarie in ihrer spirituellen Sehnsucht und Kosmosverbundenheit.6
JOSEPH BEUYS – DENKEN IN POLARITÄTEN
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Als Zeichner, Bildhauer, Pädagoge und politischer Aktivist gewann Joseph Beuys (1921–1986) gerade auch seit seinem Jubiläumsjahr 2021 wieder erneute Aktualität. Unermüd lich trieb es ihn an, unser Verhältnis zur Natur, zur Sprache, zum Menschen und zur Gesellschaft spirituell zu erneuern. Folgerichtig fühlte er sich lebenslang zu Goethe wie auch zum deutschen Idealismus und zur Romantik hingezogen. In den späten 1940er- und 1950er-Jahren bieten seine ingeniösen Zeichnungen zum Thema der Metamorphose der Pflanzen und zu Faust (1953) ein eindringliches Zeugnis seiner selbstständigen Ausein andersetzung.4 So kommt er etwa den großen »Triebrädern« der Metamorphose, Polarität und Steigerung, auf die vielfältigste Weise nahe. Besonders offenkundig wird dies, wenn er sich 1951 Goethes Gestalten Makarie und Montanus aus Wilhelm Meisters Wander jahre oder Die Entsagenden zuwendet (Abb. 3). Zwischen Gebirgen, dem »meeting place of heaven and earth and the source of prime matter«5 erkennt man ein Paar, schmal über einander – Fußsohlen gegen Fußsohlen – aufgetürmt.
Eine erste öffentliche Goethe-Transformation findet sich 1969 auf der Experimenta 2 in Frankfurt am Main in der Aktion Iphigenie/Titus Andronicus 7 Auf der Bühne stand in einem von Seilen abgetrennten Bereich ein Schimmel und fraß Heu. Er steht für Iphi genies Reinheit und Opferbereitschaft, während William Shakespeares Titus die Bruta lität vertritt. Daneben liefen monotone Tonbandtexte der beiden Dramen von Goethe und Shakespeare. Dieser Geräuschfolie setzte Beuys einige Passagen aus der Iphigenie klar ausgesprochen entgegen, unter anderem den Vers »Dies Frauenschicksal ist vor allen meins«.8 Damit betont er einmal mehr die Bedeutung der Sprache als plastischem Prozess. Dazu trug er einen eigens hergestellten langen hellen Pelzmantel, der innen mit blauer Seide abgefüttert war – eine nobilitierte Ausrüstung neben dem edlen Tier.
Ein großes Thema war für Beuys der erweiterte Wissenschaftsansatz von Goethe. Von seiner Naturforschung ausgehend und den Streit mit Isaac Newton berührend, erkannte er Goethes »anderen Lichtbegriff […] evolutionäres Licht, evolutionäre Wärme«.10 Ebenso fundamental von der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners durchdrungen,11 plädierte Beuys für eine neue Erkenntnis der geisterfüllten Natur. Wie sich das bis ins Detail in seinem »Er weiterten Kunstbegriff« niederschlägt, hat Heike Fuhlbrügge unter anderem mit Blick auf Goethes »Idee des Polaren (Expansion und Konzentration) als Grundstruktur der Realität« und der »Durchdringung von Geist und Materie« gezeigt.12 Eine weitere Verbindung zu Goethe sehe ich in Beuys’ vergleichbar intensivem Material verständnis gegeben. Was bei dem Naturforscher gleichsam die Andacht vor dem Granit war, galt für Beuys – aus seiner Kenntnis der geologischen Voraussetzungen – ähnlich für Basalt.13 Hinzu kommt seine grundlegende Entdeckung von Fett und Filz, die mit ihren Wärmepotenzen auf einen im Beuys’schen Sinne erneuerten Prozessbegriff von Plastik verweisen. 3 Joseph Beuys Makarie und Montanus 19Bleistift1951×26,5 cm Staatliche Museen zu Berlin –HamburgerKulturbesitz,PreußischerBahnhof –Museum der Gegenwart, Sammlung Marx
Ob Baumeister bei dieser Gelegenheit sein kapitales Goethe-Gemälde Metamorphose der Pflanzen (1939/40) aus der Zeit der inneren Emigration erwähnte, muss offenbleiben.
Moderne
Cimiotti, in einfachsten Verhältnissen bildungsfern, aber behütet aufgewachsen, wurde dank der Wachheit seines Vaters vor dem Eintritt in die Napola, die nationalsozialistische Eliteschule, bewahrt. Goethe musste er sich allein erobern und fand zuerst Zugang zu dessen Gedichten. Nach Heine hat er Goethe am meisten auswendig zitiert, vor allem aus dem Faust. In einem Arbeitsbuch von 2010/11 finden sich unter vorbereitenden Zeichnun gen Hinweise auf seine Beschäftigung mit dem West-Östlichen Divan und auf Wilhelm Meister Lebenslang. verfügte er über ein ausgeprägtes Sprach- und Stilempfinden. Seine Aufmerk samkeit auf die Sprachbewegungen etwa eines Robert Musil oder Uwe Johnson fand ihre Parallele in seinen eigenen Prozessen der Formfindung.15 Diese Nähe von Sprache und Plastik verbindet ihn mit Goethe. Zum anderen war es Cimiottis besondere Naturliebe, die ihn zu Goethe hinzog. Im Ge spräch konnte er sogar einer »Naturfrömmigkeit« zustimmen, die er von Goethe her in freilassender Nachfolge akzeptierte. Eine Goethe’sche Spur wird bei ihm immer dort erkennbar, wo sein morphologisches Naturverständnis aufleuchtet. Viele seiner in Wachs Bildhauer und Goethe
12 | 13 EMIL CIMIOTTI – »DENN WAS INNEN, DAS IST AUSSEN« Emil Cimiotti (1927–2019) galt vielen als der »Donjon der deutschen Nachkriegsskulp tur«.14 In langer Schaffenszeit hat er eine von Grund auf neue Form der Skulptur geschaf fen, die sich der Nazikunst mit ihrer verlogenen Heroik in jeder Hinsicht widersetzte. Auch der zu seiner Zeit allgegenwärtige Glaubenskrieg zwischen abstrakt oder gegenständlich hatte für ihn keine Bedeutung. Schon früh fand er auf der Stuttgarter Akademie in Willi Baumeister seinen Mentor. Baumeister war als Professor für Malerei nicht sein Lehrer, doch erkannte er im jungen Cimiotti eine eigene bildhauerische Kraft, deren Zukunfts versprechen sich in den zwei Teilnahmen an der Biennale in Venedig und auf der zweiten und dritten documenta bestätigen sollte. Baumeister besuchte Cimiotti in seinem kleinen Arbeitsraum in der Akademie, unterhielt sich mit ihm über Kunst allgemein und ließ ihn an seinen Schülerkorrekturen teilnehmen. Ein bevorzugtes Gesprächsthema waren sicher lich Inhalte seiner in der inneren Emigration geschriebenen und 1947 veröffentlichten Untersuchung Das Unbekannte in der Kunst. Sie wurde zum Kultbuch der rasch aufblühen den abstrakten Szene in Deutschland. Baumeister führt darin aus, wie das Potenzial des Unbekannten vom Künstler im Entstehungsprozess seines Werkes vage erspürt und erst bei dessen Fertigstellung als »Geheimnis der Schöpfungstat« wahrgenommen wird. Dieses Prozedere lenkt den Künstler auf die organischen Formen und bildenden Kräfte der Natur.
Chillidas Skulpturen und grafische Arbeiten waren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun derts – nach Picasso – der eindrucksvollste Beitrag Spaniens zur internationalen Kunst szene.16 Eduardo Chillida (1924–2002) und sein Bezug zu Goethe wurde 1996 von Heribert Schulz erstmals in einer eigenen Ausstellung im Kulturgeschichtlichen Museum in Osnabrück gewürdigt.17 Schulz verglich unter anderem Chillidas Sichtweise in seinen frühen 4 Emil Cimiotti 38Bronze2008Bolide×32 × 83 cm Galerie Michael Haas Berlin
Bolide, ein Bronzeunikat von 2008 (Abb. 4). Wie hier das Oval, so be vorzugte er andernorts auch Grundformen wie Kreis, Quadrat, Rhombus, Trapez, um mit ihnen die reiche innere Gestaltgebung zu fassen und nach außen hin abzuschließen. So konnten ihm Außen wie Innen, Innen wie Außen, im Umgang mit dem morphologischen Gedicht Epirrhema gleich viel bedeuten. Der Hauptvers »Denn was innen, das ist außen« sollte 2017 Cimiottis großer Jubiläumsausstellung im Berliner Kolbe-Museum als Motto EDUARDOdienen.
modellierten und als Unikate gegossenen Bronzen bezeugen diesen Goethe’schen Natur kosmos. Gleichsam »parallel zur Natur« entstehen bewegte »Bäume« (ein Lebensthema), die kraftvollen Maisfelder, die aalglatten Fische und Gebilde, die plastisch dem Blühen der »Blumen« nachspüren. Diese ganze dynamische Formenwelt wurde ab 1986 mehr und mehr mittels geomet rischer Ordnungen gebändigt. Hierbei eroberte sich Cimiotti seine eigenen sinnlichen AlsKunstgesetze.Beispieldiene
CHILLIDA – DIE SPIRITUALISIERUNG DES LICHTES
14 | 15 gezeichneten Pflanzenstudien mit Goethes morphologischer Herangehensweise. Ferner befasste er sich mit Chillidas Alabasterhommagen, die Goethes lebendiger Lichtauffassung aus ihrem transluziden Material heraus zu entsprechen suchen. Gegenüber Fried helm Mennekes betonte Chillida: »Ich bewundere Goethe sehr, und dies aus verschiedenen Gründen. Doch mehr als sein dichterisches Werk spricht mich sein wissenschaftliches Denken an, seine Ausführungen über die Spirale, über die Farben und die Eigenschaften der Zahlen etwa. Gemeinhin finden diese Gedanken weniger Aufmerksamkeit als seine Poesie, verdienen aber eine volle Beachtung.«18 Am bedeutendsten unter allen Goethe-Hommagen Chillidas ist zweifellos das Frankfurter Monument Ein Haus für Goethe (Abb. 5). Die vier Meter hohe Betonskulptur wurde am 17. September 1986 mit einem Festakt und einer begleitenden Studioausstellung in der Dresdner Bank, dem Sponsor, eingeweiht. Chillidas Haus für Goethe erinnert zunächst an eine kleine Kapelle auf elliptischem Grundriss mit offenem Schiff, Torbogen und rundgeschlossener Apsis. Zu dem Bogen bemerk Moderne Bildhauer und Goethe 5 Eduardo Chillida Ein Haus für Goethe1986Beton 390 × 642 × 410 cm Stadt Frankfurt am Main
EWALD MATARÉ – DIE URFORM Ewald Mataré (1887–1965) ist einer der prägen den Künstler der deutschen Nachkriegsskulptur. So wie er, 1933 nach der nationalsozia listischen Machterhebung seiner Professur an der Düsseldorfer Kunstakademie enthoben, sich nicht verbiegen ließ und stoisch trotz Krieg, Bombennächten und Atelierverwüstung in der inneren Emigration weiterarbeitete, so klar und selbstverständlich fand er auch zur Verantwortung gegenüber seiner Kunst und seinen Schülern zurück. 1946 wurde seine Düsseldorfer Professur erneuert. Eine ethische Neuausrichtung der Skulptur erschien ihm jetzt als das Vordringlichste.22 Mataré erhielt große Aufträge von staatlicher Seite und auch von der katholischen Kirche; er trug in seinen Reliefs zu den Domtüren in Köln, Spey er, Salzburg und andernorts wesentlich zu einer Erneuerung der christlichen Ikonografie in der modernen Skulptur bei. Die akademische Lehre suchte er von Grund auf zu reformie ren. Als dies in Düsseldorf misslang, konzentrierte er sich umso mehr auf seine Schüler, die er, wie Erwin Heerich und Joseph Beuys, in seine Aufträge mit einbezog.23 Von Adolf von Hildebrand, dem großen Antipoden von Auguste Rodin, ausgehend, rang Mataré um die »Klärung der Form«. Dies schlug sich schon früh in dem beseelten Purismus seiner freien 6 Ewald WeiblicherMataréKopf(Hanna H.) 24Birkenholz1922×14,3× 20,9 cm Museum Kurhaus Kleve Ewald Mataré Sammlung Schenkung Guido de Werd 2021 aus dem Nachlass Sonja Mataré (1926–2020)
te Chillida selbst, dass er Torhalle, Triumph und Ruine in einem beinhalte. Diese Ruine sei »je doch nicht auf die Vergangenheit bezogen, wie bei Ruinen gewöhnlich, sondern auf die Zukunft«, denn »das Haus eines Menschen wie Goethe dul det kein Dach; das Licht, das er suchte, wird sein Dach sein«.19 War es Goethes Anliegen, die Farben im Gegen satz zu der physikalischen Erklärungsweise New tons als Ergebnis der Taten und Leiden des Lichtes zu erfahren und zu verstehen,20 so suchte Chillida gerade in dieser Betonskulptur besonders eindrucksvoll die energetische Dimension des Lichtes durch die Licht-Schatten-Strategie seiner Formen herauszuarbeiten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang seine Äußerung auf der Frankfur ter Vernissage: »Goethe hat noch nicht verloren, wir müssen nur noch ein bisschen warten.«21
Moderne Bildhauer und Goethe
– DAS ORGANISCHE GANZE Henry Moore (1898–1986) wurde früh durch d’Arcy Thompsons Schrift On Growth and Form (1917) an Goethes morphologische Einsichten herangeführt.27 1977 fragte ich ihn in einem ersten Gespräch in Much Hadham, ob er sich mit Goethe befasst habe. Lebhaft bestätigte er, dass er schon viermal Eckermanns Gespräche gelesen habe – wegen ihres »universal understanding«. Später fand sich eine um 1980 entstandene späte Zeichnung, die mit »Goethe Maximes and Reflection« beschriftet ist.28 Diese Notiz steht unverbunden, wie eine momentane Gedächtnisstütze oberhalb von Blindzeichnungen zweier Liegenden seinem Hauptthema generell.
Das morphologisch-ästhetische Stichwort vom »organischen Ganzen« war für Moores Goe the-Bezug maßgeblich. Es findet sich in einer programmatischen Äußerung von 1937 in The Sculptor Speaks, worin Moore seine über Brâncu¸si hinausgehende Arbeitsweise präzisiert: »Es war Brâncu¸sis besondere Leistung […], uns das Formbewusstsein wiederzugeben. Zu diesem Zweck musste er […] jede einzelne Form bis zu einem fast schon übersteigerten Maß läutern und polieren. Brâncu¸sis Werk war, abgesehen von seinem individuellen Werk, von historischer Bedeutung für die Entwicklung der zeitgenössischen Bildhauerei. Heute ist es aber vielleicht nicht mehr notwendig, die Skulpturen auf eine einfache (statische) Formein heit einzugrenzen und zu beschränken. Jetzt können wir damit beginnen, uns zu erweitern, mehrere Formen von verschiedenen Größen, Bestandteilen und Richtungen miteinander in Verbindung zu bringen und zu einem organischen Ganzen zu kombinieren.«29 Diese Former weiterung zugunsten eines »organic whole« habe ich vor dem Hintergrund von Moores Goe the-Rezeption andernorts ausführlich untersucht. Aus der Fülle der einschlägigen biomor phen Liegenden bietet die kleine Bleifigur Reclining Figure von 1939 ein typisches Beispiel (Abb. 7 und 8). Ihr konstituierendes Element ist der Rhythmus. Er bestimmt den organischen Zusammenhalt der Formen, indem er durch den Richtungswechsel von Brust- und Beckenscheiben den durch den Körper als Ganzes gehaltenen Raumfluss artikuliert.
16 | 17 Arbeiten nieder. Eine eigene Meisterschaft entwickelte er in der Holzarbeit. Exemplarisch verdichtete er im Porträt Hanna H. von 192224 (Abb. 6) die reine Grundform, welche die Gesichtszüge nur wie im Keim als zarte Hülle eigener seelischer Ausstrahlung umschließt. Damit ging er über die Formenreduktion von Constantin Brâncu¸si hinaus. Immer suchte er – auch in der kreatürlichen Natur, Kühen, Katzen, Hähnen und Pferden – das geistvolle Gegenüber. Sein Ziel war die »Urform« (Mataré), das ihm nicht zuletzt seine tiefe Vereh rung für Goethe eingab.25 Gerade zu Goethe finden sich in seinen Tagebüchern auffallend viele HENRYEinträge.26MOORE
SchonFAZIT allein diese sechs kurzen Präsentationen deuten darauf hin, dass sich in jüngster Vergangenheit die plastischen Antworten auf Goethe mehr und mehr auf dessen Natur forschung konzentrieren. Die Vorlieben für Goethes Dichtungen, wie sie noch reichlich in der Skulptur des Klassizismus respektive in der Romantik gegeben waren, treten zurück. Die einschlägigen Gedichthommagen von Christian Daniel Rauch, Friedrich Drake, Ange lica Facius, Ludwig Schwanthaler, Fritz Schaper und anderen bis hin zu Ernst Barlach und Käthe Kollwitz hatten offenbar nach den Erschütterungen des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Vereinnahmung des deutschen Idealismus von ihrer Zugkraft verloren. Neue Ufer erschloss die formale Befreiung, die der Futurist Umberto Boccioni oder Brâncu¸si entwickelten, ebenso die nachfolgende Abstraktion. Wenn Mataré für sich die »Urform« entdeckt, wenn Chillida eine offene »Kapelle« für Goethes anderes Licht baut, Cimiotti seinen bewegten Formenfluss mit dem Zugleich von Innen und Außen verbindet, Alfaro seine Liebe zur Geometrie über Goethe stülpt, Moore das »organische Ganze« zitiert und Beuys schließlich in Goethes Naturerfahrung einen wesentlichen Wegbereiter für seine »soziale Plastik« erkennt, dann spricht sich hier eine neue Orientierung aus. Was Bildhauer nunmehr reizt, ist vor allem der Naturforscher Goe the mitsamt eben jener philosophisch-ästhetischen Fragen, denen sich dieses Buch auf der Basis von Goethes eigenem Skulpturverständnis zu nähern sucht. FoundationTheHertfordshire,MuchGreen,Hadham/HenryMoore
7 | 8 Henry Moore Reclining Figure LängeBlei1939 33 cm zwei Ansichten Perry
Darüber musste sich der 77-Jährige erst einmal seinen Zorn von der Seele reden, verwies demonstrativ auf seinen geliebten Juno-Abguss und brach in die Worte aus: »Ich bin ein Plastiker, […] habe gesucht, mir die Welt und die Natur klar zu machen, und nun kommen die Kerls, und machen einen Dunst, zeigen mir die Dinge bald in der Ferne, bald in einer erdrückenden Nähe […] – das hole der Teufel.« 30
Dieeinführte.vonBoisserée
Hierin folgte er Herder, der den Terminus Plastik als erster in die deutsche Kunsttheorie
In knappster Form sprach Goethe hier von sich als jemand, der die Dinge der Welt und der Natur stets klar zu fassen und in angemessenen Raumbezügen plastisch vor sich hinzu stellen sucht. Er tat dies in direktem Bezug auf seine Antikenerwerbung, den Kopf der Juno, der ihm stets als Ultimum einer gelungenen Skulptur galt.
Einführung BIN EIN PLASTIKER« – GOETHES IDENTIFIKATORISCHES PLASTIKVERSTÄNDNIS
Vor diesem Hintergrund zielt Goethes Wort »Ich bin ein Plastiker« auf weit mehr als auf eine missgelaunte Abgrenzung gegenüber dem ungeliebten Nazarenertum. Es bezeichnet
Im Übrigen geht Goethes bevorzugter Begriff »Plastik« anstelle der heute üblichen »Skulp tur« erklärtermaßen aus dem griechischen plassein (= bilden, formen, gestalten) hervor.
beobachtete schon Friedrich Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches, als er über Goethe schrieb: »Allem seinem Dichten merkt man die anhauchende Nähe der Plastik und der Natur an.«31 Hier kommt ein Durchblick auf, der sich ebenso umkehren ließe: Allem in seinem Umgang mit Plastik merkt man die Nähe der Dichtung und der Na turforschung an. Weitere Beobachtungen zu Goethes plastischer Grunddisposition finden sich zum Beispiel bei Thomas Mann32, Ernst Rietschel, Franz Liszt und Heinrich Heine.33 Inwieweit sich Goethes Verständnis von Plastik in besagter doppelter Perspektive von Dich tung und Naturforschung bewegt, sucht die vorliegende Untersuchung herauszuarbeiten.
»ICH
notierte Situation spricht für sich: In seiner umfassenden Zuwendung zur Welt und zur Natur übt sich Goethe in einer Wahrnehmung, welche die Seinsinhalte klar und deutlich im Raum wie eine Plastik zur Erfahrung bringt. Diese Art der Wahrneh mung ist ihm gleichsam eingeboren und macht ihn zum »Plastiker«. Indirekt erfasste er damit auch die innere Plastizität seiner Sprache, die stets auf die sinnliche Fasslichkeit der »Gegenstände« und deren geistige Bewältigung durch eine »anschauende Urteilskraft« Ähnlichesdrängt.
18 | 19 Goethe bezeichnete sich selbst einmal als Plastiker. Die Geschichte dazu ist rasch erzählt: Am 19. Mai 1826 empfing er seinen Freund Sulpiz Boisserée im sogenannten Juno-Zim mer im Haus am Frauenplan (Abb. 9). Bald konzentrierte sich das Gespräch auf einen Arti kel im Kunstblatt vom vergangenen Februar. In ihm hatte es Ludwig Schorn gewagt, offen Goethes harsches Urteil über verschiedene Zeichnungen junger Nazarener zu kritisieren.
vielmehr ein tieferes identifikatorisches Verhältnis. Angesichts dieser plastischen Grund disposition dürfen freilich in dem Satz Anspruch und Widerspruch nicht übersehen wer den. Goethes Modellierversuche, so wichtig sie per se für ihn waren, fanden allem Anschein nach noch in Rom ein Ende, nachdem er sich ganz für sein Dichtertum entschieden hatte. Zuvor kam sein heißes Bemühen um die zeichnerische Erfassung der menschlichen Figur trotz aller Anatomiestudien über den ehrlich konstatierten »Abgrund« nicht hin weg. Als Zeichner verfügte Goethe, wie Petra Maisak betont, eher über eine optische als haptische Vorstellungskraft. Seine Zeichnungen und Aquarelle bezeugen, dass er »die Erscheinungswelt in flächigem Helldunkel auflöst, zu einem lockeren Bildmuster verwebt 9 Juno Zimmer in Goethes Haus am Frauenplan in Weimar
20 | 21 und ihre Gesamtheit als schwebenden Schein erfasst«.34 Was Goethe als Zeichner an voll räumlicher Darstellung verwehrt war, musste indessen seinem Plastikverständnis nicht unbedingt abträglich sein. Ohne seine an den Antiken geschulte lebenslange Skulptur erkenntnis und ohne seine von Herder her durchfühlte Erfahrung der Plastik als »leibhafte Wahrheit« und eine mit »dem ganzen menschlichen Ich durchtastete Gestalt« wäre sein lebenslanger Einsatz für die Skulptur als Liebhaber, Kenner und Kritiker nicht denkbar. Die vorliegende Untersuchung besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil dominiert die bio grafische Perspektive: Wie vollzog sich im Unterschied zu der ihm früh vertrauten Malerei und Zeichnung Goethes relativ späte Annäherung an die Plastik? Wie begeistert macht er sich in der Jugend Herders auf das »tastende Gefühl« ausgerichtete Plastikbegründung zu eigen und wie weit taucht er in Italien vor den antiken Skulpturen in die Schriften von Winckelmann ein? Wie sah seine Denkmalspraxis in Weimar vor und nach Rom aus? Wie konzeptuell beteiligt war er an der Entstehung des Blücher-Denkmals von Johann Gottfried Schadow, wie bestimmend bei der Zusammenarbeit mit Friedrich Tieck und wie gegenwärtig in seiner Wirkung auf den befreundeten Christian Daniel Rauch? Der zweite Teil ist der Theorie vorbehalten. Er sucht Goethes ästhetisch-skulpturge schichtliche Betrachtungsweise von Plastik durch kunst- und sprachtheoretische Perspektiven zu ergänzen, ja bis hin zu den Leitbegriffen seiner ungeschriebenen Skulpturästhetik zu verstehen. Es geht um Fragen, inwieweit Goethes plastische Disposition auf ihn als Dichter und Naturforscher eingewirkt hat. So werden erstmals Beispiele seiner »Skulptur evokationen« in der Dichtung behandelt. Es sind freie Erinnerungen an reale skulpturale Vorbilder oder auch Imaginationen, denen Überlegungen zum Material, zur Form und zum symbolischen Sinnbild zugrunde liegen. Ein weiteres Kapitel im zweiten Teil widmet sich Goethes »Parallelisierungen« von Plas tik und Dichtung: Innerhalb seiner Gegenstandsprofilierung des Klaren und Deutlichen zeichnet sich eine »plastische Poetologie« ab, die im gedanklichen Austausch mit Herder, Schiller, Wilhelm von Humboldt und Karl Philipp Moritz an Profil gewinnt. Die hier anste henden Gestaltungsfragen erfordern schließlich einen Überblick über Goethes Verständ nis von Form. Goethes Formbegriff ist je ein anderer in der Genieästhetik des Sturm und Drang, in der Klassik und wieder anders im Verständnis seiner Metamorphosenlehre und Morphologie. Vom Sturm und Drang her reichte er, wesentlich an Shaftesbury und Herder ausgerichtet, seine gefühlsintensive Dynamik weiter an seine italienische-nachitalieni sche klassische Position. Hier steht vor allem Goethes Kernaufsatz »Über Laokoon« in den Propyläen im Zentrum. Ihm spielt die »Einleitung« in die Propyläen mit ihrer Deklaration Einführung
des »Geistig-Organischen« wesentlich zu. So durchläuft die Genese von Goethes Formbe griff alle Stadien seiner Kunstlehre.
Während sich Goethes klassische Skulpturauffassung auf der Basis seiner Autonomieästhetik durch die Erklärung »sinnlicher Kunstgesetze« in »Über Laokoon« festigt, öffnet sie sich zugleich im Zuge seiner Metamorphosenlehre und seiner morphologischen Studien auf eine lebendige, von der Natur her gesetzmäßig fundierte, bewegte Gestalterfahrung. Im Gewahrwerden der Form- und Strukturgesetze von Organismen, Pflanzen und Tieren entdeckt Goethe die Form in ihrem evolutiven, »endogenen« Status, was zu einer »epocha len Transformation des Formbegriffs«35 führt. Diese entwicklungsimmanente, lebendige Form, die eine rhythmisch gebundene Bewegung, die Polarität und Steigerung und darin die Metamorphose als Ausdruck folgerichtiger Gestaltverwandlung in sich einbegreift, all das konnte er – zuerst in der Theorie – andenken und als sinnfällige Wahrnehmung in die Dichtung einbringen. In einem letzten Kapitel werden die »Kunstbedingungen«, die Goethe eingangs in seinem »Laokoon«-Aufsatz benennt, auf ihren prospektiven Gehalt hinsicht lich seiner Skulpturästhetik untersucht. Goethes hohe Wertung von Plastik berührt seine ganze Existenz. Die Grenzen, die der Klassizismus – vor allem mit seinem inhärenten, von der Antike abgeleiteten Gebot des schönen Menschen – um die Plastik als offizielle Leitgattung der bildenden Künste errichtete, sollte er mehrfach durchbrechen. In dem Maße, wie er sich mit den handwerklichen Voraussetzungen vertraut machte, sie als Dichter in seine Imaginationen und poetischen Verfahren aufnahm und mittels dieser Verfahren sein ästhetisches Erkenntnisinteresse schulte, wurde sie ihm zum unentbehrlichen Vademecum.36 Was ihn hier bewegte, ließe sich von seiner Kunstnovelle Der Sammler und die Seinigen (1799) her in dem sehen, was der »Künstler«, das heißt, auch der formende Plastiker, »erschaffen [will]. Und zwar nicht etwa nur ein für allemal, damit es da sei, sondern damit es wirke, immer wachse und wie der werde und wiederhervorbringe.«37
verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Informationen sind im Internet über http:/dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 973-422-98686-9 © 2022 Christa Lichtenstern, Bildrechtgeber, Fotografen und Deutscher Kunstverlag Berlin München
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Umschlagabbildung
Diese Publikation erscheint mit freundlicher Unterstützung der Hessischen Kulturstiftung
Andreu Alfaro: El Olimpo de Weimar, 1982, Eisen, 975 × 237 × 659 cm, Frankfurt am Main, Gallusanlage Frontispiz
In Kooperation mit dem Freien Deutschen Hochstift / Frankfurter Goethe-Museum
Christian Daniel Rauch: Kranzwerfende Viktoria, 1837, Marmor 1843/44, 223 × 106 × 90 cm, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie Abbildung S. 5
Emil Cimiotti: Atmen, 2014, Bronze gussrau, Unikat, 18,5 × 31 × 29,3 cm, Privatbesitz Berlin
Johann Wolfgang von Goethe ist ernst zu nehmen, wenn er sich einen »Plastiker« nennt. Den Begriff Plastik versteht er vom griechischen Wortursprung her: plassein = bilden, formen, gestalten. Er hat selbst modelliert. Als Denkmalsentwerfer, Berater von Johann Gottfried Schadow, Christian Friedrich Tieck und Freund von Christian Daniel Rauch, als Dichter mit eigenen Skulpturimaginationen und als Morphologe mit einem dynamischen Formbegriff sind Selbstbildung und Weltverantwortung sein Thema. Indem die Studie erstmals Goethes Engagement für die Plastik integral behandelt, deckt sie auch seine ungeschriebene Skulpturästhetik auf. Was bedeuten ihm »sinnliche Kunstgesetze«, was die Einheit von »Sprache und Plastik«, Rhythmus, Metamorphose, was Bildungskraft und »organisches Ganzes«? Diese Stichworte haben, wie gezeigt wird, auch moderne Bildhauer, unter anderem Andreu Alfaro, Joseph Beuys, Eduardo Chillida, Emil Cimiotti, Ewald Mataré oder Henry Moore, interessiert.