How Art Works (deutsche Ausgabe)

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HOWARTWORKS

Von Fragen und Antworten

María López-Fanjul y Díez del Corral Christine Seidel (Hg.)


»Die eigentliche Frage heißt:


Wem gehört die Bedeutung der Kunst unserer Vergangenheit wirklich? Denen, die sie für ihr eigenes Leben verwenden können, oder einer kulturellen Hierarchie von Reliquienspezialisten?«

John Berger, Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt, 1972


INHALT Einleitung

Es ist die Entdeckung des Details, das uns überrascht. Seite 6

Epilog

Ein Plädoyer für das Interesse am Sehen Seite 140


Was schaut uns an?

Was vermittelt die Oberfläche?

Identität – Alter – Blicke – Stolz – Schöpfung Seite 8

Textur – Kraft – Kostbarkeit – Immaterialität – Flüchtigkeit Seite 32

Was bewegt uns?

Was ist schön? Intensität – Trost – Freude – Liebe – Triumph – Spannung – Begehren Seite 56

Was zeigt die Kunst?

Tradition und Innovation – Erfolg – Das Einzigartige – Die Linie – Zerstreuung – Abstraktion Seite 88

Entdeckung – Zivilisation – Das Exotische – Exklusivität – Grenzen Seite 116


Nicolaus Gerhaert von Leyden Dangolsheimer Muttergottes, um 1460/65 Walnussbaumholz mit Resten der ursprünglichen Fassung, 102 × 37 × 33 cm

U

m einem Kunstwerk im Museum entgegenzutreten, bedarf es Mut. Denn die Begegnung mit einem künstlerischen Werk reizt unsere Vorstellungskraft, also die Fähigkeit, neue Erfahrungen zu formen, vergangene Erlebnisse nachzuempfinden oder völlig neue Eindrücke zu erhalten. Das Kunstwerk verlangt von uns, dass wir uns selbst begegnen und uns darauf einlassen, überrascht zu werden. Positiv in Erstaunen versetzt zu werden und eine emotionale Verbindung zum Kunstwerk aufzubauen, ist leichter, wenn es sich an seinem ursprünglichen Ort befindet. In Sammlungen altmeisterlicher Gemälde oder Skulpturen ist diese Erfahrung jedoch von der räumlichen und kulturellen Dekontextualisierung der Objekte bestimmt. Keines wurde geschaffen, um in einem Museum gezeigt oder um von Augen außerhalb ihres soziokulturellen Entstehungszusammenhangs gesehen zu werden. Die Ausstellung der Werke im Museum ist daher dem Zufall ihrer Sammlungsgeschichte geschuldet und folgt künstlichen Kriterien, die oft den Raum- und Konservierungsansprüchen sowie dem Urteilsvermögen des für ihre Pflege zuständigen Museumspersonals unterliegen. Diese Dekontextualisierung ist nicht unbedingt negativ. Im Gegenteil: Die Präsentation in einem Museum ermöglicht es, neue emotionale und intellektuelle Beziehungen zwischen Werken herzustellen, die – wären sie an ihrem ursprünglichen Ort geblieben – niemals zustande gekommen wären. In gewisser Weise enthüllt es uns, How Art Works, wenngleich der Ausstellung im Museum Grenzen gesetzt sind, insbesondere durch die Erzählung, die dem Publikum angeboten wird, oder auch durch die Abwesenheit von Erzählung. Wechselausstellungen und Kunstpublikationen versuchen immer wieder, die erzählerischen Lücken in Sammlungen zu überbrücken. Bücher und Artikel sowohl für die wissenschaftliche Forschung als auch für ein größeres Publikum bieten oftmals tiefere, reichere und komplexere Interpretationen an, die über die begleitenden Raum- und Objekttexte in den Museen hinausgehen. Der Umfang von Ausstellungen und Veröffentlichungen ist jedoch auf ein Budget, auf einen von den Kuratorinnen und Kuratoren oder Autorinnen und Autoren gewählten Aspekt und im Falle von Ausstellungen auf die Laufzeit und die Möglichkeit ihrer Durchführung beschränkt. Ausstellungen für ein Publikum nicht ausrichten zu können, war bisher nur ein vereinzeltes Problem. Im Jahr 2020 mussten zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen Museen ausnahmslos alle ihre Türen schließen. Die meisten von ihnen, wie die Gemäldegalerie und das Bode-Museum


EINLEITUNG der Staatlichen Museen zu Berlin, waren fast ununterbrochen geschlossen. Erst im digitalen Raum konnten sie der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht werden.

Durch die digitale Welt hat Kunst eine neue und vielfache Dekontextualisierung erfahren. Sie ist allgegenwärtig und hat damit auch unseren privaten Raum erobert. Sie hat eine Multiperspektivität erreicht, indem sie sich vom einseitigen Museumsdiskurs entfernt und dem Publikum das Wort erteilt. Und sie hat sich eine neue Dimension erobert: jene des Details. Die Interpretationen der Kunstwerke haben sich vervielfacht und fast ins Unendliche zerteilt mit einem Publikum, das durch das Internet auf neue Weise rezipieren und sich vermitteln kann. Zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst ist durch die hochauflösende Erfassung von Bildwerken und deren digitale Verarbeitung das Detail, das für uns im Museum mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmbar ist, zum Protagonisten geworden. Im Jahr des Lockdowns hat das Publikum den Prozess der Dekontextualisierung beschleunigt. Wir haben wieder einmal gelernt, dass Kunst durch Kontemplation, durch intuitive Beobachtung erfahrbar werden kann und dadurch Empfindungen erzeugt, die unsere Vorstellungskraft anregen. Die Interaktion zwischen dieser Empfindung und der Interpretation des künstlerischen Objekts wird zur Kunsterfahrung. Die Fragmentierung des Bildes, das Innehalten bei der Betrachtung seiner Details verstärkt seine Ausdruckskraft und unsere Fähigkeit, es zu genießen, wenn wir zum Beispiel mit einer neuen Intensität auf die Materialität oder Gestik eines Werkes blicken. Diese Publikation widmet sich daher der ästhetischen Erfahrung jenseits der Grenzen der künstlerischen Epochen, Schulen und Medien. Es ist eine ideale Präsentation von Werken, die nicht im selben Museum ausgestellt sind und durch ausschnitthafte Betrachtungen erfasst werden, zu denen wir vor Ort nie denselben Zugang haben können, und deren Dialog neue Qualitäten außerhalb der traditionellen kunsthistorischen Kategorien eröffnet. Um sowohl unsere sinnliche Erfahrung als auch unseren kritischen Blick zu aktivieren, wurde das vorliegendes Buch um fünf Fragen in Form von Kapiteln organisiert: Was schaut uns an? Was vermittelt die Oberfläche? Was bewegt uns? Was ist schön? Und was zeigt die Kunst? Diese fünf Fragen umfassen fünf grundlegende Themen der Geschichte westlicher Kunst, seit sie als wissenschaftliche Disziplin existiert. Sie spiegeln auch die intuitivsten Fragen wider, die wir uns als Museumsbesucherinnen und Museumsbesucher stellen, wenn wir uns einem Kunstwerk gegenübersehen: die Darstellung des Menschlichen, die Kommunikationsfähigkeit des Materials, die Fähigkeit des Kunstwerks, Emotionen zu vermitteln, das Konzept und die Darstellung von Schönheit sowie die Beziehung der Kunst zu der Welt, die uns umgibt. Als Antwort auf diese Fragen entfalten sich Dialoge zwischen einem Gemälde aus der Sammlung der Gemäldegalerie und einer Skulptur oder einem Relief aus dem Bode-Museum. Objekte aus zwei Sammlungen, die derzeit in getrennten Gebäuden gezeigt werden und zum Teil gemeinsam konzipiert wurden, werden zusammengeführt. Aber weder diese Fragen noch die Überlegungen

zu ihnen sind statisch oder einzigartig. Wie jede wissenschaftliche Disziplin entwickelt sich auch die Kunstgeschichte dank der kritischen Analyse weiter, hin zu einer Multiperspektivität, die die Beziehung des Details zu seinem Ganzen bietet.

Es ist die Entdeckung des Details, das uns überrascht. Deshalb werden unsere Überlegungen von jeweils einem bestechenden Charakteristikum zweier Werke geleitet, die selbst eine Vielzahl weiterer Blickwinkel bieten. Die Details vermögen unsere Aufmerksamkeit über den ersten Eindruck hinaus zu lenken. Ihre Wahl war sicher nicht willkürlich, aber sie ist auch nicht allgemeingültig. Jedes Werk ist offen für neue Fragen und neue Aspekte. Deshalb bieten wir unseren Leserinnen und Lesern in einem sechsten Kapitel weitere Perspektiven. Damit möchten wir ermutigen, den eigenen kritischen Blick zu üben und zu entdecken, wie jede neue Perspektive unsere Blicke auf die Kunstwerke und ihre Beziehung zu ihrer Umgebung verändert. Teil unserer Beziehung zum Objekt ist unsere Fähigkeit, uns in dessen Künstler einzufühlen. Ein Künstler, der traditionell als männlich verstanden und angesprochen wird. Heute haben uns die akademische Forschung und soziale Bewegungen die Grenzen der Verwendung des generischen Maskulinums aufgezeigt. Es wäre ein akademischer Fehler, diese Tatsache weiterhin zu ignorieren, auch wenn dies unbewusst geschieht. Deshalb wollen wir in dieser Einleitung deutlich machen, dass die in diesem Buch verwendete generische Bezeichnung »Künstler« im Deutschen und »artist« im Englischen eine geschlechtliche Vielfalt impliziert, und wir möchten unsere Leserinnen und Leser ermuntern, das weibliche Geschlecht in beiden Sprachen nicht zu vergessen; denn obwohl das Englische neutral ist, neigen wir auch hier dazu, es zu vermännlichen. Auf dem Weg zur Fertigstellung dieses Buches war die Unterstützung vieler Menschen unerlässlich. Michael Eissenhauer, Julien Chapuis und Sigrid Wollmeiner haben von Anbeginn das Projekt unterstützt und uns zur Umsetzung ermutigt, auch wenn es anfangs eine Herausforderung war, die Bilder in Worten zu greifen. Michaela Humborg trug zur Auswahl aussagekräftiger Details bei. Roland May und Teresa Laudert haben an unseren Formulierungen gefeilt und uns geholfen, unsere Ideen in Worte zu fassen. Für die Bereitstellung des Bildmaterials danken wir Babette Buller, Antje Voigt und Malith Krishnaratne. John Bergers Buch »Ways of Seeing« (1972) war ein Grundpfeiler für die Auseinandersetzung mit der Analyse der Dekontextualisierung und ästhetischen Wahrnehmung des Kunstwerks aus der Perspektive der traditionellen kunsthistorischen Ausbildung. Wir hoffen, dass das vorliegende Buch als Brücke zwischen der wissenschaftlichen Forschung und dem Interesse an der sinnlichen Erfahrung von Kunstwerken dient, mit dem viele Besucherinnen und Besucher das Museum betreten. Auf eine Bibliografie für die hier besprochenen Werke haben wir verzichtet und ermutigen stattdessen die Leserinnen und Leser, ins Museum zu kommen und aufmerksam zu schauen. María López-Fanjul y Díez del Corral Christine Seidel 7


WAS UNS I

n einem Kunstmuseum kann sich schnell der Eindruck einstellen, aus jedem Werk heraus angeschaut, gemustert, beobachtet zu werden. Sobald Künstler ihren Werken einen gerichteten Blick oder die Andeutung eines solchen verleihen, weist es auf einen Akt des Sehens hin, auf den wir reagieren. Dieser Effekt ist im Fall von Skulpturen wandelbar, da wir fast jeden erdenklichen Standpunkt einnehmen und uns so in den Zielpunkt des Blickes begeben können. In der Malerei ist er stärker fixiert, etwa durch Figuren, die aus dem Bild schauen. Am häufigsten findet sich der zu uns gewandte Blick in Porträts. Oftmals sind wir versucht, die auf uns gerichteten Augen entweder als Kommentar zu deuten oder eine historische Persönlichkeit, bisweilen sogar die Künstler, in den Figuren zu erkennen. Der Unmittelbarkeit dieses vermeintlichen Blicks wohnt die Fähigkeit inne, das Historische in unsere eigene Zeit zu versetzen, da wir grundsätzlich auf Gesichter so reagieren, als gehörten sie Personen, die direkt vor uns stehen. In der altmeisterlichen Kunst ist jede Wiedergabe eines Gesichts auch eine Interpretation. Daher überrascht es nicht, wie lebendig und zeitgemäß das Bildnis eines Individuums, das zu einem Charakter wird, unabhängig von seiner Entstehungszeit noch heute auf uns wirken kann. Dieser Effekt ist nicht zwingend mit der größtmöglichen Exaktheit der Darstellung verbunden: Wer jemand wirklich war, wissen wir auch trotz eines erhaltenen Porträts nicht. Von entscheidender Bedeutung ist die Lebensnähe, die durch die Gestaltung des Bildwerks erzielt wird. Individuelle Charakteristika vermitteln Konkretes durch die Abweichung vom Allgemeinen. Ob wir darauf reagieren, liegt häufig an dem gerichteten Ausdruck, den ein Werk durch seine Inszenierung, also seine Komposition, erhält. Darin unterscheiden sich die Bildstrategien eigentlich nicht von der Art der Selbstinszenierung, die wir heute zum Beispiel in den sozialen Medien wiederfinden.

Mino da Fiesole Bildnis des Niccolò Strozzi, 1454 Marmor, 50 × 53 × 34 cm


SCHAUT AN? Aus der Komposition erklärt sich auch die sonderbare Vieldeutigkeit dessen, was sich als Porträt beschreiben lässt. Nicht der Titel, den ein Werk heute trägt, sondern die künstlerische Inszenierung führt dazu, dass wir etwas für wahrscheinlich halten. Keine Gattung ist so fließend wie das Porträt. Eine Figur, die an einem historischen Geschehen teilnimmt, kann als Porträt gedeutet werden, die lebendige Charakterisierung eines Gesichts das Bild eines Heiligen in zeitgenössischem Gewand lebensnah erscheinen lassen. In dieser Gleichzeitigkeit überzeugen wir uns vor allem von unserer eigenen Wahrnehmung. Dabei trifft die Annahme, individuell wirke lediglich das, was sich entschieden von der Norm absetzt, nur bedingt in der bildenden Kunst zu. Ein idealisiertes Bild kann auch ein Individuum meinen, etwa, wenn es nach einer Porträtvorlage entsteht und erst durch seine Benennung oder Kontextualisierung als Abbild einer konkreten Person gedeutet wird. Auch wenn wir nicht wissen, wie diese Person wirklich ausgesehen haben mag – aus dem Kunstwerk blickt uns ein Gesicht an, das wir als ein Individuum wahrnehmen. Individuen gehören unterschiedlichen sozialen Gruppen an. Wie und wodurch sich diese bestimmen lassen, verändert sich im Laufe der Geschichte. Gegenwärtig werden Individuen häufig in ihrer Vereinzelung betrachtet. Daher mögen bestimmte visuelle Strategien von Zuordnung und Identifikation, die in Porträts eingesetzt wurden, heute schwer verständlich erscheinen oder von uns auf andere Weise interpretiert werden. Auch die äußeren Zeichen von Status und Wohlstand ändern sich stetig. Hingegen ist die Art ihrer Darstellung, die sich mit dem Anspruch der Selbstinszenierung gegenüber den Betrachtenden verbindet, in vielen Aspekten bis heute unverändert. Sie zeugt davon, dass bestimmte visuelle Strategien zur Vermittlung von Information in der europäischen Kulturgeschichte über Jahrhunderte hinweg gewirkt haben und noch heute unsere Sehgewohnheiten prägen.

Rembrandt Harmensz van Rijn Selbstbildnis mit einem Samtbarett und einem Mantel mit Pelzkragen, 1634 Öl auf Eichenholz, 58,4 × 47,7 cm




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n einem Porträt ist die dargestellte Person zugleich Anlass und Thema des Bildes. Die Bildform ist in der frühen Neuzeit auch mit Öffentlichkeit verbunden, war also selten für einen ganz privaten Blick gedacht. Selbst heute werden in der Zurschaustellung einer Person Zeichen der Differenzierung zu einem Ausdruck von Zugehörigkeit und Identität, die entschlüsselt werden müssen. Viele dieser Zeichen oder Attribute lassen sich nur verstehen, wenn man mit ihnen vertraut ist und sie zu deuten weiß. Wenngleich sie sich im Laufe der Zeit verändert haben, bleibt das Grundprinzip der bedeutungsvollen äußeren Merkmale, die den vermeintlich individuellen Zügen beigegeben werden, bis weit in die Neuzeit eine Konstante der visuellen Kultur. Noch heute erkennen wir, dass der breite Pelzkragen des Augsburger Kaufmanns Bartholomäus Welser (1484–1561) ein Zeichen für Wohlstand ist. Gekleidet in ein kostbares Brokatgewand, mit modischem Hut, präsentiert sich der Bärtige selbstbe-

Albrecht Dürer Hieronymus Holzschuher (1469–1529), 1526 Öl auf Lindenholz, 51 × 37,1 cm

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Vorhergehende Ausklapptafel: Detail

wusst im besten Alter. Im Hintergrund nähert sich ein Schiff einer Hafenstadt, in der geschäftiges Treiben herrscht. Diese Szenerie lädt zur genaueren Betrachtung ein und scheint mit dem Hauptmotiv – dem stolzen Porträtierten – in Konkurrenz zu treten. Tatsächlich aber gehören die stattliche Figur des Kaufmanns und die Darstellung im Hintergrund untrennbar zusammen. Der auf den Handel hindeutende Ausblick zeigt den kulturellen Rahmen, der die Lebenswelt des Porträtierten prägte. Der Griff an den Totenschädel soll daran erinnern, dass jeder materielle Reichtum vergänglich ist – uns als Betrachtende und auch den Dargestellten, der seine gesellschaftliche Position mit diesem Verweis gleichsam selbst kommentiert. Das Birnbaumholz war ursprünglich bemalt, als Material wurde es gern von Bildschnitzern im deutschsprachigen Raum verwendet. Auch die Girlanden am oberen Bildrand und die Vergänglichkeitssymbole wie der Totenschädel und die Sanduhr nehmen Bezug auf die visuelle Kultur des Umfeldes, in dem das Werk entstanden ist: im


Identität

Augsburg der Renaissance, in dem das Bildrepertoire RenaissanceElemente aus Nord- und Südeuropa miteinander verband.

Das von Albrecht Dürer (1471–1528) gemalte Porträt des 52-jährigen Hieronymus Holzschuher verzichtet hingegen weitgehend auf symbolische Verweise. Alter und Name des Abgebildeten verrät eine in Goldlettern geschriebene Inschrift. Seine Stirn ist in Falten gelegt und verleiht dem vor hellblauem Grund gezeigten weißhaarigen Mann den Ausdruck eines Beobachters, der sein imaginäres Gegenüber kritisch beäugt. Auch in diesem Porträt ist der Dargestellte mit einem breiten Pelzkragen geschmückt, der hier allerdings im engen Bildausschnitt weniger dominant wirkt als jener des Augsburger Kaufmanns. Das kleine Holzrelief ordnet Bartholomäus Welser durch seine Kleidung und die umtriebige Hafenstadt im Hintergrund der Welt des internationalen Handels deutscher Kaufleute zu. Die

Vergänglichkeitssymbole und die Renaissancegirlanden weisen auf eine Zeit und einen Ort. So tritt der öffentliche Charakter des Täfelchens zu Tage, indem sich der Dargestellte mit zahlreichen Bezügen auf seine Herkunft umgibt. Die Blume, die er in der Hand hält, könnte als Geschenk für seine baldige Ehegattin gedacht sein.

Wie viel verrät uns hingegen Albrecht Dürer darüber, wer Hieronymus Holzschuher war? Über die gesellschaftliche Rolle des Porträtierten enthüllt das Gemälde fast gar nichts. Sein skeptischer Blick richtet sich mit einer distanzierten Vertrautheit auf uns. Es sind Kleidung, die modische Trimmung von Haar und Bart sowie die formale Übereinstimmung der beiden Porträts, die uns erlauben, beide Bildnisse einem ähnlichen kulturellen Umfeld in der Epoche der Renaissance zuzuordnen: einer von Prosperität durch Handel geprägten Lebenswelt, in der Zugehörigkeit visuell durch regionale Formeln von Status und Identität vermittelt wurde.

Meister des Wolfgang Thenn Bildnis des Bartholomäus Welser, um 1530 Birnbaumholz, 31,5 × 26,7 × 3 cm Folgende Ausklapptafel: Detail

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I

Alter

n der Epoche der Renaissance (15.– 16. Jahrhundert), in der das Individuum und seine Wiedergabe zum Zentrum wissenschaftlicher Studien und künstlerischer Aktivität wurde, entwickelten Menschen ein verstärktes Interesse daran, Bilder von Verwandten, Bekannten oder politisch und gesellschaftlich einflussreichen Personen, aber auch von sich selbst anfertigen zu lassen. Besonders Letzteres wirft Fragen im Hinblick auf die Inszenierung der eigenen Persönlichkeit auf: Welche Bedeutung wohnt der Haltung inne und was sollen die Porträts den Betrachtenden mitteilen? Welche Objekte werden als äußere Zeichen von Status und Stand gewählt und welchem Zweck soll diese Repräsentation dienen? Auch Alter und körperliche Statur wurden in den Bildnissen thematisiert. Bemerkenswerte Beispiele hierfür sind die Porträtbüste des Niccolò Strozzi (1411–1469) von dem florentinischen Bildhauer Mino da Fiesole (1429–1484) und das Porträtbild eines feisten Mannes, das der in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts tätige altniederländische Meister von Flémalle schuf. Individualität entsteht durch das Zulassen von Unregelmäßigkeiten oder sogar ihrer Betonung. In der Büste des Niccolò Strozzi verraten die angeschwollenen Unterlider ein fortgeschrittenes Alter. Der breite Unterkiefer geht in ein strammes Doppelkinn über und wird von fleischigen Ohren gerahmt. Schmale, leicht gespitzte Lippen und die lange dünne Nase im Zentrum des Gesichtes werden durch die glatt polierte Oberfläche des weißen Marmors in ihrer Wirkung noch gesteigert. Kurze lockige Haarsträhnen, die eine gewisse Unordnung erahnen lassen, legen sich um den Kopf und über den Stirnansatz. Dieser Kunstgriff des Bildhauers ermöglicht lebendige Licht- und Schattenspiele und erzielt im Stein den Eindruck einer bewegten Oberfläche. Die Bearbeitung erzeugt verblüffend lebensnah erscheinende Partien, die wie kostbarer Stoff, Haut oder Haar anmuten. Der Künstler verstärkt damit zugleich

Mino da Fiesole Bildnis des Niccolò Strozzi, 1454 Marmor, 50 × 53 × 34 cm

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Folgende Doppelseite: Detail


den Kontrast zwischen edlem Marmor und individualisierter Darstellung, welche dem Antlitz des Porträtierten die Zeichen der Zeit ablesen lässt. Auch Farbe kann als Mittel zur Verlebendigung dienen. Licht, Schatten und Reflexe andeutendes Kolorit wirkt umso lebendiger, je plausibler es sich uns darstellt. Ein Porträt in Dreiviertelansicht bietet Gelegenheit, durch Lichtregie verschiedene Formen beziehungsweise Charakteristika und damit eine allgemeine plastische Wirkung herauszuarbeiten. Dies ist dem Meister von Flémalle in seinem Bildnis eines feisten Mannes überzeugend gelungen. Das Streiflicht hebt die Textur der Oberfläche wie in einem Relief hervor: In dunklen Furchen zeichnen sich die in Falten gelegte Stirn und die gerunzelte Haut um die Augen ab. Das Alter des Porträtierten verrät sich auch in dem fülligen Kinn und den etwas schlaffen Wangen, die durch einen stoppeligen dunklen Bart noch betont werden. Indem der Maler das Antlitz des Dargestellten vor einem hellen Grund umreißt, erreicht er eine fast skulpturale Wirkung des von Altersspuren gezeichneten Gesichtes. Die Züge, die den Dargestellten wie Markierungen individualisieren, sind so akribisch herausgearbeitet, dass das Bildnis unverwechselbar wird. Wir sind versucht, es »ungeschönt« zu nennen, denn das den Charakter unweigerlich formende Alter wird zu einem zentralen Thema des Porträts. Mit der plastischen Erfassung von Korpulenz und Altersspuren schuf der Meister von Flémalle das hochgradig individualisierte Porträt eines heute unbekannten Mannes. Weil es aber bestimmte Vorstellungen von Alter, Status und Selbstverständnis besonders charakteristisch darstellt, wurde es im Laufe der Zeit zunehmend als ein vom Individuum losgelöster Typus verstanden. Möglicherweise wurde dieses Porträt bereits zu Lebzeiten des Malers als eine Art Charakterkopf angesehen, der exemplarisch für das Alter steht, das er zeigt. Ähnliches gilt für die in Italien ebenfalls um die Mitte des 15. Jahrhunderts von Mino da Fiesole geschaffene Büste des Niccolò Strozzi. Das Porträt dieses einflussreichen italienischen Bankiers, der sich in voller Pracht und entschlossen in der Pose römischer Imperatoren darstellen ließ, wird gleichsam zum Inbegriff des selbstbewussten Mannes.

Meister von Flémalle Bildnis eines feisten Mannes, um 1440 Öl auf Eichenholz, mit Anstückung, 31,5 × 20,3 cm Eigentum des Kaiser Friedrich Museumsvereins Folgende Doppelseite: Detail

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W

er blickt wen an? Diese Frage stellen wir uns oft, wenn wir außergewöhnlichen Gesichtern in der Kunst begegnen. Gesichter fesseln die menschliche Vorstellungskraft. Unser Interesse wecken dabei die Formen, die wir als Augen und damit als einen Blick wahrnehmen, der sich auf uns richtet. Die Macht des Blickes ist am deutlichsten in der Betrachtung von Porträts spürbar, weil sie uns mit einem Gegenüber konfrontieren. Auf ähnliche Weise kann sie auch in idealisierten Darstellungen erfahrbar werden, die durch den vermittelnden Blick aus dem Bildwerk bei uns den Eindruck erzeugen, einem Individuum gegenüberzustehen. Die altniederländische Malerei, zu deren wichtigsten Vertretern Rogier van der Weyden (ca. 1399/1400–1464) zählt, entwickelte die stilllebenhafte Charakterisierung des perfekt ausgeleuchteten Details zu einem zentralen Thema. Sein Gemälde einer Dame mit Flügelhaube, eines der frühesten bekannten autonomen Porträts nördlich der Alpen, lädt zur intensiven Betrachtung ein. Im Dreiviertelprofil wendet sie sich aus dem Bild, durch die unterschiedliche Sichtbarkeit der Gesichtshälften wird Spannung erzeugt. Dem vertikal gerafften Stoff über der Brust und dem schwarzen Pelzbesatz des Mantels folgend, wird unser Blick auf ein Zentrum konzentriert, das von einer imposanten weißen, sich in geometrischer Musterung entfaltenden Haube gerahmt wird: das Gesicht der jungen Frau. Von dort fällt ein Blick auf uns zurück und es entsteht der Eindruck, ein Individuum zu erblicken und von diesem selbst angeschaut zu werden. Die Intensität des Blickes lädt zu einer Erwiderung ein, zu der gleichermaßen die Madonnenfigur des Ulmer Bildschnitzers Michel Erhart (um 1440/45–1522) anregt. Die um 1480 für die Ravensburger Marienkirche geschaffene Holzskulptur öffnet sich den Betrachtenden. Obwohl die Figur von zarter Statur ist, erhebt sie sich im Vergleich zu den Schutzsuchenden unter ihrem ausgebreiteten Mantel zu übermensch-

Rogier van der Weyden Bildnis einer jungen Frau mit Flügelhaube, um 1440 Öl auf Eichenholz, 49,3 × 32,9 cm

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Folgende Doppelseite: Detail



Impressum Für die Staatlichen Museen zu Berlin herausgeben von

María López-Fanjul y Díez del Corral und Christine Seidel

Lektorat:

Eva Maurer

Entwurf, Layout und Satz:

Holger Stüting, allstarsdesign.de

Publikationsmanagement Museum:

Sigrid Wollmeiner

Publikationsmanagement Verlag:

David Fesser

Projektbetreuung Assistenz:

Teresa Laudert

Herstellung Verlag:

Jens Lindenhain

Reproduktionen:

Babette Buller

Bildbearbeitung:

Eberl & Koesel Studio GmbH, Altusried-Krugzell

Druck und Bindung:

Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe

Verlag und Vertrieb: Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München Lützowstraße 33, 10785 Berlin www.deutscherkunstverlag.de Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston www.degruyter.com Bildnachweis: Umschlagabbildung: Giambologna (1529–1608), Mars gradivus, um 1580, Bronze, mit Sockel, 44 × 15,6 × 20,5 cm, Inv. Nr. 4/65 © Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin / Antje Voigt Johannes Vermeer (1632–1675), Junge Dame mit Perlenhalsband, 1663–1665, Leinwand, 56,1 × 47,4 cm, Gemäldegalerie, Kat.-Nr. 912B © Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin / Image by Google Rückseite: Johannes Vermeer (1632–1675), Junge Dame mit Perlenhalsband, Detail, 1663–1665, Leinwand, 56,1 × 47,4 cm, Gemäldegalerie, Kat.-Nr. 912B © Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin / Image by Google Ausführlicher Bildnachweis auf der vorhergehenden Seite Bibliografische Information Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; der Deutschen Nationalbibliothek detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München und die Autorinnen. www.smb.museum ISBN 978-3-422-98297-0

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