Die Zukunft der Nachkriegsmoderne

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3 innsbrucker beiträge zur baugeschichte band 3

Die Zukunft der Nachkriegsmoderne. Positionen und Projekte Hg. von Klaus Tragbar


Innsbrucker Beiträge zur Baugeschichte Band 3


Die Zukunft der Nachkriegsmoderne. Positionen und Projekte Hg. von Klaus Tragbar


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Innsbruck, dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport, der Stadt Salzburg und der Messezentrum Salzburg GmbH.

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impres s u m h e rausge ber:

Klaus Tragbar

ko n ze pt ion u nd g estaltu ng , satz: botschaft prof. gertrud nolte visuelle kommunikation und beratung, würzburg info@botschaftnolte.de

um sc h l ag abbil du ng : Angelo Mangiarotti, Bruno Morassutti und Aldo Favini: Baranzate, Nostra Signora della Misericordia, 1956–1958, Inneres am Beginn der Arbeiten 2013, Foto Giulio Barazzetta, Mailand

d ruc k un d bindu ng : Elbe Druckerei Wittenberg GmbH

sc h rif t e n:

Garamond Pro, Garamond Expert, Justus Pro

pa pie r:

MaxiSatin 135 g/qm

ve rl ag : Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München Lützowstraße 33 10785 Berlin www.deutscherkunstverlag.de Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin Boston www.degruyter.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München

isb n 978-3-422-98629-9 imp r essu m


Inhalt


Inhalt ü b e r s i c h t

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I.

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Ein Vorwort oder: Bauforschung und Denkmalpflege an Bauten der Nachkriegsmoderne Klaus Tragbar

positionen 14

II.

›Junge‹ Denkmäler in Niedersachsen. Drei Herausforde rungen beim Schützen und Erhalten Christina Krafczyk und Ulrich Knufinke

30

III.

Bauforschung 4.0 – Überlegungen zur bauhistorischen Dokumentation von jungen Baubeständen Olaf Gisbertz

46

IV.

Sichtbeton gesichtet oder: Nägel mit Köpfen. Zum denkmalpflegerischen Umgang mit gestalteten Architekturoberflächen Bernd Vollmar

66

V.

Betonbauten des 20. Jahrhunderts – eine Herausforderung für die Materialwissenschaft Tobias Bader

84

VI.

Architektur als Ressource. Bericht aus der Lehre zum Bauen im Bestand an der Fachhochschule Dortmund Achim Pfeiffer

projekte 96

VII. Die Bayerische Landesvertretung von Sep Ruf in Bonn Felix Wellnitz


112

VIII. Back to the Future of a Laconic Masterpiece Giulio Barazzetta

134

IX.

The Conservation of the Pirelli Tower Curtain Wall. An Italian Story Simona Salvo

152

X.

Gebraucht und doch wie neu. Der Kanzlerbungalow in Bonn Berthold Burkhardt

170

XI.

Grundinstandsetzung Neue Nationalgalerie Berlin mit Schwerpunkt der Stahlglasfassade Daniel Wendler

182

XII. Begegnung mit Paul Baumgarten. Die Grundsanierung des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe Konrad Assem

196

XIII. »Si les maisons étaient construites […] comme des châssis.« Die Fenster des Pavillon Le Corbusier in Zürich Wiepke van Aaken

XIV. UFO Stefan Hitthaler

+

216

228

XV.

Architektenbiographien

240

XVI. Autorinnen und Autoren

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I Ein Vorwort oder: Bauforschung und Denkmalpflege an Bauten der Nachkriegsmoderne Klaus Tragbar


I. Ein Vorwort oder: Bauforschung und Denkmalpflege an Bauten der Nachkriegsmoderne Klaus Tragbar

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Der Bereich Baugeschichte und Denkmalpflege der Universität Innsbruck hat in den vergangenen Jahren im Rahmen der Monumento Salzburg, Fachmesse für Kulturerbe und Denkmalpflege, die »Europäischen Bauforschertage« veranstaltet, die sich als Forum für aktuelle Themen der Bauforschung und der Denkmalpflege verstehen. Zu den zentralen Anliegen der »Europäischen Bauforschertage« zählen die Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und die Vermittlung des baukulturellen Erbes in Europa. Bereits 2018 hatten sich die Bauforschertage in einer Sektion mit Fragen der Denkmalpflege an Bauten der Nachkriegszeit auseinandergesetzt. Walter Hauser, Landeskonservator und Leiter der Abteilung Tirol des Bundesdenkmalamtes Österreich, eröffnete diesen Teil der Tagung mit einer bemerkenswerten Reflexion über den klassischen Denkmalbegriff und seine Anwendung auf die Architektur der Nachkriegszeit, konkreter: auf die Bauten der 1960er und 70er Jahre. Christina Krafczyk, Präsidentin des Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege, stellte die gerade in ihrem Bundesland virulente Frage, wie diese Denkmale zu bewerten und zu erhalten sind. Olaf Gisbertz schlug neue Methoden der Baudokumentation von jungen Baubeständen vor. Von den im Anschluss referierten Beispielen aus der Praxis, darunter die Sanierung des Gemeindehauses der Kirche Maria Regina in Fellbach durch Andreas Kaupp, der Umbau des Hochhauses Am Plärrer in Nürnberg durch Thomas Knerer und Eva Maria Lang und die von Christine A. Becker-Koob referierte Bestandserhebung und Dokumentation von Großbauten am Beispiel des Campus Benjamin Franklin in Berlin konnten nur die Sanierung des Kanzlerbungalows in Bonn nach der Machbarkeitsstudie von Berthold Burkhardt und die Bauuntersuchung der Glasfassadenelemente am Centre Le Corbusier in Zürich durch Wiepke van Aaken, die sie seinerzeit an der e t h Zürich durchgeführt hatte, in den vorliegenden Band aufgenommen werden. 2020 standen erneut – und dieses Mal ausschließlich – die Bauten der Nachkriegsmoderne und die sich an ihnen stellenden Herausforderungen für Bauforschung und Denkmalpflege, für Sanierung kl au s tr ag bar


und Revitalisierung im Mittelpunkt der »2. Europäischen Bauforschertage«: Welche Fragen ergeben sich für die Bauforschung an Bauten der Nachkriegsmoderne? Müssen ihre Methoden dem oftmals seriellen Charakter dieser Bauten angepasst werden? Wie werden diese Bauten, die teils noch in großer Zahl vorhanden sind, denkmalpflegerisch bewertet und inventarisiert? Welche Maßstäbe müssen entwickelt werden? Welche denkmalpflegerischen Herausforderungen bringt ihre Sanierung mit sich? Wie können einzelne Bauteile aus serieller Produktion ersetzt werden, ohne die Denkmaleigenschaft zu gefährden? Welche Risiken bestehen hinsichtlich mancher aus heutiger Sicht toxischer Materialien? Wie können die Bauten der Nachkriegsmoderne der Öffentlichkeit vermittelt werden? Welche Strategien der Wissensdistribution müssen für die Bauten der Nachkriegsmoderne angewendet werden? In der ersten Sektion der »2. Europäischen Bauforschertage« wurden Themen behandelt, die sich grundsätzlich mit Fragen der Bauforschung und Denkmalpflege, mit der Materialität, Inventarisation und Bewertung von Bauten der Nachkriegsmoderne befassen, aber auch damit, wie die Wertschätzung für Bestandsbauten an den Universitäten und Hochschulen in die Lehre integriert werden kann. Eva Hody, Landeskonservatorin und Leiterin der Abteilung für Salzburg des Bundesdenkmalamtes Österreich sprach über »Denkmalpflege und Bauforschung in der Architektur des 20. Jahrhunderts«, und Andreas Putz, Professor für Neuere Baudenkmalpflege an der Technischen Universität München, präsentierte unter dem Titel »Hunger auf Welt. Forschung zum neueren Bauerbe« aktuelle Projekte. Der zum Zeitpunkt der Tagung noch am Institut für Konstruktion und Materialwissenschaften der Universität Innsbruck tätige Tobias Bader stellte detailliert und mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis die Betonbauten des 20. Jahrhunderts als eine Herausforderung für die Materialwissenschaft dar. Ulrich Knufinke, Mitarbeiter am Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege, referierte darüber, wie die Denkmäler der Nachkriegsmoderne zu bewerten und zu inventarisieren seien. Achim Pfeiffer, Architekt in Essen und Professor an der Fachhochschule Dortmund, berichtete aus der Lehre zum Bauen im Bestand an der Fachhochschule Dortmund. Bernd Vollmar, Landeskonservator a.D. am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, referierte aus seiner langjährigen Praxis zum denkmalpflegerischen Umgang mit gestalteten Architekturoberflächen.

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In der zweiten, den Fallbeispielen gewidmeten Sektion berichtete Konrad Assem über die von seinem Büro durchgeführte Grundsanierung des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe und die daraus resultierenden Einblicke in die Arbeitsweise und die Persönlichkeit von Paul Baumgarten, dem Architekten des von 1965 bis 1969 errichteten Ensembles. Am Beispiel der Instandsetzung der Stahlglasfassade der Neuen Nationalgalerie in Berlin von Ludwig Mies van der Rohe, einer Ikone der Architektur des 20. Jahrhunderts, zeigte Daniel Wendler von David Chipperfield Architects Berlin exemplarisch einige Probleme von deren Grundinstandsetzung auf. Simona Salvo, Professorin für Restaurierung an der Sapienza Università di Roma, stellte mit der Instandsetzung der curtain wall des von Gio Ponti und Pier Luigi Nervi entworfenen Pirelli Hochhauses in Mailand ein bahnbrechendes Projekt vor, das traditionelle italienische Restaurierungskonzepte mit einer modernen und ungewöhnlichen Bautechnik verknüpfte. Über die Restaurierung eines außerhalb Italiens weitgehend unbekannten Baus, der von 1956 bis 1958 durch Angelo Mangiarotti, Bruno Morassutti und Aldo Favini in dem Mailänder Vorort Baranzate errichteten Kirche Nostra Signora della Misericordia, der sogenannten ›chiesa di vetro‹, durch sein Büro berichtete Giulio Barazzetta von SBG architetti. Felix Wellnitz, freier Architekt und Professor für Bauphysik an der Beuth Hochschule für Technik Berlin, stellte eine mehrjährige wissenschaftliche Studie zum klimatischen Verhalten der ehemaligen Bayerischen Landesvertretung in Bonn vor. Der 1955 von Sep Ruf entworfene und lange leerstehende Bau ist seit 2010 Sitz der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Einen markanten Schlusspunkt setzte der Architekt Stefan Hitthaler aus Bruneck, der ein kleines, 1972/73 von Josef Lackner entworfenes Ferienhaus in einem Waldstück bei Bruneck saniert und erweitert hatte. Hitthaler hatte selbst bei Lackner studiert und einen persönlichen Einblick in die Arbeitsweise dieses bedeutenden Tiroler Architekten der Nachkriegszeit. Bis auf die von Eva Hody und Andreas Putz konnten alle Beiträge der »2. Europäischen Bauforschertage« in den vorliegenden Tagungsband aufgenommen werden.

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Für die großzügige Förderung der »Europäischen Bauforschertage« und der vorliegenden Publikation, den Band 3 der Innsbrucker Beiträge zur Baugeschichte danke ich dem Vizerektorat für Forschung und dem Dekanat der Fakultät für Architektur der Universität Innsbruck, dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport, der Stadt Salzburg und der Messezentrum Salzburg GmbH. Mein besonderer Dank gilt Lydia Constanze Krenz und Florina Pop, Mitarbeiterinnen am Bereich Baugeschichte und Denkmalpflege, die einen großen Teil der Redaktion des vorliegenden Bandes übernahmen und wesentlichen Anteil an dessen Gelingen haben.

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ii. hartmu t frank: konj unk turen des nati onalen


II ›Junge‹ Denkmäler in Niedersachsen. Drei Herausforderungen beim Schützen und Erhalten Christina Krafczyk und Ulrich Knufinke


II

›Junge‹ Denkmäler in Niedersachsen. Drei Herausforderungen beim Schützen und Erhalten Christina Krafczyk und Ulrich Knufinke

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Sowohl die Bau- und Architekturgeschichte als auch die staatliche Denkmalpflege widmen sich in der Bundesrepublik und damit auch in Niedersachsen seit einigen Jahren verstärkt jenen Bauten und Anlagen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden sind. Die Ausgangslage für die Bewertung dieser Architektur, ihr Aufnehmen in die Verzeichnisse der Kulturdenkmäler und ihre langfristige Erhaltung ist jedoch von besonderen Herausforderungen geprägt, die sich von jenen der traditionellen Denkmalpflege, insbesondere der Pflege des vormodernen Baubestands, unterscheiden:

1)

Das Phänomen der Masse: In Deutschland wurde nie so viel gebaut wie in der Phase des Wiederaufbaus, des Wirtschaftswunders und seiner Folgejahre. Ein entsprechender Instandsetzungsbedarf beschäftigt mittlerweile einen nicht unerheblichen Zweig der Bauindustrie. Die Baudenkmalpflege ist also untrennbar mit den generellen Fragen der Bauwerkserhaltung verknüpft.

1 Vgl. Hassler/Kohler/Paschen 1999; Hassler/Kohler/Steadman 2009; Hassler 2018.

Die Arbeiten von Uta Hassler und Niklaus Kohler seit den 1990er Jahren zur Entwicklung der Gebäude- und Infrastrukturbestände des 20. Jahrhunderts sind sicher als grundlegend für den Überblick auf die Veränderungsdynamiken des Gesamtbestands zu nennen.1 Prominent sind die Untersuchungen zur Verdoppelung des Baubestands in den Boomjahren, einem großen Teil der hier betrachteten Nachkriegsarchitektur. Wenn der erhaltene Baubestand dieser Zeitepoche aber so groß ist, wie funktioniert dann die Auswahl der Repräsentanten, des Idealtypischen? Was sind die Referenzrahmen für die Einordnung von Bautypen und Siedlungsformen wie beispielsweise Stadthallen, Schulzentren, Massenuniversitäten, Gewerbeparks oder Großwohnsiedlungen? Wie klein- oder großräumig ist der Vergleichsrahmen zu setzen – innerhalb einer Region oder eines Bundeslands, oder sollten nationale Repräsentanten herausgefiltert werden? Vermutlich wäre der Anteil der Denkmäler im Bestand der Bauten der Nachkriegsjahrzehnte dann recht klein, verglichen mit dem Denkmalanteil unter den Objekten des 19. Jahrhunderts und erst recht der Zeit davor.

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2)

Die Komplexität der gestalterischen beziehungsweise künstlerischen Qualitäten: Die architekturgeschichtliche Forschung etabliert seit einigen Jahren einen ›Kanon‹ bedeutender Architekten – selten: Architektinnen –, herausragender Bauten und prägender städtebaulicher Musteranlagen der Nachkriegsjahrzehnte. Würde die Denkmalpflege und -inventarisation allein dem Konzept eines solchen Kanons folgen, übertrüge sie die Tradition der kunsthistorisch geprägten Denkmalausweisung und -erhaltung auf die jüngeren Bestände. Mit einer Erweiterung der Betrachtung muss jedoch das Bauen der Nachkriegsjahrzehnte in seiner ganzen Breite und Masse erfasst werden, um prägende Charakteristika dieser Zeit einzubeziehen. Es müssen neue Bewertungsmaßstäbe für eine von Rationalisierung, Typisierung, Entindividualisierung und ubiquitärer Verbreitung geprägte Architektur begründet und vermittelt werden?

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3 ) Grenzen der Konservierbarkeit jüngerer, größtenteils hochtechnisierter Objekte: In keiner baugeschichtlichen Epoche zuvor wurden so viele neue Materialien und Konstruktionen industriell entwickelt – und oft wieder verworfen – wie in den Nachkriegsjahrzehnten. Mehr noch: Die innovative Konstruktion wurde wie selten zuvor zum prägenden Merkmal einzelner Bauten, was wiederum ihren Wert als Denkmal (mit-)bestimmt. Wie lässt sich ein Bestand langfristig erhalten, der aufgrund nicht immer reproduzierbarer Materialien und Konstruktionsweisen z.T. mit Schadstoffproblematik nur aufwändig, schwer und teurer mit den herkömmlichen Mitteln und Techniken saniert werden kann?2 Wo bringen Reparaturen, funktionell bedingte Umbauten und absehbare Zyklen der Erneuerung ein Objekt an die Grenze dessen, was mit dem Begriff ›Authentizität‹ die Zeugnishaftigkeit eines Denkmals umschreibt? Die Frage der Bewertung des gebauten kulturellen Erbes der Nachkriegszeit lässt sich also nicht völlig losgelöst von den Möglichkeiten und den immanenten Problemen und erkennbaren Grenzen ihrer langfristigen Erhaltung diskutieren. Der Verlust historischer Substanz aus der Nachkriegszeit, der aus verschiedenen Gründen – Verlust ursprünglicher Nutzungen, neue Erwartungen an Bequemlichkeit, Anforderungen aus Brandschutz, Barrierefreiheit und Energieeinsparung, technische Grenzen der Erhaltbarkeit von Objekten, die nicht auf Dauerhaftigkeit hin konzipiert wurden, um nur einige zu nennen – droht, macht es umso dringlicher, Bewertungs- und Erhaltungsstrategien zu entwerfen, die die erhaltenswürdigen Zeugnisse der jüngsten Vergangenheit für zukünftige Generationen überliefern. ›junge‹ denkmäler in niedersachsen

2 Vgl. Hassler/Dumont d’Ayot 2009; Krafczyk 2019.


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Zur Frage der Erhaltbarkeit kommt die der öffentlichen Akzeptanz: Immer mehr Menschen – nicht nur Architekturenthusiasten und Fachleute – stellen fest, dass auch die Bauten der letzten Jahrzehnte Teil unserer Geschichte sind und zumindest in gewissem Umfang überliefert werden sollten – genauso wie die alten Stadtkerne, Dörfer, Kirchen, Burgen, Schulen oder Rathäuser aus der Zeit vor den Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg und ihren Folgen im Wiederaufbau. Die ›alten‹ Denkmale sind gemeinhin als Zeugnisse der Landes- und Ortsgeschichte akzeptiert, für die ›jungen‹ Objekte steht ihr Denkmalwert hingegen oft genug in der Diskussion: Ein Rathaus, eine Kirche der 1960er Jahre wird von vielen – noch? – nicht als Ort und Objekt eigener, lokaler Identität und Kulturgeschichte verstanden. In der Öffentlichkeit werden Bauten, die in den Augen mancher ja ›nur‹ aus Beton bestehen, zu Gegenständen gesellschaftlicher Auseinandersetzung, zu Streitobjekten, zu Zankäpfeln offener und verdeckter Interessen. Die Gründe der Ablehnung sind vielfältig – doch wenn es der Industriedenkmalpflege gelungen ist, die ›nicht-schönen‹ Zeugnisse der Arbeitswelt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu bewahren und als Teil des kulturellen Gedächtnisses bewusst zu machen, warum sollte dies nicht auch für die nicht in erster Linie ›schönen‹ Objekte aus den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gelingen? Dies erfordert, die ›geschichtliche und wissenschaftliche‹ Bedeutung der möglichen Denkmale in den Blick zu nehmen – wobei ›geschichtlich und wissenschaftlich‹ viele Facetten kultur-, sozial-, stadtbau-, wirtschafts-, material-, konstruktionsgeschichtlicher Art umfassen wird.

3 Vgl. Krafczyk 2021.

Nimmt man den jüngeren Baubestand Niedersachsens in den Blick und fragt, welche Objekte aus dieser Zeit bedeutend und im Sinne der Denkmalpflege erhaltenswert sind, werden sich ähnliche Beobachtungen ergeben wie in anderen Bundesländern.3 Als im Jahr 1946 die Gründung des Bundeslandes Niedersachsen erfolgte, musste dieses neue, aus vier Vorgängerländern zusammengesetzte staatliche Gebilde zunächst als Konglomerat mit unterschiedlichen geschichtlichen Grundlagen und kulturellen Traditionen erscheinen. Niedersachsen stand damit nicht nur vor den allgemeinen Herausforderungen Deutschlands in der Nachkriegszeit: Etablierung einer demokratischen Ordnung nach der nationalsozialistischen Diktatur unter den Bedingungen alliierter Besatzung, wirtschaftlicher Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, Integrachristina krafczyk u nd ulri ch k nufi nk e


tion von Vertriebenen und Flüchtlingen. Es musste auch die Aufgabe bewältigen, eine funktionierende Regierung und Verwaltung für das Flächenland aufzubauen und letztlich eine ›niedersächsische Identität‹ zu entwickeln.4 Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der 1950er und 60er Jahre ging ein enormer Bauboom einher, der Industrie-, Gewerbe-, Bildungs- und Infrastrukturbauten ebenso erfasste wie den Wohnungsund Siedlungsbau.5 Mit dem Ausbau der in der Zeit des Nationalsozialismus angelegten Industriestandorte Salzgitter und Wolfsburg entstanden zwei außergewöhnliche Städte, die den Wechsel der städtebaulichen Leitbilder der Mitte und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geradezu musterhaft repräsentieren.6 Öffentliche Bauaufgaben erlebten allgemein einen großen Aufschwung. Andere historische Entwicklungen hinterließen ebenfalls Spuren in Niedersachsen: Im Kalten Krieg wurden auch in diesem Bundesland Kasernen und Truppenübungsplätze ausgebaut. Die deutsche Teilung zwischen 1961 und 1989 versetzte die östlichen Landesteile aus der Mitte des Deutschen Reichs an den abgeschotteten Ostrand der damaligen Bundesrepublik. Nach 1990 unterlagen die vom Militär geprägten Regionen Niedersachsens einem tiefen Strukturwandel. Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung war es dann Hannover, das mit der Expo 2000 der Welt ein neues Bild des geeinten Deutschlands zeigen sollte. Verbunden mit der auf ökologische Fragen ausgerichteten Weltausstellung war ein erheblicher Ausbau der Landeshauptstadt und etlicher weiterer Standorte. Seit etwa 2010 ist zu beobachten, dass die Bauten und Anlagen der Boomjahre bis zur Ölpreiskrise unter erheblichen Veränderungsdruck geraten, auch prominente Objekte gehen verloren oder werden radikal umgestaltet (Abb. 1).7 Auch wenn eine Gesamtdarstellung der Architektur- und Stadtbaugeschichte sowie der Erhaltungs- und Umbauge›junge‹ denkmäler in niedersachsen

4 Vgl. Knufinke 2021. 5 Vgl. Vereinigung der Landesdenkmalpfleger 2012 (mit niedersächsischen Beispielen); Nagel 2015; Riess 2017; Knufinke/Funke 2017; Vereinigung der Landesdenkmalpfleger 2020 (mit nieder19 sächsischen Beispielen); Curti/ Müller 2021; Herbote 2021. 6 Vgl. Kautt 1989; Froberg/Knufinke/ Kreykenbohm 2011; Leuschner 2018. 7 Vgl. zum Beispiel Herbote/ Knufinke 2019.

1 Paul Baumgarten: Wolfsburg-Detmerode, Stufenhoch-haus, fertig ge stellt 1967, Abriss aufgrund von Bau- und Materialmängeln 2018


2 Hans Scharoun: Wolfsburg-Detmerode, Stephanus-Kindertagesstätte I, fertiggestellt 1969, eingetragenes Denkmal seit 1989

8 So bereits 1989 die Bauten von Alvar Aalto und Hans Scharoun in Wolfsburg, die zum Teil bereits umfangreich saniert wurden; vgl. Froberg 2016. Zu einigen wenigen niedersächsischen Architekten der Nachkriegsmoderne sind bereits monographische Forschungen erschienen, z.B. Haas 2000; Wilhelm/Gisbertz 2007; Schmedding 2011; Buttolo/Lippert 2012; Dorn 2017. Der Sammlung und Erschließung von Nachlässen widmet sich u.a. die Sammlung für Architektur und Ingenieurbau an der TU Braunschweig; vgl. Peschken 2015; Lubitz 2021.

3 Alvar Aalto: Wolfsburg, Alvar Aalto-Kulturhaus, eröffnet 1962, eingetragenes Denkmal seit 1989

schichte in Niedersachsen seit dem Zweiten Weltkrieg bisher nicht geschrieben wurde, läuft auch hier seit einigen Jahren die denkmalpflegerische Bewertung und Ausweisung des jüngeren Bestands: Aus den ersten Nachkriegsjahrzehnten sind längst zahlreiche besonders qualitätvolle Bauten in das Verzeichnis der Kulturdenkmale aufgenommen, darunter einige, die im oben angesprochenen ›Kanon‹ der Nachkriegsmoderne überregionale oder sogar internationale Rezeption erfahren haben (Abb. 2–4).8 Auf die Projekte der 1960er und 70er Jahre wird in letzter Zeit ein größeres Augenmerk gelegt, sodass hier nach strengem Maßstab weitere Objekte eingetragen werden (Abb. 5 und 6). Für die 1980er und 90er Jahre und erst recht für die Objekte der jüngsten Vergangenheit steht eine denkmalpflegerische Erfassung und Bewertung aber weitgehend aus. Die Betrachtung des Bestands der seit 1946 errichteten Bauten ist eine Herausforderung für die Denkmalinventarisierung, vergleichbar mit der Aufgabe der 1970er und 80er Jahre, den Bestand des Baubooms

4 Dieter Oesterlen: Hildesheim, Zwölf-Apostel-Kirche, eingeweiht 1967, eingetragenes Denkmal seit 1999

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