Alexej von Jawlensky
Alexej von Jawlensky Gesicht | Landschaft | Stillleben
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Alexej von Jawlensky
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Alexej von Jawlensky Gesicht | Landschaft | Stillleben
Herausgegeben von Volker Adolphs Mit Beiträgen von Volker Adolphs, Anna Niehoff und Roman Zieglgänsberger
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Inhalt
Volker Adolphs, Stephan Berg
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Vorwort
Volker Adolphs
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Die Wahrheit des Gesichts
Anna Niehoff
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Der Weg nach Innen – Jawlenskys Landschaften
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Experimente auf Leben und Tod – Alexej von Jawlensky in seinen Stillleben
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Biografie
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Ausgewählte Literatur
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Verzeichnis der ausgestellten Werke
Roman Zieglgänsberger
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Vorwort VOLKER ADOLPHS, STEPHAN BERG
1971 hat das Kunstmuseum Bonn das Werk von Alexej von Jawlensky zuletzt in einer Einzelausstellung gezeigt. Rund fünfzig Jahre später widmet sich das Museum erneut seiner Kunst und folgt in einer exemplarischen Auswahl von rund 80 Gemälden und Zeichnungen der Entwicklung der drei großen Themen Gesicht, Landschaft und Stillleben, auf die sich Jawlensky konzentriert hat. Die Bildreihen verdeutlichen, dass nicht die Ungegenständlichkeit das Ziel seiner Kunst war, sondern die Gestaltung einer inneren Vision, die sich bis zuletzt mit den Formen der Welt verbinden konnte. Als zentraler Künstler der frühen Moderne hat Jawlensky die Möglichkeiten der Malerei wesentlich erweitert. Ausgehend von einer expressiv farbigen Aneignung der Welt entfaltete er das Bild durch die Reduktion der Form und die Steigerung der Farbe zum Ausdruck einer immateriellen und geistigen Wahrheit. Trotz der großen Individualität seines Wegs hat er der Malerei bis zur Gegenwart im Blick auf die Bedeutung der Farbe, des Seriellen und Spirituellen wichtige Anregungen gegeben. Die Ausstellung führt von frühen, seit 1901 entstandenen Porträts und Stillleben zu intensiv farbigen Gemälden, in denen sich Jawlensky mit Vincent van Gogh, Paul Gauguin und Henri Matisse auseinandersetzt und seine eigene Position im Kontakt mit den Künstlerinnen und
Künstlern der Neuen Künstlervereinigung München und des Blauen Reiters bestimmt. Nach der Emigration in die Schweiz 1914 beginnt Jawlensky die Serie der Variationen über ein landschaftliches Thema, es folgen seit 1917 die Mystischen Köpfe, die Heilandsgesichter und die Abstrakten Köpfe, die den singulären Charakter der Kunst Jawlenskys dokumentieren. Als letzte Serie schließen zwischen 1934 und 1937 die kleinformatigen Meditationen das Lebenswerk ab. Auf sie trifft in besonderem Maß Jawlenskys Aussage zu: „Kunst ist Sehnsucht zu Gott“. Die Ausstellung wurde realisiert in Kooperation mit dem Museum Wiesbaden, das eine der bedeutendsten öffentlichen Sammlungen von Werken des Künstlers besitzt. Während das Kunstmuseum Bonn aus dieser Sammlung eine breite Auswahl von wichtigen Arbeiten Jawlenskys präsentiert, ist zur gleichen Zeit ein umfassendes Konvolut zentraler Werke von August Macke aus der Sammlung des Kunstmuseums Bonn in Wiesbaden zu Gast. Beide Museen erweitern die Ausstellungen jeweils durch Leihgaben aus anderen Museen und Privatsammlungen. Wir danken dem Museum Wiesbaden und allen anderen Leihgeberinnen und Leihgebern sowie vor allem der Hans Fries-Stiftung, die durch eine substanzielle finanzielle Förderung die Ausstellung in Bonn erst ermöglicht hat.
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Die Wahrheit des Gesichts VOLKER ADOLPHS
Gesicht
Porträt
Das Gesicht ist der Maßstab der Individualität. In ihm drückt sich ein Subjekt verschieden von anderen Subjekten aus, im beweglichen Mienenspiel, in den Spuren, die die vergehende Zeit in das Gesicht einschreibt. Schon der Begriff artikuliert die auszeichnende und kommunikative Eigenschaft des Gesichts – zu schauen und angeschaut zu werden. Das Gesicht wird von der Intensität des Blicks dominiert und charakterisiert. Im Blick begegnet das eine Ich einem anderen Ich, in welcher Wahrhaftigkeit oder Verstellung, in welchem Beistand oder Konflikt auch immer.1 Das Gesicht ist Teil des Kopfes, der Kopf Teil des Körpers. Die hervorgehobene Qualität des Gesichtes wird aber darin deutlich, dass das Gesicht in Nahsicht, isoliert vom Rest des Körpers, doch dessen Ganzheit vertritt und die Vorstellung der physischen und psychischen Präsenz und Autonomie eines Subjekts gibt. Eine Hand bleibt dagegen immer nur ein abgetrenntes Fragment. Im Gesicht zeigt sich das Ich, auch, indem es sich verbirgt, es zeigt sich als Schauspiel der Rollen und Gefühle: vertraut, fern, posierend, entblößt, schwankend, als Landschaft der vielerlei Ansichten, die in der möglichen Summe ein Ich nicht zerstreuen, sondern es vielleicht zentrieren und konstituieren.
Das Porträt als „Platzhalter für das Gesicht, dessen Ausdruck es vom Körper löste und auf eine symbolische Fläche übertrug“,2 ist eine Behauptung gegen den Tod und zugleich dessen Bestätigung.3 Das Porträt soll den Porträtierten lebendig und gegenwärtig erscheinen lassen, vermag dies aber nur als Bild einer Erinnerung, eines Vergangenen. In jedes Porträt ist eine Sehnsucht und ein Verlust eingezeichnet. Es entnimmt dem Fluss der Zeit einen Moment und dehnt ihn aus, versucht ihn aus der Zeit zu stellen, der er als Moment der vielen Momente verfallen ist. Ein Gesicht ist physisch anwesend, ein Porträt tritt an seine Stelle in seiner physischen Abwesenheit. Trotz des Wissens, dass das Porträt ein Bild der Abwesenheit des Lebens ist, soll das Porträt der Ort sein, an dem das Subjekt als es selbst erscheint – sprechend, souverän, authentisch. Dies ist eine Perspektive der frühen Neuzeit, die den Wandel vollzog „von der Ikone zum Porträt, einen Wandel vom heiligen Gesicht zum Gesicht, aus dem ein Subjekt blickt“.4
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Ähnlichkeit
gegen den Weg in die Ungegenständlichkeit, weil es gar kein Gegenstand war, sondern immer mit der Erfahrung des Subjekts verknüpft blieb. Minimale Signale genügen, Striche für Augen, Nase, Mund, um ein Gesicht zu erhalten und es schließlich, wie Alexej von Jawlensky es getan hat, zum Träger einer spirituellen göttlichen Gewissheit zu machen.
Die Emanzipation des Subjekts als Voraussetzung für diesen Weg des Porträts stellt an das Porträt die Forderung nach Ähnlichkeit. Das Porträt soll ähnlich sein, ähnlich zunächst überhaupt einem Gesicht, auch wenn es dessen ruhelose Mimik nur repräsentieren kann und in eine maskenhafte Erstarrung zwingt. Ähnlichkeit meint nicht nur das bloße Abbild, dessen verlässliche Wiedererkennbarkeit als selbstverständlich genommen wird. Ähnlichkeit entsteht vielmehr auf der Basis einer Deutung, die sich auch auf die Innenwahrnehmung des Subjekts (Stimmungen, Überzeugungen, Antriebe) richtet und diese an die sichtbare Außenseite vermittelt. Zugleich kann das Porträt die Sprache sein, in der das Subjekt in seiner privaten und öffentlichen Existenz, seiner handelnden und erleidenden Verflechtung mit der Welt präpariert und definiert wird, und damit auch Auskunft geben über den zeitlichen, sozialen, ästhetischen Raum, aus dem das Subjekt hervortritt. So kann der Anspruch des Porträts legitimiert werden, die vielen Aspekte einer Person zum Bild eines Selbst zu verschränken, das über die im Gesicht manifestierte sterbliche Hülle hinaus wirkt und die Möglichkeit eines wahren Gesichts des Subjekts entwirft. Seit die Fotografie eine Ähnlichkeitsgarantie übernommen hat, sah sich die Malerei von der Aufgabe entbunden, Ähnlichkeit herzustellen. Und obwohl das Versprechen der Fotografie in Bezug auf die Wahrheit des Bildes ein kolossaler Irrtum war, da auch die Fotografie nicht über den Abglanz eingefrorenen Lebens hinauskommt und mehr als die Malerei an die Zufälligkeit des Moments gebunden bleibt, hat sich die Malerei nachhaltig und unumkehrbar aus der Verbindlichkeit reproduktiver Aufgaben gelöst und wurde frei, sich allein mit Fragen des Bildes, mit Farbe, Form und Linie, zu befassen, die zuvor immer eingebunden waren in die Verpflichtung, auf die Sichtbarkeit der Welt zu antworten. Auch das Gesicht konnte in der frühen Moderne zum Experiment der Farbe und ihrer reinen Entfaltung motivieren. Das Gesicht wehrte sich aber gegen seine Auflösung in der Abstraktion,
Thema Jawlensky hat sich in seiner Kunst auf drei Themen konzentriert: Gesicht, Landschaft, Stillleben, die aber nicht auf ihre größtmögliche Variabilität entfaltet, sondern immer mehr in einer seriellen Reihung weniger Bildkonstellationen kondensiert werden. Selbst innerhalb der Beschränkung auf Gesicht, Landschaft, Stillleben besitzt das Gesicht sowohl in der Quantität der Werke wie in der Kontinuität der Auseinandersetzung von den frühen Porträts bis zu den späten Meditationen Priorität. Eine solche Fokussierung wirkt bescheiden und zugleich maßlos, maßlos im Anspruch, im Bild des menschlichen Gesichts alles finden und alles sagen zu wollen, eine umfassende, das materielle wie immaterielle Weltganze einschließende Wahrheit, die sich im Gesicht zeigt und es zugleich transzendiert: „Das Gesicht ist für mich nicht ein Gesicht, sondern der ganze Kosmos. Im Gesicht offenbart sich der ganze Kosmos.“5
Gegenwart Jawlenskys Werk ist in dieser Ausschließlichkeit eines der spannendsten malerischen Projekte des 20. Jahrhunderts, auch, weil er sein Ziel nicht durch ausgelaugte künstlerische Mittel untergrub, sondern in der Reduktion der Form und der Emanzipation der Farbe ein adäquates künstlerisches Vokabular erarbeitete, das sich auf der Höhe der Moderne bewegte. Jawlensky stand in engem Austausch mit den wichtigen Künstlerinnen und Künstlern seiner Zeit, war Mitglied der Neuen Künstlervereinigung München und dem Blauen
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als junger Mann zum ersten Mal Gemälde zu sehen, „das war der Wendepunkt in meinem Leben. Seit-
Reiter eng verbunden. Sein Festhalten an eingeübten Bildthemen mag zunächst anachronistisch und gerade in den späten Serien der Abstrakten Köpfe und Meditationen als eine isolierte Unternehmung erscheinen, die sich schwer in das Profil der Kunst der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts einordnen lässt. Ebenso wenig prägte er im Vergleich zum Beispiel zu Wassily Kandinsky die Diskussion um eine Kunst der Zukunft. Aus historischer Distanz, die zeigt, dass die Ungegenständlichkeit zwar eine Leitidee der Moderne, dennoch nur eine unter anderen Selbstbestimmungen des Bildes war, erscheint sein Werk aber progressiver und radikaler als das vieler seiner Zeitgenossen. Auch heute berührt Jawlenskys geradezu autistisches Ringen um das Bild des Gesichts, das den Blick nach außen und den Blick nach innen gleichstellte. Die Zukunftsfähigkeit seiner Kunst erwies sich zudem darin, dass sie Formen der Serialität und Spiritualität als Bildmodelle formulierte, die in der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis zur Gegenwart weiter entfaltet wurden.6
dem war die Kunst mein Ideal, das Heiligste, nach dem sich meine Seele, mein ganzes Ich sehnte.“9 Es ist dabei zu einfach zu sagen, dass Jawlensky von der Ikone ausging, um am Ende wieder zur Ikone zurückzugelangen, er fand aber zu einem Bild des Gesichts, das die Erfahrungen der Moderne teilt und die Zeitlichkeit des Individuums mit der Entzeitlichung der Ikone in eins fasst.
Theorie Anders als Wassily Kandinsky, Franz Marc oder Paul Klee hat sich Jawlensky kaum grundsätzlich zur Kunst geäußert. Man ist angewiesen auf wenige Dokumente wie Briefe, die er unter anderem an Emmy Scheyer und Willibrord Verkade geschrieben hat,10 und die 1937 diktierten Lebenserinnerungen.11 Er klärt darin nicht im Sinne einer Theorie, wie und warum er sich vor allem mit dem menschlichen Gesicht auseinandergesetzt hat. Die verschiedenen Begriffe wie Porträt, Bildnis, Antlitz, Gesicht, Kopf, Maske, Ikone, denen unterschiedliche Inhalte korrespondieren, werden von Jawlensky nicht in ein argumentatives Gerüst eingebaut oder in eine zeitliche Abfolge gebracht, sondern nebeneinander verwendet. In einem Brief an Willibrord Verkade schrieb er 1938: „Im Jahr 1911 kam ich zu einer persönlichen Form und Farbe und habe gewaltige figurale Bilder und Köpfe gemalt. [...] Dann war mir notwendig, eine Form für das Gesicht zu finden, da ich verstanden hatte, daß die große Kunst nur mit religiösem Gefühl gemalt werden soll. Und das konnte ich nur in das menschliche Antlitz bringen. Ich verstand, daß der Künstler mit seiner Kunst durch Formen und Farben sagen muß, was in ihm Göttliches ist. Darum ist das Kunstwerk sichtbarer Gott, und die Kunst ist ,Sehnsucht zu Gott‘. Ich habe viele Jahre Gesichte gemalt.“12 Auffällig ist die parallele Verwendung von „Gesicht“ und „Gesichte“. Das Gesicht meint die Möglichkeit eines wechselseitig schauenden Kontakts, einer Gemeinsamkeit von Betrachten und Betrachtetwerden, weil Gesichter
Tradition In diesen Eigenschaften des Werkes schwingt zugleich die Verpflichtung gegenüber der eigenen Tradition mit, die Jawlensky betonte: „Jeder Künstler arbeitet in einer Tradition [...]. Ich bin geborener Russe. Meiner russischen Seele war immer nahe die altrussische Kunst, die russischen Ikonen, die byzantinische Kunst, die Mosaiken von Ravenna, Venedig, Rom und die romanische Kunst. Alle diese Künste hatten meine Seele immer in eine heilige Vibration gebracht, da ich dort eine tiefe geistige Sprache fühlte. Diese Kunst war meine Tradition.“7 Aus der Engführung dieser Aspekte hat Werner Haftmann formuliert, dass Jawlensky „bei voller Anerkennung der modernen Mittel das religiöse Meditationsbild der Kultur der Gegenwart erhalten“ habe.8 In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Jawlensky die Tiefe der Begegnung, die er als Kind mit einer Ikone der Muttergottes hatte, und später die Bedeutung der Erfahrung,
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1896 erweiterte sich sein künstlerischer Horizont. Um 1901/02 entstand das größte Gemälde im Werk Jawlenskys, Helene im spanischen Kostüm (Abb. 2)13, ein Porträt seiner späteren Frau Helene Nesnakomoff, das Lovis Corinth veranlasste, den Künstler für die Ausstellung der Berliner Secession zu empfehlen. Das Bild ist ein Porträt, aber auch eine distanzierende Inszenierung, in der Jawlensky Helene, verkleidet in ein spanisches Kostüm, in herausfordernder und doch sich ihrer
Abb. 1
Anjuta 1893 Öl auf Leinwand auf Karton, 55,5 × 32 cm Privatsammlung
eine Realität teilen. Gesichte sind isolierende Wahrnehmungen, die der, der sie erfährt, nicht unmittelbar in ein schauendes Gegenüber mitteilen kann. Gesichte definieren nicht die Differenz körperlicher Oberflächen, sondern sind Innenansichten, die sich auf ein körperlich unerreichbares Außen richten.
Beginn Jawlenskys künstlerischer Weg begann mit seinem Studium 1890/91 an der Petersburger Kunstakademie, an der als einflussreicher Lehrer Ilja Repin unterrichtete. Jawlensky folgte Repins Realismus und malte seine detaillierten Porträts mit dem Anspruch auf Ähnlichkeit, Individualität und Lebendigkeit, wie bei dem Bildnis einer jungen Frau (Abb. 1). Mit dem Wechsel nach München
Abb. 2
Helene im spanischen Kostüm um 1901/02 (Kat. 1)
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Matisse auseinandergesetzt und sich ihre Einsichten zur Form und Farbe auf hohem Niveau angeeignet. Insgesamt ist es für Jawlensky ein Weg der Steigerung der Farbe zu intensiven, zum Teil durch dunkle Konturen hervorgehobenen reinen Klängen. Natureindruck und Gefühl werden in der Fläche des Bildes in eine Organisation leuchtender vereinfachter Farbformen und ihrer Beziehungen überführt. Das Selbstbildnis mit Zylinder von 1904 (Abb. 3) dokumentiert in seinem flackernden Pinselstrich noch deutlich die Erfahrung der Kunst von Vincent van Gogh. Eine Balance zwischen den Energien des Bildes kann kaum hergestellt werden. Der weiße Kragen schneidet den Kopf geradezu vom Oberkörper ab, der in den wirbelnden Farbfond übergeht. Kopf und Hut werden durch eine Rotationsbewegung der Farbe zugleich aufgelöst wie zusammengehalten. In eigentümlichem Widerspruch steht die gepflegte, beinahe dandyhafte Erscheinung Jawlenskys zur Heftigkeit der Bildbewegung.
Abb. 3
Selbstbildnis mit Zylinder 1904 Öl auf Leinwand, 56,5 x 46,6 cm Privatsammlung
1906 war Jawlensky Henri Matisse in Paris begegnet, dessen Kunst ihn nachhaltig beschäftigte.14 Die ruhige, auf den Eigenwert der jeweiligen Farben gerichtete Formgliederung der Bilder von Matisse zeigt sich zum Beispiel in Jawlenskys Gemälde Dame mit Fächer (Abb. 4). Das Gemälde Mutter des Nikita (Abb. 5) verdeutlicht, inwieweit er bald über Matisse und die eigenen früheren Bilder hinausgeht. Alles Elegante, Anekdotische und Dekorative ist dem Bild ausgetrieben. Stattdessen wählt Jawlensky Formen und Farben von geradezu brutaler Eindringlichkeit und Direktheit. Schon in den Bildern der Fauves gab es kein Licht mehr, das als Beleuchtung von außen in die Bildwelt einfiel und die Farbe sichtbar machte, vielmehr war die Farbe nun selbst das Licht, das mit der Farbe entstand und mit ihr verschwand. In Mutter des Nikita und den folgenden Bildern Jawlenskys ist diese Qualität der Farbe nochmals erweitert, ihr inneres Brennen weist über alle Materialität hinaus in einen immateriellen Bereich. Es beginnt die Reihe wichtiger Bilder, die immer weniger einen Anspruch auf Individualisierung erheben, sondern die Gesichter ins Archetypische verschieben. Die Werke von 1911/12 heißen nun
selbst nicht sicheren Pose und wie im Vorgriff auf spätere Werke mit markant akzentuierten Augen darstellt. Der kaum definierte Raum gibt Helene keinen Stand, die Erfassung von Details weicht einem fließenden Pinselduktus, der die Formen auflockert und in Bewegung versetzt. Verstärkt ist das Interesse an der Gestaltung der Farbe, die vor allem in einem lichthaften Rot-Grün-Komplementärkontrast von Bluse und Kostüm entwickelt wird.
„Gewaltige figurale Bilder“ Zeigen sich hier noch Stilmittel des Impressionismus, so hat sich Jawlensky in den folgenden Jahren bis ca. 1910 sehr rasch und vertieft mit den wesentlichen Positionen der Kunst seiner Zeit, mit Nachimpressionismus, Divisionismus, Synthetismus und Cloisonismus, mit van Gogh, Gauguin, Cézanne und den Fauves um Henri
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Farbe Die Farbe, in ihr jeweiliges Extrem getrieben, ist das Thema der Bilder Jawlenskys, als sinnliche Erscheinung und als Medium der Transzendenz. „Meine Sprache ist Farbe“, schrieb Jawlensky noch 1936.17 Im menschlichen Gesicht sah er „das Leben der Farbe“.18 Die Farbe war auch in den Diskussionen der Neuen Künstlervereinigung München und des Blauen Reiters von zentraler Bedeutung. Jawlensky stand den Blauen Reitern durch die Betonung der spirituellen Dimension der Kunst nahe, auch wenn Wassily Kandinsky mit seiner Idee eines „neuen Geistigen Reiches“19 oder Franz Marc mit dem Entwurf einer „mystisch-innerliche[n] Konstruktion“20 der Welt eigene Werksignaturen formulierten. Gemeinsam war ihnen, dass die Autonomisierung der Farbe nicht bloß ihrer Freiheit und Selbstbezüglichkeit, sondern auch der Offenlegung ihrer metaphysiAbb. 4
Dame mit Fächer 1909 (Kat. 3)
Barbarenfürstin, Bacchantin, Turandot, Asiatin, Spanierin, Russin, Violetter Turban, Der Buckel. Sie entfalten widersprüchliche Wirkungen zwischen Anziehung und Irritation, zwischen lebendigen und grellen Farben, beweglicher Mimik und maskenhafter Erstarrung. In dem schon zitierten Brief von 1938 hat Jawlensky diese Werke rückblickend als Akt der künstlerischen Emanzipation empfunden: „Im Jahr 1911 kam ich zu einer persönlichen Form und Farbe und habe gewaltige figurale Bilder und Köpfe gemalt [...].“15 Und in seinen Lebenserinnerungen heißt es: „Ich malte [...] in sehr starken, glühenden Farben, absolut nicht naturalistisch und stofflich [...]. Die Formen waren sehr stark konturiert mit Preußischblau und gewaltig aus einer inneren Ekstase heraus.“16
Abb. 5
Mutter des Nikita 1909/10 (Kat. 5)
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schen Qualität diente. Die formale und farbliche Expressivität der Gesichter Jawlenskys scheint eine Verbindung zu den Porträts der Künstler der Brücke oder zu den Bildern von Emil Nolde, mit dem Jawlensky befreundet war, herzustellen. Die Figuren-Bilder der Brücke bewegen sich aber in einem anderen Raum, zwischen der Sehnsucht nach der idealen Ursprünglichkeit des Lebens und der emotional und psychologisch aufgeladenen Darstellung einer urbanen Gesellschaft und ihrer Schattenzonen. Jawlenskys kategorial andere Ziele zeigen sich erst recht in Relation zu Verismus und Neuer Sachlichkeit, die den Expressionismus zu einer mitleidlosen Sozialdiagnostik ernüchterten und abkühlten. Nur als Vergleichsfolie sei Otto Dix zitiert: „Mein Wahlspruch ist: ,Trau deinen Augen‘.“21 „Ich [...] will nur das sehen, was da ist, das Äußere. Das Innere ergibt sich von selbst.“22 Abb. 6
Mädchen mit niedergeschlagenen Augen um 1912
Sehen
(Kat. 9)
Das Sehen ist bei Jawlensky nicht nur als grundlegende Beziehung zwischen dem Maler, dem Porträtierten und dem Betrachter von Bedeutung, sondern erhält eine besondere Bildfunktion. Schon in dem Gemälde Mädchen mit niedergeschlagenen Augen von 1912 (Abb. 6) wird der sich abwendende Blick zum Ausblick. Die geschlossenen Augen, von Jawlensky als übergroße dunkle Leerstellen markiert, die zugleich wie eine Maske wirken, scheinen sich einer anderen Realität zu öffnen, die nur einem gegenüber der Außenwelt blinden und Zeit vergessenen Sehen zugänglich ist. Diese neue Ausrichtung des Sehens wird betont durch die blau leuchtende Aureole, die den Kopf und dessen stark kontrastierende Gelb- und Rottöne umfängt. Die Betrachter des Bildes fühlen sich nicht angeschaut und doch berührt. Sie sind ohne unmittelbaren Kontakt, werden aber auf sich selbst als Betrachtende hingelenkt und motiviert, den durch den verschlossenen Blick des Mädchens angezeigten, noch unbestimmten Raum kontemplativer Erfahrung zu besetzen. Das Sehen ist auch in den zwischen 1917 und 1919 entstehenden Mystischen Köpfen (Abb. 7) Thema. Der
Blick aus hier weit geöffneten Augen trifft die Betrachter ebenfalls nicht, sondern geht durch sie hindurch. In den folgenden Serien Heilandsgesichter (1917–22), Abstrakte Köpfe (1918–34) und Meditationen (1934–38) schließt Jawlensky den Dargestellten die Augen, verschmilzt Schauen und meditative Versenkung.
Serie Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedeutete für Jawlensky einen tiefen existenziellen und künstlerischen Einschnitt. Er musste Deutschland überstürzt verlassen und emigrierte mit seiner Familie nach Saint-Prex in der Schweiz. „Ich wollte weiter meine gewaltigen, starkfarbigen Bilder malen, aber ich fühlte, ich konnte nicht. [...] Ich verstand, daß ich nicht das malen konnte, was ich sah, sogar nicht das, was ich fühlte, sondern nur das, was in mir, in meiner Seele lebte. [...] Und die Natur, die vor mir war, soufflierte mir nur.“23 In der Schweiz
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ich nur das, was in meiner Seele ist, was tief in mir liegt, wie eine Meditation, in sich Konzentrierung.“24 Eine grundsätzliche Eigenschaft der Serie ist ihr unhierarchischer Charakter. Die Serie steigert sich nicht zu einem letzten vollkommenen Bild, sie ist prinzipiell offen und reiht das Einzelne, das in sich abgeschlossen ist und doch mit dem Nächsten verbunden bleibt. Die Serie ist eine Form der Zeitlichkeit und der Zeitlosigkeit, die Reihung des Einzelnen vermittelt das Vergehen von Zeit, die potenziell unbegrenzte Fortsetzung der Reihe die unendliche Dauer der Zeit. Jawlensky malte keine Wiederholungen, sondern auf einem endlosen Weg der Suche Variationen vor allem des Gesichts. Und wenn das letzte einzigartige wahre Bild des Gesichts nicht zu malen ist, dann ist es wohl denkbar als die utopische Summe des gesamten seriellen Werkes, die Summe aller gemalten und aller noch zu malenden Bilder. Die Ewigkeit des einen Bildes, des einen Gesichts, der einen Wahrheit wäre vergegenwärtigt in der Unbegrenztheit der Serie. Die Serie, die die einzelnen Bilder als immer unvollkommene Glieder einer Reihe und so auch die Einzigartigkeit der einzelnen Gesichter entwertet, verweist doch in der unendlichen Summe aller unvollkommenen Bilder der Reihe auf ein Bild der Vollkommenheit und damit auf die Möglichkeit, dem Vergehen der Zeit zu entgehen. Die hier formulierte Interpretation der Serie bei Jawlensky zeigt damit noch andere Qualitäten auf als nur die Funktion, Bilder anzuordnen oder die Absicht, den Mythos des Meisterwerks in der Egalität der Serie zu erledigen.
Abb. 7
Mystischer Kopf: ,My Os‘ Kopf 1917 (Kat. 23)
entstand seit 1914 mit den Variationen über ein landschaftliches Thema die erste der großen Serien. Das in Jawlenskys Arbeit bereits angelegte künstlerische Prinzip der Serie bestimmte nun fast ausschließlich sein weiteres Werk. Vergleicht man Jawlenskys Auffassung der Serie mit der Claude Monets, was nahe liegt, so sind substanzielle Unterschiede festzuhalten. Monets Bilder bleiben an die Überwältigungskraft der farbigen äußeren Welt gebunden, an die Analyse des im Tageslauf wechselnden Lichts, das auf die Dinge trifft und sie auflöst, so artifiziell die Farberscheinungen zum Beispiel der späten Seerosen-Bilder auch wirken. Jawlensky benötigte die unmittelbare Referenz der Natur nicht, er konnte die Variationen, die als Blick durch ein Fenster auf einen Weg und ein paar Bäume begonnen hatten, weiter malen, als er Saint-Prex schon längst verlassen hatte. Diese Unabhängigkeit von einer gesehenen Welt wird in den Serien der Abstrakten Köpfe oder Meditationen immer deutlicher, am Ende auch erzwungen durch die eingeschränkten Lebensumstände in Wiesbaden: „Ich habe aber keine Erlebnisse und darum male
Ikone Die Anteile an Jawlenskys Vorhaben sind nicht leicht zu trennen. Zwar schreibt Jawlensky: „Mir war genug, wenn ich mich in mich selbst vertiefte, betete und meine Seele vorbereitete in einen religiösen Zustand“25, seine Bilder sind aber nicht bloß Illustrationen einer religiösen Sehnsucht, sondern Antworten auf eine künstlerische Aufgabe, die Präsenz des Geistigen aus
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der Kunst heraus zu gestalten. Sicher haben Jawlenskys Bilder eine besondere Beziehung zur Ikone, die Serialität seiner Arbeiten liefert aber ebenso Argumente, sie nicht mit Ikonen im russisch-orthodoxen Sinn zu verwechseln. Ikonen sind möglichst genaue Wiederholungen der Ur-Ikone, eines Acheiropoieton („nicht von Menschenhand geschaffen“), das das irdische Dasein Christi und darin das Eingreifen Gottes und die Verbindung des Diesseitigen mit dem Jenseitigen bildlich bezeugt. Sie sind in liturgischen Handlungen gemalte, kirchlich geweihte Kultobjekte der zur Anschauung gebrachten göttlichen Gegenwart, somit Abbilder des Heiligen, die eine künstlerische Entwicklung gerade ausschließen. Jawlenskys Bilder der Serie folgen bestimmten Konstanten, sind einander ähnlich, dennoch als Teil eines künstlerischen Prozesses jeweils neu und anders. Die Ikone ist das Bild Gottes als Versuch, die Ferne Gottes aufzuheben und in die Gewissheit seiner Erscheinung zu verwandeln. Auch sie ist damit Dokument eines vorangegangenen Verlustes, den Jawlensky in seinen Bildern zur Gestaltung einer schmerzlichen existenziellen Erfahrung individualisiert. Der nach dem Ebenbild Gottes, damit ihm ähnlich geschaffene Mensch wird sündig geworden aus dem Paradies vertrieben. Der Mensch kann Gott nicht mehr „von Angesicht zu Angesicht“ begegnen und verliert so auch den Kontakt zu sich und seinem Antlitz. Malen wäre somit unaufhörliche Suche nach dem Antlitz Gottes und damit Suche nach dem eigenen Antlitz, das erst in der wiederhergestellten Beziehung zu Gott als das wahre eigene Antlitz im Einssein mit dem Göttlichen erscheinen kann.26
Abb. 8
Heilandsgesicht 1921 (Kat. 25)
einen umgreifenden Raum oder begleitende Motive füllen die Gesichter zunehmend das Bildformat und etablieren ein unmittelbares Gegenüber. Die Gesichter erlauben einerseits kein Ausweichen des Betrachters und halten ihn andererseits auf Distanz, erscheinen nah und unnahbar zugleich. Die Gesichter werden formal immer mehr auf ihre notwendigen Elemente reduziert, in den Heilandsgesichtern (Abb. 8) auf farbige Linien für Augen, Augenbrauen, Nase, Mund, Haar, Kinn. Jawlensky malt die Flächen mit stark verdünnten Ölfarben und gibt den Gesichtern so einen schwebenden, transparenten Charakter und träumerischen Ausdruck.
Heilandsgesichter In den Serien der Mystischen Köpfe, Heilandsgesichter, Abstrakten Köpfe und Meditationen entwickelt Jawlensky eine starre Frontalität der Gesichter, die sich weiter steigert und auch Eigenschaft der Ikone ist. Ohne jede Ablenkung durch
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Abstrakte Köpfe
aber nicht zu Meditationszeichen des Gesichts, sondern suchte in der Konzentration auf Horizontale und Vertikale den Ausdruck für ein geistiges und universales Gleichgewicht. Viele Künstler der Zeit wie Mondrian, Kandinsky und Jawlensky beschäftigten sich mit den theosophischen und anthroposophischen Gedanken von Helena P. Blavatsky und Rudolf Steiner. Jawlensky setzte sich auch mit indischen Weisheitslehren auseinander. Der Fleck, der nicht nur in den Abstrakten Köpfen, sondern ebenso in seinen Heilandsgesichtern und Meditationen auf der Stirn der Gesichter erscheint, erinnert an das Segenszeichen, das im Hinduismus auf die Verbindung des Trägers oder der Trägerin mit dem Kosmos verweist, im Buddhismus meditative Versenkung und geistiges Erwachen ausdrückt. Der Fleck ist aber kein bloßes Zitat, sondern immer auch ein instinktiv und frei entwickeltes malerisches Element.27
Diese noch organische Erscheinung der Gesichter überführt Jawlensky in den Abstrakten Köpfen (Abb. 9) in eine strenge U-Form mit horizontaler und vertikaler Ausrichtung der Augen und Nase. Die in den weit über tausend Abstrakten Köpfen beibehaltene geometrische Struktur wird lebendig durch die Vielfalt und den Reichtum der Farben und ihrer wechselnden Beziehungen, die die Balance der Bildtektonik tragen. Die Farbe sichert die Besonderheit der einzelnen Bilder trotz der Wiederholung ihrer geometrischen Organisation. Erfahrungen der Formarchitektur des Kubismus stehen ebenso im Hintergrund wie deren Folgerungen im Bauhaus und der Gruppe De Stijl. Der Vergleich mit Piet Mondrian ist deshalb interessant, weil auch Mondrian über eine bloß konstruktive Funktion der Bildelemente hinausging. Anders als Jawlensky machte er sie
Maske Trotz der beschriebenen Komplexität und Intensität der Farben wirken die Abstrakten Köpfe abweisend und verschlossen wie Masken, an denen der Blick abgleitet. Dazu trägt nicht bloß die helmartig starre Geometrie der Formen, sondern gerade auch die Farbe in ihrer glatten, flächigen Ausdehnung und ihrem metallischen Leuchten bei. Die Maske motiviert die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Schein, Wahrheit und Täuschung, Zeigen und Verbergen und deren mögliche Untrennbarkeit. Die Maske meint ein Objekt und ebenso eine mimische Strategie des Subjekts, das im Schutz der Masken agiert oder soziale Rollenerwartungen bedient. Hinter der Maske vermutet man das ,wahre‘ Gesicht. Vielleicht gibt es hinter der Maske aber nur weitere Masken oder nichts, wie dies die Masken von James Ensor eindrücklich zeigen. Und vielleicht verbirgt die Maske nicht die Integrität eines Ichs, sondern ist die adäquate Beschreibung eines leeren oder wenigstens ungreifbar zersplitterten Individuums der Moderne: entfremdet, scheinhaft, defizitär, fragmentarisch, haltlos.
Abb. 9
Abstrakter Kopf: Abend (Nr. 28) 1931 (Kat. 36)
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Dagegen verweist die Maskenhaftigkeit der Abstrakten Köpfe nicht auf eine Differenz von Außen und Innen, Sichtbarem und Unsichtbarem, sondern auf deren Identität in wechselseitiger Deutung. Die Abstrakten Köpfe sind plastische Erscheinung und transzendentes Geheimnis, einfache Symmetrie und sakrales Zeichen, feierliche Ikone und Äquivalent des menschlichen Gesichts in jeweils sprechender Gestimmtheit: „Einige Köpfe sind tragisch, aber nie sind sie böse; mehr Leid wie Tragik. Und oft sind meine Köpfe so sonnig. Und immer gütig.“28 Jawlensky hat die Entwicklung seiner Kunst als Weg immer größerer Reife empfunden. An Emmy Scheyer schrieb er 1926: „Ich stelle oft ein Kopf neben eine starke Arbeit von mir von Vorkriegszeit – und wie schöner, wie tiefer und ebenso stark ist der Kopf“29, und in einem Brief von 1932: „Ich spreche mit dem Gott, ich bete ihm, in meinen Arbeiten. Das ist die Reife. Die Jugend vergewaltigt (meine Vorkriegsarbeiten).“30 Abb. 10
Große Meditation: Der Wissende 1936 (Kat. 47)
Meditationen 1934 beginnt Jawlensky seine letzte Serie, die Meditationen (Abb. 10). Er lebt unter schwierigen finanziellen Bedingungen isoliert in Wiesbaden, ein Jahr zuvor hatte er Mal- und Ausstellungsverbot erhalten. Nach und nach werden 72 Gemälde, die sich in deutschen Museen befanden, als „entartet“ beschlagnahmt. Die quälende Gelenkserkrankung (Arthritis deformans), deren Symptome den Künstler schon Ende der 1920er Jahre zu Kuraufenthalten zwangen, verschlechtert sich und führt zur Versteifung der Arme und Hände. 1938 ist die Lähmung so weit fortgeschritten, dass Jawlensky die künstlerische Arbeit vollständig aufgeben muss. Fotos zeigen Jawlensky beim Malen der Meditationen (Abb. S. 134). Der Pinsel wurde ihm zwischen die Finger der rechten Hand gesteckt, die er infolge der steifen Gelenke, von der Linken gestützt, mit dem ganzen Oberkörper und koordiniert mit dem Atem in waagrechter und senkrechter Richtung bewegt.
Schmerz Die Meditationen sind Dokumente einer persönlichen Passion und damit auch Selbstbildnisse, die in der äußeren existenziellen Begrenzung eine innere Weitung, einen Kontakt zu einer umfassenden göttlichen Wahrheit suchen. In einer nicht enden wollenden Arbeit richten sie sich gegen den Schmerz auf und werden zugleich durch ihn legitimiert. „Ich sitze und arbeite. Das sind meine schönste Stunde. Ich arbeite für mich nur für mich und für meinen Gott. Die Ellbogen schmerzen dabei sehr, oft bin ich dabei wie ohnmächtig vom Schmerz. Aber meine Arbeit ist mein Gebet, aber so leidenschaftliches Gebet durch Farben gesprochen.“31 Das Gesicht, das Jawlensky so unaufhörlich malt, füllt in den Meditationen die gesamte Bildfläche, Gesicht und Bild sind nun eins, das Gesicht, groß im noch kleineren Bildmaß, scheint sich auf die Betrachter zuzubewegen, ihren immer
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Trauer. „Ich leide. Ich muß viel arbeiten und ich tue das. Gott weiss wie lange kann ich den Pinsel halten. Ach Gott! Ich arbeite mit Ekstase und mit Thränen in Augen und ich arbeite so lange bis die Dunkelheit kommt. Dann bin ich erschöpft und ich sitze unbeweglich, halb ohnmächtig und mit schrecklichen Schmerzen in den Händen, o Gott, o Gott! Ich sitze und die Dunkelheit umhüllt mich und die schwarzen Gedanken kriechen zu mir. Licht! Licht! Und [von] allen Wänden fliessen die Farben.“33 Die düstere Erscheinung der Medita-
noch näher kommen zu wollen. Gegenüber der harten, sorgfältig gemalten Glätte der Abstrakten Köpfe wirken die Meditationen trotz der weiter getriebenen Reduktion unmittelbarer, roher, menschlicher, in ihrer Nacktheit berührender. Die Meditationen konzentrieren das Gesicht auf ein körperloses orthogonales Schema, in dem das Gesicht gerade noch als Gesicht erkennbar ist und es sowohl im Kontext der Entwicklung einer autonomen malerischen Formulierung als auch der elementaren spirituellen Bedeutung als Kreuzzeichen zu verstehen ist. Itzhak Goldberg schreibt: „Die Meditationen können also unter mehreren Blickwinkeln betrachtet werden. Als Ikonen verweisen sie auf ein imaginäres Antlitz, als Gesichter künden sie von dem Grundsatz der Treue zum Bezugsobjekt der Darstellung, und als Kreuz sind sie nichtgegenständliche Zeichen. Unter einem Prinzip können diese drei Blickwinkel vereinigt werden: im Rahmen der religiösen Dimension der Kunst.“32 Sieht man das Gesicht als Form des Kreuzes, das auf der waagrechten Markierung des Mundes steht und von Brauen überfangen wird, so nimmt das Gesicht damit auch die Symbolik des Kreuzes (Leiden, Tod und Überwindung des Todes) in sich auf, ist sterbliche Hülle und Ausblick auf ein ewiges Sein.
tionen wird selbst durch einige helle Farben, die Jawlensky verwendet, nicht aufgelöst. Die Farbe gewinnt aber nochmals eine neue Qualität. Die weitergehende Spiritualisierung, die Konzentration auf „das Licht in meiner Seele“34, von dem Jawlensky spricht, bedingt die Überprüfung und Aufhebung der Farbe als sinnlicher Zauber der Welt: „Ich habe bei meinen letzten Arbeiten den Zauber der Farbe weggenommen, um nur die geistige Tiefe zu konzentrieren.“35 Die Bilder sind wie Kirchenfenster von einem fernen Licht durchdrungen, das in der Materie als dunkle Glut gefangen scheint und zu dem unser Auge vorzudringen versucht. Die Haltung Jawlenskys zur Farbe ist dabei noch immer die eines „Verliebten“36, sie zeigt, dass der Künstler und der religiöse Mensch nicht voneinander zu trennen sind: „Die Bilder sind meistens dunkel, aber das ist mir sehr lieb: Die Farben sind geheimnisvoll, so tief; aber es gibt auch sehr farbig leuchtende, brennende, aber immer irgenwo [!] aus anderer Welt.“37
Eine andere Welt Ihre emotionale Intensität erhalten die Meditationen nicht nur durch diese Verschmelzung, sondern auch durch ihre malerische Technik und die Energie der Farbe, die die beinahe identische Bildstruktur individualisieren. Jawlensky benutzte stumpfe, harte Pinsel, die streifige, aufgerissene, verletzte Oberflächen erzeugen. Der Malprozess wird wieder sichtbar in Farbschraffuren, die einsetzen und absetzen, beginnen und enden. Die grobe Überdeutlichkeit der Striche verstärkt die Distanzlosigkeit des Bildes, den Eindruck, dass das Gesicht trotz seines geringen Formats ganz nah vor den Augen der Betrachter steht. Die Gesichter der Meditationen wirken ernst, unerlöst, oft qualvoll und geprägt von lautloser
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Werner Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert, München 1965, S. 165.
Die Gleichwertigkeit zwischen Ich und Ich, die freie Begegnung zweier Subjekte im Anschauen ist allerdings nicht überall vorgesehen. In seiner Existenzphilosophie führt Jean-Paul Sartre aus, dass der Blick einen unaufhörlichen Prozess gegenseitiger Unterwerfung produziert. Das Ich als Subjekt ordnet den anderen als Objekt in die vom Ich erblickte Welt ein und umgekehrt. „Die Leute, die ich sehe, lasse ich zu Objekten erstarren, ich bin in bezug auf sie wie ein Anderer in bezug auf mich; indem ich sie ansehe, ermesse ich meine Macht. Aber wenn ein Anderer sie und mich ansieht, verliert mein Blick seine Kraft […].“ (Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 1962, S. 354).
9
Alexej von Jawlensky, „Lebenserinnerungen“, in: Weiler (s. Anm. 5), S. 97 und S. 98/99.
Vgl. Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013, S. 120. Belting erkundet in seiner hervorragenden Studie die vielfältigen Beziehungen von Gesicht und Porträt zur Maske. Aus der verzweigten Literatur kann eine andere, ebenfalls wichtige Publikation zum Thema von Gottfried Boehm genannt werden: Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München 1985. Zur Verflochtenheit des Selbstporträts in die Geschichte der Darstellung des Todes siehe vom Verfasser: Der Künstler und der Tod. Selbstdarstellungen in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Köln 1993.
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Siehe Weiler (s. Anm. 5), S. 121–126, und Alexej von Jawlensky zum 50. Todesjahr. Gemälde und graphische Arbeiten, hrsg. v. Volker Rattemeyer, Ausst.-Kat. Museum Wiesbaden 1991, S. 292–300.
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Siehe Weiler (s. Anm. 5), S. 95–120, erneut abgedruckt in: Alexej von Jawlensky. Reisen, Freunde, Wandlungen, hrsg. v. Tayfun Belgin, Ausst.-Kat. Museum am Ostwall, Dortmund 1998, S. 104–119.
12
Brief vom 12. Juni 1938, in: Weiler (s. Anm. 5), S. 125 (Hervorhebungen vom Verfasser).
13
Siehe auch die ausführliche Erörterung des Bildes von Roman Zieglgänsberger, in: „Den Horizont abstecken. Alexej von Jawlensky zwischen 1896 und 1914“, in: Horizont Jawlensky. Alexej von Jawlensky im Spiegel seiner künstlerischen Begegnungen 1900–1914, hrsg. v. Roman Zieglgänsberger, Ausst.-Kat. Museum Wiesbaden und Kunsthalle Emden 2014, S. 16–58, hier S. 31–33.
14
Es ist nicht ganz gesichert, dass Jawlensky Matisse 1906 zum ersten Mal persönlich getroffen hat. Werke von ihm hat Jawlensky in diesem Jahr auf jeden Fall, möglicherweise auch schon 1905 gesehen.
15
Siehe Weiler (s. Anm. 5), S. 125.
16
Ebd., S. 112. Brief an Emmy Scheyer vom 14. Mai 1936, in: Alexej von Jawlensky zum 50. Todesjahr (siehe Anm. 10), S. 294.
4
Belting (s. Anm. 2), S. 148.
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5
Alexej von Jawlensky, in: Clemens Weiler, Alexej von Jawlensky. Köpfe – Gesichte – Meditationen, Hanau 1970, S. 62.
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Siehe Weiler (s. Anm. 5), S. 16.
19
Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 4. Aufl. Bern 1952 (1. Aufl. München 1912), S. 143.
20
Franz Marc, „Geistige Güter“, in: Der Blaue Reiter, hrsg. von Wassily Kandinsky und Franz Marc, München 1912, Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit, 3. Aufl., München 1979, S. 21–24, hier S. 23.
21
Otto Dix, 1955, zitiert nach Dieter Schmidt, Otto Dix im Selbstbildnis, Berlin (Ost) 1981, S. 224.
22
Otto Dix, 1965, ebd. S. 265.
23
Brief an P. Willibrord Verkade vom 12. Juni 1938, in: Weiler (s. Anm. 5), S. 125.
24
Brief an Emmy Scheyer vom 14. Mai 1936, in: Alexej von Jawlensky zum 50. Todesjahr (s. Anm. 10), S. 294. Im selben Brief heißt es: „Ich bin nicht in Paris, wie Kandinsky, mein Paris ist so klein.“ (Ebd.)
25
Brief an Verkade, 1938, in: Weiler (s. Anm. 5), S. 125.
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Das Prinzip der Serie ist allerdings jeweils unterschiedlich motiviert (z. B. bei Josef Albers, Andy Warhol oder On Kawara). Fragen der Spiritualität des Bildes wirken bis zu Mark Rothko, Barnett Newman oder Ad Reinhardt. In der Literatur wurde auf diese Aspekte mehrfach hingewiesen. Siehe u. a. Katharina Schmidt, „Das Prinzip der offenen Serie. Zu Jawlenskys Werk von 1914 bis 1937“, in: Alexej Jawlensky, 1864–1941, hrsg. von Armin Zweite, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München und Staatliche Kunsthalle Baden-Baden 1983, S. 87–105; Das Geistige in der Kunst. Vom Blauen Reiter zum Abstrakten Expressionismus, Ausst.-Kat. Museum Wiesbaden 2010/11; Alexej von Jawlensky und Josef Albers. Farbe – Abstraktion – Serie, bearb. v. Jörg Daur und Roman Zieglgänsberger, Ausst.-Kat. Museum Wiesbaden 2011. Alexej von Jawlensky, in: Weiler (s. Anm. 5), S. 13.
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Vgl. Itzhak Goldberg, „Die Religion des Gesichts“, in: Alexej von Jawlensky. Reisen, Freund, Wandlungen (s. Anm. 11), S. 64–75, hier S. 73/74.
33
Brief an Emmy Scheyer vom 25. November 1936, auszugsweise in: Alexej Jawlensky, 1864–1941 (s. Anm. 6), S. 114.
27
Clemens Weiler schildert ein Gespräch mit Jawlensky: „Als ich Jawlensky einmal frug, warum er immer als Letztes den hellen Fleck über der Stirn male, da sagte er nur: ,Muß da sein‘.“ (Clemens Weiler, Alexej Jawlensky, Köln 1959, S. 141).
34
Siehe Weiler (s. Anm. 27), S. 128.
35
Brief an Emmy Scheyer vom 29. März 1926, in: Alexej von Jawlensky zum 50. Todesjahr (s. Anm. 10), S. 293.
Siehe Weiler (s. Anm. 5), S. 92. Auch Kandinsky erkannte den singulären Beitrag Jawlenskys und schrieb ihm 1936, als er von Jawlensky eine Meditation erhalten hatte: „Ich beuge mich tief vor der Kraft Ihres inneren geistigen Lebens.“ (ebd., S. 130).
36
Ebd., S. 16.
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Ebd.
37
30
Brief an Emmy Scheyer vom 8. März 1932, ebd.
31
Brief an Emmy Scheyer vom 12. Mai 1936, ebd.
Brief an Emmy Scheyer vom 14. Mai 1936, in: Alexej von Jawlensky zum 50. Todesjahr (s. Anm. 10), S. 294.
32
Vgl. Itzhak Goldberg (s. Anm. 26), S. 72.
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1 Helene im spanischen Kostüm um 1901/02 Öl auf Leinwand, 190,5 × 96,5 cm
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Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung Alexej von Jawlensky – Gesicht | Landschaft | Stillleben Kunstmuseum Bonn 5. November 2020 bis 21. Februar 2021 Ausstellung und Katalog Volker Adolphs KUNSTMUSEUM BONN
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Wissenschaftliche Volontärin Anna Niehoff Presse und Öffentlichkeitsarbeit Kristina Thrien Marketing Christina Kalka
Bibliografische Information
Bildung und Vermittlung Sabina Leßmann
Umschlagabbildungen: Frau mit Fächer, 1912 (Kat. 3) Große Variationen: Großer Weg – Abend, 1916 (Kat. 61)
Registrar Barbara Weber, Dagmar Kürschner
Abb. S. 2: Jawlensky in Ascona, um 1918/19
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Restaurierung Antje Janssen, Nicole Nowak, Verena Franken Leitung der Werkstätten Gianluca Galata, Martin Wolter Leitung Technik Josef Breuer, Martin Kerz
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