Rainer Schützeichel (Hg.)
Wohnbauten der 1920er und 1930er Jahre in München
Inhalt 5
Auf den zweiten Blick Johannes Kappler
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Lob des Unauffälligen. Betrachtungen zum architektonischen Werk von Oskar Pixis Rainer Schützeichel
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Oskar Pixis. Herkunft und Verwandlung Christian Pixis
41 Katalog mit Fotografien von Rainer Viertlböck 44
Wohnhaus Pixis und Büro Fischer–Pixis Fabian Menz, Mehmet Fatih Mutlutürk und Julia Wurm
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Haus Dittmar Eva Lucia Hautmann und Margarethe Lehmann
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Haus Defregger Johanna Loibl und Julia Peiker
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Großsiedlung Neuhausen, Zeile Balmungstraße Thomas Holzner, Valentin Krauss und Claudia Sauter
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Wohnblöcke Klugstraße Anna Geiger, Benedikt Heid, Reinhard Reich und Antonia Zebhauser
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Haus Blank Anna Eberle, Daniela Edelhoff und Sophie Ederer
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Haus Miez Patrick Altermatt und Michel Vögtli
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Haus Sachtleben Stefan Gahr, Marco Klingl und Daniel Palme
114 Dank 116 Siglen 117 Abbildungsnachweise 118 Orts- und Personenregister 120 Impressum
Vorwort
Auf den zweiten Blick Prof. Johannes Kappler Dekan der Fakultät für Architektur der Hochschule München
Eines der besonderen Kennzeichen des Masterstudiengangs Architektur an der Hochschule München ist der Freiraum, architektonische Fragestellungen nicht nur anhand der weitläufig bekannten Referenzbeispiele reflektieren zu können. Zugleich besteht die Möglichkeit, sich unabhängig vom vorherrschenden Zeitgeist auf die Suche nach den bisher unentdeckten Architekturperlen vor der eigenen Haustür zu begeben. Wie reizvoll dieser Weg sein kann, zeigt dieses Buch, in dem Dr. Rainer Schützeichel die Ergebnisse seiner Lehrveranstaltung »Oskar Pixis (1874–1946): Wohnbauten der 1920er und 1930er Jahre in München« auf sehenswerte Weise zusammengeführt hat. Wer den Inhalt der folgenden Seiten aufmerksam studiert, wird neben zahlreichen baugeschichtlichen Fakten auch Phänomene erkennen, die unsere Disziplin so bemerkenswert machen. Obwohl Oskar Pixis als langjähriger Büroleiter von Theodor Fischer in der kollektiven Praxis eines Architekturbüros ganz wesentlich am Werk eines der bedeutendsten Protagonisten der süddeutschen Architekturszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts beteiligt gewesen sein muss, verblieb seine zentrale Rolle bisher weitestgehend außerhalb des Scheinwerferlichts. Gleiches trifft auf seine eigenen Projekte zu, obwohl sie, wie diese Publikation einprägsam verdeutlicht, zumindest auf den zweiten Blick eine Reihe von architekturgeschichtlich relevanten Aspekten aufweisen. Es ist dem besonderen Talent und Engagement von Rainer Schützeichel zu verdanken, dass er dieses Potential aufgespürt und mit einem klugen didaktischen Konzept zum Leben erweckt hat. Geschickt verknüpft er die Ergebnisse der architekturhistorischen Recherchen mit Erkenntnissen aus persönlichen Gesprächen mit den Nachfahren Oskar Pixis’, die abstrakte Analyseergebnisse mit narrativen Erlebnissen in eine wirkungsvolle Beziehung setzen. Beispielhaft wird hiermit der Einfluss biografischer Zusammenhänge auf die Architekturproduktion verdeutlicht. Neben dem Essay »Lob des Unauffälligen«, in dem das architektonische Werk von Oskar Pixis in einen größeren Zusammenhang eingebettet wird, dokumentieren die von Studentinnen und Studenten 5
erstellten Zeichnungen und Modelle die wesentlichen Merkmale von acht repräsentativ ausgewählten Münchner Projekten auf eine Weise, die den moderaten Ausdruck der modernen Architektursprache von Pixis hervorragend zur Geltung kommen lässt. Diese Darstellungen werden durch die atmosphärischen Fotografien von Rainer Viertlböck in ihren gegenwärtigen Kontext platziert. Sie visualisieren, welche besonderen Wohnqualitäten die Gebäude auch heute noch bieten. Meine Wertschätzung für dieses lesenswerte Dokument der bayerischen und Münchner Architekturgeschichte möchte ich zunächst unseren Studierenden für das illustrative Anschauungsmaterial zukommen lassen. Sie haben sich in der dazugehörigen Seminarreihe mit Sorgfalt auf ein Thema eingelassen, das seinen Reichtum und Alltagsbezug erst in der vertieften Auseinandersetzung mit dem Werk von Oskar Pixis preiszugeben scheint. Ganz besonders möchte ich Rainer Schützeichel danken, der den ergebnisoffenen Prozess von der Konzeption der Lehrveranstaltung bis zur Veröffentlichung dieses Buchs mit großer Ausdauer vorangetrieben hat.
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Vorwort
Lob des Unauffälligen
Betrachtungen zum architektonischen Werk von Oskar Pixis Rainer Schützeichel
Es verwundert auf den ersten Blick kaum, dass das architektonische Werk von Oskar Pixis bislang nicht gewürdigt worden ist. Suchte er doch in keiner Weise die große Bühne, sondern behauptete vielmehr von sich selbst, als Büroleiter von Theodor Fischer »nur helfend, nicht schaffend« tätig gewesen zu sein. So unbestritten der Einfluss von Fischer als Architekt, Städtebauer und Hochschullehrer ist, so selbstverständlich erscheint es, dass ein Architekt aus der zweiten Reihe wie Pixis weitgehend in Vergessenheit geriet. Die Gegensätze sind auch allzu schillernd: Aufgrund seines überragenden Einflusses auf die Entwicklung der Architektur des 20. Jahrhunderts ist Fischer aus ihrer Historiografie nicht mehr wegzudenken. Mit seinen Bauten und Stadterweiterungsplänen prägte er das Gesicht zahlloser Städte, insbesondere aber das von München, als Mitbegründer des Deutschen Werkbunds setzte er sich an die Spitze der Architekturreform, und während seiner beinahe drei Jahrzehnte als Hochschullehrer prägte er Generationen von Architekten (und ab den Zehner Jahren auch Architektinnen). Fischer ist als »der wohl bedeutendste deutsche Architekturlehrer des 20. Jahrhunderts« bezeichnet worden,1 und dies mit einigem Recht: Bruno Taut und Ernst May etwa hatten ebenso bei ihm gelernt wie Wilhelm Riphahn, Dominikus Böhm, Adolf Abel oder Ella Briggs, und im Jahr 1910 versuchte kein Geringerer als Charles-Édouard Jeanneret, der unter dem Pseudonym Le Corbusier globale Berühmtheit erlangen sollte, in dessen Büro anzuheuern – auch wenn er dort keine Anstellung fand, erhielt er doch Zugang zum Kreis um Fischer und gestand ihm noch Jahrzehnte später:
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Winfried Nerdinger, Theodor Fischer. Architekt und Städtebauer 1862–1938, Berlin/München 1988, S. 86. Vgl. auch Gabriele Schickel, »Theodor Fischer als Lehrer der Avantgarde«, in: Vittorio Magnago Lampugnani und Romana Schneider (Hg.), Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Reform und Tradition, Stuttgart 1992, S. 55–67.
»Die Sauberkeit, der Adel, das Gesunde Ihres architektonischen Stils hat mich entzückt. Ich kam von Paris und hatte bei Auguste Perret gearbeitet, ich suchte in Deutschland gesunden und konstruktiven architektonischen Stoff. Ihr Werk war für mich eine Lehre. Aus dieser Zeit um 1910 erinnere ich mich an es (und nicht an andere die auffallender waren).«2 Von Pixis hingegen ist kaum etwas im Gedächtnis der Architekturgeschichtsschreibung geblieben. Selbst in einem Standardwerk zu Theodor Fischer, dessen Büroleiter er doch war, findet sein Name kaum Erwähnung.3 Warum also sollte man sich für sein Werk interessieren? Was sagen sein Werdegang und sein Werk über die Bedingungen der Architekturproduktion aus, dass sie es wert sind, Gegenstand dieses Buchs zu sein?
Im Schatten von Theodor Fischer Mitte der Vierziger Jahre blickte Oskar Pixis auf sein berufliches Leben zurück und hielt in einem Typoskript die oben bereits zitierte Selbsteinschätzung fest: »Durch die 20jährige Tätigkeit als Bürochef Theodor Fischers war ich in der Hauptzeit meines Berufslebens nur helfend, nicht schaffend«.4 Dieses Eingeständnis setzt den Schlusspunkt unter einen Lebenslauf mit noch unvollständiger Werkliste. Handschriftlich ergänzte er darunter – möglicherweise auf Drängen seines Sohnes Peter Pixis, der ebenfalls die Architektenlaufbahn eingeschlagen hatte – weitere Projekte, so dass dieses Dokument einen ansehnlichen Werkumfang offenbart, der innerhalb von rund zwei Jahrzehnten selbständiger Tätigkeit zustande kam. Der bescheidene Grundton aber, den Pixis im Rückblick auf sein eigenes Berufsleben anschlug, illustriert dessen ungeachtet das Selbstverständnis eines erfahrenen Architekten, der den Schritt in die Selbständigkeit erst spät, im Alter von 50 Jahren, wagte und sich in den Schatten eines alles überragenden ‚Meisters’ stellte. (Abb. 1) Bei einer solchen Betrachtungsweise aber bleibt unberücksichtigt, dass das beeindruckende Werk selbst eines Theodor Fischer – eingespannt zwischen Bauaufträgen, Akquise, Lehrverpflichtungen, Vortragsreisen, Verbands- und Jurytätigkeit – ohne die lenkende Hand seines Büroleiters im Tagesgeschäft des Architekturbüros kaum auch nur annähernd denselben Umfang hätte annehmen können, den es letztlich erreicht hat. Ein solches Werk, auch wenn es unter dem Namen »Theodor Fischer« firmiert, ist das Werk Vieler. Architektur wird nicht von einer 2
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»La propreté, la noblesse, la santé de votre style architectural m’avaient enchanté: venant de Paris où j’avais travaillé chez Auguste Perret, je cherchais en Allemagne des aliments architecturaux sains et constructifs. Votre oeuvre, entre toutes, portait une leçon. De cette période de 1910, c’est elle que je retiens (et non pas d’autres plus tapageuses)«, Le Corbusier, Brief an Theodor Fischer vom 18. April 1932, ATUM-Ar, Signatur fis_t-346-224. Nur beiläufig taucht der Name Oskar Pixis in wenigen Werkkatalogeinträgen auf; siehe dazu Nerdinger 1988 (wie Anm. 1). [Oskar Pixis], Lebenslauf und Werkliste, o. J. [um 1943], o. S. [S. 2], PP-Ar.
Lob des Unauffälligen
Abb. 1:
Oskar Pixis (rechts) und Theodor Fischer im Garten ihrer Häuser an der Agnes-Bernauer-Straße, 1929
einzelnen, noch so herausragenden Persönlichkeit allein gemacht – ohne einen Stab von Mitarbeitern und Vertrauten hätte Fischer weniger, vielleicht auch anders gebaut. In ganz ähnlicher Weise gilt dies bis heute: die Mehrzahl der Architektinnen und Architekten arbeitet als Angestellte oder Freelancer in Büros, und allzu oft stehen lediglich die Inhaber im Rampenlicht. So lohnt der Blick zurück in mindestens zweifacher Weise: Erstens zeigt sich am Beispiel von Oskar Pixis konkret, inwiefern Architektur eine kollektive Leistung ist; als Büroleiter war er maßgeblich für das Gelingen vieler Projekte verantwortlich, die Fischers Reputation als führender Architekt seiner Zeit untermauerten. Zweitens zeigt Pixis’ Werdegang, der ihn nach mehr als 30 Berufsjahren in die Selbständigkeit führte, wie das Werk eines Schülers sich zu demjenigen des Lehrers und Mentors verhalten kann – in enger Tuchfühlung, aber nach und nach an Eigenständigkeit gewinnend. Und noch ein Drittes macht den Blick auf dieses Werk lohnenswert: Die Bauten und Entwürfe von Oskar Pixis ergänzen das Bild eines moderat modernen Bauens der Zwischenkriegszeit. Damit wird auch das Wissen über diese für die Architekturgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts wichtige Epoche differenzierter und vielstimmiger.
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Betrachtungen zum architektonischen Werk von Oskar Pixis
Abb. 2:
Wilhelm Weigel, Oskar Pixis und Paul Bonatz (v. l. n. r.) mit Fremdenführern beim Aufstieg zum Vesuv, 1901
Auf der Walz: München–Berlin–Stuttgart–München Womöglich angeregt von seinem Vater, dem Maler Theodor Pixis, hatte Oskar Pixis eine erste Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in München genossen; nach vier Semestern wechselte er an die Königlich Technische Hochschule, die er nach sechs weiteren Semestern verließ, allerdings ohne ein Diplom in der Tasche zu haben.5 Damit stand er nach immerhin fünf Jahren ohne einen Abschluss da, der ihn als Architekten qualifiziert hätte. Womöglich aber war es just diese ‚gescheiterte’ akademische Ausbildung und die Tatsache, dass Pixis das Architektenhandwerk letztlich in der Praxis von Baustelle und Büro erlernte,6 die ihm später das Vertrauen und die Sympathie Theodor Fischers einbrachte – hatte dieser die Hochschule doch ebenso ohne Diplom verlassen, und er machte keinen Hehl daraus, dass die praxisferne, vom historistischen Formendogma geprägte Architekturausbildung an den Hochschulen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ihm zuwider war.7 Dafür, dass Fischer Pixis 1904 als seinen Büroleiter engagierte, dürfte zudem der Einfluss von Paul Bonatz – Fischers rechter Hand in Stuttgart – nicht zu unterschätzen sein, der ein gutes Wort für ihn eingelegt haben wird. Möglicherweise hatten Bonatz und Pixis sich in München noch an der Technischen Hochschule kennengelernt, an der ersterer im Jahr 1897 sein Architekturstudium aufgenommen hatte.
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Vgl. ebd., [S. 1]. Laut seinem Lebenslauf waren die ersten beruflichen Stationen von Pixis ein Baustellen- und Büropraktikum bei dem Bauunternehmen Heilmann & Littmann sowie die Mitarbeit im Baubüro des von Otto Lasne entworfenen Armeemuseums in München; siehe ebd. Vgl. Nerdinger 1988 (wie Anm. 1), S. 10.
Lob des Unauffälligen
Sicher ist jedenfalls, dass sie 1901 gemeinsam mit Wilhelm Weigel eine Italienreise unternahmen und seitdem in Verbindung standen. (Abb. 2) Ebenso mag ein ‚gemeinsames’ Architekturprojekt dafür gesorgt haben, dass sie in Kontakt blieben: 1901 war Fischer, zu dieser Zeit seit acht Jahren Leiter des Stadterweiterungsbüros in München, einem Ruf als Professor für »Bauentwürfe einschließlich Städteanlagen« an die Technische Hochschule Stuttgart gefolgt – sein Mitarbeiter Bonatz begleitete ihn aus dem Münchner Stadtbauamt an den Stuttgarter Lehrstuhl (den er 1908 übernehmen sollte). Kurz nachdem Fischer und Bonatz das Amt im November 1901 verlassen hatten, trat Pixis dort am 1. Januar des Folgejahres seine Stelle an, wo ihm sogleich die Aufgabe übertragen wurde, »die Detailpläne des von Herrn Professor Theodor Fischer entworfenen Schulhausneubaus an der Hirschbergstraße anzufertigen.«8 (Abb. 3) Somit hatte der damals noch recht unerfahrene Architekt immensen Einfluss auf die Baugestalt, denn es ging bei den genannten Plänen nicht etwa um untergeordnete Punkte im architektonischen Gefüge, sondern neben anderem um »sämtliche Fassaden- und Dachdetails, die Portale, Türen, Gitter, Inneneinrichtungen«.9 Den Entwurf für das Volksschulhaus, das nun nach den von Pixis ausgearbeiteten Plänen realisiert werden sollte, hatten Fischer und Bonatz gemeinsam angefertigt – es ist denkbar, dass beide mit ihm vor dessen Stellenantritt in einen Austausch getreten waren, um die Stabübergabe in ihrem Sinne zu arrangieren. Nach rund anderthalbjähriger Mitarbeit im Stadtbauamt wechselte Pixis nach Berlin in das Atelier von Alfred Messel. Laut dem Zeugnis seines neuen Arbeitgebers war er während seiner einjährigen Mitarbeit »mit der Ausarbeitung von Entwürfen und Details für ein Warenhaus sowie für Wohngebäude beschäftigt«.10 Mit dem ersteren Projekt ist das Warenhaus Wertheim an der Leipziger Straße gemeint – mithin der Prototyp des modernen großstädtischen Kaufhauses, mit dem Messel aus Sicht seines Zeitgenossen Karl Scheffler »revolutionierend auf die moderne Baukunst gewirkt hat.«11 (Abb. 4) Dem Architekten nämlich war mit dem WertheimBau ein Befreiungsschlag hin zu einer funktionalen, dem historistischen Formenkleid entwachsenen Architektur gelungen – derselbe attestierte nun seinerseits Pixis, dieser habe bei seiner Arbeit ein »gereiftes künstlerisches Verständnis« bewiesen.12 Mit einer solchen Empfehlung in der Tasche, verfasst von einem der führenden Reformarchitekten im Norden Deutschlands, machte sich Pixis auf den Weg in den Süden. Vermutlich im September 1904 trat er in Stuttgart jene Stelle bei Theodor Fischer an, die er – über den Umzug des Büros nach München im Jahr 1908 hinweg und unterbrochen von einem mehrjährigen Einsatz als Soldat im Ersten Weltkrieg – für zwei Jahrzehnte innehaben sollte. 8 Stadtbauamt München, Zeugnis für Oskar Pixis, o. J. [1903], PP-Ar. 9 Ebd. 10 Alfred Messel, Zeugnis für Oskar Pixis, 12. September 1904, PP-Ar. 11 Karl Scheffler, »Die Bedeutung Messels«, in: Walter Curt Behrendt, Alfred Messel, Berlin 1911, S. 9–21, hier S. 10. 12 Messel, 12. September 1904 (wie Anm. 10).
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Betrachtungen zum architektonischen Werk von Oskar Pixis
Abb. 3:
Theodor Fischer, Schule an der Hirschbergstraße, München, 1902–04
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Mit Messel und Fischer durfte Pixis just jene »überlegene[n] Geister« zu seinen Lehrern zählen, die Charles-Édouard Jeanneret in seiner (zu Lebzeiten nie erschienenen) Studie über die deutsche Kunstgewerbebewegung in höchsten Tönen lobte, für die er 1910 seine Deutschlandreise angetreten hatte. Beide Architekten seien »von ihrer Veranlagung und ihrer Ausbildung her traditionsverbunden« und bildeten »ein vortreffliches Gegengewicht« zu den »Extravaganzen« eines Joseph Maria Olbrich,13 der als Exponent des Jugendstils erheblichen Einfluss auf die Architektur der Jahrhundertwende hatte. Mit anderen Worten: Da Olbrichs Architektur kurzlebige Modeerscheinung blieb, war sie dem aus der Tradition – hier muss ergänzt werden: um 1800 – schöpfenden Bauen von Fischer und Messel unterlegen. Jeanneret hatte die deutschen Reformzirkel messerscharf analysiert und sprach beiden darin unmissverständlich Führungsrollen zu. Pixis hatte also nicht bei irgendwem gearbeitet, sondern gehörte zum Umfeld der zu ihrer Zeit führenden Architekten. Und so hatte auch Jeanneret Fischer in der Hoffnung aufgesucht, von ihm aus erster Hand Einblicke in die auf den Weg gebrachte
Charles-Édouard Jeanneret, »Studie über die deutsche Kunstgewerbebewegung«, in: Le Corbusier, Studie über die deutsche Kunstgewerbebewegung, hg. von Mateo Kries und Alexander von Vegesack, Weil am Rhein 2008, S. 145–219, hier S. 159.
Lob des Unauffälligen
Abb. 4:
Alfred Messel, Warenhaus Wertheim, Berlin, 1903–05, Fassade zur Leipziger Straße
Reform zu gewinnen.14 Selbst wenn es keinen konkreten Beleg dafür gibt, so darf doch als sicher gelten, dass er sich bei seinen Besuchen in der Agnes-Bernauer-Straße – die ihn nicht zuletzt in den großzügigen Garten führten, der das »Laimer Schlössl« nahtlos mit dem Büro wie auch dem Haus Pixis verband – ebenso mit Pixis austauschte, der Schlüsselfigur in Fischers Büro.
Vor und hinter den Kulissen: »Büreauchef« bei Theodor Fischer Die Aufgaben, die Pixis als »Büreauchef« in Fischers Atelier zu übernehmen hatte, waren so vielfältig wie weitreichend. Einem Vertragsentwurf vom Juni 1904 zufolge umfassten sie neben der »Vertretung des Prof[es sors] im Verkehr mit den Hülfskräften, den Auftraggebern u[nd] den Unternehmern«, der »Instandsetzung und -haltung des Aktenmaterials, der Journale über die Arbeitsleistung der Angestellten« sowie der »Buchführung über Einnahmen u[nd] Ausgaben des Privatbüreau’s« ebenso die »[t]eilweise Führung der die Privataufträge betreffenden Correspondenz« wie auch die »Teilnahme an den zeichnerischen u[nd] schriftlichen Arbeiten des Büreau’s.«15 Pixis trat demnach intern in einer koordinierenden, die verschiedenen Bereiche der Architekturproduktion zusammenführenden Rolle auf, nach außen hin repräsentierte er das Büro auf allen Ebenen stellvertretend für den oft anderweitig eingebundenen Fischer.
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Vgl. Werner Oechslin, »Le Corbusier und Deutschland: 1910/1911«, in: ders., Moderne entwerfen. Architektur und Kulturgeschichte, Köln 1999, S. 172–191, hier S. 177. Th[eodor] F[ischer], »Vorschläge für einen Vertrag mit Herrn Pixis«, 1 Bl. Manuskript, 15. Juni 1904, PP-Ar.
Betrachtungen zum architektonischen Werk von Oskar Pixis
Daneben mischte er bei der Ausarbeitung von Entwürfen bis hin zu deren Ausführung mit, wie die merkwürdige Formulierung zur »Teilnahme an den zeichnerischen […] Arbeiten des Büreau’s« fast beiläufig anzeigt. So wurde ihm beispielsweise – kaum dass er in Stuttgart angekommen war – die Projektleitung für die Pfullinger Hallen anvertraut,16 (Abb. 5) die in Fischers Werk eine vergleichbare Schlüsselstellung einnehmen wie das Warenhaus Wertheim in demjenigen von Messel. Walter Curt Behrendt etwa erblickte im 1907 fertiggestellten Volkshaus in Pfullingen einen Beleg dafür, wie Fischer ein »Bauwerk an Boden und Landschaft zu binden, den genius loci zu erfassen und seine Stimmungsgehalte zu vermitteln« imstande sei.17 Er ließ damit Kennzeichen jenes kontextuellen Bauens anklingen, das zum Synonym für Fischers Entwurfshaltung werden sollte. Noch bevor die Pfullinger Hallen vollendet waren, publizierte ihr Architekt im Oktober 1906 mit dem Text »Was ich bauen möchte« die Beschreibung eines fiktiven Wunschprojekts. Bei diesem ist nur wenig Phantasie vonnöten, um dahinter die im Bau befindlichen Hallen auszumachen: »Irgendwo in Deutschland […], in einer großen oder mittleren Stadt, auf einem Platz, der nicht im lärmenden Verkehr, aber am Verkehr liegt […]: ein Haus, nicht zum Bewohnen für Einzelne und Familien, aber für Alle, nicht zum Lernen und Gescheitwerden, sondern nur zum Frohwerden, nicht zum Anbeten nach diesem oder jenem Bekenntnis, wohl aber zur Andacht und zum inneren Erleben. Also keine Schule, kein Museum, keine Kirche, kein Konzerthaus, kein Auditorium! Und von allen diesen doch etwas und außerdem noch etwas Anderes! […] Von Stil – auch dem allermodernsten – keine Rede! (Der Teufel hole die Stilomanen!)«18 Zum einen führt die Umkreisung der Bauaufgabe einen Reformgedanken vor Augen, bei dem es nicht um religiöse Bekehrung oder einen elitärakademischen Kulturbegriff ging, sondern um die ‚Erziehung’ breitester Bevölkerungsgruppen; im Fall der Pfullinger Hallen bekamen der örtliche Gesangs- und Turnverein eine Heimstatt in dem Gebäude. Zum anderen wirft die von Fischer im weiteren Verlauf des Texts gegebene Beschreibung Licht auf seine Überzeugung, welchen Anteil die Kunst an dieser Erziehung habe und wie einem derartigen Bau mit architektonischen Mitteln Ausdruck gegeben werden solle. Seine Verteufelung der »Stilomanen« ist eine derbe Absage an einen noch immer schwelenden Historismus, demzufolge jeder Bauaufgabe das ihr adäquate Kleid anzulegen wäre, wie auch an die Formexperimente des Jugendstils. Fischers Idee von »Stil« ging über einen solch unmittelbaren Rekurs auf herge16 17 18
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Vgl. Nerdinger 1988 (wie Anm. 1), S. 219. Walter Curt Behrendt, »Theodor Fischer. Zu seinem siebzigsten Geburtstag«, in: Frankfurter Zeitung 76. Jg., Nr. 388/389, 27. Mai 1932, S. 1. Theodor Fischer, »Was ich bauen möchte«, in: Der Kunstwart 20 (1906/07), H. 1, S. 5–9, hier S. 6.
Lob des Unauffälligen
Abb. 5:
Theodor Fischer, Pfullinger Hallen, Pfullingen, 1904–07
brachte Schmuck- und Würdeformen oder deren Neuerfindung hinaus und bezog all jene Motive ein, welche die Umgebung im engeren und weiteren Sinn prägen. Das konnten für ihn typische Haus- und Dachformen, Materialkompositionen, aber auch landschaftliche Gegebenheiten sein, die er beispielsweise mit der Situierung des Baukörpers im Gelände zu betonen suchte. Dies bedeutet keineswegs, dass er tradierte Kompositionsprinzipien und Formcodes der Baukunst über den Haufen geworfen hätte; die Dominanz des vielschichtigen, bauliche wie landschaftliche Gegebenheiten umfassenden Kontexts erklärt jedoch seine spielerische, teils assoziative Verwendung der Formen. Jenseits des stilistischen Formkorsetts fand Fischer im örtlichen Kontext Reverenzen, die er zu erweisen pflegte. An Pixis ging diese aus der unmittelbaren und mittelbaren Umgebung gleichermaßen schöpfende Entwurfshaltung nicht spurlos vorüber. Anklänge daran finden sich noch in den Dreißiger Jahren in einigen von ihm am Starnberger See geplanten Häusern, die auf typische ländliche Baumaterialien und -typologien rekurrieren, ohne dass diese schlicht kopiert würden. Freilich ging eine derartige Bezugnahme mit der nationalsozialistischen Baupolitik konform, welche das Ländliche (jenseits megalomaner Stadtumbauprojekte) zum Vorbild eines ‚deutschen Bauens’ erhob. Es wäre jedoch zu kurz gesprungen, Pixis’ Bauten dieser Zeit einfach mit dem Stempel
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Betrachtungen zum architektonischen Werk von Oskar Pixis
»Blut und Boden« zu versehen. Dagegen spricht nicht zuletzt seine differenzierte Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Motiven, die wie bei Fischer im endgültigen Entwurf zu einem Amalgam verschmelzen. Mehrere Entwurfsstudien zum 1936 geplanten Haus Oberdorfer in Söcking illustrieren exemplarisch das Durchspielen von verschiedenen Möglichkeiten, das äußere Erscheinungsbild zu prägen; eine Variante zeigt Segmentbogenstürze in der Fassade, während in einer anderen ein Bandfenster dominiert. (Abb. 6) Wie das Haus Oberdorfer demonstriert ein im selben Jahr für den Arzt Alfons Reiß realisiertes Wochenendhaus in Eberfing den Rückgriff auf ortstypische Materialien, indem über einem an der wetterabgewandten Seite verputzten Erdgeschoss eine allseitig umlaufende, bis zum Boden geführte Stülpschalung angebracht ist. (Abb. 7) Ein Balkon auf wuchtigen hölzernen Stützen bindet die einzelnen Baukörper zusammen. Eine ähnliche Handhabung der Fassadenbekleidungen ist ebenso bei dem kleineren, im Jahr zuvor realisierten Haus Mond in Pischetsried zu beobachten. (Abb. 8) Doch nicht nur in ländlicher Umgebung, sondern auch bei Pixis’ Münchner Wohnbauten ist die Rücksicht auf Besonderheiten der Nachbarschaft ein dominierender Faktor für die Platzierung und formale Durchbildung der Baukörper. In Fischers Œuvre findet sich mit der Siedlung Gmindersdorf bei Reutlingen ein weiteres bedeutendes Projekt, an dem Pixis über viele Jahre hinweg beteiligt gewesen war. Die Planungen an der für den Textilfabrikanten Ulrich Gminder in unmittelbarer Nähe seines Werks erbauten Arbeitersiedlung begannen bereits 1903, der Bau aber zog sich bis in die Zwanziger Jahre hinein. (Abb. 9) Weithin bekannt ist die Vorbildwirkung, die sie auf das spätere Werk eines berühmten Fischerschülers hatte: Während seiner Zeit in Fischers Stuttgarter Büro hatte Bruno Taut an Plänen zu dieser Siedlung gearbeitet, die ab 1915 um ein Altenwohnheim erweitert wurde. Den markanten Zuschnitt des »Altenhofs«, der sich hufeisenförmig um eine Geländemulde legt, sollte Taut 1925 beim namensgebenden Gebäude seiner Hufeisensiedlung in Britz übernehmen und damit ein bis heute gerühmtes Vorzeigeprojekt des Siedlungsbaus der Moderne in Berlin schaffen. Unbekannt hingegen sind die Spuren, die sich im Zusammenhang dieser Siedlungsplanung in Pixis’ Werk finden lassen. Nicht nur war er als Büroleiter mittelbar in den Fortgang der Planungen involviert – auch aktive Beteiligungen an den Entwürfen lassen sich belegen. So trägt etwa ein 1925 vorgelegter Plan für ein Gebäude mit »Waschküchen und Heizraum für die Beamtenwohnhäuser« seine Unterschrift. Dieser zeigt ein zweigeschossiges, streng symmetrisch gegliedertes Haus, bei dem alle vier Fassadenseiten mit Ecklisenen eingefasst sind, (Abb. 10) was in Anbetracht der an dörfliche Bauformen angelehnten Typenhäuser eine sonderbare biedermeierliche Note einführt. Indes hatte Fischer derartige Gliederungselemente bereits bei einigen früheren Entwürfen wie dem Marionettentheater in München (1910) oder dem Haus Adt in Forbach (1912–13) angewendet, an dessen Planung Pixis nachweislich beteiligt gewesen war. 16
Lob des Unauffälligen
Abb. 6:
Oskar Pixis, Haus Oberdorfer, Söcking, 1936, Entwurfsvariante mit Bandfenster
Abb. 7:
Oskar Pixis, Haus Reiß, Eberfing, 1936
Abb. 8:
Oskar Pixis, Haus Mond, Pischetsried, 1935, Baueingabeplan
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Betrachtungen zum architektonischen Werk von Oskar Pixis
Abb. 9:
Theodor Fischer, Arbeitersiedlung Gmindersdorf bei Reutlingen mit dem hufeisenförmigen »Altenhof«, Luftbild von 1934
Abb. 10:
Oskar Pixis, »Waschküchen und Heizraum für die Beamtenwohnhäuser«, Gmindersdorf, Plan von September 1925
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Lob des Unauffälligen
Für das Werk von Oskar Pixis ist das Projekt für das Waschhaus in mehrfacher Hinsicht interessant. Der auf September 1925 datierte, »i[n] V[ertretung]« von ihm unterzeichnete Plan nämlich belegt, dass er auch nach seinem Übertritt in die Selbständigkeit noch an Aufträgen Fischers mitarbeitete. Die unmittelbare räumliche Nähe ihrer Büros in der Agnes-Bernauer-Straße wird dies befördert haben, wie überhaupt die Freundschaft zwischen den Nachbarn Fischer und Pixis. Im Fall von Gmindersdorf dürfte die langjährige Zusammenarbeit von Auftraggeber und Architekt dazu geführt haben, dass der ehemalige Büroleiter als Vertrauensperson eingebunden blieb. Nach Fischers Tod stellte Pixis 1939 im Auftrag von Gminder nochmals Planungen an für eine zwei Jahre zuvor von Fischer initiierte, letztlich nicht ausgeführte Erweiterung der Siedlung nach Osten, bei der wiederum ein Waschhaus integriert werden sollte.19 (Abb. 11) Darüber hinaus ist in dem Waschhaus aus dem Jahr 1925 ein formaler Bezug zu Pixis’ frühesten eigenen Häusern festzustellen, die er für eine großbürgerliche Klientel in München entwarf. So weisen das Haus Dittmar sowie das Haus Defregger symmetrische Gliederungen ihrer Hauptfassaden auf, in den Ecken sind die schlichten Putzflächen mit Lisenen eingefasst. Beide Häuser wurden von Pixis zu einem Zeitpunkt geplant, als ein vermutlich schleichender Übergang in die Selbständigkeit erfolgte. Dass das Waschhaus in einem ähnlichen, für den lokalen Kontext indes untypischen Gewand daherkommt, könnte also darauf hindeuten, dass er dessen Planung federführend übernommen hatte und eine im städtischen Kontext bewährte Form nun in Gmindersdorf zu installieren suchte. Es mag ihm darum gegangen sein, die herausgehobene Stellung des Gebäudes im Siedlungszusammenhang motivisch zu betonen – hatte es doch die Aufgabe, den Wohnhäusern Heizungswärme zuzuführen, womit es der modernen Errungenschaft zentraler Wärmeversorgung einen Ort gab. Zudem kam dem Waschhaus als Ort der alltäglichen Verrichtung von Hausarbeit eine gemeinschaftsstiftende Bedeutung zu. Die Planungen für die Pfullinger Hallen und auch der Beginn des langjährigen Projekts »Gmindersdorf« fielen noch in die Stuttgarter Jahre. Nachdem Fischer 1908 den Ruf nach München erhalten hatte, übersiedelte er mitsamt seinem Büro dorthin. Erzählungen von Christian Pixis zufolge stellte Oskar Pixis in diesem Zusammenhang Sondierungen an, wo sich Fischer niederlassen und sein Büro einrichten könnte, und stieß dabei auf das »Laimer Schlössl« samt Nebengebäude. Noch im selben Jahr wurden eiligst Umbauten durchgeführt, so dass Fischer im Dezember im »Schlössl« einziehen konnte. (Abb. 12) Pixis bezog mit seiner Familie das Vorderhaus der ehemaligen Remise, in welcher Fischers Büro eingerichtet wurde. Das Grundstück befand sich – obschon an der Münchner Peripherie gelegen – im Zentrum eines Stadtentwicklungsgebiets, dessen Bebauung von der Terraingesellschaft Neu-Westend 19
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Vgl. Martina Schröder und Helen Wanke, »Baugeschichte der Siedlung«, in: dies. und Bärbel Schwager, Arbeiter-Siedlung Gmindersdorf. 100 Jahre Architektur- und Alltagsgeschichte, Reutlingen 2003, S. 41–43 und S. 59.
Betrachtungen zum architektonischen Werk von Oskar Pixis
Abb. 11:
Oskar Pixis, Erweiterungsplan für die Arbeitersiedlung Gmindersdorf, Lageplan, 1939
vorangetrieben wurde. Im Auftrag dieser Gesellschaft realisierte das Büro zwischen 1909 und 1911 eine Reihe von Miethäusern in der Stadtlohnerstraße, und obwohl diese nur das Fragment einer umfangreicheren Planung darstellen, entstand mit ihnen – einen Steinwurf von Fischers und Pixis’ neuem Domizil entfernt – doch eine Wohnanlage, die beispielhaft ist für den von Reformgedanken getragenen, raumbildenden Städtebau, mit dem sich das Büro Fischer einen Namen machte.
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