KUNST UND BUCH 1921 – 2021 – 2121 – Kunstwettbewerb mit Studierenden der Universität der Künste, Berlin
Der Katalog erscheint anlässlich der Ausstellung des Kunstpreis-Wettbewerbs des Deutschen Kunstverlages „Kunst und Buch: 1921 – 2021 – 2121“, die vom 1.7. bis 22.8.2021 in der Kommunalen Galerie Berlin, Hohenzollerndamm 176, 10713 Berlin, gezeigt wird. Der Kunstwettbewerb wurde in Kooperation mit der Universität der Künste Berlin durchgeführt. Die Ausstellung wurde kuratiert von Salome Sommer.
Jury: Jörg Heiser (ohne Stimme) Katja Richter (Beisitzerin) Julia Voss Janneke de Vries Norbert Wiesneth Katalog: Konzept: Kathleen Herfurth Projektkoordination Verlag: Kathleen Herfurth, Imke Wartenberg Künstlertexte: Ilka Backmeister-Collacott Lektorat: Susanne Drexler Layout und Satz: Floyd E. Schulze Herstellung: Jens Lindenhain, Kerstin Protz Druck und Bindung: F&W Druck- und Mediencenter GmbH, Kienberg Presse und Marketing: Nicole Schwarz Vertrieb: Daniel Engels Verlag: Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München Lützowstraße 33 10785 Berlin www.deutscherkunstverlag.de Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston www.degruyter.com Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München ISBN 978-3-422-98803-3
Soweit nicht anders angegeben liegt das Copyright der Abbildungen jeweils bei den Künstler*innen der Werke, für die Fotos in der Ausstellung © Nicole Schwarz
Gesamtproduktion mit freundlicher Unterstützung von F&W Druck- und Mediencenter – www.fw-medien.de
KUNST VERLEGEN Vorwort von Katja Richter
Jubiläen bringen es mit sich, dass man zurückblickt, die gegenwärtige Situation analysiert und sich Gedanken über die Zukunft macht. Die Planungen zum Jubiläum anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Deutschen Kunstverlages am 1. Juli 2021 waren von Anfang an außerdem durch die besondere Situation der Corona-Pandemie geprägt. Museen waren geschlossen, Ausstellungen mussten verschoben werden, nahezu der gesamte analoge Kulturbetrieb stand still und für viele Künstler*innen brachen Wirkungsmöglichkeiten und Lebensunterhalt weg. Und im Verlag? Hier konnte mancher Ausstellungskatalog noch fertiggestellt und herausgebracht werden, andere Projekte verschoben sich und einige Publikationen wurden ganz abgesagt, auch angesichts der ungewissen finanziellen Situation der Museen, die für längere Zeit geschlossen bleiben mussten. Unter diesen Voraussetzungen entstand unter meiner Vorgängerin Pipa Neumann im Herbst 2020 die Idee, anlässlich des Verlagsjubiläums einen Wettbewerb für Studierende der Universität der Künste Berlin mit dem Thema „Kunst und Buch: 1921 – 2021 – 2121“ auszuloben. Die Studierenden waren aufgefordert, sich in einer künstlerischen Arbeit mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Beziehung zwischen Kunst und Buch auseinanderzusetzen. Ob die eingesandten Werke jemals wirklich in einer Ausstellung zu sehen sein würden, war ungewiss. Eines stand jedoch von Beginn an fest und wurde in der Ausschreibung festgehalten: „Zur Ausstellung werden wir außerdem einen Katalog in gedruckter und digitaler Form publizieren, der die ausgewählten Shortlist-Arbeiten und insbesondere die prämierte Arbeit präsentiert.“
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Von jeher ist der Katalog ein Medium, das neben der Erinnerung an eine gesehene Ausstellung auch die Möglichkeit bietet, eine verpasste Ausstellung zu rezipieren. Inwieweit die weltweite Pandemie, die zu einem grundsätzlichen Überdenken von Mobilität und Tourismus beiträgt, auch die Aufgabe von Ausstellungskatalogen ändert, wird sich erst längerfristig zeigen. Auf jeden Fall, da sind wir uns sicher, wird der Katalog auch in Zukunft eine wichtige Möglichkeit bleiben, weltweit und über die Dauer einer Ausstellung hinaus Aufmerksamkeit auf neue und alte Kunstwerke zu lenken und deren Wahrnehmung zu fördern. So sehr wir uns freuen, dass eine Ausstellung der ausgewählten Einsendungen in der Kommunalen Galerie Charlottenburg-Wilmersdorf im Sommer 2021 möglich war, als Verlag, genauer als Kunstverlag, zeigen wir mit diesem Katalog, also mit dem Medium des Buches, worin wir seit nunmehr 100 Jahren unsere Aufgabe sehen: Kunst zu verlegen. Bereits die Gründung des Verlages war von dieser Aufgabe geprägt: Es war keine Leidenschaft für Bücher, die am Anfang des Deutschen Kunstverlages stand, sondern der Auftrag, die Erzeugnisse der vom Preußischen Staat eingerichteten Bildstelle zu verwerten. Die Bildstelle produzierte hochwertige dokumentarische Fotografien künstlerisch wertvoller Architektur, die der Verlag in Büchern, Bildern und Postkarten verbreiten und vermarkten sollte, um so die weitere Arbeit der Bildstelle zu finanzieren. Höchster Anspruch an die Fotografien, höchster Anspruch an deren Wiedergabe im gedruckten Medium und höchster Anspruch an die Gestaltung der Verlagserzeugnisse bestimmten daher von der ersten Minute an das Programm des Deutschen Kunstverlages. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Zwar haben sich 100 Jahre nach der Herausgabe des ersten Buches die Technik der Fotografie, der Gestaltungsstil von Büchern und die Druckverfahren grundlegend gewandelt. Die Aufgabe, Kunstwerke in höchster Qualität zu reproduzieren und so einem breiten Publikum zugänglich zu machen und die damit verbundene Arbeit des Verlegens durch den Verkauf des entstandenen Produkts oder andere Mittel zu finanzieren, ist geblieben. Dabei steht heute neben dem gedruckten Buch, das noch immer durch die hohe Präzision in der Wiedergabe von Kunstwerken besticht, auch die elektronische Publikation als zusätzliches Angebot an die zeitgenössischen Rezeptionsgewohnheiten. Auch in Zukunft soll sich an dieser grundsätzlichen Aufgabe nichts ändern und wir sind bereit – wie in den letzten 100 Jahren – Veränderungen in der Art, wie Kunst verlegt wird, mitzugehen und mitzugestalten. Dafür möge dieser Katalog beispielhaft stehen. Mein Dank für die Realisierung dieser Publikation gilt den Kolleginnen und Kollegen: Kathleen Herfurth für die übergeordnete Koordination des Projektes, Susanne Drexler für das Lektorat der Texte, Imke Wartenberg für das Projektmanagement, Floyd Schulze für die grafische Gestaltung, Jens Lindenhain für die Druckabwicklung, Nicole Schwarz für das Marketing sowie für die Fotos der
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Ausstellung und Daniel Engels für den Vertrieb. Salome Sommer, die den Wettbewerb koordiniert, den Aufbau der Ausstellung organisiert und die Kommunikation mit den Künstler*innen übernommen hat, sei ebenfalls herzlich gedankt. All dies wäre nicht möglich gewesen, wenn Jörg Heiser, Professor am Institut für Kunst im Kontext der Universität der Künste, Berlin, nicht von Beginn an die Idee des Kunstwettbewerbs begeistert aufgenommen und unterstützt hätte, wenn sich Norbert Wiesneth, Kurator der Kommunalen Galerie Charlottenburg-Wilmersdorf, nicht bereit erklärt hätte, die Ausstellung auszurichten, und wenn er nicht gemeinsam mit Julia Voss, Honorarprofessorin am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft der Leuphana Universität Lüneburg, und mit Janneke de Vries, Direktorin der Weserburg, Museum für moderne Kunst, die Jurierung der eingesandten Werke übernommen hätte. Ihnen allen möchte ich ganz herzlich danken, dass sie dieses Jubiläumsprojekt mit uns realisiert haben. Nicht zuletzt gilt mein Dank allen Studierenden, die sich mit einer Einsendung an dem Wettbewerb beteiligt haben. Meine Glückwünsche gehen an die Künstler*innen der Shortlist und insbesondere an den Preisträger Meo Wulf.
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DIE IDEE DES KUNSTBUCHES Grußwort von Jörg Heiser 100 Jahre Deutscher Kunstverlag: Anlässlich dieses Jubiläums jungen bildenden Künstler*innen der Universität der Künste Berlin die Gelegenheit zu geben, sich mit dem Buch als Medium und Konzept künstlerisch auseinanderzusetzen auf die unterschiedlichsten Weisen – mit dem Gedanken an die Zeitachse 1921– 2021–2121 – erwies sich aus verschiedenen Gründen als eine wunderbare Idee. Die zur Jurierung eingereichten wie die letztlich ausgewählten Arbeiten zeigen eine große Vielfalt der Herangehensweisen, vom „klassischen“ Kunstbuch bis zur Video-Performance. Wunderbar war die Idee aber auch, weil sie in der PandemieZeit dem Umgang vieler Künstler*innen mit den damit verbundenen Beschränkungen entsprach; vor dem Hintergrund erschwerter oder verunmöglichter
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Ausstellungstätigkeit war das Buch, wenn nicht wiederzuentdecken, so doch aufzuladen mit neuer künstlerischer Bedeutung. Teil dieser Bedeutung ist eine Geschichte des künstlerischen Buches, die in der allgemeinen Monetarisierung, Digitalisierung und „Eventisierung“ der Kunstwelt der letzten Jahre zunehmend in den Hintergrund gerückt zu sein schien. Wichtig war nur mehr, so schien es, der große Auftritt beim wichtigen Kunstereignis und die flankierende Aufmerksamkeitsgenerierung in den sozialen Netzwerken; die Kombination aus institutionellen Weihen und digitaler Reichweite. Doch das (gedruckte) Buch, schlaglichtartig durch die Pandemie betont, aber auch vor dem Hintergrund von Fragen der klimatischen wie kulturellen Nachhaltigkeit, könnte noch einmal wiederkehren als eine Art mobile Ausstellung, ein Boîte-en-Valise (1935–1941) – wie Marcel Duchamp seine Kofferausstellung, irgendwo zwischen mobiler Puppenstube und Buchobjekt, nannte – in allen nur möglichen denkbaren Formen und Aggregatzuständen. Und zwar nicht nur als eine Art Appendix der „eigentlichen Kunst“, einer Repräsentation im Kleinen, sondern als medium sui generis, ein Ansatz, der vielleicht in seiner „reinsten“ Form 1968 verwirklicht wurde. Damals kam der Kunstimpressario Seth Siegelaub in New York auf die Idee, eine Ausstellung in Buchform abzuhalten. Das heißt, das Buch sollte nicht einfach nur eine Ausstellung dokumentieren, sondern selbst Ort und Medium der Ausstellung sein. Dies sollte kein Werkkatalog werden, sondern selbst das Werk sein. Auch die Arbeiten selbst waren also nicht etwa woanders verortet, sondern auf das Medium dieses Buches hin konzipiert und verfasst – und zwar als Gruppenausstellung. Siegelaub konnte mit so einem Ansatz auch deshalb operieren, weil die beteiligten Künstler (kein Sternchen hier, da allesamt männlich, weiß, cis) eine Art Supergroup der ersten Generation der Concept und Minimal Art waren: Carl Andre, Robert Barry, Douglas Huebler, Joseph Kosuth, Sol LeWitt, Robert Morris, Lawrence Weiner. Das Buch trug als Titel diese Namen, doch als informelle Bezeichnung bürgerte sich schnell „Xerox Book“ ein. Es war zwar nicht fotokopiert (es erwies sich als teurer, es mit der neuartigen Xerox-Maschine zu drucken, als die bewährte Lithografietechnik zu benutzen), aber es war schwarz-weiß und schmucklos gebunden, das Cover nur ein weißes Blatt, mit einfachen Mitteln also, was einer reduzierten, strengen Ästhetik und Konzeption der Beteiligten voll und ganz entsprach. Jeder von ihnen hatte 25 Seiten zur Verfügung. Robert Barry beispielsweise füllte die Seiten mit Punkten, „eine Millionen Punkten“, wie er sagte (man musste ihn wohl beim Wort nehmen, keiner kann und will das mit bloßem Auge nachzählen). Es ging um (selbst-)referenzielle Manifestation, nicht um Illustration oder Dokumentation. Es wäre aber falsch, daraus abzuleiten, dass nur das ephemere, konzeptualisierte Buch-als-Ausstellung in seiner 1968er-Konzeptkunst-Supergroup-Inkarnation das Kunstbuch in seiner letztlich gültigen Form darstelle. Umgekehrt wird
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ein Schuh draus: Wenn wir diese zugespitzte Form denken, erkennen wir auch in Jahrtausenden der Inkarnation des Bild- und Schriftmediums Buch die künstlerische Dimension (jenseits des engeren dichterisch-schriftstellerischen Sinns des Künstlerischen im Buchkontext). Mesopotamische Keilschrift-Tontafeln, ägyptische Piktogramm-Papyrusrollen, chinesische Orakelknochen oder die Kodizes der Maya: Vor ca. 3.000 bis über 5.000 Jahren fanden Bilder, Piktogramme und abstrahierte Schriftzeichen weltweit zu mobilen, verkehrsfähigen Objekten zusammen. Es wäre vermessen zu denken, dass dort – bei aller Gebrauchsfunktion, ob geschäftlich, politisch oder spirituell – nicht auch schon künstlerische Reflexion in deren Entstehung eingegangen wäre. Die Kunst des Mittelalters hält Höhepunkte solcher künstlerischer Inswerksetzung des Schriftmediums-als-visuelle-Kunst bereit: Die Josua-Rolle des 10. Jahrhunderts aus Konstantinopel griff ungewöhnlicherweise auf das Medium der römischen Schriftrolle zurück und breitete so auf 10 Meter kolorierte Bibelszenen aus. Yahya ibn Mahmud al-Wasiti bebilderte im 13. Jahrhundert die Maqāmah al-Hariri (eine berühmte arabische Dichtung des al-Hariri von Basra aus dem 11. Jahrhundert) – und diese enthält geradezu konzeptuell zu nennende Kapriolen wie beispielsweise Sätze, die vorwärts gelesen werden können, aber auch rückwärts – und dann die gegenteilige Bedeutung erhalten. In der Neuzeit gilt William Blake als der erste Vorreiter einer post-sakralen, zugleich visionär-spirituell-imaginären künstlerischen Hinwendung zum Medium Buch. Sein Verlangen, farbige Bildmotive und Text auf einer Seite zu integrieren – ein moderner Nachfolger der mittelalterlichen illuminierten Schriften, zugleich Vorläufer der postmodernen Graphic Novel, – führte dazu, dass er um 1788 eigens dafür eine neue Drucktechnik erfand, die Reliefradierung (Prägedruck). Man mag sich kaum vorstellen, was Blake wohl mit den modernen Möglichkeiten des Entwerfens und Druckens angefangen hätte, die beispielsweise den Kon struktivisten der 1920er-Jahre zur Verfügung standen, geschweige denn den heutigen, ob digital oder nicht – er hätte jedenfalls nicht gezögert sie anzuwenden. Und womöglich hätte er auch um das Bewegtbild keinen Bogen gemacht. Wir sind in einer Gegenwart angekommen, in der das Buch eines unter vielen künstlerischen Medien ist – und zugleich vielleicht dasjenige, das alle anderen Medien am kompaktesten und langanhaltendsten in sich vereint. Im Namen der Fakultät Bildende Kunst der Universität der Künste möchte ich den beteiligten Künstler*innen zu ihren Beiträgen gratulieren; meinem Kollegen K ilian Seyfried für seine tatkräftige Mithilfe danken; vor allem aber dem D eutschen Kunstverlag meinen großen Dank aussprechen für die Idee, die Auslobung des Preises und die Ermöglichung der Ausstellung. Julia Voss, Jannecke de Vries und Norbert Wiesneth gilt ebenso mein Dank für ihre gewissenhafte und kundige Jury-Arbeit, Letzterem zudem für die Ausrichtung und Realisierung der Ausstellung in der Kommunalen Galerie Charlottenburg-Wilmersdorf.
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„DIE GANZE WELT IN EINEM BUCH“ Eine Liebeserklärung an das gedruckte Kunstbuch Essay von Ilka Backmeister-Collacott
Präsenz Ich schlage das antiquarisch erworbene Buch auf, das mich am Vortag auf dem Postweg erreicht hat: ein Katalog der von Peter Greenaway kuratierten Ausstellung Hundert Objekte zeigen die Welt, 1992 in der Akademie der Bildenden Künste Wien … vermeintlich belanglose papierne Dokumente von einer Reise in die österreichische Donaumetropole im Oktober 1992 purzeln mir entgegen. Der Vorbesitzer hat sie in das Buch eingelegt und das Antiquariat, bei dem ich fündig geworden bin, sicher nicht zufällig darin belassen: Darunter befinden sich
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ein Fahrschein für den Zug von Passau nach Wien und zurück, ein Ticket für eine Vorstellung im Theater in der Josefstadt am 1. November – einem Sonntag übrigens –, Parkettsitz, Reihe 6, Sitz 1, für 450 Schilling, und das kopierte Tagesprogramm für den darauffolgenden Tag, überschrieben mit „Lieber Gast!“, vielleicht ein Vorschlag des Hotels für kunstaffine Gäste an diesem Allerseelentag, an dem die meisten Wiener Museen geschlossen blieben. Und schließlich erblicke ich, noch bevor ich das erste Bild im Buch angeschaut, den ersten Satz gelesen habe, den mit Bleistift und in ausladender Schrift eingetragenen Besitzvermerk – die Initialen sind unleserlich – auf dem Schmutztitel unten rechts, und darunter: „Wien 10/92 (mit Agathe zur Peter Greenaway Ausstellung)“. Mit einem Glas Wein setze ich mich hin, beginne das Buch durchzublättern, das ein mir Unbekannter auf einer Städtereise mit besagter Agathe als Erinnerung an einen Ausstellungsbesuch gekauft hat – am 1. November 1992, das verrät mir die Rechnung der Akademie über 390 Schilling, die ebenfalls im Katalog liegt. Das grün-magentafarbene Paperback-Cover ist kaum verblichen in den vergangenen 30 Jahren – nur der Buchrücken hat eine leicht andere Farbe angenommen. Ein kleines bisschen klebt es an den Händen. Greenaways Kosmos, seine 100 Objekte, sein „exzessiv-ambitionierter“ Versuch, eine „komplette Sicht der Welt darzustellen“:1 „100 Schuhe, 100 Regenschirme, 100 Gipsbüsten, 100 fotografierte Penisse, ein lebendes Schwein, eine ‚echte Wolke‘, die Venus von Willendorf. Der englische Filmregisseur und Künstler Peter Greenaway […] liebt Listen und megalomane Systeme.“ (Kunst-)Bücher begleiten oder dokumentieren Ausstellungen, bringen wissenschaftliche Ergebnisse in die Welt, zeigen oder ergänzen das Werk von Künstler*innen, verdeutlichen Konzepte oder Thesen von Kurator*innen und vieles mehr. Sie können auch, wie die kleine Begebenheit um den Greenaway-Katalog zeigt, selbst Träger von Geschichte(n) sein, im Lauf der Zeit um ihre eigene Geschichte angereichert werden. Dies gilt sicherlich nicht für jedes Buch – und sicher wird dies auch nicht für jede*n Leser*in von Relevanz sein –, doch jedenfalls tragen Bücher diese Möglichkeit in sich. Mir gehen Gedanken durch den Kopf wie: Was bedeuten mir gedruckte Kunstbücher? Sie haben mich durch mein Kunstgeschichtsstudium begleitet, wurden schließlich zum Gegenstand meines Berufs, und sie sind mir nicht nur Informations-, sondern auch immer wieder Inspirationsquelle, bieten Raum zur Zerstreuung, zur Erinnerung. Gleichzeitig stelle ich mir die Frage: Gibt es etwas, was sie vor anderen Medien auszeichnet? Und schließlich: Geht es nicht auch ohne sie?
Ich danke Ralf Barkow, Gudrun Bühl, Christoph Esterhammer, Ines Goldbach, Cornelia Hellstern, Kathleen Herfurth, Sonja Hildebrand, Andreas Krämer, Georg Rutishauser, Christina Schepper-Bonnet und Imke Wartenberg für ihre Hinweise sowie den anregenden Austausch über das (Kunst-)Buch. 1 https://oe1.orf.at/programm/20170819/484580/100-Objekte-zeigen-die-Welt-Diagonal-mit-und-ueber-Peter-Greenaway [18.6.2021]; dort auch das folgende Zitat.
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Neben dem gedruckten Katalog gab es zur Greenaway-Ausstellung auch eine VHS-Kassette als „akustischen Katalog“ – eigentlich ein innovatives, verschiedene Sinne ansprechendes (Vermittlungs-)Konzept für diese Zeit, denke ich mir. Und muss sogleich schmunzeln: VHS … das ist doch noch gar nicht so lange her, seit wir diese dicken schwarzen Kassetten in dicke schwarze Videorekorder hineingeschoben haben. Heute kann sie kaum mehr einer abspielen, längst haben andere Methoden und Systeme die Oberhand gewonnen; bei Bedarf konvertieren Dienstleister die quasi unlesbar gewordenen Bänder in derzeit gängige Formate. Doch geht unterwegs nicht etwas verloren? Werden nicht nur die Dinge transferiert, die jemand als wichtig genug erachtet oder an denen jemand ein wie auch immer geartetes Interesse hat? Der Rest verbleibt verschlossen in den dicken schwarzen Kassetten, unlesbar, nicht mehr genutzt und erinnert, wird möglicherweise irgendwann entsorgt. Nur wenige Jahre nach seiner Erfindung ist dieses System quasi überholt – oder jedenfalls müssen gewisse Hürden genommen werden, um die auf Magnetbänder gespeicherten Inhalte noch abspielen zu können. Wie anders doch das gedruckte Buch – es braucht kein Abspielgerät, keine Übertragung oder „Übersetzung“ in ein anderes System. Nicht nach 30 Jahren, und selbst nach 100 Jahren nicht. Auch dann werden wir es noch aufschlagen, darin blättern können, das Papier spüren, sehen, riechen, das leise Geräusch beim Umblättern der Seiten hören – und das Buch anschließend wieder weglegen, es erneut zur Hand nehmen, ins Regal stellen oder auch verleihen. Wir können Lesezeichen einlegen, Textstellen mit Annotationen versehen – und ja, selbst Eselsohren könnten wir, wenn wir denn wollten, in das Papier knicken oder Pflanzen zwischen den Seiten pressen. Das gedruckte Buch ist da, und es wird auch in Zukunft da sein, es besitzt physische Präsenz. Und eines Tages kann es – wenn wir selbst uns von dieser Welt verabschieden müssen oder uns noch zu Lebzeiten von Teilen unserer Bücher trennen – seinen Besitzer wechseln. Zeit Wurde nicht dem E-Book bei seinem Auftreten ein bespielloser Siegeszug vo rausgesagt, der das Sterben des gedruckten Buches einläuten würde, ähnlich wie zuvor schon der Vinyl-Schallplatte Anfang der 1990er-Jahre der sichere Tod prophezeit wurde? Sicher ist Letztere zu einem Nischenprodukt geworden, heute weit weniger verbreitet als das nachfolgende System – die Compact Disk –, das jedoch ebenfalls schon wieder auf dem Rückzug ist, verdrängt durch das Streaming. Doch die Vinyl-Platte ist keineswegs gestorben, sondern erlebt derzeit eine regelrechte Renaissance, die Absatzzahlen steigen seit einigen Jahren wieder. Vinyl-Liebhaber schwärmen – qualitätvolle Abspielgeräte vorausgesetzt – von dem wärmeren, lebendigeren, reicheren Klang, ungleich besser als jener von CD oder MP3. Und ist nicht auch schon das Auflegen einer Vinyl-Schallplatte eine so viel sinnlichere Handlung als das Einlegen einer CD oder das Wischen auf dem Smartphone? Das Zelebrieren des Musikgenusses beginnt bereits beim Anblick der oftmals aufwendig gestalteten Platten-Covers. Nicht wenige von ihnen sind
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ikonisch geworden, selbst Kunstwerke – exemplarisch genannt seien die Hüllen der Beatles-Alben (Abbey Road), die von Andy Warhol gestalteten Album-Covers für die Rolling Stones (Sticky Fingers) und Velvet Underground (das sogenannte Bananen-Album mit Nico) oder das Cover des einflussreichen Albums Die Mensch-Maschine von Kraftwerk. Sei es als T-Shirt-Motiv oder als Meme – oftmals sind sie noch nachfolgenden Generationen bekannt. Als Nächstes gilt es, die fragile schwarze Scheibe gekonnt aus ihrer dünnen inneren Hülle herausgleiten zu lassen, sie an der dünnen Seite vorsichtig zwischen beide Hände zu nehmen, ohne die fragile Oberfläche zu berühren, und die feinen, spiralförmig nach innen verlaufenden Rillen beidseitig kritisch zu beäugen (denn jedes Staubkorn kann Störgeräusche oder sogar Beschädigungen hervorrufen). Erst dann legt man sie vorsichtig auf den Plattenteller und setzt den Tonarm in Bewegung. In gewisser Weise ähnlich verhält es sich mit dem Buch, auch dieses verlangt von uns zunächst einen kleinen zeitlichen oder organisatorischen Einsatz: einen Gang in die Buchhandlung (oder einen digitalen Bestellvorgang und das anschließende Warten auf die Lieferung). Es vergeht also Zeit, bis es überhaupt erst einmal auf unserem Schoß liegt und aufgeblättert werden kann. Ganz anders beim Kauf eines digitalen Produkts: Vom Herunterladen, Speichern und Lesen sind wir hier oftmals nur einen Knopfdruck entfernt. Doch wenn es denn da ist, das gedruckte Buch, und interessant, spannend, amüsant oder einfach anregend, dann besitzt es für die meisten von uns vermutlich weit mehr die Fähigkeit, uns nachhaltig in seinen Bann zu ziehen, als dies einem E-Book oder einer Website in der Regel gelingen wird: In einem Buch blättert man – und Bibliophile würden sagen, dass damit ein sinnlich-emotionales Gesamterlebnis verbunden ist, verschiedene Sinne ansprechend: z. B. die Haptik durch das „Spüren“ des Papiers oder das Gewicht des Buches. In einem E-Book hingegen scrollt man – doch vermutlich würde kaum einer behaupten, er „spüre“ dabei etwas, schon gar keinen „Gewichtsunterschied“, ob ein Buch nun 100 oder 500 Seiten umfasst. Und ist es nicht genauso schnell, wie wir es heruntergeladen haben, auch schon wieder in einem Ordner auf dem Rechner, in einer digitalen Bibliothek verschwunden? Aus den Augen, aus dem Sinn? Raum In Büchern war einst das Wissen der Welt versammelt, es konnte auf diese Weise von Ort zu Ort transferiert, von Generation zu Generation weitergegeben werden. Bücher boten zunehmend mehr Menschen die Möglichkeit, andere geografische oder gedankliche Räume zu betreten oder zu bereisen, Wissen auszutauschen respektive zu teilen oder anderen die Welt zu erklären. Doch längst schon passt das vernetzte Wissen dieser Welt nicht mehr in Bücher, sondern findet sich im unendlichen Informationsspeicher des Internet wieder, das vielfältige Möglichkeiten der Erzeugung, der Organisation, der Repräsentation und der Vermittlung von Wissen bereithält, und ist auf Knopfdruck verfügbar. Dies ist für große
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Teile der Wissenschaftswelt und gerade auch für die Wissensvermittlung in Ländern, in denen die Verfügbarkeit von Literatur in Bibliotheken eingeschränkt ist, bereits heute der Weg der Wahl und wird sich in Zukunft weiter in diese Richtung entwickeln. Gleichwohl, so merkt Sascha Michel in seinem Büchlein Die Unruhe der Bücher an: „Wenn die vernetzte Welt um uns herum immer schneller und stressiger wird, liegt es nahe, in den kontemplativen Seiten der alten Kulturtechnik Lesen eine Art Gegenwelt und den unique selling point für gedruckte Bücher zu sehen. Und es stimmt ja auch, dass das genau Lesen längerer oder anspruchsvoller, verdichteter Texte Zeit beansprucht, Konzentration und Ruhe erfordert.“2 Einem gedruckten Buch nähert man sich an, man vertieft sich in seinen Inhalt, taucht in ihn ein, in glücklichen Momenten vergisst man die Zeit oder verliert sich gar in seinen Geschichten oder Bildern. Ein Buch kann unsere Sinne ansprechen und uns – selbst heute noch, wo wir uns theoretisch an jeden beliebigen Ort begeben könnten – sprichwörtlich Welten eröffnen. Ist dies im gleichen Maße für das digitale Leseerlebnis oder den digitalen Kunstgenuss der Fall? Oder ist das ein flüchtigeres und dadurch weniger bleibendes? Man könnte vielleicht sagen, dass das digitale Erlebnis – der Vorgang des Scrollens in seiner Schnelligkeit (mitunter auch Beliebigkeit) verweist darauf – ein in mehrfacher Hinsicht eher „zweidimensionales“ ist, im Gegensatz zur „Drei dimensionalität“ des Buches mit seiner stärkeren Räumlichkeit. Oder: Ist das Lesen respektive Blättern in einem analogen Buch wie eine physische Begegnung mit dessen Inhalt und Bildwelt, ist das Lesen eines digitalen Buches wie der etwas distanziertere, nicht ganz unmittelbare Blick durch eine Fensterscheibe. Dies trifft im selben übertragenen Sinn auch für die möglichst hohe Farbtreue von abgebildeten Kunstwerken zu, bei der das gedruckte Buch (noch) im Vorteil gegenüber digitalen Verbreitungswegen liegt: Das abgebildete Kunstwerk ist in jedem gedruckten Buchexemplar identisch – man könnte auch sagen: Jede*r sieht das gleiche Bild – und in der Regel über das sorgfältige Proofen und die Wahl eines geeigneten Trägermaterials (Papier) dem Original weitmöglichst angenähert. Anders bei digitaler Übermittlung: Hier wird jede*r Rezipient*in potenziell ein anderes Bild sehen – abhängig beispielsweise von der Qualität des technischen Equipments, von der Kalibrierung, den Farbeinstellungen oder der Beschaffenheit des Bildschirms –, das vom Original stärker abweichen kann. Das Lesen oder Blättern im gedruckten Buch geht mit einem räumlichen Erlebnis einher, einem Navigieren durch die gestalteten Seiten, die oft, aber längst nicht immer wegeartig-linear verlaufen, einen Anfang und ein Ende haben. Suchen wir im Nachgang nach einer Textpassage, auf die wir noch einmal zurückkommen wollen, nach einem Bild, das uns gefallen, beeindruckt oder amüsiert hat – oder auch nur nach der Stelle, an der wir unser Lesen unterbrochen haben –, können 2
Sascha Michel, Die Unruhe der Bücher. Vom Lesen und was es mit uns macht, 2. Aufl., Stuttgart 2020, S. 7.
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wir uns oftmals genau erinnern, ob dies rechts oben oder doch eher links mittig auf einer Seite gewesen ist und wie viel des „Leseweges“ wir bereits zurückgelegt hatten, wie viele Seiten wir also schon auf die linke Seite geblättert hatten. Unsere räumliche Orientierungsfähigkeit hilft uns dabei, an die betreffende Stelle „zurückzukehren“. Wir orientieren uns gleichsam im offenen „Raum“ des Buches, der durch die Buchdeckel zugleich eine Begrenzung, einen Rahmen, erfährt. Anders der digitale Raum mit seinen zahllosen Verästelungen, der ohne Begrenzung ist und ins Unendliche führt. Doch tut uns dieser Rahmen, diese Beschränkung nicht auch gut? Bietet die Begrenztheit des Buches nicht – positiv ausgedrückt – auch die Möglichkeit, uns an diesen Grenzen zu reiben? Voraus geht diesem räumlichen Erlebnis des Lesers oder der Leserin der Vorgang des Buchergestaltens, das ebenfalls eine räumliche Tätigkeit darstellt. In gewisser Weise ist das Büchermachen vergleichbar mit dem Kuratieren einer Ausstellung, bei dem der zur Verfügung stehende Raum zugleich mitgedacht wird – nur dass dieser „Raum“ des Buches in der Regel nicht vordefiniert ist (außer durch grundlegende Parameter wie Format, Seitenumfang, Schriftgröße und Text-Bild-Verhältnis), sondern essenzieller Teil des Gestaltungsprozesses ist. Wie die Wegeführung durch eine Ausstellung muss dabei die „Wegeführung“ für den Leser/die Leserin durch das Buch mitgedacht werden, eine sinnfällige, spannungsreiche Platzierung der verschiedenen Themen oder Werke sowie der verschiedenen Textsorten und Abbildungen erfolgen. Um schließlich einen Raum zu kreieren, in dem wir uns wiederfinden und in dem wir gerne verweilen. Und nun? „Julian Schnabel macht das Buch zum Schrank“,3 so der Titel eines Artikels über eine im wahrsten Sinne gewichtige Publikation, ein Buch, das dem Œuvre des amerikanischen Künstlers noch zusätzlich Gewicht verleiht, und schließt die provokante Frage an: „Ist das Buch tot? […] Ist die Malerei etwa tot?“ Um sogleich die Antwort darauf zu geben: „Nein, gewiss nicht.“ Denn Totgesagte leben länger. „Weil es Menschen mit einem unerschütterlichen Glauben an sie gibt. Und darüber hinaus einfach solche, die es trotzdem tun: malen oder auch Bücher machen.“ Es scheint so, als erlebe zumindest das Künstler*innenbuch eine R enaissance, denn „je weniger haptisch unsere Leseerfahrung im Alltag“ wird, „desto bestimmter scheint das Künstlerbuch in seiner Rolle hervorzutreten, wahrgenommen, rezipiert und anerkannt zu werden“.4
3 Philipp Meier, in: Neue Zürcher Zeitung, 15.1.2021, https://www.nzz.ch/feuilleton/julian-schnabel-macht-das-buch-zum-kunstobjekt-ld.1595861 (16.7.2021); dort auch die folgenden Zitate. 4 Lilian Landes, „Ein Blog über Künstlerbücher. Ist das wirklich nötig?“, in: Hypotheses, 3.6.2019 (zuletzt überarb.: 25.7.2010), https://bookarts.hypotheses.org/204 (16.7.2021); dort auch die folgenden Zitate.
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Nur etwa 4,5 Prozent der Bücher, die in Deutschland jedes Jahr auf den Markt kommen, sind dem Bereich Geisteswissenschaften, Kunst und Musik zuzurechnen5 – Bücher über Kunst – gleich welcher Art – sind also Nischenprodukte.6 Der Kunstbuchmarkt wandelt sich ständig, so viel ist klar: Es erscheinen zwar mehr Bücher, doch werden die Auflagen kleiner, und diese Tendenz wird sich vermutlich fortsetzen. Dem Kunst- oder Künstler*innenbuch sind längst andere Medien zur Seite getreten, die ohne die Ressource Papier auskommen. E-Books – wahlweise ausschließlich digital publizierte Bücher oder zusätzlich zum gedruckten, als Hybrid –, elektronische Fach- und Publikumszeitschriften und nicht zuletzt die wundersam weite Welt des WWW bieten zahlreiche Optionen, dies zu tun.7 So liegen im Bereich der Videokunst die Vorzüge digitaler Publikationsformate auf der Hand, da problemlos Video- oder Tonsequenzen eingebettet werden können. Wie aber sieht es mit der nachhaltigen Nutzbarkeit digitaler Formate aus? Werden wir die heutigen E-Books in 30 oder auch in 100 Jahren mit unseren dann gängigen Systemen noch lesen können? Oder werden Websites bei dem rapiden Voranschreiten der Technologie verfügbar sein, digitale Inhalte, auf die wir uns oftmals beziehen, dauerhaft und verlässlich zugänglich? Wie können wir uns darauf verlassen, dass eine zu Projektdokumentationszwecken erstellte Website kontinuierlich aktualisierbar und längerfristig sichtbar ist? Und zusätzlich, mit einem etwas anderen Blickwinkel: Wie nachhaltig bleiben uns die digitalen Inhalte in Erinnerung? Ziehen uns ein E-Book oder eine Website genauso in ihren Bann, wie dies für manch gedrucktes Buch der Fall ist? Es liegt in der Natur der Frage, dass ein Blick in die Zukunft des Kunst- beziehungsweise Künstler*innenbuches höchst spekulativ sein muss. 100 Jahre, das ist mehr als ein Menschenleben – ein langer Zeitraum, gerade wenn man bedenkt, wie rasant die technischen Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts einander abgelöst oder überblendet haben. Anzunehmen ist, dass das Kunstbuch – um digitale Formate erweitert – auch in gedruckter, analoger Form Bestand haben wird – sicherlich in veränderter, konzentrierter respektive kondensierter Form, in kleineren Auflagen und ein spezifischeres Publikum ansprechend. So können Bücher über Kunst weiterhin beispielsweise eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit einer Ausstellung oder einem künstlerischen Projekt spielen, dann nämlich, wenn sie einen bleibenden Mehrwert generieren: so als Möglichkeit für Vermittlung, Kommunikation und Outreach, zur Aufnahme oder Dokumentation von Recherchematerialien, die zum Verständnis beitragen oder das Thema bereichern, oder um den wissenschaftlichen Status quo zu einem Thema zur Diskussion zu stellen. Bücher bieten gleichsam die Möglichkeit für einen vertieften „Raum“ der Begegnung mit einem Thema. Darüber hinaus kann 5 Sandra Rühr, „Digitaler Mehrwert im Kunstbuchbereich? Der Kunstbuchmarkt zwischen Prachtkatalogen und E-Books“, in: Kulturmanagement Network, Nr. 83, Oktober 2013, S. 17–19. 6 Zur Abgrenzung siehe Simone Philippi, Internationalisierungskonzepte deutscher Kunstbuchverlage seit 1990, Diss. Uni Köln 2005, S. 14ff. 7 Einschränkend wirken beispielsweise im Bereich des wissenschaftlichen Kunstbuches derzeit die immensen Kosten für die Bildbeschaffung generell sowie die Rechteerteilung für Abbildungen auf Websites oder in Open-Access-Publikationen.
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das Buch natürlich auch ein eigenständiger oder ergänzender Teil des künstlerischen Schaffens als solches sein: Ausstellung und Buch können sich also nicht nur gegenseitig ergänzen, sondern auch brauchen oder sogar bedingen. Um ein Beispiel aus dem musealen Kontext zu nennen: den Ausstellungskatalog, der vermeintlich untrennbar zu einer größeren Ausstellung „dazugehört“. Oftmals wird er – nicht selten eilig, als Anhängsel zur Ausstellung, womit er aber nicht immer sein ganzes Potenzial entfalten kann – möglichst prominent mit ausführlichen Fachtexten herausragender Forscher*innen bestückt; diesen gelingt es aber nicht in jedem Fall, die Sprache des Zielpublikums zu sprechen, und sie schaffen dadurch eher eine Distanz als zu vermitteln. Ebenso sollte die Hauptmotivation nicht darin bestehen, die Relevanz einer in der Regel ephemeren Ausstellung für alle Zeiten in Seiten- und Abbildungszahlen des Katalogs messbar machen zu wollen. Vielmehr sollte das Publizieren mit überzeugendem, passgenauem Konzept – sozusagen mit Sachverstand und Sinnhaftigkeit – in den Fokus gerückt und dabei auch das sich wandelnde Rezeptionsverhalten eines perspektivisch jünger werdenden Publikums berücksichtigt werden. Bücher über Kunst sollten die Stärken und den Charme des Mediums dabei gekonnt ausspielen, dessen emotionalen Kern herausarbeiten: immer entlang der Intention, die mit dem jeweiligen Buch verbunden ist, und das anvisierte Publikum adressierend. Am Beginn der Auseinandersetzung mit einer geplanten Veröffentlichung sollte daher immer die Frage stehen, ob ein gedrucktes Buch das Medium der Wahl ist oder ob eine andere Form (zusätzlich oder ausschließlich) im konkreten Fall geeigneter ist, sei es zur Möglichkeit der Einbindung multimedialer Inhalte oder zum Zwecke der jederzeitigen Erweiterung eines zu dokumentierenden, noch nicht abgeschlossenen künstlerischen Œuvres. Zur Zukunft des Kunstbuches respektive des Künstler*innenbuches befragt, wagt Georg Rutishauser, der Schweizer Künstler-Verleger (edition fink), eine vorsichtige Prognose: „Es verändert sich alles weniger als man denkt. Solange wir Kunst brauchen, brauchen wir auch Bücher über Kunst. Und ich denke, solange wir aus Fleisch und Blut sind, werden wir auch das Bedürfnis nach dem Objekthaften des Buches, nach etwas zum Anfassen, haben. Das hat mit unserer eigenen Körperlichkeit zu tun, und die geht dem Digitalen ab.“8 Das Objekt mit der Zahl 100 in Greenaways Ausstellung, um den Bogen zurück zu schlagen, ist übrigens der Ausstellungskatalog, der in der Schau damals wie ein Schatz, ein wertvolles Objekt, in Szene gesetzt wurde. Dazu ist der kurze Text des „Ausstellungsregisseurs“ zu lesen: „Es wurde gesagt, daß die Welt bestünde, um in einem Buch Platz zu finden, daß alles vermittelt werden könne, indem es in einem Buch ausgestellt wird. Dieses Objekt weist auf Katalog, Liste, System zur Herstellung von Listen, Katalogisierung und auf diese Ausstellung selbst hin.“ Und darunter der „Regievermerk“: „Anweisung: Objekt Nummer 100 wird der 8
Gespräch am 20.6.2021.
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Ausstellungskatalog sein, präsentiert auf einem durch einen Scheinwerfer angestrahlten zwei Meter hohen weißen Marmorpodest, mit drei kleinen Stufen auf a llen vier Seiten unter einem quadratischen Glaskasten. Er wird auf der Seite aufgeschlagen sein, die Objekt 100 erklärt, das den Ausstellungskatalog zeigt, aufgeschlagen auf der Seite, die Objekt 100 erklärt, das den Ausstellungskatalog zeigt, aufgeschlagen auf der Seite, die Objekt 100 erklärt, das …“9 So soll, so wird es sein!
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Kat., o. Pag., Text zu Objekt 100.
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