Der Raub der kleinen Dinge Belastetes Erbe aus Privatbesitz: Ein Leitfaden für Museen
Der Raub der kleinen Dinge Belastetes Erbe aus Privatbesitz: Ein Leitfaden für Museen
MuseumsBausteine Band 22 herausgegeben von der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern beim Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege
Autorin: Carolin Lange Redaktion: Wolfgang Stäbler Lektorat/Korrektorat: Rudolf Winterstein Umschlag, Satz und Layout: Edgar Endl, bookwise GmbH, München Reihengestaltung: Sabine Felsberg, Göttingen, und Edgar Endl Druck: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg Umschlagabbildung: Öffentliche »Judenauktion« in Goldbach/ Unterfranken, vermutlich um 1942; © Gemeinde Markt Goldbach Frontispitz: Untersuchung von jüdischen Kultgegenständen in einem schadstoffbelasteten Museumsdepot; © Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-422-98765-4 © 2022 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München Lützowstraße 33, 10785 Berlin Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH – Berlin Boston www.deutscherkunstverlag.de · www.degruyter.com
Inhalt Dank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort (Dirk Blübaum). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Geleitwort (Uwe Hartmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Prolog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Entzugsszenarien und Dimension des Raubs von Alltags- und Gebrauchsgegenständen . . . . . . . . . . . . . . . 19
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In die Sammlung holen oder nicht? Generelle Überlegungen und Hilfen bei der Entscheidungsfindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
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Recherche und Dokumentation der Objektprovenienz . . . . . . 43
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Vermittlung und Präsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Ein Experte aus der Museumswelt über seine Erfahrungen mit belasteten Objekten aus Privatbesitz. Fragen an Marcus Kenzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Anhang Internationale Forschungs- und Sammlungseinrichtungen. . . 75 Bibliographie zum Einstieg ins Thema . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Vorlage: Das Kennenlern-Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
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Dank Das Projekt zu aus jüdischem Besitz geraubten Gegenständen, mit Unterstützung des Deutschen Zentrum Kulturgutverluste durchgeführt von 2016–2021 an der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern, und auch die vorliegende Publikation wären nicht möglich gewesen ohne Kolleginnen und Kollegen, die ihre Erfahrungen mit mir geteilt und mich unterstützt haben. Hier nenne ich nur einige: Dank Henning Rader und Dr. Regina Prinz durfte ich 2018–2019 am Münchner Stadtmuseum im Rahmen der Ausstellung »Ehem. Jüdischer Besitz. Erwerbungen des Münchner Stadtmuseums im Nationalsozialismus« das Konzept von Sprechstunden zu diesem Thema ausprobieren. Dass dies so erfolgreich war, verdanke ich vor allem ihnen. Dr. Angela Jannelli vom Historischen Museum Frankfurt hat mich 2019 an ihren Erfahrungen mit Workshops zu »Schwierigen Objekten« teilhaben lassen. Mein besonderer Dank geht an die Kolleginnen aus Aschaffenburg, Anja Lippert (Städtische Museen) und Stephanie Goethals (Stadtarchiv). Im dortigen Museum jüdischer Geschichte & Kultur durfte ich auch unter verschärften pandemischen Bedingungen im Herbst 2020 »Sprechstunden« abhalten. Das Stadtarchiv hat mich bei allen Recherchen unterstützt und einen Workshop mitorganisiert. Dr. Marcus Kenzler vom Niedersächsischen Landesmuseum Oldenburg hat mich während des ganzen Projektes beraten, sich alle Geschichten angehört, auch die unglaublichsten, und hat das gesamte Manuskript gelesen, kommentiert und korrigiert. Vielen Dank ihnen allen!
Carolin Lange
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Vorwort Denkt man an Dinge, die in der Zeit des NS-Regimes ihren jüdischen Eigentümerinnen und Eigentümern entzogen, besser gesagt geraubt wurden, so sind das – spätestens seit dem spektakulären »Schwabinger Kunstfund« von 2012 – in der Regel zunächst hochwertige Kunstgegenstände oder andere prunkvolle Objekte. Die Suche nach solchen Preziosen in der Hoffnung, sie den rechtmäßigen Erben der Beraubten wieder zurückerstatten zu können, findet inzwischen in vielen Museen statt. Die Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern hat diese Provenienzforschung frühzeitig unterstützt. Bereits 2005 veranstaltete sie gemeinsam mit der damaligen Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, dem heutigen Deutschen Zentrum Kulturgutverluste (DZK), und der Stadt Nürnberg eine Tagung für Museen, Bibliotheken und Archive, deren Ergebnisse als Band 10 der MuseumsBausteine veröffentlicht wurden. Auch in den folgenden Jahren hat die Landesstelle, Mitglied im Forschungsverbund Provenienzforschung Bayern, die Identifizierung von geraubtem Kulturgut in den bayerischen Museen angeregt und einschlägige Projekte gefördert. Seit 2016 waren hier im Rahmen eines Projekts in Zusammenarbeit mit dem DZK zwei Wissenschaftlerinnen tätig, um Museen dabei zu unterstützen, Sammlungsbestände zu überprüfen, die zwischen 1933 und 1945 in die jeweiligen Häuser gelangt sind, und bei Bedarf Fördermittel beim DZK zu beantragen. Der allergrößte Teil des geraubten Besitzes waren aber keine Gemälde oder prunkvollen Silberwaren, sondern es waren Alltagsgegenstände, Möbel, Hausrat oder Kleidungsstücke. Sie konnten vor allem nach Beginn der Massendeportationen auf Versteigerungen erworben werden und gelangten so in weite Teile der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung. Viele dieser Gegenstände befinden sich noch heute in den Familien, die sie damals erworben hatten, oft versehen mit einer besonderen Fama. Die Rede ist dann vom »Judenschrank« oder dem Kaffeeservice der jüdischen Nachbarin, die es – angeblich – vor ihrem Abtransport in ein Vernichtungslager zur Aufbewahrung übergeben hätte. Dieser Kontext führt dazu, dass die heutigen Besitzerinnen und Besitzer sich scheuen, die Gegenstände einfach zu entsorgen. Oft werden sie, zusammen mit ihrer oft recht nebulosen, erst nachzuprüfenden Geschichte, Museen angeboten.
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Ein Bereich der genannten Forschungsprojekte an der Landesstelle befasste sich daher speziell mit diesen Alltagsgegenständen: ihrem illegitimen »Besitzerwechsel« und vor allem der Problematik, die sich ergibt, wenn sie nun Museen überlassen werden sollen. Wie kann man ihre tradierte Geschichte nachvollziehen? Und vor allem: Gibt es Sinn, sie in Museumssammlungen aufzunehmen? Die Autorin des Bandes, Dr. Carolin Lange, hat diese Untersuchungen im Rahmen des genannten Projekts im Auftrag der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern durchgeführt. Die gewonnenen Erkenntnisse münden in diese Publikation, welche den Museen die oft schwierige Entscheidung bei einschlägigen Angeboten und den Umgang mit der Thematik insgesamt erleichtern soll. Mein Dank gilt der Autorin, dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste für die Förderung und die sehr gute Zusammenarbeit, und dem Deutschen Kunstverlag für die sorgfältige Drucklegung.
Dirk Blübaum Leiter der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern
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Geleitwort Am 15. November 2008 wurde den Zuschauerinnen und Zuschauern einer populären, vom Bayerischen Rundfunk allwöchentlich am frühen Samstagabend ausgestrahlten Fernsehsendung ein Gemälde gezeigt. Nichts Ungewöhnliches, besteht darin doch seit mehr als 35 Jahren die Konzeption für dieses Format. Die kunsthistorische Einordnung wie auch die Schätzung des Marktwerts des Kunstwerks wurde auch an diesem Tag wie üblich von zwei Experten vorgenommen. Die als authentisch inszenierte, aber doch nur scheinbar erste Begegnung der Expertinnen und Experten mit Erbstücken, Dachbodenfunden und Flohmarktentdeckungen strebt stets dann von einem dramaturgischen Höhepunkt zum nächsten, wenn dem in andächtiger Stille verharrenden Livepublikum und den jeweiligen Besitzerinnen und Besitzern die aus dem expliziten Expertenwissen resultierende kunsthistorische Wahrheit verkündet wird. In diesen Momenten kann man sich auch vor dem heimischen Empfangsgerät der Illusion und Hoffnung hingeben, Augenzeuge einer spektakulären Entdeckung zu werden oder gewesen zu sein. In diesem Falle – es handelte sich um das auf 1606 datierte Gemälde Die Berg predigt (Paulus in Lystria) von Frans Francken dem Jüngeren – wurde die Sensation allerdings erst einige Monate später und ohne Inanspruchnahme der Kompetenz der TV-Experten publik gemacht. Im September 2009 berichteten Zeitungen und Nachrichtenmagazine, dass sich bereits im April ein Zuschauer aus München bei der Polizei mit dem Hinweis gemeldet habe, dass es sich bei diesem Gemälde um »NS-Raubkunst« handeln würde. Daraufhin leitete das Landeskriminalamt Ermittlungen ein, um den Besitzer bzw. die Besitzerin des Kunstwerks zu identifizieren. Der Bayerische Rundfunk hatte unter Verweis auf das journalistische Zeugnisverweigerungsrecht den Namen der Person, die das Gemälde den Experten zur Schätzung vorgelegt hatte, nicht nennen wollen. Der Mann, der vor laufender Kamera und somit vor Tausenden von Fernsehzuschauerinnen und -zuschauern das auf einen Wert von 100 000 Euro geschätzte Werk präsentiert hatte, blieb der Öffentlichkeit unbekannt. Fünf Jahre später »tauchte« dieses Gemälde erneut im deutschen Feuilleton auf. Die Ermittlungen auf Grund des Verdachts der Hehlerei hatten zu einer Beschlagnahme des Gemäldes geführt. Im Mai 2014 hatte das Amtsgericht München zu entscheiden, wer sein rechtmäßiger Eigentümer ist. Öffentlich bekanntgemacht wurde nun die jüngere Geschichte des Kunstwerks, seine Provenienz. Auch die Identität des bislang anonymen »Zuschauers aus München« wurde nicht länger verschwiegen. Es war ein Mitarbeiter des Zentralinstituts für Kunstgeschichte (ZI) mit Spezialwissen. Der Kunsthistoriker Stephan Klingen hatte sich mit weiteren Kolleginnen und Kollegen schon seit Längerem mit der Geschichte und Vorgeschichte seines, ihres Instituts – und somit auch mit der Geschichte des Institutsgebäudes sowie seines architektonischen Pendants beschäftigt. »Verwaltungsbau« (heutiger Sitz des
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ZI) und »Führerbau« bildeten mit den Ehrentempeln das Ensemble des NSDAP-Parteizentrums am Königsplatz in München. Im »Führerbau« wurden kurz vor Kriegsende über 600 Kunstwerke gelagert, die nach dem »Endsieg« in dem von Hitler geplanten sogenannten »Führermuseum« in Linz gezeigt werden sollten. In der Nacht vom 29. auf den 30. April 1945 kam es allerdings in dem nunmehr unbewachten Gebäude zu Plünderungen. Unter den aus dem »Führerbau« entwendeten Gegenständen war auch das Francken-Gemälde, das 63 Jahre später in der Fernsehsendung »Kunst + Krempel« vorgestellt und geschätzt wurde. 2014 stand dieses Werk aber weniger aus dem Grund im Interesse der Öffentlichkeit und der Medien, weil ein Gericht Jahrzehnte nach einem Eigentumsdelikt festzustellen hatte, wem es denn nun rechtmäßig gehören sollte bzw. durfte, sondern weil es in der »Biografie« dieses Gemäldes einen Schnittpunkt zur Geschäftstätigkeit eines Kunsthändlers gab, der zu den zentralen Figuren und Akteuren des von den Nationalsozialisten angestifteten und organisierten Kunstraubs zählte: Hildebrand Gurlitt. Ein deutsches Nachrichtenmagazin hatte die Öffentlichkeit am 4. November 2013 mit der Enthüllung überrascht, im Ergebnis eigener Recherchen einen »NaziSchatz« aufgespürt zu haben. Ein »Sensationsfund nach 70 Jahren«! Es war allerdings ein »Maulwurf« in der zuständigen Staatsanwaltschaft gewesen, der die Journalisten auf diese Spur geführt hatte. Diese hatte im Rahmen eines Steuer ermittlungsverfahrens gegen Cornelius Gurlitt – den Sohn des 1956 verstorbenen Kunsthändlers – bereits am 28. Februar 2012 dessen Münchener Wohnung durchsuchen lassen und dort 121 gerahmte und 1285 ungerahmte Bildwerke vorgefunden. Darüber hinaus wurden als mögliche Beweisstücke auch eine umfangreiche Korrespondenz von Hildebrand und Helene Gurlitt sowie Geschäftsunterlagen aus der NS-Zeit sichergestellt. Darunter fanden sich Einträge zum Ankauf dieses Gemäldes im besetzten Paris und zum anschließenden Verkauf an das »Museum Linz« im Oktober 1943. Die Antwort auf die immer wiederkehrende Begrüßungsfloskel der »Kunst + Krempel-Experten«, was ihnen denn mitgebracht worden sei, hätte in diesem Fall lauten müssen: eine Vergegenständlichung des dauerhaften Auseinanderfallens von Eigentum und Besitz. Doch bei dieser Fernsehsendung handelt es sich ja bekanntlich nicht um eine dokumentarische Gerichtsshow, sondern um eine Kunsterziehungsveranstaltung, bei der die vorgelassenen Laien widerspruchslos das apodiktische Urteil der Expertinnen und Experten über sich ergehen lassen müssen. Die »Schwabinger Kunstfund« genannte Affäre des Umgangs von Politik, Justiz und Medien mit Privateigentum, dessen Erwerb einerseits rechtlich geschützt ist, andererseits aber als unmoralisch und als nicht mit ethischen Prinzipien vereinbar gilt, hatte die öffentliche Diskussion entfacht, ob des 1999 in der »Gemeinsamen Erklärung« von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden an »privatrechtlich organisierte Einrichtungen und Privatpersonen« gerichteten Appells, sich den im Sinne der »Washingtoner Erklärung« vom 3. Dezember 1998 »niedergelegten Grundsätzen und Verfahrensweisen anzuschließen«. Danach war darauf hinzuwir-
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ken, dass »Kulturgüter, die als NS-verfolgungsbedingt entzogen identifiziert und bestimmten Geschädigten zugeordnet werden können, nach individueller Prüfung den legitimierten früheren Eigentümern bzw. deren Erben zurückgegeben werden«. Dieser Appell war nicht folgenlos geblieben, hatte sich jedoch als unzureichend erwiesen. »Für Raubkunst in Privatbesitz bedarf es Lösungen« – so oder ähnlich lauteten die Schlagzeilen im Feuilleton. Wie aber sollten diese Lösungen aussehen? Angesichts der innen- und außenpolitischen Tragweite der Maßnahmen zur Aufarbeitung des »Schwabinger Kunstfundes« zielte die Kritik auf den Zustand, dass es den Nachfahren der Akteurinnen und Akteure und Nutznießerinnen und Nutznießer der Entziehungen, Beschlagnahmungen und »Sicherstellungen« der Kunstsammlungen, Bibliotheken, Möbel, Musikinstrumente usw., die im Besitz der von den Nationalsozialisten Verfolgten gewesen waren, in Deutschland ermöglicht worden war, Kunst- und Kulturgut aller Art nicht nur in ihrem Besitz zu behalten, sondern mit den über Jahre hinweg erzielten Veräußerungserlösen auch einen Teil ihres Lebensunterhalts bestreiten zu können. Rufe nach einer gesetzlichen Lösung wurden lauter, Forderungen nach einer Abschaffung der Verjährungsfrist für NS-verfolgungsbedingte Vermögensverluste, nach Ausnahmeregelungen für die verschiedenen Arten des gutgläubigen Erwerbs, wie bspw. der Ersitzung, wurden erhoben. Vor allem aber wurde gefragt, wann endlich ein Gesetz den Nachfahren und Erbinnen und Erben der Verfolgten die Möglichkeit geben wird, die Herausgabe von NS-Raubkunst von jedem Besitzer und jeder Besitzerin verlangen zu können. Tatsächlich ergriff der Freistaat Bayern zu Beginn des Jahres 2014 die Initiative und brachte im Bundesrat einen Gesetzesantrag ein. Ziel des vorgeschlagenen Entwurfs für ein »Kulturgut-Rückgewähr-Gesetz« sollte der »Ausschluss der Verjährung von Herausgabeansprüchen bei abhanden gekommenen Sachen, insbesondere bei in der NS-Zeit entzogenem Kulturgut« sein. Die Rechtslage, die es erlaubt, einem Herausgabeanspruch mit der Einrede der Verjährung entgegenzutreten, würde das »durch den NS-Staat geschaffene Unrecht auf Dauer perpetuieren«. Mit dem Verblassen der Erinnerung an den »Gurlitt-Skandal« schwanden allerdings auch die Aktivitäten auf Seiten des Gesetzgebers. Andererseits reagierten die politischen Vertreter des Bundes, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände, indem sie als Mitglieder des Stiftungsrats des 2015 gegründeten Deutschen Zentrums Kulturgutverluste dem Vorstand des Zentrums den Auftrag erteilten, ein Förderkonzept zur Unterstützung von Privatpersonen und privat getragenen Einrichtungen bei der Suche nach und zur Identifizierung von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut zur erarbeiten und vorzulegen. Im Jahr 2017 trat eine neue, wesentlich erweiterte Förderrichtlinie in Kraft. Privatpersonen und privat unterhaltenen Stiftungen, Museen, Vereinen und anderen Institutionen wurde die Möglichkeit eingeräumt, die fachliche und finanzielle Unterstützung des Zentrums in Anspruch zu nehmen. Gefördert werden seitdem Projekte zur Erforschung der Provenienz einzelner Kunstgegenstände oder zur Überprüfung von
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Sammlungen auf das mögliche Vorhandensein von NS-Raubgut – analog also zu den Fördermöglichkeiten für öffentliche Einrichtungen. Gefördert werden aber auch Projekte mit dem Ziel, die von den Nationalsozialisten zerstörten, zerstreuten und »verwerteten« Sammlungen der Verfolgten zu rekonstruieren und den Verbleib der Objekte zu ermitteln. Nicht zuletzt aus den langjährigen Erfahrungen beim Betrieb der Datenbank Lostart.de resultiert die Erkenntnis, dass die Nachfahren in der dritten oder mittlerweile auch vierten Generation selten in der Lage sind, die Gegenstände der Sammlungen ihrer während der NS-Herrschaft vertriebenen oder ermordeten Familienmitglieder zu benennen und zu beschreiben. Infolge der tragischen Ereignisse gingen familiäre Überlieferungen verloren oder wurden unterbrochen. Da es in der breiteren Öffentlichkeit möglicherweise nicht so deutlich wahrgenommen wurde, soll auch an dieser Stelle noch einmal hervorgehoben werden, dass diese fachliche und finanzielle Unterstützung der Nachfahren der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung eine Zäsur in der deutschen Restitutionspolitik und Entschädigungspraxis in Bezug auf NS-Unrecht darstellt: Bis dahin war zum Nachweis individueller oder kollektiver Verfolgung auch die konkrete Benennung des erlittenen Vermögensschadens erforderlich gewesen. Vielfach war das – wie gesagt – den Betroffenen hinsichtlich der entzogenen Kunstgegenstände, der geplünderten Bibliotheken und der versteigerten Wohnungseinrichtungen nicht möglich gewesen. Die zuständigen staatlichen Behörden hatten sich auf Grund der Gesetzeslage sozusagen »passiv« zu verhalten, indem sie auf die Antragsteller »warteten«. Nun werden über das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste öffentliche Mittel verwendet, die dazu beitragen, dass die Nachfahren der Geschädigten aktiv nach dem Verbleib der geraubten Objekte suchen können. Aus der Sicht des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste muss allerdings auch die ernüchternde Feststellung getroffen werden, dass sich bislang keine Privatperson an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewandt hat, die sich auch nur in einer annähernd vergleichbaren Lebenssituation befindet wie Cornelius Gurlitt vor den staatsanwaltlichen Ermittlungen. Außerordentlich begrüßenswert war das Engagement des Schriftstellers Ferdinand von Schirach, der eine Studie finanzierte, die Aufschluss darüber erbrachte, in welcher Art und Weise seine Großmutter Henriette von Schirach nach 1945 eine Freigabe des beschlagnahmten Besitzes an Kunst- und Kulturgut erwirkte. Da vielfach keine eingehende Prüfung erfolgte, gelangte sie auch wieder in den Besitz von Gemälden, die nach 1938 insbesondere Wiener jüdischen Familien entzogen worden waren. In den 1950er und 1960er Jahren verkaufte sie diese an Kunsthändler oder lieferte sie zu Auktionen ein. Wir sehen uns also vor der Herausforderung, wie es gelingen könnte, Menschen zu erreichen, die Kunstwerke oder Teile von Kunstsammlungen geerbt haben, ohne etwas vom »Schicksal« der Sammlungen und ihrer früheren Besitzerinnen und Besitzer zu wissen und über keine Kenntnisse zu den »Biografien« der Objekte zu verfügen. Menschen, die für sich und ihre Familien abwägen müssen, ob sie unter Umständen eine auf ethisch-moralischer Grundlage basierende Entscheidung tref-
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fen wollen, obwohl sie im anderen Fall nicht gegen Recht und Gesetz verstoßen würden. Noch schwieriger wird eine solche Entscheidungsfindung werden, wenn der Erbgang direkt zu einem Vorfahren führt, der bekanntermaßen aktiv an Verfolgungsmaßnahmen während der NS-Herrschaft beteiligt war und bewusst einen persönlichen Vorteil aus den Enteignungen und der »Verwertung« des Besitzes der Verfolgten gezogen hatte. Wie können wir es schaffen, »Hemmschwellen« abzubauen, Menschen darin zu bestärken, kritisch mit der eigenen Familiengeschichte umzugehen und vor allem eine unsentimentale Sensibilität dafür zu entwickeln, dass eine »Sammelleidenschaft« ohne Kenntnisnahme und Berücksichtigung bestimmter historischer Kontexte des Handelns und Erwerbens von Objekten nicht mehr zeitgemäß ist? Wie können wir an das Verantwortungsgefühl von Sammlerinnen und Sammlern, von Kunsthändlerinnen und -händlern appellieren, ohne rechthaberisch aufzutreten? Wie kann die Geschichte der Objekte öffentlich gemacht werden, ohne dabei die Privatsphäre der heutigen rechtmäßigen Eigentümerinnen und Eigentümer zu verletzen? Die mediale Hetzjagd auf Cornelius Gurlitt ist vielen im Gedächtnis geblieben. Keine der Privatpersonen, die in den vergangenen Jahren den Kontakt zum Deutschen Zentrum Kulturgutverluste aufgenommen hat, wollte irgendwann vor der eigenen Tür von Reporterteams mit laufenden Kameras mit der Frage begrüßt werden, ob es wahr ist, dass sein Haus voll von »Raubkunst« sei. Ein anderer Weg wird von nicht wenigen deutschen Museen seit Jahren beschritten: das Angebot, in »Sprechstunden« Privatpersonen die Gelegenheit zu geben, ihre Kunstwerke oder Antiquitäten vorzustellen, um eine kunst- oder kulturhistorische Einordnung und Bewertung durch das wissenschaftliche Museumspersonal zu bekommen. Infolge eines solchen Gesprächs – ohne laufende Kamera – soll es dann auch schon einmal zu Vereinbarungen über Leihgaben oder sogar zu Ankäufen gekommen sein. Der Provenienzforscher am Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg Marcus Kenzler erweiterte dieses Serviceangebot auf die Klärung von Fragen zur Provenienz der Stücke. Seit 2014 bietet das Landesmuseum in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Oldenburg und seit 2017 auch mit dem Schlossmuseum Jever eine treuhänderische Verwahrung von Objekten in Privatbesitz an, die als NS-Raubgut identifiziert wurden oder Verdachtsmomente auf einen verfolgungsbedingten Entzug aufweisen. Die Institution Museum nimmt hier also für Bürgerinnen und Bürgern, die im Zweifel keine Eigentumsrechte an geraubten und entzogenen Gegenständen behaupten wollen, eine Dienstleistungsfunktion wahr und entlastet sie von Aufgaben und Tätigkeiten, die von Laien kaum geleistet werden können. Carolin Lange ging als für die Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern tätige Provenienzforscherin noch einen Schritt weiter. Zunächst wurden 2018 in Zusammenarbeit mit dem Münchner Stadtmuseum sozusagen im »Begleitprogramm« zur Ausstellung »Ehem. Jüdischer Besitz. Erwerbungen des Münchner Stadtmuseums im Nationalsozialismus« mehrmals Sprechstunden ähnlich dem Oldenburger Modell angeboten. Seit Juni 2019 wurde dieses Angebot auch Museen
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in drei bayerischen Regionen unterbereitet – und angenommen! Die bei diesem Projekt in einem Zeitraum von 18 Monaten gesammelten Erfahrungen werden mit dem vorliegenden Band aus der von der Landesstelle herausgegebenen Reihe Mu seumsBausteine aufbereitet und reflektiert vermittelt. Es ist zu wünschen und zu hoffen, dass sich die in diesem Leitfaden zusammengefassten Anregungen und Empfehlungen für zahlreiche interessierte und engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in vielen Museen – auch außerhalb Bayerns und natürlich auch über den Kreis der Provenienzforscherinnen und -forscher hinaus – als nützlich und hilfreich erweisen werden. Ebenso ist damit der Wunsch verbunden, dass nach einem Ende der pandemiebedingten Einschränkungen in den Jahren 2020 und 2021 an weit mehr Museen als bisher oder auch in der Verantwortung regionaler Museumsverbände Angebote unterbreitet werden, die für Bürgerinnen und Bürger eine gleichermaßen kompetente wie vertrauenswürdige Beratung darstellen, die gerne wahrgenommen wird und letztlich für beide Seiten – Besucherinnen und Besucher wie auch die Museen – mit Erkenntnisgewinnen verbunden sind.
Uwe Hartmann Leiter des Fachbereichs Provenienzforschung Deutsches Zentrum für Kulturgutverluste
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